Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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  Sociology in Switzerland   Georg Simmel Online G.Simmel: Philosophische Kultur

 

Georg Simmel: Philosophische Kultur 

Alfred Kröner Verlag, Leipzig 1919 (2. Auflage) 

Rodin - mit einer Vorbemerkung über Meunier (S. 168-186)

(->168) In die Zweiheit von Inhalt und Form zerlegt unser Blick jegliches Kulturwerk. Seine Einheit so zu spalten berechtigt uns die Unabhängigkeit, mit der bald das eine, bald das andere dieser Elemente von einer Entwicklung ergriffen wird, die das andere oder das eine ruhig auf seinem bisherigen Platze belässt.

Die Kunst, als ein Träger oder ein Spiegel der allgemeinen Kultur, offenbart dies, indem der Genius, der sie eine Stufe aufwärts führt, ihre überlieferten Formen zugängig für Inhalte zeigt, die sich jenen bis jetzt völlig zu entziehen schienen oder, - um Originalität des Inhaltes unbekümmert, eine Form, einen Stil schafft, der nur eine neue Ausdrucksmöglichkeit; aber nun für eine Unbegrenztheit - von Inhalten bedeutet. Zwei Plastiker, beide mit der Neuheit ihres Werkes die Neuheit unsrer Zeit verkündend, bedeuten das Verschiedenste für unsre Kultur eben dadurch, dass von dem einen die Plastik einen neuen Inhalt von dem andern eine neue stilistische Ausdrucksform gewinnt, jener sozusagen einen neuen Kulturgedanken, dieser das neue Kulturgefühl in seiner Kunst lebendig machte: Meunier und Rodin.

Es ist die große Tat Meuniers, den künstlerischen Anschauungswert der körperlichen Arbeit entdeckt zu haben. Millet und andre Maler des arbeitenden Volkes haben die Arbeit mehr in ihrer ethischen oder auch gefühlsmäßigen Bedeutung, also das, was sich eigentlich erst an sie knüpft, - nicht aber ihre unmittelbare Erscheinung zum künstlerischen Problem gemacht.

Der äußeren Geschlossenheit und dem Ausdruck eines Einheitlich-Innerlichen, worin die plastische Menschengestaltung ihren Sinn (>169) findet, schien die Arbeitsgebärde völlig zu widersprechen.

Denn am Objekt geschehend, führe den Menschen aus sich heraus und zerbreche damit das plastische Insichruhen seiner Gestalt, sie verflechte ihn in die ihm doch widerstrebende Außenwelt und hindere so gerade seine Heraushebung zu der selbstgenugsamen Einheit des Kunstwerkes - eine zufällige Notdurft des Menschen, in tiefstem Gegensatz zu der Notwendigkeit und gleichzeitigen Freiheit, die der Kunst und dem Menschen in der Kunst zukäme.

Darum hat die Plastik ihn wohl als den spielenden oder den sinnenden, den ruhenden, den leidenschaftlichen oder selbst den schlafenden gezeigt, niemals aber als den arbeitenden.

Meunier aber sah, dass die Arbeit nicht unser Äußeres ist, sondern unsre Tat, die das Äußere gerade in das Innere hineinzieht und damit unsre Peripherie erweitert, ohne unserer Einheit Abbruch tun zu müssen

Das ist das Wunder der Arbeit: dass sie das Tun des Subjekts den Forderungen eines Stoffes untertan macht (denn sonst brauchten wir nicht zu arbeiten, sondern könnten träumen oder, spielen) und zugleich damit den Stoff in die Sphäre des Subjekts hineinzieht.

Die künstlerische Geschlossenheit von Meuniers Gestalten mit ihrem Heben und Ziehen, Wälzen und Rudern zeigt uns die Kräfte, die der arbeitende Mensch in die Materie hingibt, als wieder auf ihn zurückströmende.

Die Arbeit macht den Körper zum Werkzeug; Meunier erfasste es, dass mit ihr auch das Werkzeug zum Körper wird. Indem für Meunier die Arbeitsbewegung den Sinn der menschlichen Erscheinung auf eine in sich befriedigte, geschlossene Art Ausdrückte, hat er den Arbeiter für das Reich der ästhetischen Werte entdeckt.

Als frühere Repräsentanten dieser Vision kommen (mit den selbstverständlichen Modifikationen) vielleicht nur die Gestalten des Hermann und der Dorothea in Betracht, Existenzen ohne jeden pathetisch oder ästhetisch gesteigerten Lebensinhalt, in engem Kreise für die Arbeit und von ihr lebend - und nun ohne diesen Bezirk zu verlassen, in klassisch großem Stile dargestellt.

Dies arbeitsam eingeschränkte Leben zeigt sich als der Ort künstlerisch wertvoller Linienführung, die beiden Menschen werden nicht aus dem Charakter solchen Lebens herausgehoben, sondern aus ihm selbst gebiert sich die Möglichkeit künstlerisch (>170) vollendeter Gestaltung.

Entsprechend hat die soziale Bewegung des 19. Jahrhunderts den Arbeiter für das Reich der ethischen Werte entdeckt.

Was ihn als Arbeiter dem Reich der Werte überhaupt fernzuhalten schien: dass es in der Arbeit nur auf ihren Ertrag, aber nicht auf das Subjekt ankäme - das hat erst diese Bewegung richtiggestellt, hat zum Bewusstsein gebracht dass es auch auf den Arbeiter ankommt; und eben dies hat Meunier künstlerisch gewendet, wenn er, als der Erste, die Arbeitsgeste als eine jeder andern gleichwertige ästhetische Formgebung des Menschenkörpers behandelt.

Freilich lag, schon vor einigen dreißig Jahren dies Motiv den Bauernzeichnungen van Goghs zum Grunde und ist - von ihm auch ganz prinzipiell ausgesprochen worden- er verlangt von dem Maler, dass er sich den Bauern eben arbeitend vorstelle - welchem Problem die Alten ausgewichen seien - und dann die Bewegung um dieser (Arbeits-) Bewegung willen male.

Hierin ist noch ein andres Element von großer kulturphilosophischer Bedeutung enthalten. Die Arbeitsbewegung, deren ästhetischer Wert nun entdeckt war, ist nicht nur eine isolierte reine Anschaulichkeit, in diese Anschaulichkeit vielmehr ist untrennbar verflochten, dass ihr Träger die breite Masse der unteren sozialen Schicht ist.

Mit diesem Cachet stellt Meunier seine Arbeiter dar: nicht als die individuell erlesenen Menschenexemplare, wie die Plastik sie, sonst gesucht hat und die nun als arbeitende "gestellt" würden, wie sonst in andern Attitüden.

Sondern hier ist in und mit der, Anschaulichkeit fühlbar gemacht: dies ist einer aus einer Menge, keine persönlich betonte Existenz; nicht eigentlich ein "Vertreter" der Masse - dies wäre ein unanschaulich gedankenmässiges und doch auch ein individuell hervorhebendes Moment -, sondern wirklich nur ein Gleicher von Vielen; es ist keine Reflexion darin, die diesen Einzelnen zur Allegorie des "Arbeiters überhaupt" macht, dieser Einzelne bleibt durchaus innerhalb der Schicht seiner Genossen, in keinem Sinn ein "Besonderer".

Und gerade als ein solcher trägt er die ganze Erlesenheit der ästhetischen Vollendung an sich, jenen "besondern" Reiz, den man nur als aristokratisch zu bezeichnen gewohnt ist, der aber hier, rein anschaulich geworden, nicht mehr an den (>171) Unterschied des Einen gegen die Vielen gebunden ist.

Hier ist für das ästhetische Gebiet das Wertverhältnis realisiert, das die Lebensphilosophie Maeterlincks für die Elemente der einzelnen Seele behauptet: dass unser Glück, unser Wert, unsre Größe nicht dem Außergewöhnlichen, in den heroischen Aufschwüngen, den prominenten Taten und Erlebnissen wohnen – sondern gerade in dem alltäglichen Dasein und jedem seiner gleichmäßigen, namenlosen Momente.

Es ist das gleiche Motiv, das der Sozialdemokratie zugrunde liegt: das Wesentliche am Menschen sei das, was ihm mit allen andern gemeinsam ist, und deshalb sei ein Zustand möglich, in dem die subjektiven und objektiven Werte, die bis jetzt an den Unterschied, das Hinausragen, die besondere individuelle Begünstigtheit geknüpft scheinen, einem jeden gerade auf Grund der Gleichheit zugänglich seien.

Indem Meunier zeigt: der Arbeiter braucht gar nichts andres zu sein und zu tun, als alle sind und tun, um den ästhetischen Höhenwert zu erreichen, da die Arbeit als solche diesen einschließt – fehlt ihm ganz das Agitatorische oder Sentimentale, das so vielen sonstigen künstlerischen Verherrlichungen des Arbeiters eigen ist.

Denn alle diese besagen: trotz der Arbeit ist der Mensch so und so wertvoll und schön; er aber: einfach wegen der Arbeit ist es so. Noch einmal offenbart sich hier der tiefste Sinn und das ganz und gar Künstlerische seines Werkes - indem er den Menschen und die Arbeit nicht trennt, nicht an jenem einen Wert zeigt, den diese zu verschütten schien, sondern an ihr selbst, die sich durch die ganze Breite des arbeitenden Volkes gleichmäßig erstreckt, die ästhetische Vollendung entdeckt.

Aber es gehört vielleicht zu den tiefsten Bedingungen gerade dieser Koordination des neu entdeckten Inhaltes der Kunst, dass er ihn nicht in einem neuen Stile der Kunst darstellte: er hat nur bewiesen, dass der moderne Arbeiter ebenso künstlerisch anzusehen und zu stilisieren ist, wie ein griechischer Jüngling oder ein venezianischer Senator.

So hat doch auch jene soziale Bewegung dem ethischen Empfinden nur einen neuen Inhalt gegeben: dass Gerechtigkeit, Mitempfinden, altruistische Interessiertheit sich auf die Arbeiterklasse als solche richtete, bedeutete eine ungeheure Erweiterung des moralischen Bewusstseins, aber (>172) keinen neuen Stil seiner; den gab erst Nietzsche.

So hat Meunier ein neues Objekt gefunden, an dem das Leben künstlerisch wertvoll sein kann, aber er hat keine neue Form, kein neues Stilprinzip gefunden, in dem das Leben überhaupt künstlerisch gesehen werden kann.

Dies fand erst Rodin der der Plastik keine wesentlich neuen Inhalte gab, aber als der Erste einen Stil, mit dem sie die Haltung der modernen Seele dem Leben gegenüber ausdrückt. Ich zeichne, um dies zu begründen, mit einigen Strichen das Verhältnis, das die großen historischen Stile der Plastik zu der Lebensrichtung ihrer jeweiligen Gegenwart besaßen.

Die griechische Plastik, in ihren echten und klassischen Gestaltungen, ist dadurch bestimmt, dass die ganze Idealbildung des griechischen Geistes auf ein festes, geschlossenes, substantielles Sein ging, und dass sie dieses Sein als ein geformtes erfasste, aufs entschiedenste betonend, dass die Form jenseits von Zeit und Bewegtheit stünde.

Die Unruhe des Werdens, die Unbestimmtheit des Gleitens von Form zu Form, die Bewegung als das fortwährende Zerbrechen der festgefügten, in sich befriedigten Gestaltung das war dem Griechen das Böse und Hässliche, vielleicht gerade, weil die Wirklichkeit des griechischen Lebens unruhig, zerrissen, unsicher genug war.

So suchte denn die griechische Plastik, in ihrer besten Zeit, das Beharrende, die substantielle Form des Körpers, jenseits aller Sonderattitüden, die ihm durch die Bewegung des Körpers kommen, und seine anatomisch-physikalische Gestaltung, die eigentlich eine Abstraktion ist, weil in Wirklichkeit der Körper immer in irgendeiner einzelnen, individuellen Bewegung ist.

Nur ein Minimum von Bewegung hatte in diesem Ideal der Antike Platz, weil jede Bewegung den Leib in der Ruhe seiner Festgefügtheit zu entstellen ihn zu etwas Zufälligem und Vereinzeltem zu machen schien.

Anderthalb Jahrtausende später hat dann die plastische Kunst der Gotik zum erstenmal den Körper zum Träger der Bewegtheit gemacht, hat die substantielle Sicherheit seiner Form aufgelöst.

Sie entsprach damit der Leidenschaftlichkeit der religiösen Seele, die sich ihm, und zwar gerade seiner festen Materialität und selbstgenugsamen Geformtheit, eigentlich nicht zugehörig fühlte.

(>173) Der christliche Radikalismus erkannte nicht nur nicht den Wert, sondern sozusagen nicht einmal die Tatsache des Körpers an: eigentlich ist der Körper nicht, nur die Seele ist - wie in den gotischen Domen der Stein mit seiner Eigenbedeutung und der Eigenschwere nicht existiert, sondern nur die sich selbst aufwärtstragende Kraft.

Da nun die Plastik nur den Körper zur Verfügung hat, so entsteht damit ein Widerspruch, der sich in der gotischen Rücksichtslosigkeit auf die Körperform ausspricht, eben derselbe - dass der Körper nicht da ist und doch da ist -, dessen Konsequenz im Praktischen die Askese ist.

All diese gedrückten und in die Länge gezogenen, verzerrten und ausgebogenen, verdrehten und disproportionierten Körper sind wie die plastisch gewordene Askese. Der Körper soll leisten, was er nicht leisten kann: der Träger der ins Transzendente strebenden, ja im Transzendenten wohnenden Seele zu sein.

Ein so ergreifend seelischer Ausdruck auch für uns in diesen Figuren wohnt: er kommt daher, dass ihre Seele eigentlich nicht mehr ihre Seele ist, sondern irgendwo jenseits ihrer ist, so dass der Körper mit den unmöglichsten Bemühungen versucht, ihr nachzukommen.

Mit seinen Gesten drückte die Seele die Tatsache aus, dass sie sich nicht ausdrücken konnte, und indem er eigentlich nur dazu da war, damit die Seele sich von ihm entferne - entfernten seine Bewegungen ihn gleichsam von sich selbst. Ghiberti erst und vor allem Donatello bringen beides zusammen.

Die Bewegung ist jetzt ihrem Sinne und ihrer Tendenz nach in den Körper übergegangen, sie ist nicht mehr das Symbol einer Verneinung des Körpers, sondern die Seele, die sich in ihr ausspricht, ist durchaus die Seele des Körpers, der diese Bewegung trägt.

Allein auch bei Donatello kommt die Zweiheit und Einheit der beiden Momente: der substantiell-plastischen Körperform und der passionellen Bewegtheit - noch nicht in der freistehenden Figur zum entschiedenen, starken Ausdruck, sondern nur im Relief, wo die Bewegung sich nach außen, in die Umgebung des Körpers hin, ausleben kann.

Der Körper, als die dauernde Materialität in drei Dimensionen, ist noch nicht individuell und nicht gehalten genug, um die Bewegtheit - die Bewegtheit des Seelischen - in sich allein ausschwingen, in sich (>174) zurücklaufen zu lassen.

Die Seele greift freilich nicht mehr, gleichsam an der Bewegung entlang, über den Körper hinaus ins Transzendente, aber sie ist noch nicht mit dem individuellen Sein gerade dieses Körpers ausschließlich und unverkennlich verbunden, man fühlt noch nicht die einheitliche Wurzel, die gerade diese organisch-plastische Gestaltung der Körpersubstanz und die momentane Bewegung als die Ausdrücke eines und desselben Seins aus sich hervorgehen lässt. So hat er den Lebenssinn der Renaissance zwar vorbereitet, aber auch nur vorbereitet.

Denn wenn man mit allen Vorbehalten solcher allgemeinen Schlagworte - als den Sinn der Renaissance bezeichnen kann, dass sie Natur und Geist, die das Christentum auseinandergerissen hatte, wieder als Einheit zu empfinden und zu leben suchte, so ist nun die besondere Ausgestaltung dieses Problems, die in dem Verhältnis der. plastischen Körperform zur Bewegung liegt, denn jene ist mehr naturhaft, diese mehr geistig -, erst durch Michelangelo endgültig gelöst worden.

Die Bewegtheit des Körpers, die Unendlichkeit eines ruhelosen Werdens, das seine Gestalten verkünden, ist hier zum Mittel geworden, die substantielle, plastische Form des Körpers zum vollkommensten Ausdruck zu bringen: und diese Form erscheint von sich aus in jedem Falle als der einzig angemessene Träger eben dieser Bewegung, dieses unvollendbaren Werdens.

Dies ist die Tragik der Figuren Michelangelos: dass das Sein in das Werden hineingerissen ist, die Form in die, unendliche Auflösung der Form. Künstlerisch ist der Konflikt gelöst, das antike Ideal und das der Bewegtheit haben ihr Gleichgewicht gefunden - freilich wird er dadurch menschlich und metaphysisch um so fühlbarer. Gegenüber den Körpern Michelangelos kommt einem gar nicht der Gedanke, dass sie sich auch anders bewegen könnten; und umgekehrt: der seelische Vorgang, sozusagen der Satz, den die Bewegung aussagt, kann kein andres Subjekt haben als eben diesen Körper.

Trotz aller Gewalt, ja Gewalttätigkeit der Bewegung weist sie doch nirgends über die geschlossene Umrisslinie des Körpers hinaus. Er hat eben das, was dieser Körper seiner materiellen Struktur nach, seiner Formung als ruhende Substanz nach ist, zugleich in der Sprache der Bewegung ausgedrückt.

(->175) Von hier aus gesehen, rückt nun bei Rodin der Akzent durchaus auf die Bewegtheit des Körpers: das Gleichgewicht zwischen dieser und der Körpersubstanz, das er gewinnt, ist auf einer anderen Wage gemessen, auf einer, die erst bei einem viel größeren Maß von Bewegtheit einsteht.

Die Voraussetzung oder der Grundton der erreichten Harmonie, der doch noch bei Michelangelo der „reine Körper", die abstrakt-plastische Struktur war, ist bei Rodin die Bewegung. Sie ergreift bei ihm ganz neue Herrschaftsgebiete und Ausdrucksmittel.

Er hat durch eine neue Gelenke, ein neues Eigenleben und Vibrieren der Oberfläche, durch ein neues Fühlbarmachen der Berührungsstellen zweier Körper oder eines Körpers in sich, durch eine neue Ausnutzung des Lichts, durch eine neue Art, wie die Flächen oder zusammenfließen – dadurch hat er neues Maß von Bewegung in die Figur gebracht, das vollständiger als bisher möglich war, die innere Lebendigkeit des ganzen Menschen. mit allem Fühlen, Denken, Erleben anschaulich macht.

Ebenso ist das Sichherausheben der Figur aus dem Stein, den Rodin oft noch Teile von ihr umfangen lässt, die unmittelbare Versinnlichung des Werdens, in dem jetzt der Sinn ihrer Darstellung liegt.

Jede Figur ist auf einer Station eines unendlichen Weges erfasst, durch die sie ohne Aufenthalt hindurchgeht - oft auf einer so frühen, dass sie nur in schwer erkennbaren Umrissen aus dem Block herausragt. Und hiermit besonders greift das Bewegungsprinzip aus dem Werk auf den Beschauer über.

Es wird ein Äußerstes an "Anregung" gegeben, indem die Versagtheit der vollen Form die Eigentätigkeit des Betrachtenden aufs stärkste herausfordert.

Läge irgend etwas Wahres in der Kunsttheorie: dass der Genießende den Schaffensprozess in sich wiederholt - so könnte dieses nicht energischer geschehen, als indem die Phantasie das Unvollständige selbst zu vollenden hat und ihre produktive Bewegtheit zwischen das Werk und seinen Endeffekt in uns schiebt.

Zweifellos ist die Bewegung dasjenige an uns, was dem Ausdruck am vollendensten dient; denn keine andre Bestimmung unsres Seins ist dem Körper und der Seele gemeinsam, die Beweglichkeit ist gleichsam der Generalnenner für diese beiden, sonst einander (>176) unberührbaren Welten, die gleiche Form für das unvergleichbare Leben ihrer Inhalte. -

In van Gogh sind dann die Elemente wieder ganz neu kombiniert. Er trägt in seine Bilder ein Leben, so ungestüm, vibrierend, fieberhaft, wie kein andrer Maler; und nun ist das Rätselhafte und Erschütternde, dass dies nicht (oder relativ selten) durch Darstellung und Erregung von Bewegungsvorstellungen geschieht.

Äußerlich angesehen, ist in seinen meisten Landschaften und Stilleben eine einfache Zuständlichkeit, nicht wie bei Rodin, ein aufenthaltsloses Herkommen von irgendwoher und Gehen irgendwohin, und doch sind sie von einer haltlos stürmenden, Rodin noch überjagenden Unrast, deren Ursprung in dem ruhigen Dastehen ihres Gegenstandes eine - der unheimlichsten künstlerischen Synthesen ist.

Vielleicht hat gerade mit diesem immanenten Gegensatz - wie er, in freilich viel ausgeglichenerer Weise auch bei Michelangelo besteht - das Bewegtheitsgefühl seine äußerste, nicht mehr überbietbare Intensität erreicht.

Man kann die Bewegtheit der plastischen Figur, in ihrem Verhältnis zu deren beharrender Form, mit dem musikalischen Faktor der Lyrik und ihrem Verhältnis zu dem Gedankengehalte des Gedichtes vergleichen.

Hier mag Goethes Lyrik jenes Gleichgewicht der Elemente zeigen, das der Plastik Michelangelos entspricht. Man möchte sagen, dass in seinen vollkommensten Gedichten oder in der Lyrik von Fausts Verklärung der Gedanke und der Klang deshalb eine so absolute Einheit bilden, weil jedes beiden für sich auf seiner letzterreichbaren Höhe steht; der zeitlose, gedankliche Inhalt und die Bewegung, in der er sich sinnlich gibt, sind hier aus einer so harmonischen Vollendung des Schöpfers herausgewachsen, dass auch im Geschaffenen ein jedes das andre bis zu seiner Grenze durchdringt, nichts leerlassend und nicht darüber hinausragend, keines das Erste und keines das Letzte.

Dieselbe Entwicklung aber des modernen Geistes wie bei Rodin verratend, wird in der Lyrik Stefan Georges die Musik des Gedichts - nicht nur die äußerlich-sinnliche, sondern auch die innere - zum beherrschenden Ausgangspunkt.

Nicht als ob der Inhalt darüber zu kurz kommen müsste; aber das Gedicht als ob ihn die Musik, die rythmisch-melodische Bewegtheit, (>177) von sich aus erwachsen ließe. So also. scheint bei Rodin das Bewegungsmotiv das erste zu sein und die plastische Struktur ihres materialen Trägers gewissermaßen zu kooptieren.

Gewiss sucht Rodin die Impressionen, im Gegensatz zu dem mechanischen Naturalismus und zum Konventionalismus, aber - so paradox es in begrifflichem Ausdruck klingt - die Impression des Übermomentanen, die zeitlose Impression; nicht die der einzelnen Seite oder des einzelnen Augenblickes des Dinges, sondern des Dinges überhaupt; auch nicht nur die Impression des Auges, sondern des ganzen Menschen.

Wie es die große Leistung Stefan Georges ist, dem lyrischen Ausdruck des subjektiven Erlebens eine monumentale Form gewonnen zu haben, so geht auch Rodin den Weg zu einer neuen Momentualität - der des Werdens der Bewegtheit, während sie bisher in das Sein, an die Substantialität des klassischen Ideals gebunden schien.

Nichts andres als dies ist es, was er selbst einmal als ein Ziel seines Suchens ausgesprochen hat: den „latenten Heroismus jeder natürlichen Bewegung". Rodin erzählte, dass er oft ein Modell auffordere, vielfach wechselnde Stellungen einzunehmen; dann interessierte ihn plötzlich die Wendung oder Biegung irgendeines einzelnes Gliedes: eine bestimmte Drehung der Hüfte, ein gehobener Art, der Winkel eines Gelenkes - und diesen Teil allein seiner Bewegung halte er im Ton fest. ohne den übrigen Körper.

Dann, oft nach langer Zeit, stehe die innere Anschauung eines ganzen Körpers in charakteristischer Pose vor ihm, und er wisse dann sogleich mit Sicherheit, welche von den auf jene Weise entstandenen Studien diesem zugehöre.

Es hat also unzweifelhaft jene einzelne Gebärde, im Unbewussten weiterwachsend, sich den zugehörigen Körper sozusagen erzeugt, die Bewegung hat sich ihren Leib gebaut, das Leben seine Form. Deutlicher kann der Unterschied gegen die Antike nicht bezeichnet werden, aber auch nicht gegen Michelangelo.

Denn eine so vollkommene Einheit und Gleichgewicht der Elemente er erreicht - so ist sein Ausgangspunkt doch das klassische Ideal, die Substantialität und Geschlossenheit der anatomischen Form, die er nun erst mit der Glut und Impulsivität seines Fühlens in Fluss bringt, mit Bewegung durchdringt, bis beides sich ineinander restlos aufgenommen (>178) hat.

Auch nähert Michelangelo, indem er der Bewegung den Dauerwert, das zeitlos Bedeutsame zu geben sucht, sie wieder dem Stabilen. Bei aller verzehrenden Leidenschaft in seinen Bewegungen sind sie doch immer in einem relativen Ruhepunkt erfasst, in einer Ausbalanciertheit, in der die Figur eine Weile verbleiben kann- dies ist seine Art, der Bewegung eine zeitlose Bedeutung zu geben.

Darauf aber verzichten gerade die bedeutsamsten Gestalten Rodins, ihre Bewegungen sind wirklich die eines vorüberfliegenden Momentes. Aber in diesen ist der ganze Lebenssinn der Wesen so gesammelt, sie sind ihrem übermomentanen Sein so völlig verbunden, wie es sonst nur die substantielle, sich nicht ändernde Form der Körpererscheinung ist.

Darum wirken ihre Gebärden einerseits vage - weil sie nicht, wie es dem Klassizismus nahe liegt, mit zeitlosen Begriffen zu beschreiben und dadurch von der Kontinuität der Lebensbewegung abgeschnürt sind - andrerseits aber für das Gefühl, das ihre Strömung begleitet, völlig bestimmt und klar.

Sie zeigen freilich nur einen Moment, aber dieser Moment ist das Ganze - das ganze Schicksal. Es ist keineswegs der "fruchtbare Moment", diese Zuspitzung, dieses Haltmachen fehlt völlig; es ist ganz momentan, aber nicht so einzeln, wie der fruchtbare Moment - dessen Schwäche es war, die Momentaneität der Zeit durch eine bloße Verlängerung der. Zeit, die man überblickte, zu überwinden.

In dem fruchtbaren Moment liegt immer nur vieles, in der Rodinschen Geste liegt alles.

Bis zu Rodin schien die Zeitlosigkeit für die Plastik nicht anders erreichbar, als dass man dem. Objekt oder Inhalt des Werkes den Charakter der Ruhe, des Substanziellen des Dauernden gab, man glaubte die Erhabenheit über zeitliches Entstehen und Vergehen nur durch oder als Beharrung in der Zeit gewinnen zu können. Rodin erst hat prinzipiell -Einzelerscheinungen waren natürlich vorangegangen - die künstlerische Zeitlosigkeit der reinen Bewegung entdeckt.

Wie nun bei Michelangelo die Koinzidenz der beiden Arten, auf die wir uns körperlich darstellen: des Seins und des Bewegens - auf ihren letzten Wurzelpunkt, auf die -Seele hinweist, auf die Renaissanceseele, mit ihrem Ideal harmonischer Ausgeglichenheit (> 179) aller Wesenselemente – gleichviel, in wie weitem Abstand von diesem Ideal die Sehnsucht seiner Gestalten sich fühlt – so ist die Seele, die bei Rodin den Brennpunkt des Körperlich-Sichtbaren bildet, eben die moderne Seele, die so viel labiler, in ihren Stimmungen und selbsterzeugten Schicksalen wechselnder und deshalb den Bewegungselement verwandter ist, als die Seele des Renaissancemenschen.

Das Trasmutabile per tutte guise, das Dante von sich aussagt, und das gewiss für die ganze italienische Rennaisance gilt, ist mehr ein Hin- und Herpendeln zwischen verschieden gefärbten Seinszuständen, von denen aber jeder in sich substantiell und eindeutig ist: zwischen Melancholie und Rausch, Verzagtheit und Mut, Glaube und Unglaube – während die moderne trasmutabilità ein kontinuierliches Gleiten ohne feste Ausschlagspole und Haltpunkte ist, weniger ein Wechseln zwischen dem Ja und dem Nein, als eine Gleichzeitigkeit von Ja und Nein.

Mit alledem hat nun Rodin den entscheidenden Schritt über den Klassizismus und eben damit über den Konventionalismus hinaus getan. Da wir weder die Seinseinfachheit der Antike besitzen noch die renaissancemässige Harmonie des Lebensideales, die unbeschadet des schliesslichen Gleichgewichtes aller Elemente von der antiken Norm ausgehen konnte – so ist das Beharren der klassischen Form in der Plastik eine klaffende Diskrepanz gegen das Lebensgefühl des gegenwärtigen Menschen und kann gar nicht vermeiden, ein Konventionalismus zu sein.

Dieser, in der Plastik mehr als in irgendeiner Kunst der Gegenwart herrschend, drückt aus, dass sie die spezifisch unmoderne Kunst ist. Als Zetrümmerer der Konvention bietet sich zunächst der Naturalismus an. Allein schließlich ist er doch nur das Pendant des Konventionalismus.

Beide empfangen die Norm ihrer Gestaltungen von aussen, der eine schreibt den Natureindruck ab, der andere die Schablone; beide sind sie Abschreiber (was natürlich nur der extreme Grenzbegriff ist) gegenüber dem eigentlichen Schöpfer, für den die Natur nur Anregung und Material ist, um die Form, die sich in ihm bewegt, in die Welt hinein zu gestalten.

Naturalismus und Konventionalismus sind nur die künstlerischen Reflexe der beiden Vergewaltigungen des neunzehnten Jahrhunderts: (>180) Natur und Geschichte.

Beide drohten, die freie, sich selbst gehörende Persönlichkeit zu ersticken,. die eine, weil ihr Mechanismus die Seele demselben blinden Zwang unterwarf wie den fallenden Stein und den sprießenden Halm, die andere, weil sie die Seele zu einem bloßen Schnittpunkt sozialer Fäden machte und ihre ganze Produktivität in ein Verwalten der Gattungserbschaft auflöste.

Dem Individuum, so durch die überwältigenden Massen von Natur und Geschichte erdrückt, verblieb weder Eigenheit noch eigentliche Selbsttätigkeit, es wurde eine bloße Durchgangsstelle ihm äußerer Gewalten, und in der künstlerischen Produktion kam dies sozusagen am anderen Ende wieder heraus, indem die Unselbständigkeit des Naturalismus uns an die bloße Gegebenheit der Dinge fesselte, die Unselbständigkeit des Konventionalismus an das historisch Vorliegende und das gesellschaftlich Anerkannte; der eine an das, was ist, der andere an das, was war. Keiner von beiden gibt uns Freiheit und Notwendigkeit in dem Sinne, in dem wir beides im Kunstwerk suchen.

Gegen die Konvention empören wir uns, weil sie keine wirkliche innere Notwendigkeit, sondern nur eine historische Zufälligkeit bedeutet, die uns nun dennoch als Gesetz zwingen will. Und die Natur ihrerseits, wie sie sich unmittelbar, unreflektiert bietet, ist einfache Wirklichkeit, die noch nicht in Freiheit und Notwendigkeit auseinandergegangen ist.

Dass die Dinge naturhafterweise kommen "müssen", wie sie kommen, dass das Naturgesetz. sie "zwingt", ist ein ebensolcher Anthropomorphismus und eine ungefähr ebenso leere Redensart, wie dass die Natur "immer wahrhaftig" wäre.

Wie Wahrhaftigkeit nur da einen Sinn hat, wo die Lüge wenigstens als Möglichkeit in Frage kommt, so besteht aller Zwang, alles Müssen nur angesichts eines Widerstandes, einer sich entgegenstellenden Freiheit. Die Naturdinge sind schlechthin wie sie sind, und zu "müssen" scheinen sie nur, weil wir unser Gefühl von Andersseinkönnen, von Freiheit irgendwie in sie hineinlegen.

Beides, Freiheit wie Notwendigkeit, sind Siege der Seele über das bloß Tatsächliche des Daseins; beide leben erst in der Gestaltung, deren Notwendigkeit in dem inneren Sinn und Sein des Schaffenden, in dem Lebensausdruck der geschaffenen Gestalt liegt - aber nicht in dem zufälligen Gesetz (>181) der Konvention noch in dem abstrakten „Gesetz" der Natur.

Diese beiden, der Individualität äusseren Gesetzlichkeiten hat am vollkommensten Rembrandt durch die Inthronisierung des Individualitätswertes überwunden. Allerdings in einem so absoluten und zugespitzten Sinne eben dieses, dass die Menschen Rembrandts dessen entbehren, was man kosmisch nennen könnte.

Auf ihren Gesichtern sind die Situationen dieses einen Lebensweges, von seinem Anfang an, abgelagert, und von diesem Komplex ihres inneren Erlebens werden sie überhaupt gebildet.

Dagegen: die Verhängnisse, die Dunkelheiten und Seligkeiten dessen, das die einzelne Seele als das Metaphysische des Seins überhaupt, als der Grund der Dinge überhaupt umgibt – das klingt nicht aus diesen Menschen heraus.

Der spezifisch-germanische Begriff der Individualität, der sie aus dem Einzigkeitspunkte des Einzelnen entwickelt und mit dem Rembrandt Freiheit und Notwendigkeit vereint, besteht bei Rodin nicht.

Aber er führt die Lebenslinie seiner Gestalten in eine Richtung und eine Höhe, die man kosmisch nennen kann und mit er sie nicht nur jenseits von Naturalismus und Konventionalismus, sondern sogar jenseits von Notwenigkeit und Freiheit der Person stellt.

Freilich gehorcht auch hier die Seele in der Art, wie sie sich darstellt, keinem ihr von aussen auferlegten Schema, freilich formt sie die Erscheinung und die Gesten des Körpers rein von innen her.

Allein dieses Innere ist durchdrungen, überwältigt, beseeligt von einem Schicksal, das mehr ist als sie selbst, das zwar in ihrem irdischen Erleben in ihr ist, aber zugleich in einem metaphysischen Raume um sie ist.

Man fühlt, dass die Stürme, die sie treiben, Schicksale der Welt überhaupt sind, während sie den Rembrandtschen Menschen ausschließlich aus der eignen Seele brechen und nur in der Richtung von deren eigner Entwicklung wehen.

Darum haben alle Rembrandtschen Menschen, ein zitterndes, vom Leben zermahlenes Mütterchen oder ein kleiner armseliger Judenjunge, noch immer etwas im tiefsten Grunde Selbstsicheres, während Rodins Menschen aufgelöst sind – und zwar von etwas Gewaltigerem als dem bloß persönlichen Schicksal, vielmehr von einem Verhängnis des Daseins, das den Raum überhaupt und damit auch ihren eigenen erfüllt und damit ganz von selbst auch ihr Verhängnis (>182) geworden ist.

Es ist bei Rodin die Liebe überhaupt, die Verzweiflung überhaupt, die Versenkung überhaupt, die als kosmische Dynamik dem Einzelnen zum Schicksal wird – nicht als Allgemeinbegriff, wie im Klassizismus, den die Gestalt allegorisierte, sondern als unmittelbares Leben, dessen Träger das

Sein und dessen Pulsschlag dieses Individuum ist. -

Wenn ich die Überwindung des Klassizismus durch Rodin an das Souveränwerden des Bewegungsmotivs gegenüber dem Seinsmotiv knüpfte, so weist die jetzige Überlegung noch auf eine tiefere Schicht in der diese Verbindung sich vollzieht.

Der Klassizismus musste weichen, weil er, jetzt nur noch eine erstarrte Konvention, ebenso wie der Naturalismus weder die Freiheit noch die Notwendigkeit im künstlerischen Sinne gewährte.

Die Zentrierung des Gebildes in der rein inneren Gesetzlichkeit der Individualität vereinigt beides, und so sind Rodins Gestalten "sich selbst ein Gesetz", ihre Formgebung ist der absolut nachgiebige Ausdruck ihres Inneren.

Indem dieses Innere aber, worauf ich hinwies, in einer kosmischen oder metaphysisch-seelischen Atmosphäre gleichsam chemisch gelöst ist, von ihr durchdrungen und sie durchdringend, ist es dem Bewegungsmotiv sehr viel mehr verpfändet als die germanisch-rembrandtische Form der Individualität.

Diese, mit der festumrissenen Persönlichkeit, dem individuellen Gesetz dieses Einzigen abschließend, hat einen festeren, beharrenden, dem Fluktuieren entzogenen Kern oder Umfang.

So radikal sich Rembrandt sonst allem Klassizismus entzieht - zu dem Seinsideal in seiner höchsten Verallgemeinerung hat sein Individualitätsideal noch nicht die letzte Brücke abgebrochen.

Hier hat das Individuum als solches noch immer eine Substanz, die, wenn auch nicht mit Begriffen beschreibbar, als ein Grenzgesichertes, nur sich selbst Verhaftetes, in aller wogenden Dynamik des Lebens darinsteht.

Dieser aber sind die Rodinschen Wesen von innen her ausgeliefert, sie sind bis zu ihrem tiefsten Kern vergewaltigt durch etwas, was man freilich so wenig als ein Äußeres bezeichnen kann, wie der Wind etwas Äußeres ist gegenüber dem Luftatom, das in ihm fortgerissen wird - da bewegte Luftatome eben ein "Wind" sind.

Man könnte hierzu in gewissen modernen Vorstellungen über Substanz (>183) und Energie eine Analogie sehen.

Was sich an der einzelnen Erscheinung als starr und stabil darbot, wird in Oszillationen, in immer restlosere Bewegtheiten aufgelöst; aber diese Bewegtheit des Einzelwesens selbst ist nur eine Formung oder ein Durchgangspunkt des einheitlichen kosmischen Energiequantus.

Es reicht nicht aus, dass ein Wesen, irgendwie in sich geschlossen; in sich reine Bewegung sei: seine Grenze selbst muss sich lösen, damit jene innere Bewegung unmittelbar eine Welle der kosmischen Lebensflutung sei.

Nun erst ist das Bewegungsmotiv absolut geworden, wo nicht mehr die Form der Individualität wie eine Membran eine rein in ihr sich abspielende Bewegung umgrenzt, sondern wo diese letzte Geschlossenheit fällt, um ihren Inhalt, selbst schon Bewegtheit, als eine mit der unendlichen Bewegtheit, als eine mit der unendlichen Bewegtheit von Welt, Leben, Schicksal zu zeigen. –

Die hier fragliche Bewegtheit ist eine völlig andre als die im Barock oder in der japanischen Kunst. Im Barock ist die Bewegung nur dem äusserlichsten Anschein nach eine größere.

Denn die Erscheinung hat den festen Punkt in sich – kantisch zu reden: das Ich der Apperzeption – verloren, das auch der leidenschaftlichsten Bewegung erst den Gegenwurf gibt, an dem sie ermessen werden kann, und das an der räumlichen Geschlossenheit des Umrisses anschaulich wird.

Dieses Entgleiten des Ich-Punktes ist für eine Zeit begreiflich, die den Persönlichkeitsbegriff der Renaissance verloren und den modernen, durch Kant und Goethe ausgebildeten, noch nicht gewonnen hatte; die entsprechend auch in dem theoretischen Weltbild den Mechanismus, das bloss kausale Fließen, das substanzlose und impersonalgesetzliche Spiel der Naturkräfte zu ihrem Schiboleth macht: so sind viele Barockfiguren Konglomerate von Bewegungen, aber sozusagen nicht Bewegungen dieser einen bestimmten Person.

In der japanische Kunst – von der freilich hier die Malerei als Analogie heranzuziehen ist – bewegt sich überhaupt nicht der Körper, sondern nur die Linie des Körpers, der Zweck und Inhalt der Darstellung ist nicht der bewegte Körper um seiner selbst willen und aus sich heraus, sondern eine von dekorativen Gesichtspunkten aus bewegte Umrisslinie des Körpers.

Erst wenn die Seele sich der Schwere des Körpers entgegensetzt, ihr Impuls (>184) seine Materialität nach aufwärts zieht, das bloß Naturhafte seines Bewegtwerdens ablenkt - kann sie in die Erscheinung treten; indem die japanische Kunst auf die Stoffsubstanz des Körpers verzichtet, findet die Seele nichts zum Beherrschen und Bewegen was ihre Bewegtheit offenbarte.

Das Maß der inneren Bewegtheit ist bei Michelangelo gewiss kein kleineres als bei Rodin, aber sie ist eindeutiger, weniger problematisch in einer Richtung höchster Intensität konzentriert; und diese Form verlangt zu ihrem Ausdruck kein so großes Maß äußerer Bewegung wie die vielspältige, vibrierende der modernen Seele, für die das einzelne Schicksal, das für Michelangelo ein definitives ist, vielmehr ein Durchgangspunkt einer aus dem Unbestimmten kommenden und ins Unbestimmte gehenden Wanderung ist, die die Wege ohne Ziele liebt; und die Ziele ohne Wege.

Die antike Plastik suchte sozusagen die Logik des Körpers, Rodin sucht seine Psychologie.

Denn das Wesen der Moderne überhaupt ist Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unsres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüssige Element der Seele, aus der alle Substanz herausgeläutert ist, und deren Formen nur Formen von Bewegungen sind.

Darum ist Musik, die bewegteste aller Künste, die eigentlich moderne Kunst; und darum war die Lyrik, die am meisten die Sehnsucht ihrer Zeit erfüllte, um ihre Musik aufgebaut.

Darum ist die spezifisch moderne Errungenschaft der Malerei die Landschaft, die ein état d'âme ist, und deren Farbigkeits- und Ausschnittscharakter der festen. logischen Struktur mehr entbehrt als der Körper und die figurale Komposition.

Und innerhalb des Körpers bevorzugt die Moderne das Gesicht, die Antike den Leib, weil jenes den Menschen in dem Fluss seines inneren Lebens, dieser ihn mehr in seiner beharrenden Substanz zeigt.

Aber diesen Charakter des Gesichts hat Rodin dem ganzen Leib verliehen; die Gesichter seiner Figuren sind oft wenig ausgeprägt und individuell, und alle seelische Bewegtheit, alle Kraftstrahlen der Seele und ihrer Leidenschaft, die sonst am Gesicht den Ort ihrer Äußerung fanden, werden in dem Sichbiegen und Sichstrecken des Leibes offenbar, in dem Zittern und Erschauern, das über (>185) seine Oberfläche rinnt, in den Erschütterungen, die sich von dem seelischen Zentrum aus in all das Krümmen oder Aufschnellen, in das Erdrücktwerden oder Fliegenwollen dieser Leiber umsetzen.

Das Sein eines Wesens hat für das andre immer etwas Verschlossenes, in seinem tiefsten Grunde Unverständliches; seine Bewegung aber etwas, das zu uns hinkommt oder dem wir nachkommen können. Wo deshalb die psychologische Tendenz das Bild des ganzen Leibes formt, hält sie sich an seine Bewegung.

Diese Bewegtheitstendenz ist die tiefgründigste Beziehung der modernen Kunst überhaupt zum Realismus: die gestiegene Bewegtheit des wirklichen Lebens offenbart sich nicht nur in der gleichen Kunst, sondern beides: der Stil des Lebens und der seiner Kunst, quellen aus der gleichen tiefen Wurzel.

Die Kunst spiegelt nicht nur eine bewegtere Welt, sondern ihr Spiegel selbst ist beweglicher geworden.

Vielleicht ist dieses Gefühl, dass seine Kunst unmittelbar ihrem Stile nach und nicht nur wegen der Objekte, an die sie gewiesen ist, den Sinn des gegenwärtigen wirklichen Lebens lebt – vielleicht ist dies der Grund, weshalb Rodin selbst sich als „naturaliste" bezeichnete.

Hier liegt die Kulturbedeutung Rodins, der gegenüber der Naturalismus, wenn er nur die Inhalte der Dinge, wie sie sind, wiedergeben will, etwas ganz Äußerliches, Mechanisches ist, der extreme Naturalismus perhorresziert den Stil, und sieht nicht, dass ein Stil, der den Sinn unsres Lebens unmittelbar selbst lebt, sehr viel tiefer wahr, wirklichkeitstreuer ist, als alle Nachahmung; er hat nicht nur Wahrheit, er ist Wahrheit.

Empfindet man aber als das durchgehende Ziel der Kunst die Erlösung von den Trubeln und Wirbeln des Lebens, die Ruhe und Versöhntheit jenseits seiner Bewegung und Widersprüche, so mag man bedenken, dass die künstlerische Befreiung von einer Beunruhigung oder Unerträglichkeit des Lebens nicht nur durch die Flucht in ihr Gegenteil, sonder auch gerade durch die vollkommenste Stilisierung und gesteigerte Reinheit ihres eignen Inhaltes gelingt.

Die Antike hebt uns über die Fieber und die problematischen Schwingungen unserer Existenz, weil sie deren absolute Verneinung, die absolute Unberührtheit durch sie ist.

Rodin erlöst uns, weil er gerade das vollkommenste Bild dieses (>186) in der Leidenschaft der Bewegtheit aufgehenden Lebens zeichnet; wie ein Franzose von ihm sagt: c'est Michelange avec trois siècles de misère de plus.

Indem er uns unser tiefstes Leben noch einmal in der Sphäre der Kunst erleben lässt, erlöst er uns von eben dem, wie wir es in der Sphäre der Wirklichkeit erleben.

 

 


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
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