Georg Simmel: Einleitung
in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe
Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93
Band 1:
Viertes Kapitel: Die Glückseligkeit (S. 293-467)
Die Vermehrung der Glückssumme als tatsächlicher Zweck.
Evolutionistische und psychologische Beweise. Die Unbewusstheit des
Glückseligkeitsstrebens
Der Lustbegriff.- Die Vermehrung der Glückssumme als ethische
Norm. Tatsächlichkeit des eudämonistischen Kriteriums.- Der praktische
Utilitarismus. Begriff der praktischen Wissenschaft
Die Verteilung des Glücks und ihr Verhältnis zu seiner
Maximisierung. Der Sozialismus als regulatives Prinzip. Absoluter und
relativer Wert der Glücksmittel. - Die Ausgleichung zwischen Lust und
Unlust. Wert der Schwingungsweite. Eudämonistische Differenzierung und
Sozialisierung
Das Sozialprinzip der Kontinuität. Das Moralprinzip des
Tätigkeitsmaximums. Analytischer Charakter des eudämonistischen
Prinzips. - Sittlichkeit und Glückseligkeit
Die Forderung ihrer Harmonie. Sechs mögliche Behauptungen über
die Verknüpfung zwischen ihnen. Das Gewissen. Strafe und Lohn in
sozialethischer Beziehung
Der Pessimismus über das Verhältnis von Tugend und Glück.
Ästhetische und religiöse Verknüpfung. Ausschluss jedes prinzipiellen
Verhältnisses zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit
(<293) In dem Kapitel über das Sollen haben wir gesehen, in wie hohem Masse
die Wirklichkeit der Dinge unseren Willen bestimmt, wie er, obgleich
formal auf die Verwirklichung eines bis jetzt noch Unwirklichen gehend,
doch an den Inhalt des Wirklichen sich anpasst und aus ihm seine Nahrung
und Richtung zieht.
In gleicher Weise gibt die Tatsächlichkeit des Wollens die Richtung
des Sollens an.
So wahr es sein mag, dass es für das Sollen gleichgültig ist, ob es
vielleicht nie realisiert, d. h. definitiv gewollt wird, so unleugbar ist
doch, (<294) dass wirkliche Willensakte ihm den Inhalt bestimmen.
Trotz des idealen Charakters, den das Sollen trägt, und der zu jenem
Kantischen Ausspruch geführt hat, springt doch sein Inhalt nicht wie
durch generatio aequivoca aus einer absolut anders gearteten Ordnung der
Willen hervor, sondern es erhebt nur wirkliche Willensakte sozusagen in
den sittlichen Adelsstand.
Daher das Bemühen so vieler Ethiker, die Strebungen, welche sie als
die sittlich gesollten nennen, auch als die tatsächlich wirksamen
nachzuweisen.
Und zwar können dem zweierlei meistens unbewusste Motive zu Grunde
liegen.
Einmal die Vorstellung, dass wir sittlicher Weise nichts andres tun
könnten als die Absichten der Andren zu fördern; wer den Willen der
Andren zum Inhalt des eigenen macht, sei sittlich, und deshalb sei der
sittliche Wille der, der mit dem tatsächlich konstatierbaren
übereinstimmt.
Zweitens aber, von der Seite des Subjekts, sei es ein vergebliches
Bemühen, den Willen auf andre Ziele zu richten, als sie ihm natürlich
sind; haben wir erst einmal erkundet, was der tatsächliche Endzweck alles
Wollens ist, so bleibt uns nichts zu tun, als diesem mit möglichster
Vollständigkeit nachzugehen, und alles Sollen kann sich nur in einer
gewissen Formung dieses inhaltlich Feststehenden, in seiner
Vereinheitlichung und zweckmässigsten Durchführung bewegen.
Wird als Moralprinzip die Vermehrung der Glückssumme auf Erden
ausgesprochen, so wird dies häufig durch den Nachweis eingeleitet, dass
der tatsächliche Endzweck alles menschlichen Bestrebens die Maximisierung
der Lust wäre.
Dies fällt mit dem Dogma des Egoismus nicht zusammen; denn der
Egoismus ist, wie wir sahen, eine rein formale Bestimmung des Handelns,
von der erst auszumachen ist, ob wirklich Lust oder irgend ein andrer
Zustand des Handelnden ihren Inhalt bildet; nur dann, wenn der einzige
Wert des Lebens neben der Lust im Aufgeben des Egoismus bestände, dann
müsste aller Egoismus eudämonistisch sein.
Und andrerseits könnte der Nachweis versucht werden, dass das Streben
nach Glück gar nicht oder (<295) nicht immer ein egoistisches zu sein
braucht.
Nimmt man überhaupt an, dass es schlechthin objektive Willensziele
gibt, d. h. solche, deren Verwirklichung als Wert empfunden wird,
gleichviel wie sie auf das handelnde Subjekt wirken, so könnte man sich
wohl denken, dass jemand die Erhöhung seines eigenen Glücksquantums als
objektives Ziel vor sich sieht und zwar unter dem gleichen Gesichtswinkel,
wie sonst die Herstellung äusserer Zustände gewollt oder gesollt wird;
das psychologische Motiv des praktischen Eudämonismus würde dann kein
schlechthin egoistisches, sondern ein objektives sein, das nur zum relativ
zufälligen Inhalt eben das eigene Glück hätte.
In der buddhistischen Überlieferung findet sich eine derartige
Übertragung der Pflichtvorstellung auf die Herstellung des eigenen
Glücksmaximums.
Ich will dieselbe ausführlich hersetzen, weil sie die hier fragliche
ethische Wertung mit jener grandiosen Einfachheit wiedergibt, die den
Grundgedanken Buddha's überhaupt eigen ist und sie zum modernen
Pessimismus ungefähr das Verhältnis gewinnen lässt, das die Antike zur
Renaissance hat.
Buddha erzählt von einem Könige der Vorzeit, der ein grosses Opfer
darbringen wollte; auf den Zuspruch eines Priesters hin aber unterlässt
er es, bis er in seinem Reiche einen idealen Zustand von Glück,
Zufriedenheit und Ruhe hergestellt habe, und dies bilde die Vollendung vom
Opfer des Königs.
»Aber es gibt, fährt Buddha fort, noch ein andres Opfer, leichter
dazubringen als jenes und doch höher und gesegneter: wenn man Gaben
spendet an fromme Mönche, wenn man Wohnstätten baut für Buddha und
seine Gemeinde.
Und noch höhere Opfer gibt es: wenn man gläubigen Sinnes seine
Zuflucht nimmt beim Buddha, wenn man kein Wesen des Lebens beraubt, wenn
man Lug und Trug von sich tut.
Und noch ein höheres Opfer gibt es: wenn man als Mönch von Freude und
Leid lässt und sich hineinversenkt in heilige Ruhe.
Das höchste Opfer aber, das ein Mensch bringen kann, ist, wenn er die
Erlösung erringt und die Gewissheit gewinnt: nicht mehr werde (<296)
ich wieder zu dieser Welt zurückkehren. Das ist die höchste Vollendung
alles Opfers.«
Das durchaus Charakteristische ist hierbei, dass nicht eine naive
Verwechslung von dem, was aus egoistischen und dem, was aus sittlichen
Gründen sein soll, vorliegt; sondern dass eine bewusste Drehung der
moralischen Aufgabe vom altruistischen zum egoistischen Glücksstreben vor
sich geht.
Dabei findet in der moralischen Würde der einzelnen angeführten
Pflichten, die unter dem immer gleichen Bilde des Opfers gedacht wird,
keine Wandlung statt, sondern eine nur quantitative Steigerung, so dass
der Gewinn der eigenen Erlösung unter dem gleichen Gesichtswinkel
erscheint, wie das Erfüllen der Regentenpflichten oder der kirchlichen
Aufgaben; allen gegenüber gilt die gleiche objektive Moralforderung, nur
am lautesten dem eigenen Seelenheil gegenüber.
Wir unterscheiden nun die Behauptung eines tatsächlichen Eudämonismus
als die Lehre, dass Glücksmehrung das wirkliche Motiv alles Handelns
wäre, von dem ethischen Eudämonismus, der dieselbe als Inhalt des
Sollens aufstellt, und untersuchen zunächst die erstere.
Es ist kein Zweifel, dass es sich hier nur um die Entscheidung über
ein Mehr oder Weniger, über ein Viel oder Ganz handeln kann; dass in
einer sehr grossen Anzahl von Fällen die Erwartung einer Lust wirklich
den Willen bestimmt, wird auch der entschlossenste Gegner des
Eudämonismus nicht leugnen.
Nur ob das Viele auch das Ganze ist, kann gefragt werden, oder
wenigstens, ob die Richtung der Entwicklung die ist, dass das Viele zum
Ganzen werde, dass der eudämonistische Zweck mehr und mehr das Gebiet
unserer Handlungen besetze.
Der Optimismus, der auf der Evolutionslehre fusst, scheint dies mit
folgender Ausführung begründen zu können.
Wären die zum Leben erforderlichen Tätigkeits- und Verhaltungsweisen
mit Schmerz statt mit Lust verbunden, so würde man sie so viel wie
möglich vermeiden; deshalb würde ein Wesen, dem die Erhaltung des Lebens
(<297) nur Schmerz brächte, sich nicht erhalten können.
Denn dies können nur solche Wesen, die die zum Leben erforderlichen
Bedingungen in weitestem Umfange aufsuchen.
Folglich muss die Anpassung dahin wirken, dass die aufgesuchten
Funktionen und Umstände, d.h. die lustversprechenden, zugleich die
lebenerhaltenden und -fördernden sind.
Wo etwa eine zum Leben erforderliche Verhaltungsweise ursprünglich mit
Unlust verbunden war, muss die evolutionistische Zweckmässigkeit eine
Umänderung der Organisation zu Wege bringen, in Folge deren jenes
Verhalten, weil es eben nützlich ist, mehr und mehr gesucht, d. h. mit
Lust verbunden wird.
Ist dies die Richtung, die die Entwicklung der Gattung nimmt, so wird
sie den Einzelnen durch Vererbung überliefert.
Ist erst einmal die Vorstellung - bewusst oder unbewusst - vorhanden,
dass das Lebenerhaltende zugleich das Lustvolle ist, so fällt der
Selbsterhaltungstrieb des Individuums mit dem Triebe nach Lust zusammen.
Und da wir den ersteren und seine Vervollkommnung mit aufsteigender
Entwicklung überall voraussetzen dürfen, so ist damit zugleich die
Annahme einer durchgängigen eudämonistischen Strebung gerechtfertigt.
Es scheint zwar, als ob diese Deduktion sich im Kreise drehte: denn sie
setzt voraus, dass überhaupt nur dasjenige gesucht wird, was Lust bringt,
um dann durch das Mittelglied der Lebenserhaltung hindurch daraus zu
erweisen, dass die Lust allgemein gesucht wird.
Allein der entscheidende Punkt ist der, dass die von allen Parteien
zugegebene Häufigkeit der Fälle, in denen die Lust Motivierungskraft
besitzt, ein allgemeines Band für die Gattung zwischen ihr und dem
überhaupt Begehrten knüpft, das nun dem Individuum einfach als Tatsache
überliefert wird, und an das es auch dann gebunden ist, wenn aus seinen
eigensten psychologischen Verhältnissen heraus jenes schwerlich entstehen
würde.
Oder, das Entscheidende anders ausgedrückt: es kommt auf eine
Umänderung der Organisation an, infolge deren nur noch das Lustvolle
gesucht zu werden braucht, um in ihm zugleich das Nützliche zu haben; und
(<298) wenn überhaupt steigende Anpassung angenommen wird, so scheint
allerdings vieles für diese Richtung der organischen Entwicklung zu
sprechen.
Wie es wohl vorkommt, dass feinere und unsinnlich angelegte Naturen
Genüsse suchen, nicht um des Genusses willen, sondern weil es dessen zur
Belebung ihrer Energie, zur Erweiterung ihrer Kenntnisse, kurz zu Zwecken
bedarf, die weit über den Genusmoment hinausliegen: so mögen wohl auch
in der Gattung gewisse lustbringende Funktionen gesucht werden, deren
ursprünglicher Sinn und Zweck gar nicht die Lust, sondern die
Lebenserhaltung und Lebensförderung ist.
Erst die fortschreitende Entwicklung hätte dann, um ihren Vollzug zu
sichern, zweckmässiger Weise noch ein Lustgefühl mit ihnen verbunden und
der Einzelne fände diese festgewordene Verbindung vor; oder umgekehrt,
die Lust als solche ist ein für das Leben günstiger Prozess und ruft
gleich allen andren derselben Art ein instinktives Streben danach hervor;
nicht die spezifische Empfindung der Lust, nicht sie als rein subjektiver,
mit ihrem Empfundenwerden völlig verklungener Vorgang, wie der reine
Hedoniker sie sucht, - sondern ihre Nützlichkeitsfolge ist es, die sie
zum Strebensziel macht, und mit wachsender Anpassung immer mehr machen
muss.
Jenes alte: wir leben nicht um zu essen, sondern wir essen um zu leben,
käme dann, auf den Genus überhaupt erweitert, zu einem sehr guten Sinn.
Und es ist nur eine leichte Modifikation dieses Gedankens, wenn wir
sagen: Wir suchen die Lust nicht nur, weil sie zum Leben überhaupt nötig
ist, sondern auch, weil wir während ihrer mehr leben.
Die Freude beschleunigt den Fluss unserer Vorstellungen und ermöglicht
deshalb in der gleichen Zeit ein grösseres Mass von Lebensinhalt,
während Furcht, Angst und Schmerz lähmend und verlangsamend wirken.
Ich habe schon in andrem Zusammenhänge erwähnt, dass Genussmenschen
und Phantasten früh altern, weil sie in der gleichen Zeit mehr leben.
Wenn auch Sorge und Schmerz früh altern machen, so liegt dies gerade
an der Lähmung der Lebensprozesse (<299) und daran, dass sie meistens
mit Entbehrungen des zum Leben Nötigen verbunden sind.
Hat jener Optimismus Recht, nach dem alles, was das Leben fördert,
Lust erzeugt, so ist das Streben nach ihr ein notwendiges und mit der
vollkommeneren Organisation des Einzelnen immer gründlicheres.
Von allen Gründen, die der eudämonistische Optimismus für sich
anführen kann, scheint mir dieser der einzig bedeutsame.
Wird das Leben immer zweckmässiger, so ist es allerdings
wahrscheinlich, dass es deshalb geschieht, weil die Zweckmässigkeit
gesucht und die Unzweckmässigkeit geflohen, wird; gesucht oder geflohen
aber wird von den Wesen im allgemeinen nur das, was Lust oder Schmerz
bereitet, so dass die vollkommene Zweckmässigkeit in der Tat vollkommene
Lust bedeuten würde.
Allein wenn der Anpassung eine so unbedingte Macht zugetraut wird, so
kann sie doch auch solche Funktionen ins Leben rufen und festigen, mit
denen keine Lust verbunden ist, gegen die das Gefühlsleben sich ganz
indifferent verhält.
Freilich wird die Ausübung einer Tätigkeit sicherer und leichter
sein, wenn sie Lust verspricht; ist sie aber für die Lebenserhaltung
nötig, so bemächtigt sich die Anpassung ihrer auch ohne dieses
Lockmittel, ja selbst dann, wenn ein gewisser Schmerz mit ihr verbunden
ist; es können sich dann eben nur diejenigen Wesen erhalten, die sich
diesem Schmerz unterziehen.
Bei der Sozialisierung z. B., deren Steigerung sicher als
Selektionssache betrachtet werden muss, ist ein gewisses Aufsichnehmen von
Schmerz unentbehrlich. Wenn es nicht die Lust als bloss hedonistisches
Empfindungsziel, sondern ihre günstige biologische Folge ist, die die
Strebung nach ihr zu einer allgemeinen machen soll, so ist nicht
abzusehen, weshalb dieselbe Folge sich nicht auch gelegentlich mit einer
schmerzlichen Empfindung verbinden soll.
Indes bleibt als Regel wohl allerdings bestehen, dass die
Lebensfunktionen, soweit sie von willensmässiger Zwecktätigkeit
abhängig sind, nicht fest geworden wären,(<300) wenn sich nicht mit
ihnen - wenigstens im allgemeinen - ein Gefühl der Lust verbände.
Die vollkommene Anpassung, der wir jener Theorie nach zustreben, und
mit ihr das aus ihr spriessende Glück unterliegt übrigens, wie mir
scheint, einem evolutionistischen Bedenken.
Wenn eine Tierspezies auf ein bestimmtes Gebiet angewiesen ist, so kann
sie es dahin bringen, ihre Bedürfnisse den dort gebotenen Bedingungen
völlig anzupassen.
Sie wird das, worauf sie zur Fristung des Lebens angewiesen ist,
schliesslich mit Lust gemessen, und Begehrungen, die die Möglichkeit der
Befriedigung überschreiten, werden aus Mangel an Nahrung absterben.
Insofern bedeutet vollkommene Anpassung auch vollkommene
eudämonistische Befriedigung, und wir werden dasselbe Verhältnis auch
für das Menschengeschlecht erwarten können, wo es sich um Anpassungen an
bestimmte äussere Naturbedingungen handelt.
Anders liegt es aber da, wo die Kultur Bedürfnisse schafft, die ins
Unendliche gehen, wo die Anpassung deshalb an keine Grenze kommen kann,
weil es eine solche im objektiven Sinn überhaupt nicht gibt, sondern der
Geist dieselbe stets über das tatsächlich Erreichte, wo dasselbe auch
liege, hinausrückt.
Durch diese Schrankenlosigkeit im Setzen der Anpassungsziele wird nun
eine ausserordentliche Ungleichmässigkeit der Anpassungen begünstigt.
Vielleicht ist der moderne Pessimismus eine Folge dieses Umstandes.
Unsere Art hat sich vielleicht zu schnell entwickelt, als dass eine
gleichzeitige und vollkommene Zusammenstimmung der Wünsche und
Bedürfnisse mit den Mitteln ihrer Befriedigung hätte stattfinden
können; ein Anpassungsmass, mit dem man sich zu befriedigen gewohnt war,
wird als ungenügend empfunden, sobald auf einem andren Gebiete eine viel
höhere Anpassung erreicht ist.
Über den einzelnen Befriedigungen erhebt sich als wesentliches
eudämonistisches Moment der Wunsch einer gewissen Gleichmässigkeit und
Harmonie der erlangten Erfolge verschiedenster Gebiete - ein Wunsch, der
mit wachsender Kultur immer lebhafter, (<301) aber immer schwerer
erfüllbar wird.
Wie wir an Geistern, die ihrer Zeit weit vorangeeilt sind, häufig
einen pessimistischen Anflug bemerken, der zweifellos das Resultat ihrer
unvollkommenen Anpassung an das Gegebene bez. des Gegebenen an sie ist, so
können wir vielleicht dieses Vorangeeiltsein auch ganzen Zeiten
zusprechen.
Erlangte Anpassungen und Fortschritte geben den Hoffnungen,
Bedürfnissen, Strebungen oft einen Schwung, der sie über das im
Augenblick Erreichbare weit hinausführt und schliesslich als Pessimismus
zurückschlägt.
Da das Mass des Glückes nicht von der Summe des Erreichten, sondern
von dem Verhältnis derselben zu der Summe der Wünsche abhängt, so
braucht das Wachsen der Anpassung noch keine eudämonistische Mehrung zu
bedeuten, wenn die Forderungen der Anpassung in schnellerer Progression
wachsen; und dies scheint mir überall der Fall zu sein, wo nicht
Naturbedingungen, sondern die Anregungen des Geistes und der Phantasie
durch höhere Kultur der Anpassung ihre Aufgaben stellen.
Indes scheint eine einfachere Überlegung als die eben kritisierte zu
dem gleichen Resultat kommen zu können, dass wir zwar die Dinge nicht
deshalb wollen, weil sie uns Lust gewähren, dass aber die Lust eine
sekundäre Erscheinung ist, die mit unserem Willen in einer stetigen
Verbindung steht; so dass wir schliesslich doch nur wollen, was Lust
bringt, gleichviel von welcher Seite die Verbindung zwischen beiden
ausgegangen ist.
Die Erfüllung jedes Willens nämlich befriedigt.
Seine Unerfülltheit erregt jedenfalls Leid, folglich will ich immer
nur dasjenige, dessen Erreichung mir Lust bringt, das also zu meinem
Glücke beiträgt.
Diese Deduktion hat unverkennbare Ähnlichkeit mit der des Pessimismus:
Was ich will, das habe ich noch nicht;
Nichthaben des Gewollten ist Leid; Leben ist Wollen; folglich ist Leben
Leiden.
- Solchen, allgemeinste Verhältnisse zwischen höchsten Abstraktionen
aussprechenden Sätzen gegenüber kann man nicht vorsichtig genug sein; es
sind in der Regel nur Teilbedeutungen (<302) je zweier sehr umfassender
Begriffe, bezüglich deren das fragliche Verhältnis Wahrheit besitzt,
dessen Geltung nun aber für ihren ganzen Umfang und ihre sämtlichen
Beziehungen ausgesagt wird.
Bei der Kontinuität, mit der Begriffe in einander übergehen, braucht
man nur die Abstraktion genügend hoch zu treiben, um alle möglichen
logischen Verbindungen zu stiften, die in demselben Masse schwer
widerlegbar sind, in dem sie sich über den Boden der greifbaren
Tatsächlichkeit erheben.
Jene Begründung des Eudämonismus verwechselt die Lust, welche aus der
formalen Tatsache der Willensbefriedigung entspringt, mit denjenigen
Gefühlen, die der materiale Inhalt dieses Willens erregt.
Das Gelingen rein als solches, das Durchsetzen dessen, was man sich
einmal vorgesetzt hat, bringt ein Gefühl der Erweiterung der
Persönlichkeit, die naturgemässe und wohltuende Lösung einer Spannung
mit sich.
Allein daraus folgt zunächst nicht, dass dieses nach der
Willenserfüllung eintretende Gefühl auch der Beweggrund des Willens sei.
Diese eigentümliche Form des Fehlschlusses: post hoc, ergo propter
hoc ist ziemlich häufig zu beobachten.
Wie tatsächliche Erfolge oft für logische Folgen, so werden sie oft
für psychologische Motive gehalten.
Und wie dies dem Individuum gegenüber zu einer ungerechten
Beantwortung der Frage nach dem Dolus verführt, so fälscht es die
Einsicht in die Willensursachen überhaupt.
Dass jener Lusterfolg an der blossen Durchsetzung des Willens vorhanden
ist, darf nicht bezweifelt werden; man kann seine relative Grösse recht
an eigensinnigen und halsstarrigen Naturen beobachten; solche sind immer
irgendwie beschränkt, und das engere Bewußtsein wird von der kleinen
Befriedigung ausgefüllt, ohne dass die grössere Unbefriedigung
wenigstens für den ersten Augenblick darin Platz findet.
Vielen Menschen kommt es in der Tat in vielen Fällen nur darauf an,
ihren einmal ausgesprochenen Willen durchzusetzen, selbst wenn sie
inzwischen eingesehen haben, dass seine
Erfüllung ihnen materiell nur Leid und Nachtheil bereitet.
Und wir können (<303) wohl mit Recht annehmen, dass dieses
Befriedigungsgefühl sich in irgend einem Mass mit jeder Erreichung eines
Willensobjektes verbindet.
Es verhält sich mit dem Willen nicht anders als mit der Erkenntnis:
das Erkennen der Wahrheit, die Übereinstimmung unseres Vorstellens mit
der Wirklichkeit erregt als formale Tatsache Freude und Befriedigung,
während der Inhalt dieses Erkennens lustfremd oder sogar unerfreulich
sein kann; wie die Lust an der erlangten Erkenntnis als solcher von der
über den Inhalt derselben unabhängig ist, lässt sich besonders klar an
einem aufrichtigen und warmherzigen pessimistischen Forscher darlegen.
Es macht hierin keinen Unterschied, dass diese formale Befriedigung
sowohl am durchgesetzten Erkennen wie am durchgesetzten Wollen ihren
Ursprung wohl der Tatsache zu danken hat, dass meistens allerdings der
erreichte Inhalt des Willensaktes lustbringend und die erreichte
Erkenntnis förderlich wirkt, wodurch sich als induktives Resultat die
psychologische Befriedigungsempfindung allmählich der Willenserfüllung
und der Erkenntnis als solcher assoziierte.
Die Ausübung einer Funktion wird allerdings erst dann lustvoll werden,
wenn ihr materieller Erfolg oft genug Lust gebracht hat; allein ist dieses
nun geschehen, so hat eben die Lust aus den formalen Bedingungen genug
Selbständigkeit gewonnen, um auch bei kontrastierenden materiellen
Erfolgen des Tuns sich geltend zu machen.
Nimmermehr aber kann man annehmen, dass nun im allgemeinen dies Gefühl
bei der formalen Ausübung einer Funktion und Vollendung eines Gewollten
stark genug sei, um dem Inhalt des Tuns und Wollens die Motivierungskraft
zu nehmen.
Aus der Tatsache also, dass jeder erreichte Willenszweck Lust gewährt,
ergibt sich die Folgerung, dass wir nur das Lust Gewährende wollen, nur
durch das Emporschrauben eines allerdings unzweifelhaften Nebenerfolges zu
dem allein Ausschlag gebenden Erfolg.
Einen verwandten Fehler begeht eine Begründung des (<304)
Eudämonismus, die gern den absoluten Egoismus und die falsche Psychologie
jener Form vermeiden möchte, nach der die Erwartung einer Lust das Motiv
des Wollens bildet.
Wir hören nämlich folgende Wendung: die Vorstellung einer Handlung
sei als aktueller Bewusstseinsinhalt lustvoll oder leidvoll; und
unmittelbar hierdurch entscheide sich Vollbringen oder Unterlassen; nicht
die erwartete Lust sei das Motiv, sondern diejenige, weiche wir in dem
Augenblick empfinden, wo die Tat und die Möglichkeit sie zu vollbringen
in unser Bewusstsein tritt; ein Arnold von Winkelried empfinde bei dem
Gedanken, der Freiheit eine Gasse zu machen, eine Lust, die die Lust der
Selbsterhaltung überwiegt, und unmittelbar aus ihr gehe die Handlung
hervor.
Es ist nun wirklich nicht zu leugnen, dass der Augenblick der
Konzeption einer sittlichen Handlung, die für uns mit den grössten
Opfern und Leiden verbunden sein mag, eine Erhöhung des Selbstgefühles,
eine mutvolle Begeisterung, kurz eine Lustempfindung mit sich bringt, die
aus der sachlichen Vorstellung des Zieles selbst verbannt bleibt, dessen
schliessliche Erreichtheit für mich persönlich mehr Leiden als Freuden
enthalten mag.
Und umgekehrt; der Gedanke an gewisse mögliche Ziele rein als solche
mag uns lustvoll sein; allein der Gedanke, dass wir die für sie
erforderliche Tat vollbringen sollen, was nur mit der Aufopferung andrer
Interessen möglich wäre, erfüllt uns mit einem unmittelbaren
Unlustgefühl.
Beim blossen Gedanken der bösen oder Unlust bringenden Tat empfinden
wir einen Abscheu, bei dem Gedanken der sittlichen Handlungsweise oder
überhaupt derjenigen, die wir dann wirklich ergreifen, eine entschiedene
Lust; und da das entsprechende Unterlassen oder die entsprechende Tat
diesem Gefühle folgt, so liegt es nahe, es als Ursache jener
anzusprechen.
Allein auch dies scheint nur durch einen allzu raschen Schluss des
propter hoc aus dem post hoc möglich.
Denn wenn schon die Vorstellung der Tat uns mit Lust erfüllt und zwar
mit entschiedenerer und entscheidenderer als (<305) wir sie aus der
vollbrachten Tat erwarten, so kann ich hierin noch keinen Grund erblicken,
nun zur Handlung selbst vorzuschreiten.
Das Gefühl soll zugleich mit dieser bestimmten Vorstellung gegeben
sein; wenn es noch weiter antreibend wirken soll, so muss noch etwas
Weiteres dazu kommen, denn als Gefühl ist es ja abgeschlossen und kein
Gesetz sonst bekannter Wirkungen führt von ihm zur Handlung.
Erst dann würde dies der Fall sein, wenn jene Lust an der Vorstellung
nur der Vorgeschmack der Lust an ihrer Realisierung wäre, und hierdurch
zu dieser antriebe - aber dies soll ja gerade nach der Voraussetzung
ausgeschlossen sein.
Und diese negative Voraussetzung wird für die einzelnen
Bewusstseinsakte auch vielfach zutreffen; im übrigen dürfte es, wenn man
zu den tieferen psychologischen Quellen hinabsteigt, zweifelhaft sein, ob
nicht alle Lust einer Willensvorstellung die Antizipation der Lust aus
ihrer Realisierung ist, die freilich sich so weit verselbständigt hat,
dass sie auch dann den Willen begleitet, wenn anderweitige Momente seine
wirkliche Ausführung zu einer unlustvollen machen.
Die Lust, in einem freien Vaterlande zu leben, ist durch die Geschichte
der Gattung und des Individuums so fest geworden, dass sie sich für
Arnold von Winkelried schon an das blosse Wollen einer darauf gerichteten
Tat heftet, unabhängig davon, ob in dem augenblicklichen Falle er den
Erfolg derselben gemessen wird.
Es ist eben der schon oft hervorgehobene Prozess hier wirksam, der den
Wert und die Gefühlsfolge des Endgliedes der teleologischen Reihe auf das
frühere überträgt.
Wollte man weiter sagen: Nicht die blosse Idee der sittlichen Tat sei
es, die das Lustgefühl erregt, sondern der Vorsatz sie auszuführen, so
dass die Lust von diesem Vorsatz abhängig, nicht ohne ihn möglich sei,
so macht man das, was die Ursache des Entschlusses sein sollte, zu seiner
Folge.
Wir brauchten dann entweder doch noch ein anderes Motiv ausser dem
eudämonistischen zum Herbeiführen des Entschlusses, der dann seinerseits
erst die Lust als sekundären Erfolg hervorriefe; (<306) oder wenn wir
dies andere Motiv vermeiden wollen, so bleibt als einzig sichtbares nur
die Erwartung der Lust, welche sich an den Entschluss knüpfen soll; dann
haben wir natürlich den blossen Egoismus, weil es in ethischer Hinsicht
gleichgültig ist, ob ich die Lust vom Ziel oder vom Wege zu ihm erwarte;
dann wird eben der Weg selbst zum Ziel.
Wenn sich das Glücksgefühl nur mit jenem wirklichen Entschlusse
verbindet, der schon das innere Korrelat der äusseren Tat ist, zwischen
welchem und dieser es keines weiteren Gliedes bedürfe, so ist es eben
nicht Lust und Leid, was meinen Willen bewegt, da das Bewegende doch
vorangehen muss.
Undenkbar wäre es immerhin nicht, dass das Glück, das Arnold von
Winkelried empfindet, die ratio cognoscendi seiner Tat, wenn auch
nicht ihre ratio fiendi wäre.
Wir vollbrächten dann unsere Taten nur, wenn mit ihrer Vorstellung
sich ein grösseres Lustquantum verbände als mit der ihres Gegenteils.
Allein diese Lust wäre nicht der Beweggrund der Handlung, sondern nur
ihre obligate Begleitung.
Hier hätten wir Indessen eine prästabilierte Harmonie, da nicht
einzusehen wäre, weshalb die psychischen Kräfte, welche einen Willensakt
erzeugen, immer eine Lust, deren Grösse eine Funktion ihrer wäre, mit
sich führen sollen.
Der tatsächliche Eudämonismus könnte nun in zweierlei Form
auftreten: entweder als bewusste Strebung oder als unbewusstes, aber
unsere Handlung dennoch leitendes Ziel.
Indessen werden auch die Verteidiger des ersteren nicht behaupten
wollen, dass das Bewusstsein, der Zweck der einzelnen Handlung sei eine
Lust, uns immer oder auch nur meistens beherrsche; dies wäre denn doch
eine gar zu offenkundige Fälschung der Tatsachen, die man selbst dem
entschiedensten Hedoniker nicht zutrauen darf.
Nur dies kann jener Eudämonismus behaupten, dass jeder einzelne
Zustand, den ein menschliches Handeln erstrebt, unter die
Empfindungskategorie »Lust« gehöre.
Die Vorstellung desselben braucht sich noch nicht so weit differenziert
zu haben, um einerseits den bloss sachlichen (<307) Inhalt des
erstrebten Zieles, andrerseits das Bewusstsein, dass dieser Lust errege
und eben deshalb erstrebt werde, zu enthalten; für den Geist auf seinem
gewöhnlichen Klarheitsgrade ist vielmehr der objektive Inhalt und der
subjektive Reflex des Zieles ungeschieden Eins.
Lust taucht als Begriff, als gesonderter Bewusstseinsinhalt erst auf,
nachdem ihre realen Ausgestaltungen tausendfach das Zweckhandeln
beherrscht und nachdem gerade die Fülle und Verschiedenheit dieser dazu
angeregt hat, unter gegenseitiger Verdunklung jenes Verschiedenen dem
Gemeinsamen davon eine besondere Beleuchtung zu verleihen.
Auch sonst treten ja die Motive des schliesslichen Wollens häufig in
einer Verschmelzung auf, die ihnen den Anschein der Einheitlichkeit für
das Bewusstsein verleiht.
Diese Einheit erhält ihre besondere Färbung von einem der
zusammenwirkenden Motive, das gerade durch irgend ein Interesse sich in
das Bewusstsein vordrängt, ohne in Wirklichkeit das führende sein zu
brauchen.
So könnte man die Lust als ein überall mitwirkendes und vielleicht
das hauptsächliche Motiv alles Strebens ansehen, das vielleicht nur
deshalb so selten bewusst wird, weil es viel zweckmässiger ist, wenn der
Geist in der Sache selbst seinen Endzweck sieht und nicht durch das
Bewusstsein eines von diesem nun erst zu erwartenden subjektiven Reflexes
von der energischen Konzentration auf das zunächst zu Erreichende
abgelenkt wird.
Was mich zur Erreichung des Objekts bewegt, soll nach alledem freilich
ganz oder teilweise das in ihm enthaltene Lustmoment sein.
Allein wenn dies auch in jedem Augenblick ins Bewusstsein erhoben
werden kann, so ist das letztere doch tatsächlich nur auf die Sache
gerichtet.
Hiervon unterscheidet sich noch durch eine feine Nuancierung die
Möglichkeit eines wirklich unbewussten Eudämonismus.
Wir müssen nämlich, wie mir scheint, zwei verschiedene Formen von
Unbewusstheit in unserem Triebleben auseinander halten.
Die eine ist die der teleologischen Motive; Gründe, die uns zu einer
Handlung bewogen, können für uns ins Unbewusste (<308) sinken, aber
dennoch die motivierende Kraft beibehalten.
Wenn sie jetzt noch wirken, so geschieht es aus dem gleichen
psychologischen Grund, der sie wirken liess, als sie noch Bewusstseinsform
hatten.
Oder die Motivierung kann auch gewissermassen per analogiam
stattfinden, indem sie in , einem Fall bewusst ist und nun in einem
ähnlichen keiner Wiederholung im Bewusstsein bedarf, sondern in einer Art
von Induktion auf das gleiche Motiv hin verläuft.
Oder endlich kann dieser Prozess auch gattungsmässig stattfinden, so
dass Motive, welche eine gewisse Zeit lang das Bewusstsein der Gattung
beherrschten, so fest werden, dass sie dem Einzelnen einfach als
organische Prädisposition vererbt werden, ohne in ihm selbst eines
Bewusstseins zu bedürfen.
Immerhin aber ist es der vernünftige Sinn, die rationelle
Zweckmässigkeit, die ihnen den Vorzug sichert.
Anderer Art aber sind die blossen Ursachen von Bewegungen, die ohne
Mitwirkung eines auch nur vorangegangenen oder abgeleiteten Willens
wirken, blosse Naturkräfte, nach deren vernunftmässigem Zweck und Sinn
man so wenig fragen kann wie nach dem eines Blitzes oder eines Stromes.
Es lässt sich nun denken, dass die natürlichen Ursachen, aus denen
unser Handeln quillt und die in die letztgenannte Kategorie gehören, auf
den Lusterfolg hingerichtet sind.
Nicht der Zwang, mit dem schliesslich aus der Abwägung der Motive das
eine als Sieger hervorgeht, indem es, wie unbewusst auch immer, seine
Kraft aus seinem vernunftbegründeten Werte anderen gegenüber zieht,
würde dann unser Handeln dem Glückszweck zuwenden; sondern eine
Naturkraft, der vergleichbar, die den fallenden Stein zur Erde zieht.
Wenn auch der vernunftmässigste Grund, um überhaupt eine Handlung zu
bestimmen, zur realen Kraft werden muss oder vielleicht gar nur die
Erscheinung einer solchen ist, so unterscheiden wir ihn doch wenigstens
der Erscheinung nach von einer Kraft, die nicht aus Gründen der Vernunft,
des nach Werten entscheidenden Willens, sondern aus blindem Mechanismus
heraus wirkt.
Allein auch in dieser äussersten (<309) Form der Unbewusstheit ist
der Glückstrieb wenigstens empirisch nicht zu erweisen.
Es wäre die wunderbarste prästabilierte Harmonie, wenn die höchst
mannigfaltigen, aus den verschiedensten Impulsen zusammengewebten
Kraftkomplexe, die schliesslich das menschliche Handeln aus sich
hervorgehen lassen, von vornherein die Richtung auf einen bestimmten
Zustand hielten.
Man wird auch die Lust nur als den Erfolg eines relativ zufälligen
Zusammentreffens sehr verschiedenartiger Kausalmomente ansehen können.
Man müsste anderenfalls eine über ihnen schwebende Macht annehmen,
die ihren Verlauf auf diesen Endpunkt hin richtete, weil nach dem sich
selbst überlassenen Gang der Natur nicht einzusehen wäre, weshalb sie
immer in diesem für unser subjektives Empfinden freilich einheitlichen,
seinen auf den verschiedensten Gebieten liegenden Ursachen nach aber sehr
wenig einheitlichen Effekt münden sollten.
Mögen wir als die Kräfte, die unser Handeln bestimmen, physiologische
oder psychologische annehmen: nirgends haben wir das Recht, eine solche
Einheitlichkeit a parte ante für sie anzunehmen, wie sie im Ideal
eines reinen Vernunftorganismus konstruiert ist; das ist eben formal
ausgeschlossen, gleichviel welches der materielle Inhalt dieses Ideals
sei.
Es ist eine ebenso einseitige und methodologisch ebenso unhaltbare
Teleologie, die das psychologische Getriebe des Menschen durchgängig auf
Lust gerichtet sein lässt, wie jene war, die das Weltgetriebe um des
Wohles des Menschen willen sich abspielen liess.
Wie wir Indes die Teleologie früherer Zeiten so zu ersetzen gelernt
haben, dass wir keine ideale Macht des Zwecks über die Mittel annehmen,
sondern die realen Kräfte erkennen, die unter einer Reihe ansetzender
Ursachen der zweckmässigsten die Möglichkeit der Entwicklung und des
Sichdurchsetzens verschafften, und mit dieser zulänglicheren Methode
schliesslich doch oft an dem gleichen Erklärungsziele münden: so können
wir vielleicht auch hier statt einer unmittelbaren und an den Anfang der
Entwicklung gesetzten Verbindung von (<310) Willen und Lust eine ex
post erfolgende auffinden.
Trotz der gegenseitigen Unabhängigkeit beider nämlich ist doch
selbstverständlich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass unter den
sehr verschiedenartigen Vorgängen, die uns Lustgefühle erregen, sich
auch dieser oder Jener Willensakt befände; es gibt gar kein Gebiet
körperlich-geistiger Vorgänge, das uns nicht unter Umständen eine
Lustquelle eröffnete, und so könnte auch der Wille, ohne jede
prinzipielle Vereinigung mit der Lust, gelegentlich die Bedingungen für
sie darbieten.
Hierdurch würden derartige Willensakte sowohl für ihre gegenwärtige
Dauer wie für ihre künftige psychologische Reproduktion eine bedeutende
Verstärkung empfangen.
Wie Vorstellungen, mit denen starke Gefühle verbunden waren, vom
psychologischen Mechanismus besonders häufig wieder über die
Bewusstseinsschwelle gehoben werden, auch ohne dass sich der Wille
besonders auf ihr Vorstellen richtete, so werden auch Willensakte
besonders häufig wieder auftauchen, bei denen jene relativ zufällige
Assoziation mit Lustempfindungen stattgefunden hat.
Der Einwand, dass die Neigung zur Reproduktion danach ebenso für
solche Willensakte Platz greifen müsse, die mit schmerzlichen
Empfindungen assoziiert waren, ist dadurch ungültig, dass derartige
Willensakte, so sicher sie stattgefunden haben, doch nicht zu einer
bedeutenderen Entwicklung gelangt sein werden.
Es fände demnach eine Art Auslese unter den Willensakten statt.
Wie es ein zufälliges Zusammentreffen war, dass ein Organismus sich
durch besonders gut angepasste Eigenschaften auszeichnete, diese
Zufälligkeit es ihm aber ermöglichte, sich zu erhalten und in Nachkommen
zu reproduzieren: so mag eine Verbindung von Willensakten und
Lustgefühlen, die weder aus rationalistischer Notwendigkeit, noch aus
prästabilierter Harmonie hervorging, jenen Willensakten mehr
psychologische Kraft gegeben haben, als indifferente sie besassen, und so
die Ursache zu einem allmählichen Verdrängen der Letzteren geworden
sein.
Die Lust wäre ein Verstärkungsmoment für die Willensakte, nicht
(<311) anders als es etwa die Gewohnheit oder die Schärfe
hinzutretender sinnlicher Eindrücke oder ähnliches ist.
Es ist ja kein Zweifel, dass die Wollungen eines unausgebildeteren
Gehirns so sinn- und planlos sind wie seine Vorstellungen überhaupt, und
dass erst durch Unterscheiden und Verbinden, Unterdrückung und
Emporhebung innerhalb der rein zufällig sich zusammenfindenden Elemente
ein bestimmt charakterisiertes Seelenleben entsteht; und da ist es leicht
möglich, dass die zuerst rein zufällige Verbindung von Willenszielen und
Willensakten mit Lustgefühlen zu einem Mittel der Auslese und der
Koordination beider geworden sei; die reale psychologische Kraft, welche
der Wille durch diese Verbindung für seine Fixierung und Wiederholung
erhielt, liesse dann den tatsächlichen Eudämonismus zwar nicht mehr als
eine der Entwicklung unseres Handelns a priori zu Grunde liegende
Tatsache, wohl aber als einen durch die psychologischen Verhältnisse
immer näher rückenden Endpunkt dieser Entwicklung erscheinen.
Angenommen übrigens, der tatsächliche Eudämonismus besässe statt
des relativen Bezirkes, den wir ihm zusprechen können, die absolute
Herrschaft, sei es nun in der Form, dass die Erwartung einer Lust der
definitive Inhalt jedes Wollens sei oder dass von den verschiedenen
möglichen Willensakten stets der mit dem grössten Lustquantum verbundene
das Bewusstsein für sich gewinne: so würde damit wenig für die
Erklärung unseres Handelns erreicht.
Denn die dem Bewusstsein auffindbaren Motive der menschlichen
Handlungen sind so entgegengesetzte, die sachlichen Zustände, in denen
sie münden, so mannigfaltige, dass jener höchste Zweckbegriff, der sie
sämtlich umfassen soll, nur den allerschematischsten und leersten
Charakter tragen kann.
Wenn die mühevollste Hingabe an wissenschaftliche oder sonstige
objektive Ziele und das leichtsinnigste Genussleben, wenn das Märtyrertum
für politische und religiöse Überzeugungen und die feigste Bosheit und
Hinterlist, wenn die grenzenloseste Hingebung und der grenzenloseste
Egoismus doch alle zusammen nur ein (<312) einziges letztes Ziel der
Lust verfolgen sollen, dann ist diese etwas so Abstraktes, muss, um das
gleiche Verhältnis zu all diesem Entgegengesetzten zu haben, sich so hoch
über das Einzelne erheben, dass ein spezifischer Inhalt sich kaum noch
für sie angeben lässt.
Es ist gar keine eindeutig bestimmte Vorstellung von Glück
aufzufinden, deren Inhalt man als das Ziel aller menschlichen Handlungen
nachweisen könnte; und aller Eudämonismus kommt schliesslich nur darauf
hinaus, die tatsächlichen Ziele der Handlungen, die er aus der Erfahrung
kennen lernt, als Glück zu bezeichnen.
Statt eines synthetischen Satzes erhalten wir einen analytischen und
statt einer unter die Oberfläche der Motive heruntergehenden Erklärung
nur eine Namengebung für die schon sonst bekannte Gesamtheit der
Erscheinungen.
Alle diese Einschränkungen der psychologischen Lehre, die die
Steigerung der Lust als wirkliches Ziel des individuellen Willens
hinstellt, treffen noch nicht die ethische Behauptung, für welche jene
freilich oft den Baugrund bildet: dass die Steigerung des Glücks auf
Erden ethische Aufgabe sei; gleichviel, ob der Einzelne nach seinem
Glücke oder nach dem Anderer strebe oder nicht: er solle jedenfalls das
grösstmögliche Glück der grösstmöglichen Anzahl sich zum Ziele
setzen.
Dies ist der kategorische Imperativ des Utilitarismus, dessen ethischer
Eudämonismus in keiner Weise von der Wahrheit oder Falschheit des
tatsächlichen Eudämonismus berührt wird.
Indessen muss immerhin auch noch hier eine Tatsachenfrage von der Frage
der blossen Norm geschieden werden.
Es lässt sich zunächst behaupten, dass die Lustmehrung der
tatsächliche Sinn aller Moralvorschriften und der tatsächliche Zweck
aller der Handlungen sei, die wir sittlich nennen; und man könnte
weiterhin unabhängig von der Bejahung oder Verneinung dieser Frage die
Steigerung (<313) des allgemeinen Glücks als Moralgesetz aussprechen,
das eben schlechthin sein soll, und damit als moralischer Gesetzgeber,
aber nicht als Erforscher vorhandener Moral auftreten.
Der ersteren Behauptung zufolge wäre alle Verschiedenheit, die uns in
den moralischen Urteilen populärer und wissenschaftlicher Art
entgegentritt, nur eine Erscheinung auf der Oberfläche des Bewusstseins,
die sich auf verschiedenen Wegen mit der Einheit jenes tatsächlichen
sittlichen Endzwecks vereinigen lässt.
Man könnte annehmen, das grösste Glück der grössten Allgemeinheit
sei immer und überall das bewusste oder unbewusste Kriterium der
moralischen Urteile, der sittlich genannten Bestrebungen gewesen, und alle
Verschiedenheit der einzelnen sittlichen Bewusstseine stamme nur aus der
Verschiedenheit der Mittel, die als passend oder notwendig für jenen
höchsten Zweck beurteilt werden.
Denn zunächst spiele der Irrtum hier eine wesentliche Rolle; die
Aufgabe, alle Glücksfolgen einer bestimmten Handlungsweise zu übersehen,
sei nur mit den höchsten Mitteln des Wissens und Denkens zu lösen; die
Unvollständigkeit der erkannten Kausalreihen, die Befangenheit in
Vorurteilen, kurz die intellektuellen Mängel, die, nach Mass und Art
unendlich verschieden, allen menschlichen Wesen anhaften, machten selbst
bei vollkommener Gleichheit und Einheit des letzten sittlichen Zwecks die
unendliche Verschiedenheit aller materialen Pflichtgebote und ethischen
Beurteilungen begreiflich.
Indessen bedarf es dazu nicht einmal des Irrtums; die Mannigfaltigkeit
der realen Verhältnisse, die zu jenem höchsten Zweck hin zu gestalten
sind, reicht zu der Erklärung der Fülle und Verschiedenartigkeit
sittlich genannter Handlungen vollkommen hin.
Das höchste Moralprinzip bildet doch immer nur eine Prämisse, zu der
als Untersatz die konkrete Lage der Verhältnisse gehört, um die sittlich
notwendige Handlung als Schlusssatz hervorgehen zu lassen.
Bei vollkommener Identität der ersteren kann der letztere den
allerverschiedensten Inhalt zeigen wenn die zweite so wechselvoll
(<314) und ungleichartig ist, wie e tatsächlich der Fall ist.
Wenn die Spartaner ein schwächliche Kind töteten und moderne Eltern
ein solches mit doppelte Sorgfalt aufziehen; wenn in sehr rohen
Kulturzuständen Lüge, Gewalttätigkeit, Hinterlist als ehrenvolle
Eigenschaften des tüchtigen Mannes gepriesen werden und in
zivilisierteren gerade die entgegengesetzten das gleiche Lob erlangen wenn
selbst bei gleichen Kulturbedingungen etwa unter de Tugend des Kriegers
etwas völlig anderes verstanden wird als unter der des Priesters: so
vereinigt sich das alles mit dem gleichen höchsten Kriterium der
Maximisirung des Glücks, da andere Verhältnisse eben andere Mittel
brauchen, um zu dem gleichen Zwecke beizutragen.
Wie die Wege, die den Einzelnen zum egoistischen Glück führen, so
verschiedene sind, dass dem einen oft scheint, als führe der Weg des
anderen gerade zum Gegenteil des Glücks, so sind auch die Mittel, die zum
Glück der Gesamtheit führen und eben dadurch zu moralischen Geboten
werden, die denkbar verschiedensten, und deshalb brauchte die Differenz
der einzelnen Moralvorschriften daran nicht irre zu machen, dass ihr
letztes und höchstes Kriterium ein einheitliches, die Steigerung der
Glückssumme, ist.
Aus der Mangelhaftigkeit des Erkennens einerseits, aus der
unberechenbaren Komplikation der Umstände andrerseits, die unser Tun so
oft in ganz unbeabsichtigte Erfolge auslaufen lassen, erklärte sich dann
weiter, dass die sittlich genannten Handlungen so oft die Glückssumme
eher vermindern als vermehren.
Dies beweist aber keineswegs, dass diese nicht der Absicht und der
Beurteilungsmaxime nach das Endziel solcher Handlungen sei.
Und endlich kann die Täuschung nicht nur das Verhältnis der Mittel
zum Zweck, sondern diesen selbst betreffen.
Die Handlungen, eigene und fremde, welche zur Glückssteigerung
führen, können ein gewisses Gefühl in uns hervorbringen, in Folge
dessen wir sie mit dem Ausdruck sittlich belegen - vielleicht auf Grund
der organischen Einrichtung, die (<315) durch die lange Erfahrung
unserer Gattung über die jenem Zwecke dienenden Mittel fest geworden ist.
Darum ist aber noch lange nicht gesagt, dass dem Einzelnen, welcher
danach handelt oder danach urteilt, dies Kriterium in irgend einer Weise
bewusst ist oder auch nur nach seinen psychologischen Verhältnissen
bewusst werden kann.
Die mittleren Kausalglieder zwischen einem Reiz und der Reaktion auf
ihn sind uns im Unorganischen wie im Organischen und im Psychologischen
überhaupt vielfach unbekannt, und so könnte das eigenartige Gefühl der
Billigung, das wir bei den sittlich genannten Handlungen empfinden, seine
Zwischenursache in der durch sie geschehenden Förderung des allgemeinen
Glücks haben, ohne dass wir im allgemeinen diese Vermittelung erkannten.
Da wir nun aber doch nach einer Ursache für ihren Zusammenhang suchen,
so entstehen die allerverschiedensten Morallehren, deren jede beweisen
will, dass die Richtung auf ihr Ziel das Gemeinsame an allen als sittlich
beurteilten Handlungen sei.
Während also nach der früheren Möglichkeit die Glückssteigerung
psychologischer Endzweck war, und nur seine Realisierung durch mangelhafte
Erkenntnisse und Verschiedenheit der vorgefundenen Verhältnisse zu der
Divergenz und gelegentlichen Unzweckmässigkeit der als sittlich bewussten
und beurteilten Handlungen führte, gehen hier umgekehrt diese letzteren
in Wirklichkeit sämtlich auf jenen Zweck und erregen dadurch auch ein
gleiches gefühlsmässiges Bewusstsein, das zur gleichen Benennung für
sie führte; alle Gegensätzlichkeit in den bewussten sittlichen Maximen
und Kriterien beruht dann nur auf der Falschheit der Deutung jenes
Gefühls, auf dem Verkennen derjenigen Eigenschaft der Handlungen, die
eigentlich jenes hervorruft.
Auf beiderlei Weise lässt sich die Einheitlichkeit des letzten
eudämonistischen Zieles mit der Verschiedenartigkeit der moralischen
Beurteilung und Normierung vereinigen.
Diese Möglichkeiten scheinen mir keine inneren Widersprüche zu
besitzen; allein es sind blosse Möglichkeiten, die (<316) erhobene
Einwände wohl beseitigen, aber keinen positiven Beweis für den
Eudämonismus in der tatsächlich vorhandenen Moral beibringen, vielmehr
dem Nachweise jedes anderen höchsten Moralprinzips ebenso dienstbar
gemacht werden können.
Mit demselben geringen Aufwand von Scharfsinn, mit dem man das
wirkliche Handeln der Menschen auf Vermehrung des eigenen Glücks als
Endzweck bringen kann, lässt sich auch der Inhalt ihres wirklich
empfundenen und ,ausgeführten Sollens als Vermehrung des allgemeinen
Glücks verstehen; das sind Gedankengebäude, die ebenso oft aufgebaut wie
niedergerissen werden und vermöge des rein hypothetischen Charakters
solcher Vereinheitlichungen wie der Unvollständigkeit des Materials zu
jeder beliebigen Spitze aufgegipfelt werden können.
Mit positiverer Wendung sucht sich der Utilitarismus so zu beweisen.
Die Handlung A wird von einem sittlichen Menschen deshalb getan, weil
sie eine Vermehrung des Glücks der Allgemeinheit hervorbringt; denn
brächte sie statt dessen eine Vermehrung der Leiden hervor, so würde man
sie unterlassen, also -.
Dieser Schluss steht auf gleicher logischer Höhe mit dem folgenden:
man geht in das Theater, weil es dort warm ist.
Denn wäre es dort eisig kalt, so würde man nicht hingehen, also -.
Es ist die vollkommenste Verwechselung zwischen conditio sine qua
non und wirkender Ursache.
Wenn man mit einer Handlung, deren Wert aus einer der Lust ganz fremden
Beziehung stammen mag, eine ganz extreme Unlust verknüpft, so ist
natürlich das Gesamtresultat eine Zurückweisung der Handlung.
Es gibt schliesslich keinen Wert unter mehreren in eine Abwägung
eintretenden, der nicht überwogen werden könnte, wenn ein anderer extrem
gesteigert und mit negativem Vorzeichen versehen wird.
Wenn die politische Freiheit, die ein Volk erwirbt, mit dem höchsten
Unglück für jedes Individuum desselben verbunden wäre, so wäre sie
freilich nicht zu wünschen.
Ist sie aber etwa mit Opfern von persönlichem Wohlbehagen, die
(<317) innerhalb gewisser Grenzen bleiben, zu erkaufen, so werden diese
durch den anderweitigen Wert, den die Selbstbestimmung hat, ausgeglichen
und diese letztere ist trotz des negativ eudämonistischen Erfolges
sittlich erwünscht.
Freilich darf nicht vergessen werden, dass die Lust unter allen
Umständen ein Wert ist.
Die Lustempfindung als subjektiver Zustand ist unmittelbar gut; ihre
Ursachen wie ihre Folgen können böse sein, gerade wie auch der beste
Wille oft das Böse schafft; so wenig wie die Sinne für sich irren, so
wenig können sie für sich böse sein; nur durch eine Beziehung zwischen
der Sinnlichkeit und den höheren Funktionen kann das theoretisch wie
praktisch Unrichtige entstehen.
Gerade die Idee des höchsten Gutes, wie Kant sie ausgebildet hat,
zeigt, dass die Lust an sich ein Gut ist.
Wenn Kant statt dessen sagt, der gute Wille wäre das Einzige in der
Welt, was schlechthin gut genannt werden dürfte, und wenn man allerdings
darauf hinweisen könnte, dass man eine gehabte Lust bereuen kann, eine
gute Absicht aber niemals, so ist es doch nur das Gute in der Absicht, was
nicht zu bereuen ist.
Die Absicht selbst kann in materieller Hinsicht sehr grossen Schaden
angerichtet haben und deshalb sehr bereut werden; so kann man auch nicht
das Lustgefühl als solches bereuen, sondern nur die Opfer, die man darum
gebracht hat und die Folgen, die es hat.
Alle Askese, die die Lust verdammt, tut dies ursprünglich nur wegen
solcher Begleiterscheinungen der Lust und gewinnt erst durch allmähliche
Verdunkelung dieses Motives die Möglichkeit, sie überhaupt zu verwerfen.
Die Lust ist allerdings ein absoluter Wert, der an und für sich nie
gleich Null werden kann, wohl aber durch andere zu überwiegen ist.
Und ebenso ist die Unlust ein absoluter negativer Wert, der nie
schlechthin ausgelöscht, sondern nur in der Totalwirkung einer Tat von
positiven Momenten balanciert werden kann; man braucht ihn aber nur
genügend gross zu setzen, damit er seinerseits jedes dieser letzteren
überwiege.
Aber daraus lässt sich höchstens schliessen, dass das
eudämonistische Wertmoment prinzipiell (<318) allen anderen
koordiniert sei, aber nicht, dass neben ihm keine anderen existieren.
Der Utilitarismus stimmt nichts desto weniger ebenso wie der Egoismus
und überhaupt die Mehrzahl der aufgestellten Moralprinzipien mit dem
tatsächlichen ethischen Bewusstsein in den Resultaten vielfach überein
und kann zu einer Ableitung sehr vieler sittlicher Handlungen durchaus
konsequent aus seinem Prinzip heraus gelangen, wie etwa Goethe aus seiner
Farbentheorie heraus zu einer ganzen Reihe von optischen Erscheinungen
folgerichtig kam, wie die geozentrische Astronomie die Mondfinsternisse
sehr exakt berechnen konnte und wie die Hegel'sche Konstruktion des
Weltgeschehens den wirklichen Sachverhalt manchmal treffend nachbildet.
Derartige Lehren würden überhaupt nicht entstehen können, wenn sie
nicht sozusagen als Grundkapital eine Reihe von Übereinstimmungen mit der
Wirklichkeit besässen, entspräche dies auch nur der streckenweisen
Parallelität zweier Wege, die dabei von ganz verschiedenen
Ausgangspunkten zu ganz verschiedenen Zielen laufen.
Dies alles sind wissenschaftliche Versuche, die nur historisch und
psychologisch nachweisen wollen, dass das Sollen sich tatsächlich mit dem
Streben der Glücksmehrung erfüllt; sie fällen aber kein Urteil über
die Richtigkeit dieser Erfüllung und unterscheiden sich von den
Morallehren selbst, die mit der Aufstellung des grösstmöglichen Glücks
der grösstmöglichen Allgemeinheit als Prinzips praktisch wirken wollen,
die nicht nur behaupten: die Sittlichkeit hat bisher diesen Zweck,
sondern: sie soll ihn auch künftighin haben.
Während der wissenschaftliche Utilitarismus nur ein Wirkliches
feststellen kann, gleichviel, ob es gut oder schlecht ist, will der
praktische Utilitarismus ein Werdendes zum Guten gestalten, gleichviel wie
die bisherige Wirklichkeit sich dazu verhält.
Dass diese beiden Bestrebungen überhaupt nicht in ihrer begrifflichen
Verschiedenheit scharf genug auseinandergehalten (<319) werden, ist
eine Eigentümlichkeit der Ethik, die eine nähere Beleuchtung fordert.
Auch das abstrakteste Forschen, das überhaupt möglich ist, entspringt
schliesslich einem praktischen Interesse.
Wenn keinem anderen, so dem Interesse am Wissen, das ebenso ein
praktisches Motiv genannt werden kann, wie alle anderen, die auf
Befriedigung eines innerlichen Bedürfnisses gehen.
Mit offenbarem Rechte aber trennen wir diejenigen Denkprozesse, an die
sich das Interesse, um dessentwillen sie vor sich gehen, unmittelbar
knüpft, von denjenigen, die als Mittel zu einem weiteren praktischen
Zweck vollzogen werden; und wie sehr auch im letzten Grunde beides
zusammenhängen mag, so beruht doch aller höhere Fortschritt darauf, dass
das Wissen zunächst bloss um des Wissens willen und mit völliger
Beiseitesetzung aller darüber hinausgehenden Ziele gepflegt werde.
Welche Verwendung man dann mit dem so gewonnenen Wissen vornehmen will,
ob man die Fortschritte der Psychologie zu pädagogischen, die der
Physiologie zu medizinischen, die der Chemie zu Zwecken der Kochkunst
ausnutzen will, das ist keine Angelegenheit der Wissenschaft mehr, der nur
die Feststellung, aber nicht die Lenkung der Tatsachen obliegt.
Darum ruhen alle sogenannten praktischen Wissenschaften als solche auf
einer in ihnen selbst nichtbegründeten Bedingung.
Die Pädagogik sagt nicht: Erzieht eure Kinder zu so und so
beschaffenen Menschen, sondern sie beantwortet die rein theoretische
Frage: Wenn man Kinder zu solchen Menschen erziehen will, welche
Kausalprozesse führen zu diesem Erfolg? Die Medizin sagt nicht: Macht die
Kranken gesund, sondern: Wenn ihr sie gesund machen wollt, so müsst ihr
so und so vorgehen; und so ist es auch eine mangelhafte Einsicht, wenn man
meint, die Logik enthielte die Normen, nach denen wir denken sollen; sie
zeigt uns vielmehr nur, wie wir denken müssen, wenn unser Denken mit der
sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit der Dinge übereinstimmen will.
Es kann genug Fälle geben, wo dieser Wille nicht vorhanden ist, wo im
eigenen (<320) eudämonistischen Interesse oder um den Zwecken Anderer
zu dienen, unserm Denken die Illusion zuträglicher ist als die Wahrheit.
Dann fällt jenes Sollen fort, weil es eben davon abhängig ist, ob die
Wahrheit Zweck ist.
Wie verhält sich nun die Wissenschaft der Ethik in dieser Hinsicht?
Mir ist kein Zweifel, dass, wenn sie eine praktische Wissenschaft im Sinne
der vorgenannten sein will, sie dies gleichfalls nur dadurch kann, dass
sie einen in ihr als Wissenschaft nicht liegenden Zweck voraussetzt,
diesen Zweck nach logischen und sonst gültigen Gesichtspunkten untersucht
und dasjenige Geschehen nachweist, das von einem gegebenen Zustand aus zu
der Verwirklichung jenes Zweckes leitet.
Ob wir ihn aber uns setzen, ist eine Frage, die die Wissenschaft
höchstens historisch-empirisch beantworten kann, während es vollkommen
ausserhalb ihrer Rechtssphäre liegt auszumachen, ob wir ihn uns setzen
sollen, so gut wie es nicht innerhalb des Bereiches der Mathematik liegt,
uns zu befehlen: Konstruiert ein gleichseitiges Dreieck, sondern nur dies:
Wenn ihr eines konstruieren wollt, so müsst ihr so und so dazu verfahren.
Jede Wissenschaft, deren Ziel die Erkenntnis von Gesetzen ist, spricht
schliesslich nur Beziehungen aus, deren Realisierung von dem realen
Gegebensein der Prämissen abhängt.
Ihre Wahrheit ist vollkommen gleichgültig dagegen, ob dies Gegebensein
einmal oder tausendmal stattgefunden hat, ja die Mathematik zeigt uns
Wahrheiten, für die es eine absolut exakte Darstellung in der Welt der
Wirklichkeit nie gegeben hat.
Wenn also die Wissenschaft, aus dieser rein idealen Existenz
heraustretend, praktisch werden soll, so kann sie dies nur, indem sie ihre
Operationen an Faktoren vornimmt, die ihr die Erfahrung als vorhanden
zeigt.
So wenig eine rein realistische Wissenschaft das ihr entsprechende
Objekt erschafft, wie sie dies vielmehr als eine in ihr selbst nicht
begründete Tatsache vorfinden muss, so bedarf die normative und
teleologische Wissenschaft eines als Tatsache vorgefundenen Zwecks, den
sie als Wissenschaft (<321) nicht setzen kann.
Deshalb wäre es besser, wenn der ganze Dualismus von normativen und
erklärenden Wissenschaften aus der Terminologie ausschiede, weil er Folge
wie Ursache höchst unklarer Vorstellungen ist.
Er beruht auf der Verwechslung des Inhalts von Vorstellungen mit den
Vorstellungen selbst; denn insofern ich ein Sollen vorstelle, ist diese
Vorstellung allerdings als solche eine Tatsache, die und deren
Verwirklichung Objekt der psychologischen, logischen etc. Untersuchung
sein kann.
Aber ihr Inhalt wird in seiner über das Psychologische hinausgehenden
Bedeutung nicht durch ein Wissen, sondern durch ein Wollen festgestellt.
Was man normative Wissenschaft nennt, ist tatsächlich nur Wissenschaft
vom Normativen.
Sie selbst normiert nichts, sondern sie erklärt nur Normen und ihre
Zusammenhänge, denn Wissenschaft fragt stets nur kausal, nicht
teleologisch, und Normen und Zwecke können wohl so gut wie alles andere
den Gegenstand ihrer Untersuchung, aber nicht ihr eigenes Wesen bilden.
Es ist demnach ein vollkommenes Missverständnis, wenn man aus der
Ethik als Wissenschaft ein neues Sollen meint gewinnen zu können.
Sie kann wohl ein gegebenes Sollen mit anderen gleichfalls empfundenen
Antrieben zusammenhalten und uns nachweisen, dass wir logischer Weise nur
dem einen oder dem anderen nachleben können, aber die Wahl zwischen
beiden, die Bestimmung des Wertes, den das eine und das andere für uns
hat, kann sie nicht treffen; sie kann so wenig wie die Pädagogik Zwecke
setzen, was immer Sache des Willens ist, sondern nur die Mittel zum
Erreichen gesetzter Zwecke, oder, von ihrem Standpunkt aus richtiger, die
Ursachen, deren Wirkungen die gewünschten Zustände sind, erforschen, was
eben Sache der Theorie ist.
Deshalb kann auch alle Prüfung ethischer Normen nur entweder eine
immanente sein, die ihre Bestandteile auf ihr logisches Verhältnis
untersucht, oder sie muss irgend ein sonstiges Prinzip a priori als
wertvoll, als Endzweck setzen und nun bloss feststellen, inwiefern jene
Norm ein zureichendes (<322) Mittel zur Realisierung dieses ist.
Aller Beweis und alle Prüfung eines neu aufgestellten ethischen
Grundsatzes kann deshalb nur zwei Kriterien anrufen: entweder wird
gefragt, ob er mit den bisherigen ethischen Vorstellungen übereinstimmt,
eine hinreichende Zusammenfassung derselben bildet, wie Kant es von seinem
kategorischen Imperativ beanspruchte, der auch nur die Bedeutung einer
neuen Formel, aber nicht einer neuen Sittlichkeit haben sollte; oder es
werden irgend welche Endzwecke alles Handelns vorausgesetzt und nun
gefragt, ob das neue Prinzip ein geeignetes Mittel für sie ist.
Ausserhalb des wissenschaftlichen Problems entsteht im ersteren Fall
die Frage, ob die tatsächliche Sittlichkeit auch zu Rechte besteht; wir
haben einfach mit der Tatsache ihres psychologischen Vorhandenseins zu
rechnen und die Aufgabe ist sozusagen historisch.
Im zweiten Fall ist das Wesentliche dies, dass gewisse Zwecke und
Zustände vorausgesetzt werden, und nun gefragt wird, ob das neue
Moralprinzip sie fördert oder ihnen wenigstens nicht widerspricht.
Woran sollte ein solches, das nicht bloss Formulierung vorhandener
Sittenregeln, sondern eine wirkliche Normierung des Handelns enthält,
wohl geprüft werden, als an Vorstellungsinhalten, die entweder als
Willensziele oder als Wirklichkeiten vorausgesetzt werden? Nicht durch
sich selbst, sondern nur durch Beziehung zu anderen ist ein Prinzip zu
beweisen oder zu prüfen; ob dies andere sich in der realen Welt findet,
ist eine weitere Frage, aber nur eine historische.
Das rein ideale wissenschaftliche Problem ist: Wenn diese Zwecke und
Zustände gegeben sind, was müssen wir tun, um die ersteren unter
Berücksichtigung der letzteren zu realisieren? Nur der moralische
Gesetzgeber, der praktische Revolutionär in sittlichen Dingen kann,
letzte Ziele dogmatisch aufstellend, schlechthin sagen: Dies soll so sein!
- indem er auf Beweise verzichtet, und weil die schliessliche Wertsetzung
eine Tatsache ist, die jede Kritik abschneidet.
Deshalb sind es immer nur hypothetische Imperative im Kantischen Sinne,
die die Ethik aufstellen kann,(<323) wenn sie den Namen einer
praktischen Wissenschaft wahren will; absolute Imperative kann sie nur
historisch aufweisen, aber nicht selbst schaffen.
Da die Aufstellung letzter ethischer Zwecke, wenn sie rein
praktisch-imperativisch ist, sich aller Prüfung entzieht, so kann auch
das Gebot: Handle so, dass dein Handeln das grösstmögliche Glück der
grösstmöglichen Anzahl hervorbringe, als blosses Gebot, wenn es ein
absolutes sein soll, nicht weiter geprüft werden.
Denn könnte man selbst beweisen: die Handlungen, welche wir
tatsächlich als sittlich empfinden, dienen nicht immer der
Glückssteigerung, so antwortet der praktische Utilitarier: dann muss eben
das sittliche Bewusstsein dahin umgebildet werden, dass es nur so
qualifizierte Handlungen als sittliche vorstellt.
Dem gegenüber gibt es natürlich keine Widerlegung, so wenig wie es
einen Beweis dafür gibt.
Das ist das Schicksal alles Letzten und Höchsten in der Theorie wie in
der Praxis; das höchste Kriterium, von dem alles Handeln seine Dignität
entlehnt, kann seinem Begriffe nach nicht selbst nach einer Begründung
seiner Dignität gefragt werden.
Wenn wir trotzdem dem utilitarischen Prinzip gegenüber auf diese Frage
nicht verzichten, so ist das nur möglich, indem wir, seine absolute
Stellung zunächst verneinend, gewisse tatsächliche Zwecke und
tatsächliche Zustände voraussetzen, gegen die ein ethisches Prinzip
nicht verstossen, die es nicht ignorieren darf.
Die Formel, dass das grösstmögliche Glück der grosstmöglichen
Anzahl zu erstreben sei, erscheint zunächst als Tautologie.
Soll überhaupt die grösstmögliche Summe von Glücksempfindung
erstrebt werden, so versteht es sich von selbst, dass die Gesamtsumme der
Individuen glücklich gemacht werden muss, da Alle jedenfalls mehr Glück
empfinden können als Einige.
Diese auf der Hand liegende logische Bemerkung diene hier nur als
Ausgangspunkt sachlicher Bedenken.
Dem konsequenten Eudämonisten kann es nur darauf ankommen, dass
möglichst viel Glück in der Welt sei; wie sich dies verteilt, ist ihm
prinzipiell gleichgültig; wenn er (<324) die Wahl zwischen den beiden
Erfolgen seines Handelns hat, entweder einer Person ein Glücksquantum
gleich 10 oder zweien ein solches je gleich 4 zu verschaffen, so wird er
die erstere Möglichkeit vorziehen und als die sittlichere erklären
müssen.
Kann er statt dessen zweien je ein Glück gleich 5 zuteilen, so wird er
diesen Fall als dem ersten äquivalent und die Entscheidung als ein
Adiaphoron betrachten.
Mit dem Versuch, ausser dem reinen Quantum der Lust auch noch die Art
ihrer Verteilung als Gegenstand eines besonderen und für sich bestehenden
Wertes anzusehen, durchbricht der Utilitarismus das eudämonistische
Prinzip und nimmt sich den kategorischen Charakter ebenso, als wenn er
verschiedene Qualitäten von Lust anerkennt, falls dies zur Folge haben
würde, dass ein kleines Quantum der einen Lust so viel wert wäre wie ein
grösseres einer anderen.
Dies alles sind Inkonsequenzen, die aus einer gewissen Feigheit
gegenüber hergebrachten ethischen Ansichten entspringen.
Die Verteilung der Lust hat der Utilitarismus nur insofern in Betracht
zu ziehen, als sie auf die Erreichung eines bestimmten Lustquantums von
Einfluss ist, die Art der Lust nur zu dem gleichen Zwecke; edle und
gemeine Lust scheiden sich ihm nur insofern, als jene in ihrem
schliesslichen Erfolge auch grössere und dauerndere Lust ist oder solche
zur Folge hat, während diese durch nachfolgende Unlust sich im Grossen
und Ganzen der Bilanz als von geringerem oder negativem eudämonistischem
Werte herausstellt.
Das letztere, um dies vorwegzunehmen, würde vielleicht keinen
Widerspruch hervorrufen.
Wir können uns freilich den Unterschied zwischen hoher und niederer
Art der Lust und die demnach verschiedene Wertschätzung des scheinbar
gleichen Quantums nicht nehmen lassen, und jedes Moralprinzip, das ihn
leugnete, würde von vornherein zurückgewiesen werden.
Allein es ist nicht unmöglich, diesen qualitativen Vorzug so zu
deuten, dass er schliesslich, alle Folgen zweiter und dritter Ordnung
eingerechnet, in einen quantitativen ausmündet; dadurch, dass die
sogenannten edlen Freuden die reueloseren sind, dass sie (<325) eine
Kräftigung des Organismus zurücklassen, dass sie andere Personen
miteinzuschliessen und sie eudämonistisch zu fördern geeignet sind -
dadurch unterscheiden sie sich allerdings von der gemeinen Lust, die, so
sehr ihr augenblickliches Quantum auch jene übertreffen mag, doch alles
in allem vielleicht eudämonistisch hinter ihnen zurücksteht.
Dem sittlichen Bewusstsein von Unterschieden der Lust, dem ein
kategorischer Imperativ unter keinen Umständen widersprechen dürfte,
genügt der Utilitarier, wenn er den entscheidenden eudämonistischen
Zustand nur weit genug herausrückt, um alle Unterschiede der Lust als
Unterschiede der Mittel zu begreifen, die jenen definitiven Zustand
grösser oder kleiner werden lassen.
Bedenklicher als die Frage nach der Qualität des Glücks liegt die
nach seiner Verteilung.
Sie kommt freilich nicht in Betracht, solange man nur das absolute
Ideal des Utilitarismus im Auge hat.
Denn dieses enthält die Steigerung des Lustgefühls in jedem
Individuum bis zur Grenze seines Empfindungsvermögens, so dass, da jeder
ein Maximum besitzt, von einer Verteilung nicht mehr die Rede zu sein
braucht, sondern vollkommene Gleichmässigkeit stattfindet; dies schliesst
auch die Aufgabe ein, die jetzt noch verschiedene Empfindungsfähigkeit
der Einzelnen zu einem Maximum, das also für alle gleich wäre,
umzugestalten.
Und ebenso könnte man sich mit jener Frage abfinden, wenn man die
Verteilung in derselben Weise wie die Qualität des Glücks nur als ein
vorläufiges Mittel fasst, das seine verschiedene Wertung aus der
Verschiedenheit seiner quantitativ eudämonistischen Folgen zieht.
Kein Moralprinzip, dem wir anhängen sollen, darf es für gleichgültig
erklären, ob eine bestimmte Glückssumme einem allein zu gute kommt oder
auf viele gleichmässig verteilt wird; und der Utilitarier kann der
Verteilungsart des Glücks jedenfalls eine Bedeutung als vorläufiges
Mittel beilegen, insofern die jetzige Verteilung einer gegebenen
Glückssumme, wenn auch an sich betrachtet utilitarisch gleichgültig,
doch (<326) von grossem Einfluss auf das Quantum des künftigen Glücks
auf Erden ist.
Mag sich dies nun wahrscheinlich machen lassen oder nicht, so reicht es
in jedem Falle nur dann zu, wenn der letzte noch konkret zu erstrebende
Zustand schon jene absolute Glückseligkeit Aller ist, bei dem die
Verteilungsfrage überhaupt hinfällig wird.
Da dies aber nicht der Fall ist, da vielmehr alle vernünftigen
sittlichen Ziele bestimmte Verteilungszustände des Glücks enthalten, so
können wir uns nicht damit abfinden lassen, dass die Frage nach diesen
und ihr Wert etwas bloss Vorläufiges sei.
Die prinzipielle Gleichgültigkeit gegen diese Frage setzt sich in
einen Gegensatz zu dem allgemeinen sittlichen Gefühl, der ein
Moralprinzip unhaltbar macht, wenn es nicht, wie schon ausgeführt,
revolutionär auftritt und mit vollkommener Ignorierung alles bisher für
sittlich Gehaltenen einfach dekretiert, dass von nun an dieses Neue
sittlich sein soll.
Für den absoluten ethischen Eudämonismus ist es nicht nur
gleichgültig, ob die Glückssumme 9 sich unter 3 Personen so verteilt,
dass A = 3, B = 3, C = 3 oder ob A = 7, B = 1, C = 1 erhält; sondern
sogar die Verteilung A = 11 , B = - 1, C = - 1 (d. h. Leid) muss ihm
gleichwertig sein.
Es sei freilich gleich hier bemerkt, was später noch ausführlich
dargestellt werden muss, dass die gleiche Verteilung der Glücksquanta
nicht etwa eine Forderung ist, die aus logischen Gründen bewilligt werden
müsste, wie es der Sozialismus gern darstellt.
Die Gleichheit der Rechte ist hier wie überall der Inhalt eines
vielleicht nicht weiter begründbaren Willens, dessen Anerkennung aber
durchaus nicht rational, etwa aus dem Begriff des Menschen heraus, folgte.
Dass das gleich verteilte Glück einen wertvolleren Zustand begründet
als das ungleich verteilte, kann man niemandem beweisen, es sei denn, dass
man es als Mittel zu einem höher liegenden Endzweck aufwiese, auf dem
dann seinerseits die Unerklärlichkeit seines Wertes haftet.
Wenn sich eine Morallehre gegen das Interesse an der gleichen
Verteilung des Glücks ablehnend verhält, so kann man nur die
psychologische Erfahrung von dem, was die Menschen tatsächlich (<327)
für wertvoll halten, aber keine logischen Gründe dagegen ins Feld
führen.
Auch die psychologischen Folgen allgemeiner Annahme einer solchen
Moraltheorie - obgleich zuzugeben ist, dass ihre objektive Richtigkeit von
solchen nicht berührt wird - würden ungünstige sein.
Wo Lust und Schmerz einfach als Grössen mit entgegengesetzten
Vorzeichen gegen einander aufgerechnet werden und es nur auf ihre Summe,
gleichviel in welcher Verteilung, ankommt, da wird gar zu leicht der
Einzelne sich das Recht zusprechen, vielen Anderen Leiden zuzufügen,
unter dem Vorwand, dass das Glück, das er daraus gewinnt, selbst nach
Abzug des Leides jener noch grösser wäre, als es ohne die ganze
Handlungsweise sein würde.
a, der Fall ist durchaus denkbar, dass jemand am Martern anderer
Menschen eine so rasende Wollust findet, wie manche historische Erzählung
sie uns glaubhaft macht, dass sie grosser ist als der Schmerz Jener.
Dann wäre eine solche Handlung utilitarisch gerechtfertigt.
Hier kann sich der Utilitarismus auf die Alleinheitslehre stützen, der
zufolge zwischen der eignen und der fremden Lust oder Unlust kein
wesentlicher Unterschied besteht, weil im letzten Grunde alle Wesen in
absoluter Einheit zusammenhängen; Freude oder Schmerz eines Einzelnen ist
deshalb Freude oder Schmerz jedes Einzelnen und nur die Erscheinungen von
Raum und Zeit, die die Einheit alles Seienden in täuschende Vereinzelung
auseinanderreissen, können uns bewegen, das individuelle eigne Glück in
einen Gegensatz zu dem des Anderen oder als Korrelat seines Unglücks
vorzustellen.
Hiervon aber scheint mir die notwendige Folge, wie sie sich uns schon
gelegentlich des Egoismusprinzips ergab, dass ich gar keine Veranlassung
habe, mein Glück für das des Anderen hinzugeben.
Gehören wir einheitlich zusammen, ist der metaphysischen Realität
nach mein Glück zugleich das seine, so ist es eben gleichgültig, wer von
uns beiden es besitzt, und wenn ich für mich ein hohes Glück um den
Preis erwerben kann, dem Anderen (<328) einen nur etwas niedrigeren
Schmerz anzutun, so muss diese Metaphysik es billigen, weil bei
aufgehobener Individualität es nur auf die für die absolute Substanz
anzustellende Bilanz ankommt, die in dem genannten Fall zu einem
eudämonistischen Plus führte.
Hier also begegnen sich der Utilitarismus und der metaphysische
Monismus.
Jede Lehre, die den sittlichen Endzweck in das Gesamtquantum von
eudämonistischen Gefühlen setzt, muss es für sittlich gleichgültig
erklären, ob ich für mein eignes Glück oder das des Anderen sorge, wenn
nur die Summe des Glücks in beiden Fällen die gleiche ist.
Auch der Zusatz, dass das grösstmögliche Glück der grösstmöglichen
Anzahl das Strebensziel sei, kann hier weder Versöhnung noch Klärung
bringen.
Denn der Fall der Wahl, ob ein kleineres Glück an die grösstmögliche
Anzahl gleichmässig verteilt oder ein grösseres einem Einzelnen
zugewendet werden soll - eine Alternative, in die uns das praktische Leben
auf engeren Gebieten oft genug versetzt - ist nach jenem Prinzip nicht zu
entscheiden und wird anders ausgehen, je nachdem das grösstmögliche
Glück oder die grösstmögliche Anzahl betont wird.
Wenn das utilitarische Prinzip auf dem Boden der Gesetzgebung und der
öffentlichen Massregeln in hervorzuhebendem Masse Anwendung und
Anerkennung finden konnte, so liegt der Grund darin, dass hier von
vornherein die grösstmögliche Anzahl der Gegenstand der Bestrebung ist.
Die Fortschritte, die gegenüber der auf dem Boden des Feudalismus und
teilweise auch des Kapitalismus stehenden Gesetzgebung gemacht werden,
beruhen auf der energischen Betonung der grossen Zahl deren Wohlfahrt zu
fördern ist.
Für den sozialisierenden Geist, in dem sich die gesetzgeberischen
Ausgestaltungen des Greatest-Happiness Prinzips bewegen, ist das Glück
der grösstmöglichen Anzahl von vornherein nicht von der
grösstmöglichen Gesamtsumme des Glücks geschieden.
Auch hat die praktische Gesetzgebung überhaupt nicht, wie die ethische
Reflexion, danach zu fragen, was herauskommen würde, wenn ein
augenblicklich mit (<329) Vorteil befolgtes Prinzip in absoluter
Reinheit und ohne Beziehung zu schon vorgefundenem, anders
charakterisiertem Material wirkte.
Vielleicht unterscheiden sich die Kulturepochen dadurch, welche
Verteilung der Glücksmittel unter den gegebenen Umständen das Maximum
von Gesamtglück hervorbringt.
Wenn also für den Augenblick die Tendenz auf die Wohlfahrt der grossen
Zahl das Mittel ist, um auch die Gesamtsumme des Glücks zu erhöhen, so
ist es der gesetzgeberischen Praxis gleichgültig, ob diese Tendenz bei
absoluter Durchgeführtheit und wenn keine Reste anders gerichteter
Zustände mehr zu überwinden sind, noch immer in Harmonie mit dem
Glücksmaximum überhaupt stehen würde oder nicht.
Es kommt folgendes hinzu: die Massregeln einer modernen Gesetzgebung
sind so allgemeiner Natur, betreffen so sehr nur die oberflächlichsten
Verhältnisse zwischen Mensch und Mensch, dass es für sie relativ leicht
ist, sowohl die absolute Summe wie die möglichst gleichmässige
Verteilung eudämonistischer Verhältnisse zu berücksichtigen; je mehr
die Gesetzgebung darauf verzichtet, das Einzelne solcher Verhältnisse
regeln zu wollen, je mehr sie nur die unentbehrliche Grundlage schafft,
auf der derartige Fragen sich überhaupt erst erheben können, desto
weniger wird die Doppeldeutigkeit des utilitaristischen Prinzips seine
Brauchbarkeit für sie verbieten.
Die praktische Anwendung des Utilitarismus in der Gesetzgebung
verhindert also nicht, dass er nur die Wahl hat: entweder sich gegen die
Verteilungsfrage gegenüber der Maximisierungsfrage gleichgültig zu
verhalten und damit eine unbezweifelbare Seite des moralischen
Bewusstseins direkt zu verleugnen, oder die Verteilung des Glücks als
einen besonderen, von der Frage nach dessen Quantum unabhängigen Wert
anzuerkennen, und damit die Einheitlichkeit seines eudämonistischen
Prinzips zu durchbrechen.
Es ist aber nicht nur die Forderung einer gewissen Gleichmässigkeit
der Verteilung, für die unser Sittlichkeitsbewusstsein eintritt, sondern
eben dasselbe fordert auch eine gewisse (<330) Ungleichmässigkeit
derselben nach Prinzipien, für die der Utilitarismus gleichfalls nicht
den Platz hat, den wenigstens , das allgemeine Bewusstsein fordert.
Es ist ihm nämlich im letzten Grunde gleichgültig, wer das zu
maximisirende Glück empfindet.
Mit Leichtigkeit kann er freilich darauf hinweisen, dass die Austeilung
des Glücks an Unsittliche, d.h. an solche, die das Glücksmass der
Menschheit schädigen, sehr bald dahin führen würde, dass kein Mensch
mehr sittlich wäre; die Folge würde also eine rasche Erniedrigung des
eudämonistischen Niveaus sein, während umgekehrt, wenn dafür gesorgt
wird, dass auf denjenigen, der auf das Glück Anderer denkt, auch selbst
möglichst viel Glück komme, dies ein Sporn für solche Bemühung ist; so
dass die Austeilung des Glücks im Verhältnis des sittlichen Verdienstes
sich durchaus als utilitarische Massregel bewährt - aber eben doch nur
als eine Massregel, nicht als ein für sich bestehender Wert.
Ist die Lust der einzige und absolute Wert, so ist das Glück des
Schurken, abgesehen von jener sekundären Folge, in demselben Masse
sittlich zu erstreben, wie das des grössten Ehrenmannes.
Ja, der Utilitarismus wird sich der Konsequenz nicht entziehen können,
dass das Glück der Tiere denselben ethischen Wert habe.
Wird nun, um dies zu rechtfertigen, hervorgehoben, dass ja auch der
reine Eudämonismus die Verteilung des Glücks in dem gewöhnlich
verlangten Sinne betone und dass der Unterschied nur der sei, dass das
allgemeine Bewusstsein diese Verteilung als absoluten Wert, er aber nur
als Durchgangspunkt der Glückssteigerung beanspruche: so ist gerade
dieser Unterschied ebenso in psychologischer Hinsicht wie da, wo es sich
um die Feststellung der Prinzipien handelt, von grosser Wichtigkeit.
Denn mag selbst der Ursprung der Verteilungsforderung jenes
Zweckmässigkeitsmoment sein, aus dem heraus der Eudämonismus ihr den
absoluten Wert abstreitet; sie hat sich doch längst von jenem gelöst und
zu diesem erhoben.
Es kommt noch eins hinzu.
Ich habe anderwärts (<331) ausgeführt, dass die Übertragung des
psychologischen Zweckcharakters auf die blossen Mittel höchst
zweckmässig ist, insofern die letzte Stufe der teleologischen Leiter um
so sicherer erreicht wird, je mehr die Kraft zunächst auf die zunächst
vorliegenden Motive konzentriert wird.
Ist dieses Nächste nun erreicht, so tritt oft genug sein
provisorischer Charakter hervor, und was als Erstrebtes vollkommene
Befriedigung verhiess, ist als Erreichtes eine an sich gleichgültige,
über sich selbst hinausweisende Vorstufe.
Allein diese nachträgliche Korrektur unserer Willensrichtung findet
keineswegs immer statt.
Wo die Anpassung des Willens an den vorläufigen Zweck kräftig und
dauernd genug war, da gewährt die Erreichung desselben auch eine
definitive Befriedigung; nicht nur der vorblickende Wille, sondern auch
das zurückblickende Gefühl schliessen oft genug mit einer Stufe ab, die
der überblickende Verstand als eine bloss vorläufige erkennen müsste.
Ich führe ein Beispiel für diese doppelte Möglichkeit an.
Das Geld hat denjenigen Wert, um dessentwillen es gesucht wird, nur als
Tauschmittel, d. h. als Mittel zum Zwecke der Erlangung an sich
wünschenswerter Gegenstände.
Trotzdem ist es für das Bewusstsein so vieler moderner Menschen derart
zum Selbstzweck ausgewachsen, dass sein blosser Besitz schon als das
Erwünschteste und Beseeligendste erscheint, ohne dass darüber hinaus an
diejenigen definitiven Zwecke gedacht würde, um derentwillen allein es
vernünftiger Weise erstrebt werden kann.
Die fast durchgehende Nötigung des modernen Lebens, den Gewinn von
Geld als nächstes Strebeziel vor Augen zu haben, lässt nicht nur den
Glauben entstehen, dass alle definitive Befriedigung des Lebens mit dem
Besitz einer gewissen Geldsumme verbunden wäre, sondern bewahrheitet ihn
schliesslich auch.
Der Geldgierige und der Geizhals schliessen ihre teleologische Reihe
mit dem Geldbesitz ab.
Im Bewusstsein dieses beharrt ihnen das selige Gefühl, das Höchste,
was man überhaupt wollen kann, erreicht zu haben.
Ist aber der Zweckcharakter des Geldes unterhalb dieses
Krystallisationspunktes stehen (<332) geblieben, so tritt die
Erscheinung tödlicher Enttäuschung ein, die häufig an Geschäftsleuten
zu beobachten ist, wenn sie sich nach Ersparung einer gewissen Summe in
ein Rentierleben zurückgezogen haben.
Sie wissen mit dem blossen Geldbesitz nun nichts anzufangen und das
Geld enthüllt sich nach Wegfall der Umstände, die das Wertbewusstsein
sich darauf konzentrieren liessen, in seinem wahren Charakter als blosses
Mittel, das unnütz und unbefriedigend wird, sobald das Leben darauf
allein angewiesen ist.
So verschieden wie sich hier der egoistische Wille verhält, kann sich
natürlich auch der sittliche verhalten, und der Einwurf, dass die zu
sittlichen Selbstzwecken ausgewachsenen Mittel zu dem logisch letzten
Sittlichkeitsziele nur so lange als moralische Endzustände erscheinen,
als sie unerreicht sind, dann aber doch das Gefühl der wirklichen
sittlichen Befriedigung müssten vermissen lassen - dieser Einwurf ist
psychologisch nicht stichhaltig; es bedarf erst des besonderen Beweises,
dass der Charakter eines für sich bestehenden und für sich
befriedigenden Zustandes, den die gerechte Verteilung des Glücks
augenblicklich unbestritten besitzt, einmal durch die Erkenntnis verloren
gehen könnte, dass sie nur der Maximisirung desselben irgend welche
Dienste leiste.
Vorläufig dürfen wir behaupten, dass eine Lehre, die in ihrer letzten
Konsequenz nicht nach der Verteilung, sondern nur nach der Steigerung des
Glücks fragt, einfach dem vorhandenen sittlichen Bewusstsein
widerstreitet, und zwar derart, dass dasselbe, wie ich glaube, vom
Standpunkt des ethischen Ideals aus eine geringe Glückssumme, gerecht
verteilt, einer viel grösseren aber ungerecht verteilten vorziehen würde
- wobei es gleichgültig ist, dass die, wenn auch nur ideale Durchführung
dieser Gerechtigkeit vielerlei Schwierigkeiten findet, von denen der
nächste Abschnitt zu sprechen hat.
Das Verhältnis zwischen Zweck und Mittel kann hier sogar soweit den
Inhalt tauschen, dass die Glücksvermehrung bloss deshalb erstrebenswert
scheinen könnte, um die gleichmässige Verteilung, die das Endziel
bildet, zu ermöglichen.
Dass der Sozialismus zu (<333) seinen Zwecken mit einer
ausserordentlichen Vermehrung der Genussmittel rechnet, - worüber bald zu
handeln ist - liegt ganz in dieser Richtung.
So lange noch irgend welche Knappheit der Glücksbedingungen vorhanden
ist, ist es unwahrscheinlich, dass die Konkurrenz um sie, und damit die
durch das Übergewicht des Stärkeren bedingte Ungleichheit verschwinden
wird.
Die gleiche Verteilung des Glücks könnte so als absoluter Wert, die
Steigerung seiner Summe als ein relativer empfunden werden, der seine
Bedeutung nur als Mittel zur Realisierung jenes besässe.
Die Relativität aller Faktoren eines empirischen Verhältnisses
scheint immer auf irgend ein Absolutes als Grund des Ganzen hinzuweisen
und verführt dazu, einem von ihnen auf Kosten des anderen eine absolute
Stellung zuzusprechen - was ihm dieser andere dann mit gleichem Masse
vergilt.
Die teleologische Schwierigkeit dieses Falles ist die gleiche, wie sie
in rein kausaler Beziehung das Verhältnis von Geist und Materie
beherrscht.
Könnte uns nämlich der Materialismus selbst einleuchtend machen, dass
das Vorstellen nichts anderes als ein materieller Vorgang ist, so würde
diese Erkenntnis ihren definitiven Charakter sofort durch die Überlegung
einbüssen, dass doch auch die Materie nur als Vorstellung für uns
existiert.
Und ebenso umgekehrt: wenn die ganze Aussenwelt auch als ein Produkt
des vorstellenden Geistes begriffen wird, so ist doch dieser Geist selbst
ein Produkt der materiellen Weltentwicklung, die von der glühenden
Planetenmasse sich durch allmähliche, aber immer materielle Umformungen
zu ihm aufgegipfelt hat.
Sobald also eines von diesen Elementen sich verabsolutieren und das
andere zur Vorbedingung seiner herabdrücken will, geschieht ihm durch
direkte Umdrehung des Prozesses das Gleiche.
Für die Kategorie von Zweck und Mittel gilt dasselbe, was für die von
Ursache und Wirkung längst hervorgehoben ist: dass ihr Ursprung aus
einzelnen, alltäglichen Durchschnittserfahrungen stets zu Antinomien
führen muss, wenn sie auf das Absolute, Letzte und schlechthin Allgemeine
angewendet (<334) wird oder ein solches in den von ihr beherrschten
Verhältnissen gesucht wird.
Indes leidet das Moralprinzip der höchstmöglichen Glückssteigerung
vielleicht nicht nur durch die psychologische Konkurrenz, die das Prinzip
der Glücksverteilung ihr macht; ein noch viel schwereres Bedenken würde
jener Norm aus dem Nachweise entgegentreten, dass die Steigerung der
Glückssumme eine immer wachsende Ungleichmässigkeit in ihrer Verteilung
zur Voraussetzung hätte.
Haben wir nämlich ein System von Wesen, deren Totalglück wir M nennen
und heisst das Glück zweier einzelner Mitglieder a und b, so ist durchaus
nicht sicher, dass M dann ein Maximum wird, wenn a und b diejenigen Maxima
erreichen, welche sie unter der Bedingung des Nebeneinanderbestehens
überhaupt erreichen können; es ist vielmehr sehr leicht möglich, dass a
eine bestimmte Grösse q nur unter der Bedingung erreicht, dass b = r
wird, wobei r einen sehr kleinen oder negativen Wert ausmachen mag; und
dass dann q + r (= M) eine grössere Summe darstellt als bei jedem anderen
realisierbaren, widerspruchsfreien Verhältnis von a und b erreicht werden
kann.
Innerhalb des Einzelwesens, das wir hier wohl zur Vergleichung
heranziehen können, verhalten sich die einzelnen Glücksmomente ähnlich.
Die verschiedenen Seiten eines Individuums bilden Ideale und
Glücksforderungen aus sich heraus, deren gleichzeitige Realisierung,
derart, dass jedes das ihm überhaupt mögliche Maximum erreiche, oder
dass nur eine Maximalsumme der Realisierung herauskomme, wenn jedes
einzelne das bei dem Zusammenbestehen mögliche Maximum erreicht, sehr
unwahrscheinlich ist.
Innerhalb einer Allgemeinheit erleben wir es sehr häufig, dass A ein
gewisses Glücksmaximum nur in dem Fall erreicht, dass B unterhalb einer
Glücksgrenze bleibt, die er ohne die Konkurrenz von A erreichen könnte,
und dass, wenn man beiden in gleicher Weise ein Gut zu Teil werden lassen
will, keiner etwas davon hat.
Sehr wohl lässt sich dies Verhältnis so verallgemeinern und
quantitativ so bestimmt (<335) denken, dass das Glück eines gewissen
Bruchteils der Gesellschaft das Leiden ihrer übrigen Mitglieder zur
Bedingung hätte und dass das Gesamtglück der Gruppe in diesem Fall ein
grösseres als bei seiner gleichmässigen Verteilung wäre.
Das grösstmögliche Glück der grösstmöglichen Anzahl wäre dann
eine widerspruchsvolle Aufgabe, das maximale Glück der Allgemeinheit
würde die maximale Allgemeinheit des Glücks ausschliessen.
Was gegen die Wirklichkeit dieser Möglichkeit zu sprechen scheint, ist
folgendes.
Sobald überhaupt irgend welche Unterschiede in den Glücksquanten
mehrerer Subjekte bestehen, so wird ein ferneres, zur Verteilung kommendes
Quantum von Glücksmitteln einen höheren eudämonistischen Erfolg haben,
wenn es den Bedürftigeren und Unglücklicheren, als wenn es den schon
Besitzenden und also Abgestumpfteren zu Teil wird.
Infolgedessen bringt die Tendenz, zu einem Maximum von Glück
überhaupt zu kommen, es mit sich, dass der weniger Glückliche mehr als
der schon Bevorzugte bei der Austeilung berücksichtigt werden müsste,
was schliesslich zu einer Ausgleichung der Glücksverhältnisse, zu einem
überall gleichen eudämonistischen Zustand führen würde.
Es liesse sich höchstens dagegen bemerken, dass nicht nur das Glück
und der Besitz, sondern auch Unglück und Entbehrung gegen neu auftretende
Glücksmomente abstumpfen.
Die Gewöhnung an das Glück mag in einem hohen Grade freilich
unempfindlich machen, ist dagegen in einem niedrigeren Grade durchaus
erforderlich, um namentlich die feineren und höheren Freuden des Lebens
völlig zu würdigen.
Indes verhinderte dies nicht, dass das Prinzip des grösstmöglichen
Glücks praktisch doch nur durch möglichst gleichmässige Austeilung
desselben zu verwirklichen, dass das grösstmögliche Glück der
grösstmöglichen Anzahl nicht nur ein widerspruchsloser, sondern sogar
ein analytischer Ausdruck wäre.
Allein diese scheinbar einfache Folgerung aus unserer
Unterschiedsempfindlichkeit ruht noch auf mehreren stillschweigenden
(<336) Voraussetzungen von durchaus fragwürdiger Natur.
Die Lustempfindung tritt gemäss jenem Charakter unseres Empfindens nur
auf, indem sie sich über das sonstige Empfindungsniveau erhebt.
Nur wenn sie einen Unterschied gegen den vorigen Zustand bildet, wird
sie fühlbar.
Allein dieser Unterschied wird nicht nur für das Nacheinander der
subjektiven Zustände erfordert, sondern auch für das Nebeneinander der
Subjekte.
Die Glücksempfindung, insbesondere die dauerndere und über den ganzen
Umfang der Interessen verbreitete, die der Eudämonismus im Auge hat,
herrscht im Bewusstsein des Einzelnen nur dann, wenn er sich in einem
Unterschied gegen seine Umgebung fühlt; selbstverständlich braucht dies
nicht die nächste Umgebung zu betreffen, deren Glück vielmehr oft das
eigene steigert, sondern es kann die weitere, es kann das allgemeine
Menschenlos sein, über dessen Niveau man sich erhebt, wenn man sich als
glücklich empfindet.
Wie es das Leid mildert, wenn man Gefährten in ihm hat oder sich
bewusst ist, dass man nur das allgemeine Schicksal erduldet, dem keiner
entgehen kann, so stumpft es auch die Wirkung glücksfördernder Momente
ab, wenn sie jedem Anderen in der gleichen Weise zuteil werden.
Es ist hierbei an den Parallelismus zu denken, der zwischen den
Verhältnissen innerhalb der sozialen Gruppe und denen der Einzelseele
besteht.
Wenn die erstere sozialistisches Nivellement aufweist, so muss sich
dies in der seelischen Verfassung der Individuen spiegeln, weil die
unzähligen Reize zu Gefühls- und Gedankenreaktionen fortfallen, die uns
jetzt aus den krassen Unterschieden wechselnder Eindrücke aus der
umgebenden Menschenwelt quellen.
Dieses innere Nivellement würde aber den Ausschluss entschiedener
Glücksempfindungen bedeuten.
Die sozialistischen Utopien pflegen nicht zu bedenken, dass die
politische Allgleichheit ihr Gegenbild in einer psychologischen finden
muss und dadurch Unterschiedswesen, wie die Menschen sind, die Bedingung
für jenes bewusste Glücksgefühl entzieht, das ihnen die äussere
Gleichheit gerade schaffen soll.
An jedes allgemein (<337) erreichte Niveau von Glückseligkeit, das
sich durch gleiche Austeilung der Mittel zum Glück erreichen liesse,
würde sich in kurzem die Empfindungsfähigkeit anpassen, von ihm aus
dieselbe Steigerung suchen, die sie von dem früheren aus suchte, und sie
nur in dem Masse zu finden meinen, in dem sie sich über denjenigen
Teilstrich der Skala erhebt, den sie ringsum als den selbstverständlichen
erreicht sieht.
Hält man so die Tatsache, dass die Austeilung der Glücksmittel an die
Bedürftigen ein höheres Glücksquantum mit sich bringt und insoweit
sittlich wünschenswert ist, neben die andere, dass die dadurch
schliesslich erreichte Ausgleichung wieder eine Verringerung, ja ein
Auslöschen aller spezifischen Glücksempfindungen bewirken, also nicht
wünschenswert sein würde, so gehört die Ausgleichung der
Glücksbedingungen offenbar zu jenem Typus von Idealen, die mit ihrer
Erreichtheit einen ganz anderen Charakter annehmen, als das Streben zu
ihnen trägt.
Ich erinnere an die bekannte Auffassung vom Werte der Wahrheit, nach
der zu streben beglückend und erforderlich ist, deren Vollbesitze aber
nur sehr zweifelhafte Glücksfolgen zugeschrieben werden; an die Arbeit,
der ein Zustand von Ruhe und unbewegter Sicherheit als Endziel vorschwebt,
dessen Erreichtheit aber in der Regel enttäuscht und auf die Zeit des
Strebens und Mühens als auf die eigentlich wert- und genussvolle
zurückweist; an die sittlichen Kämpfe gegen das Böse und die
Versuchung, bei denen die Heiligkeit und die Ausgelöschtheit jedes
unsittlichen Triebes als Ideal gilt, während das eigentliche Verdienst,
alle Kraft und Tiefe der Seele nur an jenem Ringen, aber nicht an der
kühlen Unverführbarkeit schliesslich erreichter Heiligung haftet.
Eine Analogie dazu auf theoretischem Gebiet, unter entsprechender
Abänderung, finden wir in dem von Kant aufgestellten Gegensatz von
regulativen und konstitutiven Prinzipien: unser Denken habe gewisse
Zielpunkte, denen es zustrebe, und auf dem Wege zu denen es seine
Ergebnisse erlange, während es doch sicher sei, jenen (<338) Endpunkt
nie erreichen zu können, und zwar oft, weil seine Erreichung einen
inneren Widerspruch einschliesse.
So kämen wir zu unseren wissenschaftlichen Einsichten in die
organischen Vorgänge dadurch, dass wir sie als mechanische zu begreifen
suchten, während doch die Erfüllung dieses Strebens, ihre völlige
Auflösung in den Mechanismus, unmöglich, weil der Natur unseres
Erkenntnisvermögens widersprechend wäre, usw.
Diese Entgegengesetztheit zwischen Ziel und Weg erscheint völlig
unlogisch und weist angesichts ihres typischen Charakters auf einen
tieferen psychologischen Grund hin.
Wenn wir irgend ein Tun oder Sein als Station des Weges zu einem
bestimmten Ziel bezeichnen, so betrachten wir es insoweit nicht in der
reinen gegebenen Wirklichkeit seines Inhaltes, sondern haben das noch
nicht wirkliche Ziel in Gedanken, von dem das jetzige Objekt eine in ihm
selbst unmittelbar noch nicht liegende Färbung erhält.
Die Kategorie von Zweck und Mittel ist eben eine ganz subjektive und
rückt selbst menschlich-praktische Zustände, die ohne die psychologische
Wirklichkeit dieser Kategorie gar nicht verwirklicht wären, aus den
Grenzen hinaus, die ihr objektiver Inhalt, ihre realen Eigenschaften
bestimmen.
Nun kommt die Setzung des Endzwecks aber oft so zustande, dass einzelne
Mittel und Stationen als Selbstzwecke oder wegen ihrer unmittelbaren
Folgen erstrebt werden; ausschließlich die Gewohnheit, überall nach
Endzwecken zu suchen, über jeden erreichten Punkt hinaus sich nach einem
höher gelegenen zu sehnen, malt uns ein definitives Ziel, so dass es am
Ende scheint, als entlehnten jene Zustände erst von diesem, erst dadurch,
dass sie Mittel zu ihm sind, ihren Charakter und ihren Wert.
Ein solches Endziel entsteht, indem gewisse Seiten der näher gelegenen
und positiv wünschenswerten Zustände gesteigert und verabsolutiert
werden, wie es das hier nicht weiter auseinanderzusetzende Wesen jeder
Idealbildung ist.
Dadurch nun erscheinen diese Zustände als Produkte zweier Faktoren:
einer unvollkommenen Realisierung des idealen (<339) Endzustandes und
eines Komplexes von Momenten, die ausserhalb liegen und die volle
Verwirklichung des Ideals hindern.
So entsteht eine Spiegelung, in der die Reihenfolge der Werte eine
direkte Umkehrung erfährt.
Aus dem wünschenswerten Zustande werden einige Fäden weiter
hinausgesponnen und ein Ideal aus ihnen gewebt, das dann psychologisch
oder wenigstens in der ideellen Ordnung der Dinge vorherzugehen und jene
näheren Werte vermöge eines gewissen Abzugs, den es sich gefallen lassen
muss, zustande zu bringen scheint.
Hierdurch wird nun jene eigentümliche logische Antinomie zwischen
Mittel und Zweck, Weg und Ziel erklärlich.
Wäre, wie für die gewöhnliche Vorstellung, der Zweck und das Ziel
ideell und psychologisch das erste und leitende, so würden die früheren
Staffeln nur dadurch Wert besitzen, dass sie sich jenem absoluten Werte
nähern; sind diese Zwischenstufen aber schon an sich bedeutsam, sind sie
erstrebt und erreicht, weil sie dessen auch ohne den Gedanken einer
Weiterentwicklung durch ihren eigenen Inhalt wert sind, so lässt sich
begreifen, dass ein erst nachträglich aus ihnen konstruiertes Ideal sich
plötzlich als von ganz anderen Folgen zeigt, weil bei seiner Konstruktion
aus jenen irgend eine einseitige Qualität ihrer zu Grunde gelegt und ins
Absolute gesteigert worden ist; dabei kann eben eines der Elemente
vernachlässigt worden sein, dessen Zusammenwirken mit dem allein ins Auge
gefassten zu dem vorliegenden guten Erfolge erforderlich war.
Von diesem Gesichtspunkte kann man die Verteilung der Glücksmittel und
den Widerspruch unter den Folgen ihrer verschiedenen Masse beurteilen.
Eine gewisse Verringerung des Unterschiedes in den Glücksquanten mag
einem unterschiedenen Zustand gegenüber eine Vermehrung der
eudämonistischen Gesamtsumme bewirken; ein weiterer, in demselben Sinne
fortgeschrittener Zustand mag noch stärker eben dahin wirken - so wird
sehr leicht aus den betrachteten Gesamtzuständen das sozialistische
Moment herausgelöst und an und für sich zu einem Ideal verabsolutiert,
dessen grössere (<340) oder geringere Verwirklichung allein das Mass
des vorhandenen Glücks anzeigte.
Es ist aber ein völlig unberechtigter Schluss: weil in den
verschiedenen Zuständen des öffentlichen Wesens der gewachsene Zusatz
von Sozialisierung zu den übrigen, individualistischen Verhältnissen ein
gewachsenes Wohl bedeutet, darum ist der reine Sozialismus das Endziel,
dem die Entwicklung zum Glücksmaximum zuzustreben hat.
Einem blutarmen Körper ist ein gewisser Zusatz von Eisen zur Nahrung
nützlich; ein grösseres Quantum desselben mag ihm noch nützlicher sein;
aber kann man damit schliessen, dass es nun das Beste sei, ihn
ausschliesslich mit Eisenpräparaten zu nähren? Statt dass jeder Zustand
als das Produkt seiner sämtlichen Faktoren, seine Folgen als die Folgen
eben dieser angesehen werden, verführt die monistisch-teleologische
Neigung dazu, auf die Steigerungen eines Faktors hin ihn als den allein
günstig wirksamen herauszupräparieren und nun scheinbar rein logisch zu
behaupten, dass seine alleinige und absolute Herrschaft das Maximum von
Glück bereiten müsste.
Durch diese subjektive und einseitige Genesis des sozialistischen
Ideals ist es verständlich, dass die Kritik an dem Bilde seiner
vollständigen Realisierung einen völlig anderen und weniger glücklichen
Charakter entdeckt, als diejenigen Stufen besitzen, auf denen er in
niedrigerem Grade, aber mit anderen Faktoren zusammen wirkte.
Der Sozialismus selbst bedient sich gern einer Behauptung, die ganz in
diesem methodischen Sinne ist.
Wenn man ihm die erfahrungsmässigen Nachteile der Regiewirtschaft
entgegenhält, so erwidert er: nur dadurch, dass die Regie bisher überall
in eine sonst ganz individualistische Wirtschaft hineingesetzt wurde,
seien ihre Nachteile entstanden und sie würden verschwinden, wenn die
Regie einheitliches ökonomisches Prinzip wäre.
Offenbar kann man mit genau derselben Wahrscheinlichkeit und
methodischen Berechtigung behaupten: alle zweifellosen Segnungen
sozialisierender Einrichtungen sind nur dadurch entstanden, dass sie in
eine im Übrigen individualistische Gesellschaftsordnung (<341)
hineingesetzt sind, und würden verschwinden, wenn sie alleiniges Prinzip
würden.
Und angesichts der zweifellos dann eintretenden Glücksvermehrung, wenn
bei vorhandener Ungleichheit ein neu aufzuteilendes Glücksmittel an die
schlechter Situierten kommt, und der ebenso sicheren Abstumpfung gegen
Glück überhaupt, wenn dieser Prozess zu einer wirklichen genauen
Ausgleichung der Lagen gelangte - ist der Sozialismus eher für ein
regulatives Prinzip zu halten, dessen Steigerung im Zusammenwirken mit
vorgefundenen individualistischen Ordnungen vorläufig noch die
Gesamtglückssumme vermehrt, ohne dass darum seine Kreierung als absolutes
Ideal objektiv gerechtfertigt wäre.
Gegen die traurige Konsequenz, die die Empfindung des Glücks
überhaupt und also auch seine Steigerung von einer noch bleibenden
Ungleichheit seiner Verteilung abhängig macht, kann sich mit Erfolg nur
die pessimistische Weltanschauung wehren.
Ist nämlich die Erreichung eines positiven Glückszustandes überhaupt
unmöglich und kann alle eudämonistische Bestrebung sich nur auf
Verminderung des Leidens richten, so dass Empfindungslosigkeit das
eudämonistische Ideal ist: dann wird freilich die möglichst
gleichmässige Verteilung aller Ursachen des Glücks dieses am meisten
realisieren; denn wenn die Beseitigung aller Unterschiede das Glück
annulliert, so löscht sie freilich auch im gleichen Masse das Unglück
aus.
Wenn man statt des grösstmöglichen Glücks das kleinstmögliche
Unglück in jene Formel einsetzt, so ist sie in der Tat analytisch, da der
Nullpunkt auf der Skala des allgemeinen Glücks am sichersten durch ein
möglichst gleichmässiges Teilhaben der möglichst grossen Anzahl an den
eudämonistischen Ursachen erreicht wird; denn hierdurch verschwindet die
Anregung zu spezifischen Empfindungen überhaupt, mögen sie nun die
Färbung des Glücks oder des Unglücks haben.
Der Pessimismus mündet hier in den Sozialismus ein, was der
Utilitarismus nur dann tut, wenn das positive Glück, das eine Reihe von
(<342) Individuen durch ihr eudämonistisches Hervorragen über den
Durchschnitt empfinden, nicht die Summe des Leidens übertrifft, das den
anderen durch ihr Zurückbleiben hinter jenem bereitet wird.
Während im Allgemeinen der Sozialismus auf optimistischen
Voraussetzungen ruht, da er bei aller Entrüstung über die Gegenwart doch
schliesslich an der Güte der menschlichen Natur und an der Möglichkeit
vollkommener Zustände festhält, zeigt der russische Nihilismus
sozialistische Tendenzen auf pessimistischer Grundlage.
Vielleicht ist diese eigentümliche Vereinigung durch den obigen
Gedanken zu verstehen, dass der Sozialismus die Empfindungslosigkeit
befördert, die das pessimistische Ideal ist.
Treffend hat man das Ziel des extremen Nihilismus als
»Allgestaltlosigkeit« bezeichnet; und dieser nähert sich der
Kommunismus, jenem Urbrei, in dem alle spezifischen Unterschiede
verschwinden sollen, die uns allein zu spezifischen Empfindungen in Lust
und Leid anregen.
Zieht man dazu eine gewisse, dem russischen Volksgeist nachgesagte
Verschwommenheit und Indolenz in Betracht, so wird es noch durchsichtiger,
wieso er die in der Gestalt- und Empfindungslosigkeit liegende
Möglichkeit fand, Sozialismus und Pessimismus zu verknüpfen.
Fassen wir diese hin- und hergehenden Erwägungen zusammen, so ergibt
sich an diesem Punkte folgendes Bild.
Das Problem ist, ob die Maximisirung des Glücks eine Gleichmässigkeit
seiner Verteilung fordert.
Dem stellt sich die Möglichkeit entgegen, dass das Leiden gewisser
Mitglieder der Gesellschaft die unumgängliche Bedingung zum Glück der
anderen ist, und dass, jenes gegen dieses aufgerechnet, doch noch ein
günstigeres Gesamtresultat herauskommt, als bei gleichmassiger
Verteilung.
Dagegen aber erhob sich die Tatsache, dass die Glücksempfindlichkeit
eine grössere bei dem weniger Glücklichen ist, so dass das gleiche
Glücksquantum, diesem zugeteilt, einen grösseren Erfolg hat und dass
dieserhalb das Maximisirungsbestreben, weil es die bisher Unglücklicheren
zu Objekten machen muss, zu einer schliesslichen (<343) Ausgleichung
Aller unter einander führt.
Und dieses Resultat bleibt das gleiche, wenn auch anerkannt werden
muss, dass der Einfluss der Verteilung nicht das wirkliche Quantum des
Glücks, sondern nur das der Mittel zum Glück betreffen kann.
Der Utilitarismus würde also zum Sozialismus führen, wenn sich dem
nicht wieder der Gedanke entgegenstellte, dass bei allgemeiner
Ausgleichung des Gefühlsniveaus es überhaupt zu einer positiven
Glücksempfindung nicht kommen würde.
Gerade weil wir in unserem Empfinden auf den Unterschied angewiesen
sind, würde die vollkommene Ausgleichung eine Anpassung an jenes
selbstverständliche Niveau hervorrufen, bei der alle spezifische
Empfindung aufhörte.
Dieser Zustand aber kann als eudämonistisches Ideal, als
grosstmögliches Glück der grösstmöglichen Zahl nur für den
Pessimismus gelten, weil es diesem nicht auf positives Glück, sondern nur
auf Verminderung des Unglücks ankommt.
Die weitere Voraussetzung für unser obiges Resultat, nach dem der
Utilitarismus im Sozialismus endigt, ist der Satz, dass die gleich
ausgeteilten Mittel zum Glück auch das gleiche Glück hervorbringen, der
freilich rein selbstverständlich scheint.
Denn angenommen, sie hätten, äusserlich und objektiv gleich
erscheinend, verschiedene Glücksquanta zur Folge, so müssten sie eben
soweit unter sich abgeändert werden, um die gleichen subjektiven Folgen
zu haben und wären dann erst die gleichen Mittel zum Glück.
Denn nur in Bezug auf diese Wirkung sollen sie ja gleich sein; wenn ein
eudämonistisches Mittel r im Gesamtquantum = 10 an A und B gleich
verteilt werden soll, während die Empfänglichkeit dieser so verschieden
ist, dass A durch 3 r ebenso beglückt wird, wie B durch 7, so kann man
unter gleicher Austeilung nur verstehen, dass A 3 und B 7 r erhält, weil
die gleichen Mittel zum Glück nur den Sinn der Mittel zu gleichem Glück
haben können.
Allein der Verwirklichung dieses Ideals stellt sich etwas entgegen, was
man eine psychologische Antinomie nennen könnte.
Neben die Tatsache nämlich, dass die Empfänglichkeit für das gleiche
(<344) Mass von Glücksmitteln eine verschiedene ist, tritt die andere,
dass innerhalb einer Gruppe die vollkommne eudämonistische Befriedigung
so lange ausbleibt, als die Glücksmittel an sich und äusserlich
betrachtet verschieden ausgeteilt sind.
Es ist ein sehr erklärlicher und natürlicher Vorgang, dass jeder sein
Glück unter dem des Anderen stehend glaubt, wenn die äusseren
Bedingungen bei ihm die quantitativ geringeren sind.
Die Abhängigkeit des Glücksmasses von Geld und Gut, von Ehre und
Stellung, von Besitz und äusseren Ursachen jeder Art ist mit Recht oder
Unrecht im Bewusstsein der Menschen zu fest geworden, als dass nicht der
weniger Besitzende mit seiner Lage unzufrieden sein sollte, selbst wenn
seine Empfänglichkeit derart ist, dass er bei geringeren Reizen schon das
gleiche Glück wie der über ihm Stehende empfindet, oder bei Steigerung
derselben dennoch keine Steigerung seines Glücks erfahren würde; wir
kennen das Mass unserer eignen Empfänglichkeit viel zu wenig, können es
zu wenig mit dem Anderer vergleichen und sind dem Neide viel zu sehr
zugänglich, um nicht erstens jeden Mangel an Glück durch den Vergleich
mit anderen scheinbar Glücklicheren zu verschärfen und um nicht zweitens
die Ursache dieses Unterschiedes so viel wie möglich auf die verschiedene
Austeilung äusserer Glücksbedingungen zu schieben.
Nur der Glücklichere wird leicht geneigt sein, sich auch noch selbst
das Verdienst an seinem höheren Glück Anderen gegenüber zuzuschreiben
und sein Selbstgefühl durch den Glauben zu erhöhen, nicht das Plus
äusserer Bedingungen, sondern seine bescheideneren Ansprüche und feinere
Empfänglichkeit gewahrten ihm diesen Vorzug.
Dagegen fällt es uns umgekehrt selten ein, ein Minus an Glück auf
einen Mangel an Empfänglichkeit unsererseits zu schieben; wir
verschärfen das Leid nicht gern durch diese Annahme, um so weniger, als
sie in jedem Falle nur ein Schluss von der Folge auf die Ursache ist, zu
dem wir nicht logisch gezwungen werden können.
Die Antinomie wird also dadurch hervorgerufen, dass jedes Glücksmittel
zwei Werte hat: einen für sich bestehenden, der (<445) durch
unmittelbaren Vergleich mit anderen sein Quantum bestimmt, und einen, der
in seiner Glückswirkung auf das Subjekt besteht und dessen Grösse sich
nach der Empfänglichkeit dieses richtet, der aber sein reines Quantum nur
dann entfaltet, wenn kein Subjekt von dem anderen etwas weiss.
Von der Seite des Wertes an und für sich, des Objektes, angesehen, ist
der erste Wert der absolute, der zweite ein relativer, von der Seite des
empfindenden Subjekts ist umgekehrt der erste relativ, der zweite absolut.
Beide Werte sind in hohem Masse von einander unabhängig.
Da nun aber die wirkliche Beglückung von dem letzteren, die
Zufriedenheit mit dem Grade derselben aber aus
dem angeführten Grunde von dem ersteren abhängt, so liegt auf der Hand,
dass durch keinerlei Verteilung der äusseren Güter ein allgemein
befriedigender eudämonistischer Zustand erreicht werden kann.
Eine Macht, die über die Gesamtheit menschlicher Verhältnisse zu
verfügen hätte, würde vor die Wahl gestellt sein: entweder die
Glücksbedingungen nach dem Schema äusserer Gleichmässigkeit der
Rationen auszuteilen, wobei dem Neide und der Unzufriedenheit freilich
kein Raum mehr bliebe, aber auf Grund der verschiedengradigen
Empfänglichkeit eine höchst ungleichmässige Glückseligkeit
herauskäme; oder auf diese Rücksicht nehmend, das verfügbare Quantum so
auszuteilen, dass jeder genau so viel daraus resultierendes Glück
empfände wie der andere - was denn durch die äusserlich erscheinende
Ungleichmässigkeit der Teile wieder allen Neid, alle Eifersucht und damit
unzählige Leiden zweiter Ordnung entfesseln würde.
Eine andere Antinomie des Gerechtigkeitsbegriffes liefert eine genaue
Analogie hierzu; die Frage nämlich, ob eine völlig gleiche und
voraussetzungslose Verteilung der Genussmittel, wie das sozialistische
Ideal sie sich vorsetzt, den Sinn haben dürfe, dass jeder genau so viel
bekommt wie der Andere oder genau so viel, wie es seiner Leistung für die
Allgemeinheit entspricht.
Es ist sofort klar, was hier nur beiläufig bemerkt werden soll, wie
die ganze Verteilungsfrage durch diese (<346) Schwierigkeit eine
Komplikation erleidet, die von der Seite des sozialen Interesses her
dieselbe Frage wiederholt, die eben nach der Richtung des subjektiven
Interesses gestellt war.
Unserer Schwierigkeit könnte man nun auf doppelte Weise begegnen.
In den Glückswert bestimmter äusserer Bedingungen könnte man gleich
jene sekundäre Unlust einrechnen, gewissermassen als die Unkosten
derselben.
Gehörte zu dergleichen unmittelbaren Lustgrösse, die A und B
empfinden sollen, für A die Bedingung n, für B wegen seiner geringeren
Reizbarkeit n + m, so würde, wenn 2 n + m zur Verteilung stünden, A etwa
n + m/x , B aber nur n + mx-m/x erhalten, um so die Unlust auszugleichen,
welche für A aus seiner scheinbaren Benachteiligung entsteht.
Allein dieses Verfahren ist nur gültig, wenn A noch über n hinaus
empfänglich ist.
Ist die Grenze seiner Reizbarkeit mit n erreicht, so gleitet das ihm
zugedachte m/x eindruckslos von ihm ab, während sein aus dem Mehrbesitz
von B quellender Neid bestehen bleibt.
Derartige Fälle, deren Schematisierung freilich von einer sehr
wirklichkeitsfremden Formelhaftigkeit zu sein scheint, kommen z.B. in der
Pädagogik häufig zur Überlegung, wenn neben der Austeilung einer direkt
fühlbaren Belohnung oder Strafe noch die Folgen für das Lust- und
Ehrgefühl zu berechnen sind, die aus der Verschiedenheit der Austeilung
hervorgehen; wobei denn häufig zu bemerken ist, dass das Kind, das sich
gegen andere zurückgesetzt glaubt, sich gegen eine Vermehrung des ihm
zukommenden Quantums von Angenehmem oder eine Verminderung der Strafe
gleichgültig verhält, während das Bewusstsein auf der Tatsache der noch
bleibenden Differenz zwischen ihm und den anderen beharrt.
Dieses Übel lässt sich nun aber, zweitens, dadurch an seiner Wurzel
greifen, dass man eine Anpassung der Empfindungsfähigkeit an die
darzubietende Gleichheit der Glücksbedingungen betont.
Wenn der Sozialismus sein Glück der grösstmöglichen Zahl (<347)
mit dem grösstmöglichen Quantum des Gesamtglücks vereinigen will und
dazu der gleichen Empfindungsfähigkeit Aller bedarf, so kann er sich
darauf berufen, dass der Mensch, wenn er nicht bekommt, was er begehrt,
schliesslich lernt, nur dasjenige zu begehren, was er bekommt.
Würde deshalb statt des grösstmöglichen Glücks zunächst die
grösstmögliche Anzahl, d. h. die Gleichheit der Verteilung in den
Vordergrund gestellt, so würden sich allmählich die niedrigeren Wünsche
auf dieses allgemeine Niveau erhöhen, die höheren sich so weit
erniedrigen und dadurch ein Maximum von Befriedigung und Glück
hergestellt werden.
Die Anpassung an das vorhandene Mass von Gleichheit der Austeilung
bewirkt eine relative Zufriedenheit mit dieser, welche sich in demselben
Grade steigert, in dem die Gleichheit zunimmt.
So hat z. B. die Abschaffung der Adelsvorrechte zu Gunsten der
Gleichheit vor dem Gesetze zunächst wohl eher eine Erniedrigung des
durchschnittlichen eudämonistischen Niveaus mit sich gebracht, da der
Verlust derselben für den Adel eine akute Unlust bedeutete, während die
Segnungen derselben für die Allgemeinheit sich erst im Laufe der Zeit
fühlbar machen konnten.
Allein schliesslich bewirkte doch die Anpassung an das neu geschaffene
Niveau eine fast allseitige Zufriedenheit und zweifellose Steigerung der
eudämonistischen Gesamtsumme; und nach dieser Analogie könnte der,
Sozialismus behaupten, dass die Aufhebung der Privatkapitalien zunächst
vielleicht eine überwiegende Unlust hervorrufen werde, weil die
individuellen Reaktionen auf die nun gleich verteilten Glücksbedingungen
noch sehr verschieden sein dürften.
Allein dies würde mittels der Eigenschaft der menschlichen Natur, sich
mit dem abzufinden, was man eben haben kann, die Glückssteigerung durch
die Besitzgleichheit schliesslich doch hervortreten lassen.
Hierdurch würde die Auflösung des Zirkels vermittelt, nach dem es
eines vorhandenen Glücksmaximums bedürfe, um die Gleichheit
einzuführen, die ihrerseits schon die Bedingung (<348) jenes sei.
Dies Verhalten des Sozialismus zur Glücksfrage entspricht demjenigen,
das er zur Sittlichkeitsfrage einnimmt.
Ich finde nämlich in allen sozialistischen Darstellungen den
scheinbaren Zirkel, dass sie behaupten, nur in sozialistischen Zuständen
könne der Mensch vollkommen sittlich sein, während diese selbst offenbar
nur bei vollkommener Sittlichkeit möglich sind; denn nur diese oder der
unerträglichste Zwang kann den Menschen zu den das Ganze erhaltenden
Betätigungen bringen, zu denen ihn jetzt der Eigennutz und die Not
bewegen.
Und endlich findet sich ein Gedankenprozess von gleicher Form in Bezug
auf die äusserliche Möglichkeit des sozialistischen Zukunftsbildes.
Da nämlich das jetzt vorhandene Quantum sehr vieler Genussmittel ein
so beschränktes ist, dass ihre gleiche Verteilung sinnlos wäre, so muss
man, um sie zum Allgemeingut machen zu können, eine ungeheure und für
den Augenblick nicht recht ausdenkbare Steigerung der wirtschaftlichen
Kultur voraussetzen.
Mit dieser operiert auch der Sozialismus stets, während er doch
andrerseits betont, dass ganz allein erst die von ihm gewünschte
wirtschaftliche Verfassung die Kräfte zu einer erheblich gesteigerten
Produktion freimachen könne; denn die Konkurrenz, die jetzt die besten
Kräfte verzehre, werde erst aufhören, wenn keinem mehr Genussmittel
versagt wären, die ein anderer besässe.
Er setzt also die Realisierung seiner Ideale schon voraus, um
denjenigen Zustand zu schaffen, in dem sie realisierbar sind.
Allein diese Zirkel entstehen wie so viele nur dadurch, dass wir ein in
sich einheitliches Geschehen begrifflich in seine Momente spalten und
diese nun in Verhältnissen des Nacheinander vorstellen.
Es wäre eine Gegenseitigkeit de Wirkung wenigstens denkbar, so dass
jede Einrichtung, die uns dem Sozialismus näher brächte, uns zugleich
versittlichte und technisch vervollkommnete, und dass jeder Fortschritt
der Sittlichkeit und der technischen Kultur zugleich ein Schritt zum
Sozialismus wäre.
Die grösstmögliche Sittlichkeit ebenso wie das grösstmögliche
Glück und die grösstmögliche Kultur würden sich zu (<349)der Frage
der grösstmöglichen Gleichheit so verhalten, dass die allmähliche
Steigerung der einen Seite auch eine solche der anderen zur Folge hätte
und so der Zirkel vermieden würde, nach dem es einer bestimmten Höhe der
einen bedarf, um die andere überhaupt hervorzurufen, eine gleiche Höhe
dieser anderen aber wieder zur Erzielung jener erforderlich wäre.
Für die Glücksfrage würde dies durch die erwähnte Anpassung ihrer
Wünsche an das Mass ihrer Gewährung vermittelt werden.
Wir können uns aber nicht verhehlen, dass das Anpassungsprinzip ein so
weites und schematisches ist, dass man es für den einzelnen Fall nur dann
gelten lassen darf, wenn man seine Wirksamkeit empirisch nachweisen kann.
Es gibt keine Schwierigkeit biologischer Entwicklung, die man nicht mit
Hülfe des Anpassungsprinzips theoretisch und praktisch überwinden
könnte; da aber die einzelnen realen Vorgänge, die wir unter diesem
Namen ihres Erfolges zusammenfassen, so gut wie unerkannt sind, so können
wir im einzelnen Fall absolut nicht wissen, ob die Bedingungen für die
Anpassung gegeben sind, bevor wir sie wirklich eintreten sehen.
Angesichts der Bedeutung, die die evolutionistischen Prinzipien für
die Moralwissenschaft haben, gehe ich hierauf noch mit einigen Worten ein.
Man kann die Anpassung eines Einzelorganismus an die gebotenen
Lebensbedingungen ansehen als einen innerhalb seiner sich abspielenden
indirekten Kampf ums Dasein.
Wie von verschiedenen Individuen, die mit verschiedenen Eigenschaften
und Bedürfnissen an die gleiche Nahrung gewiesen sind, dasjenige seine
Konkurrenten überleben und sein Geschlecht ausbreiten wird, dem diese
Nahrung am meisten zusagt, mit dessen Bedürfnissen sie sich am
weitgehendsten deckt: so wird von den verschiedenen Bedürfnissen und
Trieben innerhalb des Individuums derjenige die grösste Chance haben,
alle anderen zu überdauern, sich zu vervollkommnen und auszubreiten, der
durch die dargebotenen Lebensbedingungen am meisten befriedigt, am besten
genährt wird.
Diese Selbsterhaltung der (<350) einzelnen Funktion oder Tendenz
durch ihr individuell günstiges Verhältnis zu den äusseren Bedingungen
wird nun durch dasjenige Schicksal gekreuzt, das sie als Glied des ganzen
Körpers erfährt.
Wie das Nützlichkeitsprinzip den Einzelnen, der sich für sich ihm
gemäss sehr wohl erhalten könnte, dennoch vernichtet, wenn sein
Untergang für seine soziale Gruppe nützlich ist, ebenso -und bei der
Enge der organischen Verbindung noch viel mehr - wird ein Trieb, dem an
und für sich alle Bedingungen seiner Erfüllung und Beharrung gegeben
sind, ausgerottet werden, wenn sein Bestehen den ganzen Organismus in ein
ungünstiges Verhältnis zu der Gesamtheit seiner Lebensbedingungen setzt.
Die verschiedenen Anwendungen des Nützlichkeits- und
Anpassungsprinzips geraten so mit einander in Konkurrenz.
Die Anpassung hat immer nach zwei Seiten zugleich zu wirken: für das
individuelle Wesen in seinem für sich seienden Bestande und für eben
dasselbe als Glied eines Ganzen, dessen Erhaltung ihm oft ganz andere
Bedingungen auferlegen mag, als es für sich allein zu erfüllen brauchte.
Mit dieser Schwierigkeit hängt eine zweite zusammen, die das Prinzip
der Auslese ganz im Allgemeinen betrifft.
Die Möglichkeit nämlich, durch eine besonders günstige Eigenschaft
den Gegner zu überdauern und zu überwinden, kann nur dann eintreten,
wenn dieser Vorteil völlig - oder mindestens -ceteris paribus auftritt.
Nur wenn, von ihm abgesehen, die Lebenschancen zweier Wesen absolut
gleich stehen, wird sein Dazutreten das entscheidende Gewicht in die
Waagschale werfen.
Aus dieser selbstverständlichen Überlegung wird die ausserordentliche
Schwierigkeit davon klar, durch das zufällige Vorkommen einer
zweckmässigeren Eigenschaft an eine einzelnen Wesen dessen Übergewicht
über alle anderen, und nun durch die Vererbung die generelle Verbreitung
eben dieser Eigenschaft zu erklären.
Denn einerseits wird sie in de allermeisten Fällen zunächst nur in
einem sehr geringen Quantum aufgetreten sein; Darwin selbst betont, dass
er für die Zuchtwahlstheorie (<351) nur ein sehr geringfügiges erstes
Herausragen eines Exemplars über die andern voraussetze.
Haben wir dazu andrerseits die nach allen Seiten sich erstreckende
Variabilität der Organismen und die Zufälligkeit mannigfaltigster
äusserer Bedingungen für die Betätigung der Eigenschaften im Auge: so
ergibt sich nach den Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung die
ausserordentliche Seltenheit des Zusammentreffens aller der Bedingungen,
deren es für das Überleben des Begünstigten bedarf.
Damit eine vorteilhafte Eigenschaft durch natürliche Auslese
gezüchtet werde, darf das Wesen, an dem sich die erste Spur derselben
zeigt, nicht nach irgend einer anderen Seite hin den geringsten Nachtheil
anderen gegenüber haben.
Diese Bedingung des ceteris paribus wird sich demnach um so eher
erfüllt finden, je einfacher und qualitätenloser die Wesen sind; mit je
weniger Eigenschaften sie in den Kampf ums Dasein eintreten, desto
grösser ist die Chance, dass die besondere Angepasstheit der einen nicht
durch irgend welche Ungünstigkeit einer anderen desselben Wesens
unwirksam gemacht werde.
Nur bei den allereinfachsten Wesen wird ein einseitiges Herausragen
sich dem Herausragen schlechthin nähern.
Bei sehr komplizierten Wesen und Verhältnissen wird die Züchtung
einer Eigenschaft auf Grund ihrer Nützlichkeit nur dann eintreten, wenn
diese Eigenschaft von zweifelloser und entscheidender, nicht leicht durch
irgend eine andere zu paralysierender Wichtigkeit ist, wie man es z. B.
vom Willen zum Leben mit seinen nächsten Ablegern, den Trieben zur
Nahrung, zur Verteidigung, zum Geschlecht, zur Vergesellschaftung
behaupten kann.
Sobald wir aber in höhere Verhältnisse aufsteigen, in denen sich der
einen Wichtigkeit hundert andere Wichtigkeiten entgegenstellen, wird die
Züchtung durch das Überleben des mit der einen ausgestatteten Wesens
sofort in der beschriebenen Weise unwahrscheinlich.
Es ist ein eigentümliches Verhängnis, das an dem Prinzip der
Anpassung durch Auslese haftet: es schlägt zweifellos die erste Brücke
zu einem Verständnis der organischen (<352) Zweckmässigkeit, kein
anderer Erklärungsversuch vermindert auch nur in annäherndem Masse das
Wunder derselben; zugleich aber entfernt es sich so wenig aus seiner
abstrakten Allgemeinheit, dass man behufs seiner Anwendung im einzelnen
Fall auf den blossen Wahrscheinlichkeitskalkül angewiesen ist, der zu
sehr ungünstigen Ergebnissen kommen muss.
Von zwei einander ausschliessenden Eigenschaften würde man mit Hülfe
des Ausleseprinzips nur in den seltensten und einfachsten Fällen sagen
können, welche denn die siegreiche sein muss; denn wir können uns wohl
von jeder eine Nützlichkeit konstruieren, nicht aber die Korrelationen
und anderweitigen Beziehungen des mit ihr begabten Wesens, die erst
darüber entscheiden, ob seine partielle Bevorzugung ihm auch wirklich zum
Besiegen des Konkurrenten verhilft.
In unsrem Fall kann man die Anpassung an die dargebotenen
Befriedigungen zwar durchaus als ein Resultat der Auslese ansehen;
andrerseits aber ist es ebenso plausibel, die Unzufriedenheit mit den
vorhandenen Zuständen als eine nützliche Eigenschaft anzusehen, deren
Erhaltung im Kampf ums Dasein zu immer besseren Zuständen führt.
Welche von beiden Tendenzen im einzelnen Falle siegreich über die
organische Modifikation entscheidet, hängt eben von ausserhalb ihrer
gelegenen Umständen ab und lässt sich aus der isolierten Betrachtung
ihrer Nützlichkeit nicht erkennen.
So liegen die Überlegungen, die das positive oder negative Verhältnis
der gleichen Verteilung des Glücks zu seiner Maximisirung betreffen,
gewissermassen schichtenförmig übereinandergelagert, und wenn man eine
Anzahl derselben durchgegangen ist, von denen die folgende stets die
frühere widerlegte, hat man doch nicht das Recht zu der Behauptung, die
letzte, zu der man gedrungen, sei nun die entscheidende, ihr Resultat sei
das Urteil letzter Instanz, das alle früheren zu reformieren oder zu
bestätigen die Kraft hätte.
Denn Niemand kann sich anmassen, die logische Analyse oder die
Betrachtung der realen Verhältnisse zu der überhaupt erreichbaren
(<353) Vollständigkeit geführt zu haben.
Insbesondere sind die letzteren von einer so unübersehbaren
Mannigfaltigkeit und stehen so wenig in durchgängig gleichem Verhältnis
zu unseren abstrakten Begriffen, dass man mit Leichtigkeit zu jedem
Verhalten derselben, das eine bestimmte Behauptung sehr allgemeiner Art
beweisen soll, ein anderes aufweisen kann, welches dieselbe widerlegt.
Und so erscheint denn nicht eine solche Anordnung der einander
entgegengesetzten Momente als die richtige, nach der das später
aufgeführte, das sich über das frühere widerlegend erhebt, dies so
hinfällig machte wie das Urteil höherer Instanzen das der niederen,
während es selbst wieder sein Schicksal von dem folgenden erwartete:
sondern dies verschiedenartige Für und Wider erscheint nur mehr
koordiniert, gleichsam als zwei Heerlager, zwischen denen es zu keiner
Entscheidungsschlacht kommen kann, sondern nur zu Geplänkeln zwischen
einzelnen Truppenteilen, deren Sieg oder Niederlage im einzelnen
keineswegs eine Entscheidung über das Ganze enthält.
Die Begriffe der Glückseligkeit und der Gleichheit sind hinreichend
unbestimmt und enthalten eine hinreichende Anzahl von Einzelheiten, um den
mannigfaltigsten Kombinationen harmonischer oder dissonierender Natur Raum
zu geben.
In jedem Fall ist klar geworden, dass die Zusammenstellung der
grösstmöglichen Glückssumme mit der grösstmöglichen Anzahl der Glück
geniessenden Individuen keineswegs so leicht zu realisieren ist, wie es
nach der harmlosen Fassung des utilitarischen Prinzips scheint.
Es ist weder selbstverständlich noch unbestritten, dass die eine
Forderung sich mit der anderen verträgt, geschweige denn, dass sie
solidarisch mit einander verbunden seien.
Endlich gibt es einen dritten Gesichtspunkt, der selbst bei
eudämonistischen Grundsätzen neben die blosse Mehrung des Glücks noch
ein anderes zu berücksichtigendes Ideal setzt, (<354) den ich aber
deshalb in Sonderung von den vorigen erwäge, weil er über die Kritik des
Utilitarismus hinaus zu einer solchen des Eudämonismus überhaupt
gehört.
Jede eudämonistische Überlegung zu praktischen wie zu theoretischen
Zwecken hat zur Voraussetzung, dass ein gewisses Mass von Lust durch ein
gewisses Mass von Unlust aufgewogen würde, dass es für die positiv und
die negativ eudämonistischen Werte einen gemeinsamen Massstab gäbe, an
dem sich entschiede, ob eine Tat, die Folgen von beiderlei Art hat, im
ganzen eudämonistisch günstig oder ungünstig sei.
Die menschlichen Verhältnisse sind viel zu kompliziert, als dass eine
Tat ganz ausschliesslich glückmehrend wirken sollte.
In roheren Zeiten hat das undifferenzierte Ineinander aller
Verhältnisse, in kultivierten die Mannigfaltigkeit derselben den gleichen
Erfolg, der einzelnen Tat eine erhebliche Anzahl von Folgen zu
verschaffen, die, sehr viele und verschiedenartige Interessen kreuzend,
nur durch den merkwürdigsten Zufall auf alle diese positiv
eudämonistisch wirken könnten.
Viel eher lässt es sich denken, dass eine Tat ausschliesslich von
Unlustfolgen begleitet wäre; denn das Gefühl des Glücks ist nur bei
harmonischem Zusammenstimmen einer grossen Anzahl von Faktoren möglich,
während das Fehlen eines einzigen derselben genügt, um es in Unglück zu
verwandeln.
Wie zur Schönheit eines Gesichts sehr viele Züge und sehr
mannigfaltige Verhältnisse derselben nötig sind, um aber das schönste
zu entstellen ein einziger Zug oder ein einziges Mal genügt; wie eine
Maschine oder ein Kunstwerk nur auf sehr wenige oder auf eine einzige Art
hergestellt, auf tausenderlei Arten aber zerstört werden kann: so ist es
auch ausserordentlich viel leichter, Glück zu zerstören, als es zu
schaffen und daher wird die Wahrscheinlichkeit immer dafür sprechen, dass
unsere Handlungen eher einmal Unlust ohne Lust als Lust ohne Unlust
wirken, und vor allem dafür, dass ihre weiter verzweigten Folgen, von
denen ein grosser Teil immer ausserhalb des eigentlich Bezweckten liegt,
auf ihren nicht mehr teleologisch (<355) gelenkten Wegen jedenfalls
neben der Lust auch immer noch Unlust hervorrufen.
Und dies gilt nicht nur für die Folgen der Tat, sondern auch für ihre
Vorbedingungen.
Was wir tun müssen, um ein bestimmtes Glück zu erreichen, ist in der
Regel nicht selbst schon ein Glück, sondern pflegt eine Aufopferung,
einen Preis in irgend einem Sinn fordern.
Wir sind deshalb fast bei jeder Handlung des Lebens in der Lage,
überlegen zu müssen, ob ihre Folgen an Lust, sei es für uns, sei es
für Andere, ihre unlustvollen Vorbedingungen oder Folgen übertreffen;
und wenn diese Überlegung nur bei selteneren und wichtigeren
Angelegenheiten in unser Bewusstsein tritt, so geschieht dies nur deshalb,
weil die Gattungserfahrung oder die sehr angehäufte individuelle schon
den Prozess jener Abwägung vollzogen und uns das Resultat, ob die
Handlung zu tun oder zu lassen sei, als ein fertiges vorgelegt hat, ohne
dass es im einzelnen Falle einer neuen bewussten Abschätzung der
verschiedenen Folgen bedürfte.
Es gibt also eine Ausgleichung zwischen Lust und Unlust, durch welche
ein Grad der einen durch einen Grad der anderen derart aufgehoben werden
kann, dass z. B. bei gegebenen Unlustfolgen einer Tat sich entscheiden
lässt, welche Quanta von Lust erforderlich sind, um sie dennoch
eudämonistisch günstig oder gleichgültig oder ungünstig zu gestalten.
Ob für die Grenzpunkte des Empfindens diese Ausgleichung möglich ist,
steht dahin; die Lust, welche etwa religiöse Märtyrer in der Hoffnung
jenseitiger Seligkeit oder in der Verschmelzung mit ihrem Gott finden,
scheint so gross zu sein, dass kein ihnen angetanes Leid sie aufzuwiegen
imstande ist; andrerseits gibt es offenbar Schmerzen, die die
überwiegende Zahl aller Menschen nicht auf sich nehmen würde, auch wenn
alle Lust der Welt sich ihnen als Äquivalent böte.
Wahrscheinlich erfüllen derartige extreme Empfindungen das Bewusstsein
so völlig, dass für die entgegengesetzten kein Platz mehr darin
vorhanden ist, und zwar um so weniger, als diese, um jene aufzuwiegen, von
gleich extremer Grösse sein müssten.
Von (<356) solchen Ausnahmefällen indes abgesehen, beruht unser
praktisches Leben auf der möglichen Ausgleichung von Lust und Schmerz,
Preis und Erwerbung, Opfer und Gewinn.
Wird deshalb der Wert des Lebens rein nach seinem Glücksquantum
berechnet, ist das Endresultat der Bilanz zwischen Lust und Unlust das
Entscheidende für ihn, so ist dasjenige Leben, welches wenig Lust, aber
auch nur wenig Leid erfahren hat, in gleichem Masse wertvoll wie eines,
das viel Lust, aber auch entsprechend viel Leid aufweist.
Verhalten sich Glück und Unglück wie Grössen mit positivem und
negativem Vorzeichen, und bestimmt sich der Wert der einzelnen Tat oder
des Lebens überhaupt nach dem Resultat der Aufrechnung von beiden gegen
einander, so ist eine weltgeschichtliche Tat, die unendliches Elend, aber
auch unendlichen Segen über die Menschheit bringt, von dem gleichen
ethischen Werte wie irgend ein alltägliches Tun, das weder Lust noch Leid
in nennenswertem Masse zur Folge hat und so von vornherein den Nullpunkt
auf der eudämonistischen Skala einnimmt, den jene durch gegenseitiges
Aufwiegen ihrer verschiedenartigen Folgen erreicht; und ferner ist das
Leben eines hochgebildeten Geistes, der alle Freuden des Daseins, aber
auch seinen ganzen Jammer durchgekostet hat, nicht wertvoller als das des
eingeschränkten Philisters, der aus der Balancierung seiner
Miniaturfreuden und -leiden ebenso das Resultat gleich Null gewinnen mag,
wie der erstere aus an sich unvergleichlich höheren Faktoren.
Und endlich ist bei jenen Voraussetzungen das Niveau des Lebenswerkes
für eine Gesamtheit das gleiche, wenn ihre sämtlichen Mitglieder ein
gleiches Mass von Glück oder Unglück gemessen, wie wenn eine Anzahl
derselben sich hoch darüber erhebt, während eine andere ebenso tief
darunter hinabsinkt.
Das Entscheidende bleibt immer das Endergebnis der Aufrechnung, die
relative Grösse der Faktoren, während ihre absolute gleichgültig ist.
Allein mit dieser Konsequenz scheint der Eudämonismus (<357) einer
zweifellos vorhandenen Empfindung gerade der edleren Geister zu
widerstreiten.
Ein reichbewegtes Leben, das jede Art und jeden Grad von Schmerz und
Lust empfunden hat, dem nichts Menschliches, sei es in Höhen oder in
Tiefen, fern geblieben ist, erregt uns die Vorstellung eines höheren
objektiven Wertes als ein stabileres, das das mittlere Empfindungsniveau
nie wesentlich überschritten hat.
Und zwar so sehr, dass diese Höherbewertung nicht nur bei Gleichheit
des eudämonistischen Endresultats beider Lebensläufe, sondern sogar dann
stattfindet, wenn schliesslich das bewegtere Leben eine ungünstigere
Bilanz zeigt als das ruhigere.
Auch subjektiv wird ein Mensch, der die Welt der Empfindungen von einem
Pole zum anderen durchmessen und alle Reiche der Lust und des Schmerzes
kennen gelernt hat, nicht mit einem stumpferen Wesen tauschen wollen, das
vielleicht etwas weniger Freuden, aber jedenfalls unvergleichlich viel
weniger Schmerzen erfährt.
Es liegt nahe, hier zu bemerken, dass ein solches Schicksal ein Gefühl
von Bedeutsamkeit und Erweiterung der eigenen Persönlichkeit verschafft,
welches für den, der es einmal gekostet, so wertvoll, so schwer
entbehrlich ist, dass alle einzelnen Leiden, die seinen Preis bilden,
dagegen nicht ins Gewicht fallen.
Dies sei aber eben ein Gefühl von Glück, und so sei es denn
schliesslich doch wieder ein solches und sein Quantum anderen
eudämonistischen Gefühlen gegenüber, das über den Wert des Lebens
entscheidet.
Das ist freilich eine mögliche Deutung.
Ebenso möglich aber ist es, dass die Glückssumme einer solchen
Persönlichkeit, selbst dieses Gefühl aus der Vergleichung ihres Loses
mit dem Anderer mit eingerechnet, die kleinere sei und zwar sowohl
objektiv wie für ihr persönliches Bewusstsein, und dass sie dennoch ihr
Schicksal als das wertvollere empfindet, In der Weite des
Empfindungsbereiches kann sehr wohl ein Wert liegen, der von dem Resultat
der Aufrechnung der einzelnen Faktoren unabhängig ist; es ist eine zwar
durch allerhand Analogien naheliegende, aber keineswegs bewiesene
Behauptung, dass (<358) Freuden und Schmerzen sich derart wie positive
und negative Grössen verhalten, dass über den Wert des Lebens nicht
diese selbst, sondern nur der Rest entschiede, der nach Abrechnung der
kleineren von der grösseren übrig bliebe.
Psychologisch hängt diese Vorstellung einigermassen mit dem populären
Glauben zusammen, dass über den Wert eines Lebens seine letzten Momente
entscheiden, der sich in den Worten verfestigt hat, dass niemand vor
seinem Ende glücklich zu preisen sei; so dass ein Leben, das nach grossen
Leiden doch noch glücklich schliesst, im allgemeinen eudämonistisch viel
höher gestellt wird als eines, welches die genau gleichen Bestandteile
nur in umgekehrter Reihenfolge aufzeigt.
Und wie der eudämonistische soll sich der sittlich-religiöse Wert des
Lebens verhalten: mit der Busse und Rückkehr zu Gott in der Sterbestunde
wird der ärgste Sünder zur ewigen Seligkeit zugelassen, während man ein
ganzes Leben lang fromm und sittlich gewesen sein kann und um eines
letzten ungesühnten Vergehens willen für ewig von Gottes Angesicht
verstossen wird.
Es muss dem die dunkle Vorstellung zu Grunde liegen, als zöge der
Schluss des Lebens die Bilanz seines gesamten Inhaltes und als würde
deshalb durch jenen erst festgestellt, was das Ganze eigentlich wert sei -
die gleiche psychologische Spiegelung, durch die man sich mit einem
Menschen gewissermassen abgefunden, das Gefühlsverhältnis zu ihm als
befriedigend empfindet, wenn man zwar ein halbes Leben mit ihm in
erbitterter Feindschaft und gegenseitiger Kränkung gelebt, aber sich auf
seinem Totenbette mit ihm versöhnt hat.
Der letzte erreichte Punkt, das letzte zu ziehende Fazit strahlt auf
alles Vergangene und Einzelne zurück und gibt ihm seinen Charakter.
Allein ob ein grosser Teil unserer Wertforderungen so nicht
schliesslich unbefriedigt bleibt, ist mir insbesondere für unsere engere
Frage noch zweifelhaft.
Im Kapitel über Schuld und Verdienst habe ich ausgeführt, dass die
Höhe des sittlichen Verdienstes nicht davon abhängt, welches Mass von
(<359) Sittlichkeit schliesslich am letzten Punkte der
Willensentwicklung zu Tage tritt, sondern von der Grösse der
überwundenen unsittlichen und der überwindenden sittlichen Antriebe, die
vorher zur Entscheidung unter einander gekommen sind; die sittliche Tat
kann der definitiven Erscheinung nach eine sehr geringfügige sein und
doch aus einer ausserordentlich hohen Sittlichkeit hervorgegangen sein,
wenn der vorangehende Kampf mit der unsittlichen Versuchung ein schwerer
war, der auf beiden Seiten die ganze Kraft der Impulse aufgeboten hat.
Und wie zwei Geschäfte, deren Jahresbilanzen mit der gleichen Summe im
Gewinnkonto abschliessen, doch an Bedeutung äusserst verschieden sein
können, je nachdem jene sich aus einem niedrigen oder aus einem hohen
Betrag der Aktiva und Passiva ergibt, so scheint ein Leben wertvoll sein
zu können, auch wenn die schliesslich sich ergebende Summe von Glück,
die es sich selbst und Anderen bereitet, eine ganz unbedeutende ist,
sobald nur die Faktoren, aus denen sie sich ergibt, einen weiten
Schwingungsradius aufweisen.
Weshalb diese Weite der inneren Bewegung, der Reichtum des
Empfindungslebens ganz abgesehen von dem Resultat seiner Bilanz als Wert
gefühlt wird, ist schwer zu sagen, wenn auch die Tatsache selbst wohl von
keinem feineren und unbefangenen Empfinden geleugnet wird.
Man kann vielleicht annehmen, dass die bedeutenden, führenden Naturen,
zu denen die Menge aufzusehen gewohnt ist, sich durch einen weiten Rahmen
der Schicksale und der mit ihnen verbundenen Gefühle auszeichnen, wobei
ja keineswegs stets ein Glücksüberschuss solcher Persönlichkeiten
vorausgesetzt wird; und dass dadurch die Vorstellung der Bedeutsamkeit und
eines ungewöhnlicheren Wertes an die Grösse des Empfindungsschicksals
angeknüpft worden sei.
In jedem Fall ist es eine höhere Entwicklungsstufe, die sich in einem
weiteren Abstand der empfundenen Lust- und Leidmaxima äussert.
Wie die Sonderung und Ausbildung der verschiedenen Sinnesempfindungen
und die Grösse ihrer (<360) Skala das höhere Wesen vom niederen
unterscheidet, so wird man es wohl auch als eine fortgeschrittene Bildung
ansehen können, wenn die eudämonistischen Gefühle sich nach beiden
Seiten hin entschiedener sondern, zu immer schärferer Differenzierung der
Bestandteile gelangen, die das eudämonistische Niveau bilden.
Diesem Resultat nähert sich die Entwicklung von zwei Seiten her:
sowohl subjektiv, insofern die feinere Differenzierung des Nervensystems
uns für Freuden und Leiden empfindlicher macht, als auch objektiv durch
die steigende Mannigfaltigkeit und Komplikation der Umstände, in denen
wir leben und die uns mit dem Auftauchen jedes neuen Interesses, mit dem
Knüpfen jeder neuen Verbindung mit anderen Menschen auch eine neue
Gelegenheit zu Lust und Leid schaffen; in demselben Masse, in dem die
Differenzierung unserer Tätigkeiten, unserer Verhältnisse, unserer
theoretischen Auffassung der Welt zunimmt, muss auch die unserer
Gefühlsreaktionen wachsen.
Immer weniger erscheint es möglich, unser Gefühlsschicksal aus
relativ gleichartigen Bestandteilen aufzubauen, immer unvermeidlicher,
selbst bei Losen von ganz normaler Endsumme, eine Reihe wilder
Schwankungen in den Kauf zu nehmen; schon die Entwicklung der
wirtschaftlichen Verhältnisse bringt dies mit sich, insofern der Einzelne
sich einem immer länger dauernden und schärferen Kampf um die Existenz,
einer immer wechselvolleren Jagd nach dem Glück widmen muss, ehe er zu
einer relativ ruhigen Lebensgestaltung kommt, die der Chance, alles zu
verlieren, ebensofern ist wie der, alles zu gewinnen.
Und die gleiche Gestaltung wie das Nacheinander des Einzelschicksals
zeigt das Nebeneinander der sozialen Gruppe.
Wo wir die Entwicklung von Kulturen verfolgen können, zeigt sie uns
stets die Tendenz auf Vergrösserung der Kluft zwischen Reich und Arm,
Hoch und Niedrig, Glück und Elend.
Dass der Kulturfortschritt die Sklaverei beseitigt, dass er einen
sozialen Unterschied wie zwischen dem Feudalherrn und dem Leibeigenen
nicht mehr gestattet, dass er die Abgründe der (<361)
Kastenunterschiede überbrückt - dies alles sind nur scheinbare Gründe
gegen die Richtung der Entwicklung auf eudämonistische Differenzierung.
Denn freilich wirken auch noch andersgeartete Kräfte in der
Geschichte, und diese schaffen gelegentlich neue Grundlagen der Kultur,
die die alten Formen der Differenzierung zerstören.
Aber von diesen neuen Grundlagen aus beginnt dann die letztere von
neuem ihr nach dem Prinzip: Wer viel hat, dem wird gegeben; wer wenig hat,
dem wird genommen - fortschreitendes Werk.
Die furchtbare Kluft zwischen dem Herrn und dem Sklaven oder
Leibeigenen und zwischen den Angehörigen verschiedener Kasten ist gerade
das Resultat sehr langer und hochgebildeter Kulturen und findet sich in
der krassen Form, in der sie uns vor Augen steht, keineswegs an den
Anfängen von Kulturperioden, als deren spätes Ergebnis vielmehr sie erst
auftritt; in primitiven Epochen ist der Unterschied der Lebenshaltung
zwischen dem Herrn und dem Sklaven oft ein recht geringer.
Das eudämonistische Schicksal der Gesamtheiten zeigt wie das der
Einzelnen mit steigender Entwicklung einen immer anwachsenden
Schwingungsradius zwischen seinen Extremen.
Hier hätten wir also ein Wertmoment, das zwar auch nur mit den
Faktoren Lust und Leid rechnet, aber sich doch jedem Eudämonismus
entgegenstellt, der, sei er egoistisch oder altruistisch, den Wert jedes
Tuns und jedes Schicksals nach dem Quantum von Lust oder Leid bemisst, das
übrig bleibt, nachdem das zugleich hervorgerufene Gegenteil davon
abgezogen ist; so dass dasjenige Quantum, das beiden gemeinsam ist und in
dem sie sich gegenseitig aufwiegen, in seiner Grösse ganz gleichgültig
ist.
Allein mir scheint eine starke Empfindung in uns gerade einen Wert auf
das absolute Mass des Fühlens, auf die Grösse der im Gesamtresultat
vielleicht einander ausgleichenden Faktoren zu legen -, einen Wert, vor
dem umgekehrt das Fazit der Aufrechnung relativ gleichgültig ist und in
Bezug auf den wenigstens gesagt werden kann, dass die entwickeltsten
Individuen und Gesamtheiten gerade ihn (<362) , gerade die grösste
Schwingungsweite zwischen den Faktoren ihres eudämonistischen Schicksals
aufzuweisen pflegen.
Der Utilitarismus kann freilich gegen diese Wertgebung einwenden, dass
jene Schwingungsweite dieselbe sei zwischen kleinem Glück und grossem
Leid wie zwischen grossem Glück und kleinem Leid und dass, wenn sie über
den Wert des Lebens entscheiden solle, der letztere Fall dem erstere
gleichwertig wäre, was offenbar ungereimt ist.
Allein hiermit beginge er nur den schon vorhin betonten Fehler, die
Gültigkeit eines bestimmten Wertes dadurch widerlegen zu wollen dass eine
extreme Unlust gegen ihn in die Waagschale geworfen wird, die freilich ihn
wie jeden beliebigen Wert überhaupt annullieren kann.
Jener Wert ist natürlich nicht de einzige des Lebens, sondern besteht
nur neben den anderen und wird überwogen, wenn ein negativer Wert wie die
Unlust in sehr grossern Quantum mit ihm verbunden wird.
Da durch also wird die psychologische Tatsache, dass ausser de
eudämonistischen Endsumme auch noch die absolute Grösse der sie
zusammensetzenden Faktoren einen Wert des Lebens ausmacht, in keiner Weise
geändert.
Ob nun die Verwirklichung dieses Wertes rationeller Weise unter die
sittlichen Ziele aufzunehmen sei, ist eine Frage, gegen deren Bejahung
insbesondere die sozialen Übel zu sprechen scheinen, die sich aus einer
starken Differenzierung zwischen den Wohlhabenden und den Enterbten
ergeben, wie sie in den soeben angeführten Beispielen stattfand.
Das sittliche Bemühen soll doch dahin gehen, diese Kluft zu verengern,
statt sie zu verbreitern.
Doch gibt dies folgender Überlegung Raum.
Schon dasjenige Mass von Kultur, auf das selbst eine weitgehende
Gleichheitsschwärmerei nicht verzichten möchte, hat eine soziale
Differenzierung zwischen Hoch und Niedrig, zwischen bequemem Wohlstand und
harter Arbeit zur geschichtlichen Voraussetzung.
Ist dieser Unterschied einmal geschaffen, so verbreitert und vertieft
er sich vermöge jener Schwerkraft, die soziale Tendenzen so oft über
denjenigen (<363) Grad hinaustreibt, dessen es zur Erreichung der
eigentlichen Zwecke Jener Tendenz bedurfte; oder auch die Verhältnisse
ändern sich so, dass die ursprünglich notwendige Differenzierung
überflüssig wird und nun als eine zu weitgehende erscheint, wie z. B.
die Sklaverei in primitiven Zeiten die unumgängliche Bedingung
wirtschaftlicher und geistiger Kultur ist, nach Erreichung eines gewissen
Grades dieser aber ihre Berechtigung verliert.
Kurz, die eudämonistische Differenzierung bringt Missstände mit sich,
deren Abschaffung indes nicht in dem Augenblick ihres ersten
Bewusstwerdens zu erfolgen pflegt.
Vielmehr muss die Differenzierung erst weit über den Grad
hinausgetrieben werden, in dem sie zuerst ihre Unzweckmässigkeit zeigte,
um alle Kräfte zu ihrer Ausgleichung wach zu rufen.
Weder die antike Sklaverei noch der Feudalismus des
vorrevolutionistischen Frankreichs noch die russische Leibeigenschaft
wurden abgeschafft, als sie ihre Kulturdienste geleistet hatten, sondern
die sozialen Unterschiede, die sie setzten, mussten noch weiter und weiter
gesteigert werden, ehe die Gegensätze eine Ausgleichung fanden.
Gerade ihrer extremen Ausgestaltung bedurfte es, damit mit dem alten
Differenzierungsprinzip gründlich gebrochen und das Fundament für ein
neues gelegt werden konnte, welches den Wert der Differenzierung - der
Schwingungsweite zwischen den vorhandenen Gegensätzen - und den der
eudämonistischen Endsumme aus ihrer Aufrechnung zweckmässiger
vereinigte, d. h. so, dass der Gesamtwert ein höherer wurde.
So weit also der bewusste sittliche Wille in diese Entwicklungen
überhaupt einzugreifen hat, wird er der eudämonistischen Differenzierung
vielfach freies Feld zu schaffen suchen, damit sie, ihren eigentümlichen
Wert entfaltend, zugleich an die Grenze gelangen kann, die sie erreichen
muss, um aus dem vollen Sichausleben der Gegensätze die Bedingungen für
einen neuen Kalkül unter den Lebenswerten überhaupt zu schaffen.
Wir finden Ähnliches auf Gebieten, die mit dem eudämonistischen nur
in indirekten Beziehungen stehen.
Die oft beklagte (<364) Heftigkeit und der extreme Charakter des
Parteilebens und zwar keineswegs nur des politischen, ist dennoch sowohl
Ursache wie Anzeichen vorgeschrittener Kulturzustände.
Offenbar aus diesem Grunde: unser Verstand zieht aus den unendlich
komplizierten Erscheinungen eine Reihe von Begriffen, Kategorien, Idealen,
deren jedes für sich einseitig ist und zwischen denen, mehr oder weniger
um die Mitte herumspielend, die Wahrheit liegt.
Mit der klaren Herausarbeitung der Begriffe aber macht sich jede
Persönlichkeit mehr und mehr zum Träger und Vertreter eines derselben.
Je vollkommener dieses nach beiden Seiten hin geschieht, desto grösser
ist die Wahrscheinlichkeit, dass jedes mögliche Moment für die
Entscheidung in Wirksamkeit trete, desto reifer und vollkommener wird das
schliessliche Ergebnis sein.
Gerade die schärfste und extremste Ausbildung entgegengesetzter
Richtungen gewährleistet die grösste Vollkommenheit des Ganzen, das sie
einschliesst.
Über die Frage hinaus, ob die Standpunkte objektiv berechtigt sind,
und namentlich, ob das Mass der Behauptung des Richtigen ein angemessenes
ist, können wir den Wert nicht verkennen, den die möglichst weitgehende
Verwirklichung entgegengesetzter Potenzen sowohl an und für sich wie in
ihren Ergebnissen besitzt, wenngleich dieser Wert durch anderweitige
Folgen der so entstehenden Zerklüftung eingeschränkt werden kann.
Wenn Faust den Inhalt seiner Persönlichkeit über die Eingeengtheit
seines Studirstubenlebens erweitern will, so verlangt er mit Recht der
Erde Weh neben dem Glück der Erde zu erfahren, weil die vollkommene
Entwicklung der Empfindungsfähigkeit nach ihren Extremen hin sowohl für
das Individuum wie für die Gesamtheit einen Wert besitzt, der sich neben
den der einzelnen Inhalte des Empfindens und ihrer gegenseitigen
Aufrechnung stellt.
Da dieser Wert, den wir auf die Weite des Empfindungsschicksals legen,
nicht mit Sicherheit weiter zu begründen ist, so kann man ihn freilich
ebenso in Abrede stellen, und jedenfalls ist die Unbedingtheit, mit der
das (<365) Moralprinzip des Kulturfortschritts ihn obenan stellt,
durchaus nicht unanfechtbar.
In den Kreisen freilich, die ihre geistige und vielfach auch ihre
materielle Lebenssubstanz aus den höchsten Aufgipfelungen der Kultur
ziehen, genügt der Nachweis, dass diese bei dem sozialistischen
Nivellement zurückgehen müsste, um den Sozialismus zu verwerfen, ohne
eine Appellation zuzulassen; nicht so, als ob die Ausgleichung jener
Differenzierungen, die Aufhebung jener Ausdehnung der Persönlichkeiten
Zustände schaffte, die verwerflich wären; sondern an und für sich seien
die kulturellen Differenzierungen wertvoll, nicht erst wegen ihrer Folgen;
und dass ihr Gegenteil zu perhorreszieren sei, ist ein ebenso analytischer
Satz, wie dass es unsittlich sei, die Gesamtheit zu schädigen.
Es ist indes die Frage, ob diese ganze Vorstellung objektiver
Kulturwerte, die von der Frage nach der allgemeinen Glücksverteilung
unabhängig sind, ja, die vielleicht den letzten objektiven Endzweck alles
sittlichen Tuns bildeten, zu dem die ganzen eudämonistischen
Angelegenheiten nur ein Mittel wären - ob diese Vorstellung nicht ein
blosses Ideal der oberen Zehntausend ist, das aus sehr naheliegenden und
sehr subjektiven Gründen kreiert und zu einer objektiven Würde
gesteigert worden ist; die oberen Stände haben eben die geistige und
soziale Macht, das für sie Nützliche und Angenehme in den Adelstand des
objektiven Wertes zu erheben.
Auf den entschiedensten Ausdruck gebracht, ist die Angelegenheit die:
soll die Kultur samt der Ausbildung differenzierter Persönlichkeiten als
Endzweck gelten, zu dem die Verteilung des Glücks nur Mittel ist; oder
ist eine gleichmässige Verteilung des Glücks der absolute sittliche
Endzweck, zu dem Kultur und Persönlichkeitssteigerung ein Mittel ist?
Hierüber ist keine Entscheidung nach objektiven Normen und von einer
über den Parteien stehenden sittlichen Instanz zu erwarten.
Wird die Frage so als scharfes Entweder-Oder gestellt, so kann nur der
subjektive Wille die Entscheidung, nur die subjektive Macht die
Verwirklichung der Entscheidung geben.
(<366) Das Übergewicht, das in der üblichen Diskussion ethischer
Fragen die eine Seite der Alternative hat, verdankt sie der Gewöhnung,
einen Wert ganz fraglos als den hauptsächlichen vorauszusetzen, nach
dessen Berechtigung eben gefragt wird.
Sucht man für diese in ihrer begrifflichen Schärfe unversöhnbaren
Gegensätze nach einer praktischen Vermittlung, so kann man neben das
Ideal der Gleichmässigkeit des Glücks und das der individuellen Höhe
desselben noch das der Kontinuität und der Skala der Verteilungen
aufstellen.
Wenn es einmal ein Höchstes und ein Niedrigstes geben muss, so wird es
sich im Rahmen einer Einheit und Ganzheit vielleicht miteinander
vertragen, wenn nur genügende Zwischenstufen da sind, so dass der
Nächste, zu dem jeder heraufsieht, ihm nicht allzuviel Neid, der
Nächste, zu dem er herabsieht, nicht allzuviel Überhebung einflösst.
Wenn der Wert des Mittelstandes vielfach betont wird, so liegt darin
eine Anerkennung dieses Prinzips; freilich nur eine sehr partielle, indem
schon der Begriff des »Standes« einerseits den Zusammenschluss Gleicher,
andrerseits ihren Abschluss den anderen.
Ständen gegenüber bedeutet und sich so der Kontinuität
entgegensetzt; auch erfolgt die Schätzung des Mittelstandes meistens von
anderen Gesichtspunkten aus als diesem psychologischen, der den Wert und
die Grösse der Unterschiede beibehalten, aber ihre Schärfe für das
Bewusstsein dadurch mildern will, dass sich der Begriff derer, die es
besser haben, zunächst nur mit solchen erfüllt, die es nur sehr wenig
besser haben.
Das tatsächliche Leiden der Enterbten heftet sich nicht an die
Ungleichheit überhaupt, wie es freilich nachher die begriffliche
Fixierung und die Agitation darstellt, sondern an eine gewisse Grösse der
Ungleichheit, und wird um so weniger entstehen, wenn Ungleichheit nicht
sofort fundamentale Ungleichheit bedeutet.
Es kommt dazu, dass bei einer Glückseligkeitsskala mit sehr kleinen
Stufen der eine, wenn er im Ganzen die Stufe unterhalb eines anderen
einnimmt, doch nicht immer und in (<367) jeder Beziehung unter ihm
stehen, sondern bei der Mannigfaltigkeit und dem Fluktuieren der
eudämonistischen Verhältnisse sich in mancher Hinsicht noch ihm gleich
oder überlegen empfinden wird.
Bei einer solchen kontinuierlich aufbauenden Verfassung, deren Glieder
wie die Ringe einer Kette ineinandergreifen, würde also der
Nächsthöhere, gegen den man sich in Opposition befindet, doch wieder
nach so vielen Seiten hin einem gleich stehen, dass die Opposition nicht
allzu stark werden kann.
Dies würde auch einem Einwand begegnen, der aus der Natur der Menschen
als Unterschiedswesen hervorgeht: dass nämlich selbst bei der
Durchführung allmählichster eudämonistischer Unterschiede jeder
Einzelne immer mehr geneigt sein wird, dasjenige zu bemerken, was ihm noch
von dem Anderen trennt, als was ihn diesem gleichstellt.
Die Notwendigkeit steten Kampfes, in die uns die natürliche wie die
soziale Lage versetzt, hat uns diesen Trieb insbesondere nach der Seite
des Argwohns, des Neides, der Überhebung eingepflanzt.
Dies wird eben nur durch den einen Umstand gemildert, wenn auch nicht
geheilt, dass die menschlichen Verhältnisse jene Unbestimmtheit zeigen,
die bei eudämonistischem Plus des einen gegenüber dem anderen, wenn es
hinreichend klein ist, doch gelegentlich und in einzelnen Fällen ein
Minus erzeugt und sozusagen statt des stabilen nur ein labiles
Übergewicht des einen über den anderen bestehen lässt.
Wenn statt der scharfen Abgrenzung weniger, eudämonistisch sehr
unterschiedener Stände gegen einander eine Stufenfolge mit möglichst
fliessenden Grenzen vom Höchsten zum Tiefsten stattfindet, so wird man
sich damit einem Zustand nähern, der als Ideal jeder sozialen Verfassung
anzusehen ist: dass mit jeder Gegnerschaft doch eine Zusammengehörigkeit,
mit jeder Verschiedenheit eine Gleichheit, mit jeder Repulsion eine
Attraktion verbunden ist.
Jenes Ineinandergreifen der Glieder einer Gesellschaft, das in ihrer
wirtschaftlichen Tätigkeit annähernd stattfindet und sie zu einem
einheitlichen wirtschaftlichen Organismus zusammenbindet, würde bei einer
(<368) solchen Kontinuität der Lagen sich in den eudämonistischen
Verhältnissen spiegeln.
Dann würde der eigentümliche Wert der Schwingungsweite zwischen den
entgegengesetzten sozialen Polen erhalten bleiben, aber zwischen ihnen
würde keine Kluft, sondern eine Reihe unmerklich abgestufter
Erscheinungen liegen.
Die Individualität der Lagen verschwände nicht, aber es wäre die
Bedingung damit verknüpft, dass sich jede von der nächsthöheren und der
nächsttieferen nur um ein unendlich Kleines unterscheidet, und ebenso
wenig verschwände das Ideal der Gleichheit, dem man sich durch Schaffung
immer neuer Zwischenstufen und fortwährendes Verkleinern und Vermitteln
der Unterschiede ins Unendliche näherte.
Die Gleichheit grosser Klassen innerhalb ihrer selbst, die jetzt durch
den gemeinsamen Gegensatz gegen ganz getrennte besteht, würde behufs
Herstellung der vermittelnden Positionen eine unermessliche
Differenzierung erfahren.
Das Gleiche wird so ungleicher, das Ungleiche gleicher werden und
dadurch die gegenseitige Zusammengehörigkeit und die Zufriedenheit mit
derselben wachsen.
Nun verhehle ich mir nicht, dass dieses Ideal der
sozialeudämonistischen Kontinuität, das zwischen dem scharfen
Entweder-Oder der oben behandelten Alternative einen Mittelweg versucht,
wenn es zur Diskussion gelangte, das Schicksal aller mittelparteilichen
Normen haben würde, es keinem recht zu machen.
Die Individualisten würden vor allem das sozialistische Element darin,
die Sozialisten das individualistische bemerken und bekämpfen.
Wo es sich um letzte Prinzipien handelt, da betonen die meisten
Menschen, wie eben in anderer Richtung hervorgehoben werden musste, eher
die Differenz gegen Andere als die Gleichheit mit ihnen und machen aus der
teilweisen Abweichung eine vollständige.
Auch hier liegt der Zusammenhang mit den Mängeln allgemeiner
Begriffsbildung auf der Hand.
Der Begriff verschlingt die spezifischen Differenzen und so
kraftsparend und erleichternd dies für das Denken ist, wo eben das
Gemeinsame der Dinge seinen (<369) Gegenstand bildet, so leicht
verführt es dazu, das Einzelne nur als Fall des allgemeinen Begriffs zu
behandeln und unser Verhältnis zu ihm durch die ausschliessliche
Rücksicht auf Eigenschaften bestimmen zu lassen, die anderen,
vernachlässigten, gegenüber im besten Fall die Majorität bilden.
Der Begriff stellt uns in der Regel vor ein entschiedenes Entweder-Oder
der Parteinahme, während die realen Einzelheiten, die ihm zu Grunde
liegen, so vielerlei Seiten und Beziehungen zu haben pflegen, dass die
Schroffheit des Für oder Wider oft durchaus nicht angebracht ist.
Jene allgemeine Neigung, eher den Unterschied als die Gleichheit zu
bemerken, hat zum Korrelat: dass man dafür in demjenigen Komplex, dessen
Unterscheidung gegen einen anderen man mit grosser Entschiedenheit
wahrnimmt, die innerhalb seiner stattfindenden Unterschiede um so leichter
übersieht.
Dies war die psychologische Verfassung, auf der der Glaube an die
gesonderte Schöpfung der Arten beruhte.
Die Differenzen der Arten unter einander hatten das Bewusstsein so
gefangen genommen, dass ihre Gleichheit davor verschwand und der Gedanke
an die mögliche Einheit ihres Ursprungs nicht aufkam.
Dies wurde aber damit bezahlt, dass die Unterschiede der Individuen und
der Spielarten untereinander eine relativ geringe Berücksichtigung
fanden.
Die Schärfe des Abschlusses, die das Individuum als Glied der Art
anderen Arten gegenüber besass, bedingte eine Verwischung der Grenzen
gegen die anderen Glieder seiner Art.
Die Entwicklungslehre dagegen betont das Gleiche an den verschiedenen
Arten, das hinreicht, um die Einheit ihres Ursprungs wahrscheinlich zu
machen, und gewinnt damit eine viel grössere Selbständigkeit des
Individuums; indem nun die Gattungen nicht mehr ausserhalb und sozusagen
vor den Einzelwesen selbständig existieren, indem sie durch Individuen
ineinander übergehen, erlangt jedes Individuum eine für sich bedeutsame
Stellung.
Diese geistige Entwicklung, die die schematischen Allgemeinheiten
zerschneidet, um die Individualität in ihrer Bedeutung wiederzugewinnen
und zugleich die absoluten (<370) Schranken zu entfernen, die sonst den
Angehörigen einer Allgemeinheit von denen einer anderen wie
unversöhnlich schieden - diese Entwicklung bezeichnet für das
Verhältnis zwischen Organismus und Art denselben Fortschritt wie für das
zwischen Einzelwesen und Begriff oder zwischen dem Individuum und der
Partei oder zwischen dem praktischen Willensakt und der allgemeinen
Maxime.
Überall wird zuerst eine Reihe von Einzelheiten nach gewissen
hervorstechenden Merkmalen zu einer abstrakten oder praktischen Einheit
zusammen- und gegen andere energisch abgeschlossen; indem sich nun aber
herausstellt, dass jede dieser Individualitäten an mehreren
Allgemeinheiten Teil hat, mehrere auf sie Anspruch machen, wird einerseits
die Schablonisierung verhindert, die sie mit allen anderen desselben
Begriffs unterschiedslos zusammenschloss, andrerseits Vermittlung und
Beziehung der zuvor einander fremden Allgemeinheiten angebahnt.
Die Schärfe der begrifflichen Gegensätze, die das Denken mit ihnen so
reinlich und bequem macht, geht freilich damit verloren, gerade wie die
Bequemlichkeit, die sich lieber einer der energisch einseitigen Parteien
blind anschliesst, als mit persönlicher Selbständigkeit i' zwischen
ihnen steht.
Die Auflösung der durch allgemeine Losungsworte in einseitige
Interessen zusammengehaltenen und das Individuum vergewaltigenden Parteien
legt diesem letzteren dafür den Anschluss an Personen nahe, von denen die
Parteiangehörigkeit ihn bisher trennte.
Ist diese Auflösung vielleicht auch das Ziel der sozialen Entwicklung,
so kann dennoch nicht verkannt werden, dass diese sich augenblicklich noch
in jenem vorläufigeren Stadium befindet, in dem gerade der parteiliche
Zusammenschluss der Individuen als das Mittel sozialer Zweckmässigkeit
erscheint - ganz entsprechend dem begrifflichen Zusammenschluss der Dinge,
der allerdings auch für ein gewisses Denkstadium den zweckmässigsten
Modus bildet.
Vorläufig scheint das gesellschaftliche Leben noch unter dem Banne der
Parteiung zu stehen.
Das Ideal der Kontinuität der Lagen, das sich gleich weit vom
Aristokratismus wie vom (<371) Sozialismus stellt, hat demnach eine
doppelte Schwierigkeit zu überwinden: zunächst formal, indem es
überhaupt sich denjenigen Tendenzen gegenüberstellt, die als die
modernen Parteien cat exochu
angesehen werden können: derjenigen, die in der Ausgleichung der
Differenzen, wie derjenigen, die in der Steigerung derselben das Maximum
der Glückssumme und des Lebenswertes erblickt.
Und ferner materiell, indem sein Inhalt die Negierung parteilicher
Gegensätze überhaupt bedeutet.
Dies Ideal fordert eine Lebensgestaltung, die die einzelne Aufgabe und
den einzelnen Menschen nicht unter einen einzelnen bestimmten Begriff
bringt, unter dem sie in Bausch und Bogen mit unzähligen anderen, aber in
um so schärferer Abtrennung gegen andere unzählige behandelt würden;
sondern umgekehrt erkennt es in jeder einzelnen Erscheinung die
Zugehörigkeit zu den verschiedensten Allgemeinheiten, in deren
Schnittpunkt sie steht, die völlige Individualität, und eben damit die
Beziehung und den Übergang zu dem mannigfaltigsten anderen Einzelnen.
Ich begnüge mich damit, das Ideal der Kontinuität in dieser
abstrakten Allgemeinheit neben die des Individualismus und des Sozialismus
zu stellen, indem ich nur noch andeute, dass das so herauskommende
Weltbild einen ebenso in sich befriedigenden, über sich nicht
hinausfragenden Selbstwert besitzen kann, wie die beiden anderen - und
blicke noch einmal zu der Frage nach dem Werte der Schwingungsweite
zwischen Lust und Unlust zurück, um einen Gesichtspunkt an die Hand zu
geben, der zwar nicht die Entscheidung nach einer Seite zu bewirken, wohl
aber der gefällten Entscheidung weitere Zusammenhänge zu bieten vermag.
Zu den mancherlei Formeln, in denen man die Zwecke des sittlichen
Handelns wenigstens seinen hauptsächlichen Erscheinungen nach
zusammenfassen kann, gehört, wie ich glaube, auch die: Tue dasjenige,
wodurch Du unmittelbar und mittelbar ein Maximum von Tätigkeit
herbeiführst.
Dagegen springt freilich zunächst der Einwand in die Augen, dass ein
(<372) solches Moralprinzip eine Vielgeschäftigkeit, die nach keinem
weiteren Zweck fragt, eine fieberhafte Hast und Ruhelosigkeit begünstigen
würde; allein es lässt sich fragen, ob diese extremen Formen der
Tätigkeit nicht schliesslich zu Gegenbewegungen, die sich gegenseitig
lähmen, und zu Erschlaffungen führen, so dass, alle Folgen zweiter und
dritter Ordnung eingerechnet, diejenigen Thätigkeiten, welche wir als
unrichtig und übertrieben vorstellen, schliesslich eine geringere
Gesamtsumme von Tätigkeit darstellen resp. hervorrufen, als diejenigen,
die wir zu billigen pflegen.
Wir können in der Tätigkeit ein Verhältnis im Nacheinander
beobachten, das wir im Nebeneinander als Hypertrophie bezeichnen, eine
übermässig starke Ernährung und Ausbildung eines Gliedes des
Organismus, deren Folge eine Verkümmerung der übrigen und schliesslich
eine Deteriorierung des gesamten Systems ist.
So gibt es auch sozusagen hybride Lebensperioden, die mit Tätigkeit
überfüllt sind, aber eine Verkümmerung der Tätigkeit späterer nach
sich ziehen, und, von den Verhältnissen des Individuums auf das
Verhältnis zwischen Individuen übertragen, einzelne Menschen mit
übermässig gesteigerter Tätigkeit, die sich zu ihrer Gruppe verhalten
wie ein hypertrophisches Glied zum Körper.
Man könnte ferner einwenden, dass gerade der Schurke oft eine
ausserordentlich reiche Tätigkeit entfaltet; allein er lähmt dafür ein
um so grösseres Quantum der Tätigkeit Anderer.
Die Verhältnisse, die wir uns als die sittlich wünschenswerten
vorstellen, sind solche, die auf eine Harmonie aller Tätigkeiten, d. h.
auf ein möglichst vollkommenes Sichausleben jeder einzelnen abzielen; die
Zusammenfassung des Ethischen in der Maxime, die eigene Freiheit nur so
weit zu benutzen, wie sie mit der Freiheit aller Anderen zusammen bestehen
kann, drückt dies wenigstens nach der negativen Seite hin treffend aus.
Diese Harmonie nun durchbricht der Unsittliche; er verhindert die
Entfaltung der Kräfte, die den Anderen zur Erreichung seiner Ziele
führen würden und deren Einschränkung eben nur insofern sittlich
(<373) geboten ist, als jedem die gleiche Möglichkeit gegeben werden
muss.
So rührig auch der Unsittliche sein mag, so ist seine Tätigkeit doch
in ihren Folgen eine lähmende, das Handeln der Anderen und die Funktionen
des sozialen Organismus paralysierende, ganz abgesehen davon, dass die
Unsittlichkeit doch oft genug zu inneren und äusseren Lagen führt, in
denen ihre hemmenden und die Tätigkeit abschneidenden Folgen an der
unsittlichen Person selbst zu Tage treten; der Sprachgebrauch stimmt ganz
mit unserer Auffassung überein, insofern er unter einem tätigen,
tatkräftigen Menschen ohne weiteres einen im guten Sinne tätigen
versteht.
Nun wird man freilich sagen, dass das Böse in vielen Verhältnissen
gerade als Ferment dient, dass es kräftige Reaktionen wachruft, dass die
umfassendsten Tätigkeiten oft ins Werk gesetzt werden, um ihm zu begegnen
oder seine Folgen auszugleichen.
Allein zunächst gibt es kein Moralprinzip, dem der Einwand nicht
gemacht werden könnte, dass gerade die Folgen dessen, was man im
allgemeinen unsittlich nennt, gelegentlich ihm gemäss sein können.
Denn dies ist nur das Resultat der häufigen Unabhängigkeit des
wirklichen Geschehens von dem Verlauf, den unsere Absichten ihm geben
möchten, nur das Resultat der Tatsache, dass der, der das Böse will,
schliesslich doch oft genug das Gute schafft, und umgekehrt.
Wenn wir derartige, die Ziele der Sittlichkeit fördernde Taten dennoch
unsittliche nennen, so geschieht es im Hinblick auf die Gesinnung des
Täters, die einen anderen als ihren tatsächlichen Erfolg beabsichtigte;
wäre der letztere nur wirklich der subjektive Zweck gewesen, so müsste
die Tat zweifellos als sittlich bezeichnet werden.
Wenn also dem Moralprinzip der Tätigkeitssteigerung entgegengehalten
würde, dass auch die Unsittlichkeit zu diesem Erfolge führe, so ist zu
erwidern, dass dann eben diese Seite der Unsittlichkeit nicht unsittlich
sei, sondern dass entweder entgegengesetzt gerichtete Folgen, die noch
ausser jener eintreten und sie überwiegen, oder dass die subjektiv böse
Tendenz des Handelnden die Bezeichnung (<374) der Tat als unsittlicher
herbeiführe.
Ausserdem, wenn gewisse böse Elemente einer Gesamtheit von Nutzen in
Bezug auf Tätigkeitssteigerung sind, so ist dies wesentlich doch nur dann
der Fall, wenn das Ausbleiben des von ihnen erregten Reizes bösen
Momenten anderer Art die Möglichkeit der Entfaltung gewährt hätte, der
Faulheit, dem Leichtsinn, der Versumpfung; so dass jenes Böse nur das
kleinere von zwei Übeln ist, nur die geringere Tätigkeitshemmung mit
sich bringt.
Und wenn endlich dies eingewendet werden könnte, dass es oft ethischer
Zweck ist, Anderen Arbeit zu ersparen, so ist erstens in vielen Fällen
die Frage, ob nicht die eigene dazu übernommene Arbeit das Gesamtquantum
der Tätigkeit dennoch auf seiner Höhe erhält, und zweitens geschieht es
nicht, um jene Anderen dadurch zu Faulenzern zu machen, sondern um direkt
und indirekt ihre Kraft für anderweitige Tätigkeit frei zu machen; der
Wert aller Ersparnis liegt doch darin, dass man später um so mehr
ausgeben kann.
Positiv nun lässt sich für unser Moralprinzip folgendes anführen,
wobei wir von den allgemeinsten Beziehungen ausgehen.
Wenn wir die Zustände der Welt im Denken rückwärts verfolgen, so
münden wir an einer Verfassung des Gleichgewichts und der
Unbeweglichkeit, von der alle Bewegungen auf eine uns freilich
unbegreifliche Weise ihren Ursprung nehmen.
Es ist nun möglich, jeden in endlicher Zeit liegenden
Gleichgewichtszustand als das Resultat vorangegangener und zur
Ausgleichung gelangter Bewegungen vorzustellen.
Allein wie oft wir auch dieses Spiel zwischen Ruhe und Bewegtheit der
Massen, zwischen latenter und wirkender Energie, in Gedanken wiederholen
mögen, wir machen schliesslich doch eher an dem ersteren als an dem
letzteren Zustand halt, es gelingt eher, uns eine absolut starre Ruhe des
Alls zu denken, aus der dann erst seine Bewegung sich entwickelt hat, als
die Anfangslosigkeit dieser letzteren vorzustellen.
Die Bewegung erscheint uns also der Unbewegtheit gegenüber als der
entwickelte, reifere, vollkommenere Zustand, und wenn (<375) wir auch
annehmen müssen, dass einst eine Zerstreuung der Energie und damit die
vollkommene Gleichgewichtslage aller Atome eintreten werde, so stellen wir
dieses doch als einen Tod, eine Rückbildung vor, während alle
Entwicklung für uns Entwicklung von Bewegung ist; die Ruhe ist der
unvollkommene Zustand des Noch nicht und des Nichtmehr, zwischen denen
sich aller kosmische Fortschritt als immer vollkommneres Überfuhren von
gebundener Energie in Tätigkeit vollzieht.
Wir würden wahrscheinlich dieses makrokosmische Urteil nicht fällen,
wenn nicht eine Analogie mit mikrokosmischen Verhältnissen vorläge.
Der Zustand der Ruhe und Unbewegtheit erscheint als der primitivere,
über den hinaus die Entwicklung zu dem der Tätigkeit, der wachsenden
Bewegung führt; nur dem Kinde und dem Greise verzeihen wir
Tatenlosigkeit.
Und wer selber tätig ist, regt Tätigkeit an; die sozialen
Verhältnisse liegen so, dass wenigstens auf die Dauer und von seltenen
Konstellationen abgesehen der Einzelne nicht tätig sein kann, ohne
vermittelst der unzähligen Verbindungsfäden zwischen ihm und seiner
Umgebung auch diese zum Handeln zu veranlassen, und umgekehrt setzt seine
Tätigkeit wieder vorangegangene und nebengeordnete voraus.
Wo Kultursteigerung ist, da ist auch Tätigkeitssteigerung, und wenn
man das Wesen der Kultur darein gesetzt hat, dass der Mensch sich die
Naturkräfte dienstbar mache, so bedeutet dies doch, dass ein immer
grosserer Teil des in der Natur vorhandenen Kraftvorrats durch das
menschliche Gehirn und die menschliche Hand hindurch geleitet wird, d. h.
dass von diesen eine immer grössere Tätigkeit geleistet wird.
Man hat zwar behauptet, die Maschinenarbeit verringere das Quantum der
persönlich menschlichen Arbeit und darin läge gerade ihr Kulturwert.
Allein eine genauere Betrachtung hat gezeigt, dass dies keineswegs der
Fall ist, sondern dass umgekehrt der einzelne Arbeiter in der Epoche der
Dampfkraft mehr persönliche Arbeit leistet, als in der der Handarbeit.
Alle Ersparnis an Arbeit hat innerhalb des Kulturprozesses (<376)
nur den Zweck, dass die freigewordene Kraft nun anderen Zielen zugewendet
wird und zwar solchen, für welche die Ersparnis noch nicht gefunden ist,
und die deshalb grössere Ansprüche an die Tätigkeit stellen.
An der höchsten Form oder Beziehung der Tätigkeit, der geistigen,
lässt sich diese Doppelheit der Tätigkeitsentwicklung, sowohl Ersparnis
wie Vermehrung der Arbeit zu bedeuten, klar einsehen.
Die höheren geistigen Prozesse sind gegenüber den niedrigeren, in der
Sinnlichkeit, dem Instinkt, den Reflexbewegungen befangenen, eine
erhebliche Kraftersparniss; wer den höheren Begriff und seine
Beziehungen, wer das allgemeine Gesetz kennt, dem ist ein grosses Quantum
von Mühen abgenommen, das er sonst auf die Ergründung des einzelnen
Falles und auf die Versuche mit ihm verwenden musste.
Je vollkommener das Denken ist, je verdichteter in ihm die
Schlussreihen sind, die der niedrigere Geist in extenso durchlaufen muss,
desto schneller gelangt es zu seinen praktischen Zielen, desto mehr sind
ihm die Um- und Abwege erspart, durch welche die rohe und unmethodische
Empirie unser Handeln führt.
Der Astronom, der Veränderungen am Sternenhimmel mit der grössten
Sicherheit berechnet, zu deren sinnlicher Beobachtung vielleicht sein
Leben nicht ausreichte; der Gesetzgeber, der eine Institution schafft, die
einer unberechenbaren Zahl von Einzelwesen die Möglichkeit und Sicherheit
zur Erreichung wirtschaftlicher, sozialer u. a. Zwecke gibt, die sie durch
ihre Einzelbemühungen nie erlangt hätten; der Kaufmann, der auf
Vorausberechnung wirtschaftlicher Konjunkturen hin Unternehmungen ins Werk
setzt, die an Chance und an objektiver Nützlichkeit weit diejenigen
übertreffen, die erst, nachdem jene eingetreten, den nun fühlbar
gewordenen Bedürfnissen genügen wollen, - alle diese gelangen zu ihren
Erfolgen vermöge der Kraftersparniss, die ihrem Denken gegenüber dem
unvollkommeneren eigen ist.
Es ist nun wohl möglich, dass in all diesen Fällen höherer und
differenzierterer Entwicklung absolut genommen mehr Kraft verbraucht wird
als früher, aber im Verhältnis zum Erfolge wird (<377) jedenfalls
viel weniger verbraucht.
Das zeigt auch der Eigensinn und die Einseitigkeit, die sich die Mühe
sparen, über die Umstände des einzelnen Falles nachzudenken und sich
ihnen anzupassen, indem sie einen einzigen nicht mehr modifizierbaren
Gedanken durch alle möglichen Verhältnisse durchführen; kein Zweifel,
dass sie schliesslich gerade dadurch mehr Kraft brauchen, als wenn sie dem
Prinzip der Differenzierung gemäss sich der Verschiedenheit der Umstände
anpassten.
Und wie das vollkommenere Denken zum roheren, so verhält sich das
Denken überhaupt zu der noch nicht zum Denken vorgeschrittenen
Entwicklungsstufe; wenn das Volk sagt: »Was man nicht im Kopf hat, muss
man in den Beinen haben« so deutet dies die Wahrheit an, dass das Denken
die körperliche Mühe ersetzt, dass es dasjenige Mittel im Kampfe ums
Dasein ist, das die Ziele des Lebens auf die kürzeste und sparsamste Art
erreicht; daher brauchen die Menschen auch, jenen merkwürdigen
Parallelismus der Entwicklung im Raume mit der in der Zeit wiederum
aufzeigend, um so weniger Raum zum Leben, je höhere Intelligenz sie
besitzen, denn während den niedrigeren Rassen stets nur ein relativ
grosses Gebiet den Lebensunterhalt liefern kann, steigt die
Zusammendrängung der Menschen, die Raumersparnis mit der wachsenden
Kultur.
Auch kann man ohne Zweifel das ganze Entwicklungsprinzip der
Differenzierung unter den Begriff der Kraftersparniss bringen.
Bei vollständiger Differenzierung wird für jeden Zweck nur genau
dasjenige zirkumskripte Organ und genau diejenige Kraft aufgewendet, die
gerade dafür erforderlich ist.
Aller Fortschritt der Geschicklichkeit liegt in dieser Richtung; denn
Ungeschicklichkeit ist nur dies, dass ausser der für die augenblickliche
Absicht zweckmässigen Innervation noch andere auftreten, die den Erfolg
jener durchkreuzen und ablenken; das Kind, der Ungeübte bewegt oft den
ganzen Körper, wo er nur ein Glied, die ganze Hand, wo er nur einen
Finger bewegen sollte.
Aus dieser Kraftverschwendung erklärt sich die Ermüdung, die neue
Bewegungsformen (<378)zunächst mit sich führen.
Geschicklichkeit ist Kraftersparniss, insofern sie das allein Nötige
und Erforderte aus seinen ursprünglichen Verflechtungen mit dem
teleologisch nicht Dazugehörigen herausdifferenziert und für sich allein
wirken lässt.
Nach den folgenden Richtungen insbesondere tritt die Kraftersparniss
als Mittel oder Ausdruck der Gattungsentwicklung auf.
Der Fortschritt dieser beruht zum grossen Teil darauf, dass die
erblichen Eigenschaften der Eltern an den Kindern etwas früher
hervortreten als an jenen, dass die Regel der homochronen Vererbung zu
Gunsten einer früheren Entwicklung übertreten wird.
Da zur Erscheinung einer Eigenschaft das Zusammenwirken angebotener
Anlage und persönlicher aktiver und passiver Schicksale erforderlich ist,
so würde bei der durchschnittlichen Gleichförmigkeit dieser ein
Fortschritt schwer erzielbar sein, wenn nicht das mitgebrachte Element
eine immer geringer werdende Zeit zu seinem Hervortreten brauchte.
Dadurch, dass es keiner so langen Wachstumsentwicklung mehr bedarf,
wird Kraft und Zeit für weitergehenden Erwerb von Eigenschaften und
Fähigkeiten gewonnen; in je kürzerer Zeit der Einzelne die Zustände der
vorangegangenen Generationen durchläuft, in je früherem Alter sich bei
ihm die Kräfte entwickeln, die die Individuen vergangener Zeiten langsam
und in späterem Alter aufweisen, desto reicher wird es sich ausbilden
können; die Schnelligkeit, mit der das höhere Wesen die
Entwicklungsstufen seiner Art in seiner eigenen Entwicklung wiederholt,
entspricht der Schnelligkeit und Gedrängtheit im Ablauf der
Schlussreihen, durch welche sich die höhere Intelligenz auszeichnet.
Deshalb findet sich bei wachsender Kultur auch wachsende Frühreife und
die Klage, es gäbe keine Kinder mehr, hängt offenbar mit der immer
kondensierteren und zeitigeren Vererbung zusammen, wobei man freilich auch
noch den entsprechenden Prozess in den objektivierten Inhalten des
öffentlichen Geistes in Rechnung zu ziehen hat, infolge dessen das Kind
noch ausser dem, was es von seinen Eltern direkt (<379) ererbt, auch in
dem Leben, von dem es umgeben ist, und aus dem es direkt und indirekt
lernt, immer kondensiertere geistige Inhalte überliefert erhält.
Die Kraftersparniss, die in dieser Kondensierung liegt, tritt besonders
da hervor, wo es sich weniger um den Erwerb nützlicher, als um den
Verlust schädlicher Eigenschaften handelt.
Die in den Taschenkrebsen schmarotzenden Binnenasseln haben fast alle
Eigenschaften der im Freien lebenden Asseln verloren: die Form und
Segmentierung des Körpers, die Augen und Kiefern, die Fühler und die
Beine; denn alles dies brauchen sie nicht bei ihrer für immer an der
Leber ihres Wirtes haftenden Lebensweise.
Die Jungen derselben aber, welche eine Zeit lang frei leben müssen,
ehe sie einen neuen Wirt gefunden, haben vollkommene Asselgestalt mit
Kerben, Augen, Kiefern, Fühlern und Beinen und verlieren dieses alles
erst nach der Einwanderung in einen Wirt, in dem sie nun mit verdichteter
Geschwindigkeit alle die Nachbildungen in sich wiederholen, die ihr ganzes
Geschlecht zu jenem Zustand geführt haben.
Die amerikanische Dickkopfente hat das Flugvermögen verloren und zwar
offenbar wegen Nichtgebrauchs, so dass die Rückbildung des betreffenden
Vermögens eine Kraftersparniss und also nützlich war; nun zeigt sich
aber das Merkwürdige, dass die ganz jungen Tiere noch fliegen können und
dieses Vermögen erst nach einiger Zeit verlieren; offenbar muss in
früheren Zeiten das Flugvermögen bei den Individuen viel länger
bestanden haben und wird wahrscheinlich erst im höheren Alter durch den
Nichtgebrauch verkümmert sein.
Die längere und kondensiertere Vererbung bewirkt also auch ein immer
früheres Eintreten sogar der negativen Zuchtwahlfolgen.
Und nicht nur solche Eigenschaften, die die Eltern erst in späteren
Jahren verloren haben, verlieren die Kinder in früheren, sondern auch
solche, die jene überhaupt nicht verloren haben.
Die kindlichen Ungezogenheiten, die Neigung zur Lüge, die Grausamkeit,
die Zerstörungslust, die rücksichtslose Selbstsucht, die so oft im
Kindesalter hervortreten, entsprechen offenbar jenem früheren (<380)
Standpunkt unserer Gattung, dessen sittliche Roheit uns an den
Naturvölkern entsetzt und den die jetzigen Individuen in so viel
früherer und abgekürzter Periode durchlaufen.
Auch bei auf einander folgenden Generationen ist dieser Prozess zu
bemerken; es ist nicht so sehr selten, dass an Kindern gewisse
verwerfliche Eigenschaften ihrer Eltern hervortreten, allein in einem
früheren Alter und nach diesem verschwinden, gewissermassen als
moralische Kinderkrankheiten.
Der Fortschritt der Gattung liegt nun darin, dass dieses angeerbte
Übel in möglichst gedrängter, d.h. früh auftretender und früh
verschwindender Form in die Erscheinung tritt.
Wie man annimmt, dass derjenige gesunder sei, der die Kinderkrankheiten
durchgemacht hat, weil nach der populären Vorstellungsweise der Körper
sich dadurch von den bei der Geburt mitbekommenen Krankheitsstoffen so zu
sagen in kompendiöser Form befreit, so sieht es der Volksinstinkt auch
eher gern, wenn Kinder recht ungezogen und unbändig sind.
Es werden dadurch in immer früherer Epoche gleichsam die Passiva der
Gattungserbschaft absolviert, die so immer mehr sub beneficio inventarii
angetreten wird.
Es wird immer mehr von der Kraft gespart, die sonst für den Einzelnen
und die Gattung mit der Entwicklung und Funktionierung solcher
Eigenschaften verbraucht würde, die einst aus Gründen der Nützlichkeit
angezüchtet, nun unnütz geworden und nur aus Ursachen der Vererbung dem
Einzelnen auf seinen Weg mitgegeben werden.
Aber alle diese Ersparnis an Kraft bedeutet nicht eine Verminderung der
Tätigkeit.
Zunächst verbraucht die Gehirntätigkeit, durch die die sonstige
Arbeit gespart wird, offenbar ein sehr hohes Mass von Kraft und ist
vielleicht die lebhafteste überhaupt vorkommende Tätigkeit.
Wir haben uns wohl vorzustellen, dass im Gehirn, dem Gipfelpunkt der
organischen Entwicklung, ein ausserordentliches Quantum von Spannkräften
aufgespeichert liegt.
Dadurch ist die oft wunderbare Kraft zu verstehen, die der Körper auf
Grund von (<381) Gefühlen und Entschlüssen entfaltet, die
Leistungsfähigkeit schwacher Muskeln, wenn sie von einem energischen
Geiste aus innerviert werden.
Das Gehirn ist offenbar imstande, eine grosse Kraftsumme abzugeben, und
die äusserst lebhafte Bewegung, in die es den Körper versetzt, weist auf
den gleichen Charakter der innerhalb seiner vor sich gehenden Tätigkeit
hin.
Damit stimmt auch die Erschöpfung und Ermüdung überein, die sich
nach geistiger Arbeit oft in so viel höherem Grade einstellt, als nach
körperlicher.
Die Tätigkeit des Gehirns verhält sich zu der des übrigen Körpers
nicht nur dem Resultat nach gleichsam wie Maschinenarbeit zur Handarbeit,
sondern stellt auch objektiv einen so viel höheren Kraftverbrauch dar und
offenbar um so mehr, je mehr sie rein zentral ist, d. h. je abstrakter,
vergeistigter, weniger sinnlich sie ist.
Für diese Annahme, dass die höhere geistige Tätigkeit ein
quantitatives Mehr der sinnlichen gegenüber bedeutet, spricht es, dass
wir nach einem geistigen Genuss oder geistiger Anstrengung noch einen
sinnlichen voll gemessen können, während das Umgekehrte nicht möglich
ist.
Je mehr unser Gehirn in Tätigkeit gezogen ist, desto mehr Arbeit wird
geleistet, und wir können wohl die leichtere nach der schwereren, aber
viel weniger die schwere nach der leichten leisten.
Der zweite Grund aber, aus dem Kraftersparniss nicht
Tätigkeitsersparnis bedeutet, ist der, dass tatsächlich diejenigen
Menschen, die die zweckmässigste und geistigste, d. h. kraftersparendste
Arbeit leisten, auch in Hinsicht der äusseren Quantität der Tätigkeit
obenan zu stehen pflegen.
Wenn die Behauptung, dass das Genie nur im Fleisse bestände, obgleich
von einem selbst genialen Menschen ausgesprochen, auch falsch ist, so
bleibt doch dies bestehen, dass die Gehirne, die am besten arbeiten,
meistens nicht nur relativ und in Hinsicht auf die Resultate, sondern auch
absolut genommen und in Hinsicht auf die subjektive Leistung am meisten
arbeiten.
Diejenigen Personen, welche vermöge der vollkommeneren Denkmethoden
intensiver, d. h. in gleicher Zeit mehr denken, denken auch (<382)
extensiv mehr, d. h. verbringen weniger Zeit gedankenlos; und was für das
Denken gilt, gilt auch für jede niedrigere Stufe des Arbeitens.
Dieses Verhältnis, das innerhalb des gleichen Kulturkreises öfters
durch allerhand Nebenursachen und -wirkungen verdeckt werden mag, springt
klar in die Augen, sobald man den europäischen und nordamerikanischen
Arbeiter jedes Gebietes mit den Arbeitern weniger zivilisierter Rassen
vergleicht.
Die geistige Kluft zwischen der Bildungsaristokratie und den
ungebildeten Massen verbreitert sich eben dadurch, dass die bessere und
förderlichere Methode des Arbeitens zugleich mit einer grosseren
Ausdehnung und Anspannung der Arbeitskraft, dass die Erhöhung der
Qualität mit einer gleichen der Quantität verbunden ist, so dass der
geistige Fortschritt, ähnlich der Werbekraft des Kapitals, gleichsam
nicht in arithmetischer, sondern in geometrischer Progression stattfindet,
und jede Stufe sich von der vorhergehenden mehr unterscheidet als diese
ihrerseits von ihrer Vorgängerin.
Wenn nun auch zugegeben wird, dass die tatsächliche Entwicklung der
Welt zugleich Tätigkeitssteigerung ist, so erscheint die Tätigkeit doch
immer noch als blosses Mittel zur Herbeiführung von Zuständen und
Empfindungen, die das eigentliche Ziel des sittlichen Handelns bilden; die
Tätigkeit selbst zum Zwecke der Tätigkeit zu setzen, scheint ein
Widerspruch und scheint dasjenige, was nur Form und äussere Bedingung
ist, zum Inhalt und zum Wesen des Fortschritts und der Sittlichkeit zu
machen.
Es ist mir indes zweifelhaft, ob diese Zustände, die wir als
inhaltliche Endzwecke des sittlichen Handelns vorstellen, uns endgültig
befriedigen würden, wenn wir nicht über sie hinaus an Tätigkeiten
dächten, zu denen sie wieder blosse Bedingung sind.
Dass etwa ein einzelner Mensch durch unser Handeln von einem Schmerz
befreit oder um eine Glücksempfindung bereichert wird, würde einem
höheren sittlichen Bewusstsein noch nicht als wirklicher Abschluss der
ethischen Zweckreihe erscheinen, (<383) sobald sich nicht der Gedanke
damit verbindet, dass jener nun seinerseits tätig wird, dass Kräfte zum
Handeln und Wirken in ihm frei werden, und wo wir dennoch mit jenem
altruistischen Eudämonismus abschliessen, lässt sich noch fragen, ob er
nicht ursprünglich nur Mittel zur Tätigkeitssteigerung war und nur durch
den oft angeführten Prozess der psychologischen Steigerung der Mittel zur
Würde eines Endzwecks jene abschliessende Bedeutung für uns erlangt hat.
Die Entwicklungslehre wenigstens gibt manche Anweisung darauf, dass die
Lust auch nur als ein Mittel im Kampf ums Dasein den Lebewesen
angezüchtet worden ist, um ihre Kräfte zu heben und ihre Tätigkeit
anzuspornen, so dass es unserem eigenen Bewusstsein zwar scheinen mag, als
wären wir tätig, weil dieses ein Mittel der Lust ist, dass wir aber den
tieferen Zusammenhängen nach die Lust suchen, weil sie ein Mittel zur
Tätigkeit ist; in jedem Falle greifen beide Momente der Zeitfolge nach so
in einander ein, in der Kette des realen Lebens ist jedes der beiden
Glieder so von dem anderen begrenzt, dass wenigstens die dogmatische
Sicherheit, mit der man eines derselben zum Schlussgliede der
teleologischen Kette macht, keine objektive Berechtigung besitzt.
Kein irdischer Zustand befriedigt uns definitiv, der nicht wieder der
Ausgangspunkt einer weiteren Entwicklungsreihe ist.
Wenn wir von jener Erstarrung der Moralgebote absehen, die bloss
vorbereitende und vermittelnde Zustände als kategorische Endzwecke
erscheinen lässt, wenn wir vielmehr die sittlich teleologische Reihe so
undogmatisch wie möglich zu verfolgen suchen, so sehen wir, dass sie
nirgends abgeschlossen werden kann, dass alles Zuständliche, jeder
realisierte Inhalt nur ein Durchgangspunkt für weitere daran sich
knüpfende Bewegung ist.
Jeder Zustand wird sozusagen zu Gunsten einer fortschreitenden
Tätigkeit wieder annulliert, und diese allein ist das Gemeinsame, das in
immer erhöhtem Grade jedem weiteren Ziele der Kultur und der Sittlichkeit
eigen ist, nachdem das frühere als ein überwundenes oder zu
überwindendes erkannt (<384) ist.
In unzähligen Formen ist schon ausgesprochen worden, dass das Streben
und Ringen das Höchste und Letzte ist, wozu wir kommen können, dass
dieses selbst und nicht erst seine Ziele mit der definitiven Befriedigung
des Lebens identisch wäre.
Und was für den Einzelnen in subjektiver Hinsicht derartig wirkt, muss
er sittlicher Weise auch für die Anderen und als allgemeines Prinzip zu
erzielen suchen.
Wenn ich für mich selbst Tätigkeit als das höchste Lebensprinzip
erkenne, so könnte es zwar zunächst scheinen, als vertrüge es sich
damit, als den eigentlichen Endzweck dieser Tätigkeit das Glück oder
überhaupt gewisse stabile Zustände Anderer zu setzen.
Allein offenbar erstrecken sich meine Pflichten über den Kreis derer
hinaus, auf und für die ich unmittelbar wirken kann, auf weitere Kreise,
also zunächst auf diejenigen, die sich zu den mir näher Stehenden
verhalten wie ich zu diesen - also ungefähr wie die Pflicht des Vaters
zunächst zwar seinen Kindern gilt, aber für ein tieferes Bewusstsein
doch durch diese hindurch seinen Enkeln und der Gattung überhaupt.
Ist dies aber der Fall, so ist es auch meine Pflicht, für ein
derartiges Benehmen der meinem Einfluss irgend zugänglichen Kreise
gegenüber den mir unzugänglichen zu sorgen, wie es mir jenen gegenüber
Pflicht ist; erweitern sich so die Kreise von den durch mich
beeinflussbaren zu den nicht beeinflussbaren, und ist mein
Pflichtbewusstsein gegen diese dennoch nicht gleichgültig, so folgt
notwendig, dass die Ziele meines Handelns, also meines Einflusses auf
bestimmte Personen und Kreise sittlicher Weise in der Verbreitung meiner
eigenen Handlungsweise liegen müssen; angesichts der ins Unendliche
hinaussehenden Entwicklung der Gattung kann meine Pflicht ihr gegenüber
nicht damit abgeschlossen sein, dass irgend ein bestimmter Zustand
bestimmter Personen erzielt werde, sondern nur damit, dass alle Menschen,
soweit ich sie beeinflussen kann, in sittlichem Sinne weiter wirken; so
darf ich offenbar nicht tolerant gegen Intoleranz sein, weil, (<385)
wenn ich Toleranz einmal als Pflicht, die man Anderen schulde, erkannt
habe, ich sie nicht nur selbst üben, sondern auch ihrer Verneinung und
Hemmung durch Andere, soweit an mir ist, in den Weg treten muss.
Die Behauptung Kants, unser Ziel müsse in Bezug auf uns selbst zwar
Sittlichkeit, in Bezug auf Andere aber könne es nur Glückseligkeit sein,
spricht eine entschieden falsche Beschränkung aus.
Wenn die Tätigkeit meine Pflicht ist, so ist es auch meine Pflicht,
sie zur Pflicht Anderer zu machen, und die sittliche Qualität meiner
Tätigkeit misst sich nach dem Grade, in dem sie diese weitergehende
Wirkung ausübt.
Hierdurch wird die Tätigkeit als Moralprinzip ihres anscheinend
formalen und inhaltsleeren Charakters entkleidet, sie erhält einen Zweck,
auf welchen die Beziehung über ihre sittliche Qualität entscheidet,
wenngleich dieser Zweck seinerseits wieder nur Tätigkeitssteigerung ist.
Nun kann nicht mehr eingeworfen werden, dass dieses Prinzip die
allgemein als unsittlich bezeichnete Handlung mit der sittlichen
gleichstellte, wenn nur das gleiche Mass von tätiger Kraft in ihr zum
Ausdruck käme; denn dieser Einwurf setzt gerade das naiv voraus, was hier
bestritten wird: dass Tätigkeitssteigerung und Sittlichkeit zwei von
einander unabhängige Begriffe wären, die nicht in einer notwendigen,
sondern nur in einer gelegentlichen synthetischen Verbindung ständen.
Es lässt sich eben umgekehrt annehmen, dass Sittlichkeit einer
Handlung gar nichts bedeute, als die von ihr ausgehende Steigerung
menschlicher Tätigkeit, dass sie nur der analytische Name für diese ist,
und dass, wenn wir eine sehr starke und ausgedehnte Tätigkeit dennoch
unsittlich nennen, dieses das Resultat der Gattungserfahrung darüber ist,
dass sie in ihren weiteren und weitesten Konsequenzen mehr
tätigkeitshemmend als -fördernd wirkt; so wird doch auch der Utilitarier
die Hervorbringung einer hohen und verbreiteten Lust dennoch unsittlich
nennen, wenn er sieht, dass ihre Folgen zweiter und dritter Ordnung in
ihrem Gesamteffekt die Unlust überwiegen lassen.
Es ist vielleicht nur eine Folge unserer Beschränktheit, wenn
(<386) wir mit irgendwelchen Zuständlichkeiten oder in sich
abgeschlossenen Empfindungen die sittlichen Zweckreihen zum Abschluss
bringen, weil wir die Unendlichkeit des ethischen Prozesses, in dem die
Tätigkeit sich selbst zum Zweck wird, gerade so aber der makrokosmischen
Entwicklung sich am vollkommensten anpasst, schwer ausdenken können.
In keinem Falle brauchte die Tatsache, dass wir in unserem Bewusstsein
nichts von diesem Moralprinzip finden, die Möglichkeit auszuschliessen,
dass sich die materiell bestimmten Pflichtgebote auf jenes zurückführen
liessen; es gibt keinen Versuch, ein Höchstes und Letztes in der Moral
auszusprechen, der bestehen könnte ohne die Annahme, dass die Menschen
Unzähliges tun und Unzähliges glauben Tun zu sollen, ohne eine Ahnung
von den tieferen Gründen oder dem höchsten einheitlichen Zwecke
desselben zu haben.
Ich will doch erwähnen, dass das ästhetische Ideal die ganz
entsprechende Ausdeutung verträgt.
Der Reiz der Kunst beruht vielleicht auf der Fülle der Bewegung, der
Tätigkeit, die innerhalb des Rahmens des einzelnen Kunstwerks
zusammengedrängt ist und die der Beschauer und Hörer mit durchmacht; in
drei Theaterstunden erleben wir eine Fülle von Schicksalen mit, der
fruchtbare Moment des Bildwerkes drängt den reichsten Verlauf von
Geschehnissen in sich zusammen, die wir in abgekürzter Form durch
produktive Phantasie vorstellend erleben, der Reiz der Musik beruht
jedenfalls zum Teil auf der Mannigfaltigkeit und Fülle der Bewegung, die
sie darstellt und hervorruft, sei es dadurch, dass die verschiedenen
Schwingungszustände des Kehlkopfes im Gesange mit besonderer Leichtigkeit
in einander übergehen und dadurch eine kraftsparende, d. h. im
Verhältnis zur aufgewendeten Kraft besonders lebhafte Bewegung
stattfindet; sei es, weil die schnell wechselnden Muskelinnervationen,
deren es zum Singen einer Melodie bedarf, eine gleiche innere Tätigkeit
darstellen, wie die Bewegung der Glieder, und deshalb ein Symbol oder
Abbild desjenigen freudigen Kraftgefühles (<387) sind, das die
letztere begleitet; und eine leicht auszuführende Analogie hiermit
erklärt es vielleicht auch, weshalb der Tanz ein Recht hat, unter die
Künste gezählt zu werden.
Den eudämonistischen Wert der Tätigkeit deutet der Doppelsinn des
Wortes »Reiz« an: ein Reiz ist dasjenige, das eine Bewegung auslöst,
eine Reaktion, die doch Aktion ist, veranlasst, und andrerseits der
Ausdruck für den Wert des Lebens und seiner Ereignisse.
Wenn man vom Kunstwerk verlangt, dass es einen Typus, ein Allgemeines,
jenseits der individuellen Zufälligkeit Stehendes gebe, so bedeutet dies
doch, dass eine möglichst grosse Anzahl von individuellen Existenzen in
ihm ihren gemeinsamen Punkt finden, gewissermassen in ihm komprimiert
sind.
Der Grund des Vergnügens an diesem wesentlichen Charakter des
Kunstwerks ist nun vielleicht der, dass durch ihn eine möglichst grosse
Fülle von Vorstellungen angeregt werden, dass die durch die Form des
Typischen herbeigeführte Konzentrierung eines möglichst grossen Stückes
Welt eine entsprechend umfassende Bewegung, eine lebhafteste Tätigkeit im
Innern des Aufnehmenden bewirkt.
Auch die allgemeine Gültigkeit, die das ästhetische Urteil für sich
fordert und oft findet, ermöglicht sich durch die Fülle der
Vorstellungen, die das Schöne als solches begleiten.
Durch sie tritt ein Ausgleichen des Ungleichen ein, gewissermassen ein
Durchschnitt, in dem das Eigenartige und Extreme einzelner
Vorstellungskreise der Individuen seine Paralysierung findet und dadurch
höchst verschiedene Individuen zu gleichen Resultaten kommen können.
Und wenn man nun das Vergnügen am Kunstwerk in den leichten,
ungehemmten Ablauf der Vorstellungen gesetzt hat, so harmoniert das ganz
mit dieser Theorie, die insbesondere den Zusammenhang des objektiven
Inhalts des Kunstwerks mit dem subjektiven ästhetischen Vorgang klar
stellt.
Wie das Kunstwerk, weil es einen Typus gibt, eine grösste Fülle
objektiver Vorgänge oder objektiver Existenzen in sich repräsentiert, so
sind wir im Geniessen desselben reinste, komprimierte Aktivität, da eben
(<388) die Ungehemtheit des Vorstellungsverlaufs ein Maximum von
Vorstellungstätigkeit in dem gegebenen Rahmen bedeutet und ermöglicht.
Das Kunstwerk spricht wie die Wissenschaft, nur in einer anderen
Sprache, das Gesetz der Dinge aus und sammelt deshalb wie dieses objektiv
und subjektiv die grösste Kraft und Tätigkeit im kleinsten Punkte und
gewährt dadurch gleich jener das Gefühl, dass wir uns auf einem der
höchsten Punkte überhaupt möglicher Entwicklung befinden.
Und dies berührt sich nun endlich mit dem Gedanken, um dessentwillen
die ganze Erörterung über das Moralprinzip der Tätigkeit hier
eingefügt wurde.
Hat dasselbe nämlich eine wenn auch nur relative Geltung, so
rechtfertigt es den Wert, den die Weite der Bewegung zwischen Lust und
Schmerz ganz abgesehen vom Resultate ihrer Aufrechnung einem Leben
verleiht.
Denn Lust und Schmerz sind die Momente, von denen der ganz
überwiegende Teil unserer Tätigkeit ausgeht, ebenso wie sie die
Anzeichen für die Lebhaftigkeit der letzteren sind.
Ohne allzuviel Ausnahmen zugeben zu mussen, wird man behaupten dürfen,
dass die Schwingungsweite zwischen der Lust und dem Schmerz eines Lebens
der Grösse seiner Tätigkeit proportional ist, wobei, einem naheliegenden
Einwände zu begegnen, das Übergewicht der Kraftentfaltung im Auge zu
halten ist, das die geistige Tätigkeit der körperlichen gegenüber
aufweist.
Sehen wir von den sittlich selbstlosen Beweggründen ab, deren
Zusammenhang mit subjektiver Lust und Unlust strittig ist, so ist es nur
der Wunsch, grösste Lust zu erlangen oder grössten Schmerz zu vermeiden,
was uns zu den grössten Tätigkeiten antreibt.
Der von uns allen empfundene Wert eines energischen, nach den
entgegengesetztesten Seiten hin schwingenden Gefühlslebens,
unverständlich für jeden Utilitarismus und Eudämonismus, der nur nach
der positiven oder negativen Summe des Ganzen fragt, wird sofort klar,
wenn man Lust und Schmerz nicht mehr als die teleologischen Endpunkte,
(<389) sondern nur als Durchgangspunkte für die Tätigkeitssteigerung
als definitiven Wert betrachtet.
Es scheint mir für denjenigen, der überhaupt ein materiales
Moralprinzip sucht, um so unmöglicher, bei dem eudämonistischen stehen
zu bleiben, als dieses sich bei näherem Zusehen als ein durchaus formales
und der inhaltlichen Bestimmtheit entbehrendes darstellt.
Es tritt nämlich zunächst die Frage an uns heran: Ist Glück nur
derjenige Zustand, der von dem Empfindenden selbst als solcher beurteilt
wird, oder dürfen wir unter Umständen auch diejenige Handlung noch
eudämonistisch nennen, deren Empfindungserfolg gegen den Willen
desjenigen ist, dessen Glückssumme wir gerade damit zu erhöhen meinen.
Wir glauben uns jedenfalls zu dem letzteren berechtigt, so lange es
sich um blosse Vorbereitung für objektive Zustände handelt; einem Kind
bereitet der Erzieher oft genug Empfindungen und veranlasst es zu
Handlungen, die durchaus gegen den Willen des Kindes selbst sind, in der
Überzeugung, dass die spätere Einsicht des Kindes selbst ihm diese als
zu seinem Glück erforderlich zeigen wird.
Oft genug glauben wir uns Jemandem in der Einsicht in die Mittel zu
seinen Lebenszwecken überlegen und führen daraufhin vom Standpunkt des
altruistischen Eudämonismus aus Zustände herbei, die durchaus nicht in
der Richtung seines Willens liegen, - weil wir sicher sind, dass wenn die
Wirkungen davon nur erst da sind, sie ihm schon erwünschte sein werden.
Allein dem liegt noch immer der Gedanke zu Grunde, dass dasjenige, was
wir an Jemandem tun, am letzten Ende mit seinem eigenen Willen
übereinstimme.
Zu gleicher Handlungsweise glauben wir uns auch oft noch berechtigt, wo
es sich um mehr als Vorbereitungsstadien und Mittel zu einem erst später
eingesehenen Endzwecke handelt.
Wenn z. B. Eltern die Ehe ihrer Tochter mit einem von ihr geliebten
Manne hindern, weil sie überzeugt sind, dass er sie unglücklich machen
würde, so handeln sie nicht nur gegen den augenblicklichen, sondern vielleicht gegen den dauernden, (<390) nie sich ändernden Willen
des Mädchens.
Ihre Handlungsweise ist nur durch die Voraussetzung zu rechtfertigen,
dass es doch der eigentliche Wille ihres Kindes ist, so glücklich,
beziehungsweise so wenig unglücklich wie möglich zu werden; und sie
erfüllen diesen Willen, auch wenn das Mädchen selbst sich der Steigerung
ihrer Glücksbilanz gegenüber dem von ihr selbst gewünschten Falle nie
bewusst werden sollte.
Angenommen aber, sie hätte genau die gleiche Einsicht in die Folgen
der von ihr erstrebten Ehe, sie machte sich ebensowenig Illusionen über
das ihr bevorstehende Unglück, beharrte aber nichtsdestoweniger auf ihrem
Willen zur Ehe: so hörte, wie mir scheint, das Recht des elterlichen
Einspruches auf, so weit es sich auf ethischen Eudämonismus gründet.
Da das Wollen des Glücks eine letzte Tatsache ist, nach deren
Begründung nicht weiter gefragt wird, so ist ebenso wenig dagegen
einzuwenden, wenn jemand seinem definitiven Wollen einen anderen Inhalt
gibt.
Es gibt genug Menschen, deren bewusstes Wollen sich vom Glück ab- und
einem anderen Ziele zuwendet und dauernd zugewendet bleibt.
Und ich glaube, dass der Altruismus sich dann nur auf Förderung des
letzteren wird richten können, nicht aber darauf, jene völlig gegen
ihren Willen glücklich zu machen.
Hierauf ist nun freilich leicht zu erwidern, dass es nur ein
missverständlicher Ausdruck wäre, wenn ein Mensch irgend ein anderes
Willensziel seinem Glück vorzuziehen glaubte; dann sei eben jenes andere
sein Glück.
Nur weil die überwiegende Anzahl der Menschen Glück nur aus
bestimmten Zuständen und Verhältnissen zieht, habe sich mit diesen die
Vorstellung verbunden, dass sie das Glück überhaupt ausmachten, und
daher entstehe der Schein, dass, wenn jemand andere Ziele verfolge, er
etwas anderes als sein Glück suche.
Allein daran sei die vorurteilsvolle Assoziation des ganz allgemeinen
Glücksbegriffes mit zufälligen, wenn auch sehr verbreiteten speziellen
Inhalten allein Schuld.
Man könne von Niemandem a priori sagen, worin er sein Glück suchen
(<391) solle oder werde; ebensowenig dürfe er selbst sagen, es sei
etwas anderes als Glück, was er sucht, wenn der Inhalt seines Strebens
etwa ein anderer ist, als ihn die Majorität mit dem Glücksbegriff
verbindet und deshalb schliesslich mit ihm identifiziert hat.
Dann aber heisst der Satz: »Jeder will sein Glück« nichts anderes
als: jeder will das, was er will; wir münden hier, wenngleich von etwas
anderem Ausgangspunkt her, an den Schlussüberlegungen des ersten Absatzes
dieses Kapitels und müssen sagen: fasst man den Begriff des Glücks so,
dass seine Förderung am Anderen das vollbefriedigende Ziel des sittlichen
Altruismus sein kann, so fällt es vollkommen mit dem Wollen zusammen, und
der Satz: Der sittliche Mensch will das Glück des Anderen, bedeutet nur:
Der sittliche Mensch will das, was der Andere will.
Statt dass der Eudämonismus ein wahrhaft inhalterfülltes Prinzip sei,
gibt er, auf seinen letzten Grund zurückgeführt, auch nur eine Formel,
die alle Erfüllung nicht weniger erst von weiterer Erfahrung zu erwarten
hat, wie der kategorische Imperativ, den er doch gerade in dieser
Beziehung zu vervollständigen meinte.
Bei der Kritik des Utilitarismus hatte ich die psychologische Tatsache
erwähnt, dass eine Vermehrung der irdischen Glückssumme unseren
moralischen Sinn nicht befriedigt, wenn sie nicht den Würdigen trifft;
ebenso bereitet uns die Vermehrung der Leidenssumme kein moralisches
Missbehagen, wenn sie denjenigen affiziert, der uns eine Strafe zu
verdienen scheint.
Unter allen Anforderungen, die das sittliche Bewusstsein an die Ordnung
der Dinge stellt, ist die Realisierung dieses Verhältnisses, des
Zusammenfallens von Tugend und Glückseligkeit, eine der unabweislichsten,
so unabweislich, dass wir Tugend definiert finden als die Würdigkeit,
glücklich zu sein.
So unmittelbar und logisch erforderlich indes (<392) scheint mir die
Gedankenverbindung der beiden Elemente nicht; aus dem Begriff einer
bestimmten Tat folgt keineswegs, dass der Täter Unlust erleiden oder Lust
empfinden solle.
Vielmehr wird es ganz besonderer historischer Entwicklungen bedürfen,
um diesen Zusammenhang entstehen und fest werden zu lassen.
Über den Ursprung der Reaktion auf das Böse liegt eine Vermutung
näher, als es betreffs des Lohnes der Tugend der Fall ist.
Unter den primitiveren Trieben der menschlichen Natur finde ich keinen,
aus dem die Strafe hervorgegangen sein könnte, ausser den Rachetrieb.
Die Idee, dass die Strafe den Übeltäter bessern oder Andere von der
gleichen Tat abschrecken solle, setzt eine Höhe des Zweckbewusstseins
voraus, die eine rohere Kultur überhaupt nicht kennt.
Aus dem individuellen Wunsche der Vergeltung eines dem Individuum
angetanen Übels entwickelt sich auf dem Wege, auf dem überhaupt die
Sozialseele ihren Inhalt gewinnt, das Bestreben, demjenigen ein Leid
anzutun, der einer sozialen Gruppe Schaden zufügte.
Die Talion ist nur die äusserlich quantitative Ausgestaltung des
Prinzips, das in der Tat jeder Strafe ursprünglich zu Grunde liegt: du
hast Leiden bereitet, also sollst du Leiden empfinden.
Den Rachetrieb selbst nun treffen wir zwar schon bei den Tieren und
manchmal in erstaunlicher Ausbildung an, allein er ist offenbar auch schon
ein nicht ganz ursprünglicher, sondern scheint mir aus dem Schutz- und
Abwehrtriebe hervorgegangen zu sein.
Gegen Angriffe gibt es ausser der Flucht eben nur das Mittel, den
Angreifer unschädlich zu machen, und nur durch das gleiche Mittel kann
man die Beute gewinnen, die ein Anderer uns streitig macht.
Dadurch wird die Beschädigung des Anderen unmittelbar assoziiert mit
derjenigen, welche uns von ihm widerfährt.
Indem die Selbsterhaltung die Verteidigung mit sich bringt, setzt sie
uns in die Notwendigkeit, den Beschädiger zu beschädigen, weil dies das
einzige Mittel ist, der Beschädigung Einhalt zu tun.
Dadurch Wird, wie schon angedeutet, mein Leid in psychologische
Verbindung mit einem Leide desjenigen (<393) gesetzt, der mir jenes
zufügt; das, was nur Mittel und Begleiterscheinung der notwendigen
Selbsterhaltung ist, wird schliesslich wie so oft, zu einem selbständigen
Triebe: die Schmerzzufügung, die die sekundäre Folge der Abwehr
selbsterlittenen Schmerzes ist, wird schliesslich auch nach Wegfall des
Verteidigungszweckes begehrt und so entsteht aus ihr der Rachetrieb, der
schon etwas Höheres und Objektiveres ist.
Denn er fragt nicht mehr nach der Wirkung, die der Schmerz des Anderen
auf unsere eigenen Zustände hat, sondern empfindet denselben, der auf
unseren durch jenen erlittenen Schmerz folgt, als einen für sich
befriedigenden Wert, sogar in dem Masse, dass, um ihn zu erreichen, oft
ein ganz unverhältnismässiges Quantum eigener Gefahr und eigenen Leidens
dafür in den Kauf genommen wird.
Wie dieser Objektivierungsprozess nun sich weiter fortsetzt, insofern
auch in demjenigen, den die Tat des Unsittlichen persönlich nicht
affiziert, der Wunsch nach einer diesem zuzufügenden Vergeltung lebendig
wird, wie schliesslich die unsittliche Tat für unsere Vorstellung rein
objektiv Strafe verdient, in völliger Ablösung von dem Rachegefühl
einer direkt oder indirekt betroffenen Person -das ist eine
verhältnismässig leicht einzusehende Entwicklung der ethischen Forderung
eines Parallelismus von Schuld und Strafe.
Die Entwicklung des Verlangens, dass der Tugend ein Zuwachs an
Glückseligkeit entspreche, ist indes keineswegs einfach als Gegenstück
jener zu konstruieren.
Die Vergeltung des Bösen hat, wenn sie meiner Vermutung gemäss aus
dem Abwehrtrieb hervorgegangen ist, einen evolutionistischen Zweck; auf
eine so primitive Stufe unserer Gattungsentwicklung geht aber jener zweite
Parallelismus, so viel ich sehe, nicht zurück.
Ich führe über seinen Ursprung einige Vermutungen an.
Zunächst ist für die Zeiten, wo neben der naiven Hingabe an die
Gruppe bez.
an die Familie ein ebenso naiver Egoismus herrschte, anzunehmen, dass
ich meinen Vorteil, so weit er von dem Willen eines Anderen abhängig war,
nur erreichte, indem ich diesem meinerseits einen Vorteil gewährte oder
(<394) versprach; der Lohn ist das Motiv, das den einfach egoistischen
Menschen bewegt, Andere zu fördern.
Nennt man das letztere Tugend, so ist ihr also der Lohn in diesem Falle
nicht gefolgt, sondern ihr wenigstens psychologisch vorausgegangen.
Die Steigerung der eigenen Glückseligkeit war freilich die Folge des
altruistischen Handelns, aber dies letztere trat nur ein, weil jene Folge
damit verknüpft war.
Die einfache Notwendigkeit, Lohn zu gewähren, um einen Menschen
Interessen dienstbar zu machen, die nicht seine eigenen waren, erscheint
als die nächstliegende Veranlassung der Verbindung zwischen Tugend und
Glückssteigerung.
Die Vorstellung, dass die erstere die zweite verdient, dass sie
sachlich ihre Folge sein soll, ist offenbar nur die Objektivierung der
psychologischen Tatsache, dass, wie die Menschen nun einmal sind, jene
nicht ohne diese geübt wurde.
Derartige Ideale entstehen, indem die psychologischen Mittelglieder
ausgeschaltet werden, die nicht das gleiche Mass von handgreiflicher
Sichtbarkeit haben, wie die äusseren Geschehnisse, die sie verbinden.
Während Kant sehr richtig einsah, dass die reale Harmonie von Tugend
und Glückseligkeit nicht von selbst durch irgend eine logische Konsequenz
eintrete, sondern immer besonderer historischer Bedingungen zu ihrer
Verwirklichung bedürfe, übersah er doch, dass auch der ideelle
Zusammenhang beider Momente, die blosse Forderung ihrer Harmonie nicht
ohne eben solche zustande kommt und keineswegs eine rationale
Notwendigkeit ist.
Wir ergründen aber den Schein solcher rationalen Notwendigkeit, wenn
wir das Psychologische Band aufweisen, das die an sich
auseinanderliegenden Vorgänge tatsächlich verknüpft.
Wenn in der Wirklichkeit Niemand dem Anderen gegenüber gut ist, ausser
wenn er Lohn dafür erhält, entsteht leicht die Idee, dass sachlich eines
dem anderen zu folgen habe, dass das Handeln für Andere Lohn verdiene.
Wie im Gebiet des Seins die Kausalität die Wahrnehmungsfolge der
Erscheinungen zu einem Erfolgen der einen aus der anderen verfestigt, so
hypostasiert sich auf ethischem Gebiet aus der (<395) tatsächlichen,
aber durch ein bloss egoistisch-utilitarisches Moment vermittelten Folge
von Tugend und Vorteil die Vorstellung, dass letzterer aus der ersteren
folgen solle, dass wenigstens im Reiche des Ideals und des Sollens eine
sachliche Beziehung zwischen beiden bestehe.
Vielleicht trägt zur Entstehung derselben noch das folgende Moment aus
den früheren Stadien der Kulturentwicklung bei.
In diesen ist nämlich der Glückliche, Erfolgreiche und der Sittliche,
der so ist, wie er sein soll, im allgemeinen eine und dieselbe Person; und
zwar aus verschiedenen Gründen, die ich im Kapitel über den Egoismus
schon angedeutet habe.
Zunächst ist das primitive Denken viel zu unklar, um zwischen den
verschiedenen Inhalten des Sollens, den verschiedenen Idealen, zwischen
dem der Glückseligkeit und dem der Sittlichkeit, scharfe begriffliche
Grenzen zu ziehen, wozu die Solidarität der früheren sozialen Gruppe,
die mangelhafte Scheidung zwischen egoistischen und altruistischen
Interessen viel beitragen musste.
Die Tatsache, dass gewisse Verhaltungsweisen gebilligt, erwünscht,
erstrebt wurden, verwischt für ein ungebildetes Denken die Unterschiede
zwischen den spezifischen Differenzen derselben; wobei immer festzuhalten
ist, dass es sich hier nicht um eine Vereinigung, Mischung oder
Identifizierung zweier schon getrennter Begriffe, sondern um einen
unklaren, primären Zustand des Begriffsvermögens handelt, aus dem sich
jene überhaupt noch nicht als getrennte herausdifferenziert haben.
Es kommt dazu, dass die Berechtigung zu einer solchen Ungeschiedenheit
zwischen Tugend und Glück bei jener starken Sozialisierung, die wir für
die Zeiten der primitiven Sprach- und Begriffsentwicklung anzunehmen
haben, besonders gross war.
Der Starke oder Listige, der sich am besten schützen und den Feind am
besten angreifen konnte, war nicht nur für seine eigenen Interessen,
sondern auch für den Stamm vom höchsten Nutzen; der Reiche hatte nicht
nur selbst den Vorteil von seinem Besitz, sondern die Gemeinschaft, in der
er lebte, profitierte aus sehr verständlichen (<396) Gründen
gleichfalls davon, während der Schwache und Arme das Niveau der
Allgemeinheit herunterdrückte; der Heitere, Lebensfreudige diente allen
zur Ermunterung und Ermutigung usw.
Zwar gelten diese Fälle des Zusammenfallens von egoistischem und
altruistischem Interesse noch heute; aber doch lange nicht mehr so wie in
primitiveren Zeiten und namentlich in kleineren Gruppen, in denen der
Einzelne, eine so hervorragende Stellung er einnehme, doch mit den
Interessen jedes einzelnen Anderen solidarischer verbunden ist.
Die Sprachforschung bestätigt dieses Resultat, indem sie uns gezeigt
hat, wie die Ausdrücke für moralische Vorzüge und Mängel überall
ursprünglich Vorteile und Nachteile der egoistischen Glückslage
anzeigen.
Und endlich ist zu bedenken, dass der Mächtige, der je früher desto
mehr als der Glückliche anzusehen ist, die sittlichen Vorstellungen in
der sozialen Gruppe, das Ideal des Menschen, wie er sein soll, nach seinem
Bilde gestaltet hat.
Die herrschende Klasse gibt die Gesetze, nach denen sich das legale
Verhalten zu richten hat, aus denen schliesslich auch das für sittlich
gehaltene hervorgeht, und die natürlich derart nach
der Seite des Interesses dieser Klasse hin liegen, dass ihre Mitglieder
ohne weitere Bemühung als vollendete Repräsentanten derselben erscheinen
können; zum Teil aus Eitelkeit, zum Teil um des Vorteils willen setzt der
Mächtige es durch dieses und andere Mittel durch, als Ideal zu gelten,
als das Muster, das für alle Anderen, wenn auch unerreichbar, so doch zu
erstreben sei.
Ohne hier nun schon prüfen zu wollen, ob das tatsächliche Verhalten
der Dinge eine Harmonie zwischen Tugend und Glückseligkeit aufweist, die
aus dem logischen Verhältnis der Begriffe nicht hervorgeht, muss
jedenfalls noch bemerkt werden: auf welche Weise auch die Vorstellung
einer ethischen Notwendigkeit jener Harmonie sich gebildet und gefestigt
habe, so erhebt sich über ihre allgemeine Anerkenntnis sofort die weitere
Schwierigkeit nach dem Masse, in dem beides sich entsprechen soll; auch
die wärmste Überzeugung davon, (<397) dass der Gute Glückseligkeit,
der Böse Schmerz verdiene, wird in Verlegenheit geraten bei der Frage,
wie vielen Lohnes denn nun ein gegebener Grad der Sittlichkeit wert sei.
Hier wenigstens muss jeder Versuch einer rationalen Konstatierung des
Verhältnisses aufhören.
Am augenfälligsten ist dies vielleicht bei der kriminellen Ahndung von
Vergehen.
Dass etwa ein bestimmter Grad von Verworfenheit sich zu einem anderen
sachlich so verhalte, wie sich Gefängnisstrafe zur Zuchthausstrafe
verhält; dass eine objektiv begründete Proportion zwischen Vergehen und
Strafe bestehe; dass in der gesetzgeberischen Festsetzung derselben
rationellere Prinzipien den Ausschlag geben, als ein sehr dunkles Gefühl
für die Abstufungen der Unsittlichkeit und eine höchst ungefähre und
ungenaue Taxierung derselben, deren Unsicherheiten sich stets in der
Beurteilung des einzelnen Falles wiederholen, wenn auf Grund einer einmal
gesetzten allgemeinen Norm nun für die Schattierungen innerhalb derselben
das strafrechtliche Äquivalent gesucht wird - alles dies wird kein
vorurteilsloser Kenner des Strafrechts behaupten wollen.
Auf diesem Gebiet beruht, was wir Gerechtigkeit im Gegensatz zur
Willkür nennen, nur in zwei Punkten: für die Gesetzgebung nämlich
darin, dass, nachdem einmal zwischen einem Vergehen und einem Strafquantum
eine feste Beziehung gesetzt ist, nun das moralisch leichtere Vergehen
auch mit einer geringeren Busse, das schwerere mit einer höheren belegt
wird.
In dieser Relation ist eine wenn auch beschränkte objektive
Richtigkeit zu erzielen.
Um wieviel ein Vergehen schwerer ist als das andere, lässt sich an
einem objektiven Massstab nicht feststellen, und noch viel weniger, um
wieviel ihm gemäss die Strafe zu steigen hätte.
Dagegen befähigt uns das moralische Gefühl bez. das Kriterium des
Gemeinwohls zu einem ziemlich sicheren Urteil darüber, ob ein Vergehen,
das der Art nach nicht allzuweit von einem anderen abliegt, überhaupt
leichter oder schwerer sei als dieses.
Und dem so gewonnenen, wenn auch nur sehr allgemeinen Mehr oder Minder
des zweiten (<398) lässt sich dann durch Mehrung oder Minderung der
für das erste festgesetzten Strafe Ausdruck geben.
Damit ist eine objektive Gerechtigkeit wenigstens insoweit zu erzielen,
dass dem grösseren Vergehen die grössere Strafe entspricht; subjektiv
und willkürlich aber bleibt unter allen Umständen die ursprüngliche
Relation zwischen einem bestimmten Vergehen und einer bestimmten Strafe,
von der aus die übrige, nur relativ objektive Abmessung vor sich gehen
kann; subjektiv und willkürlich bleibt auch die quantitative Abwägung
des Mehr oder Minder.
Zweitens: der Gerechtigkeitsbegriff der Rechtsprechung besteht
ausschliesslich in der objektiv richtigen Anwendung des geltenden Gesetzes
auf den einzelnen Fall.
Dieses Gesetz mag seinem Inhalte nach so ungerecht sein wie möglich -
der Richter ist doch gerecht, wenn er ihm gemäss urteilt.
Also auch hier ruht die Gerechtigkeit auf einer ausserhalb ihrer
liegenden Voraussetzung.
Zudem laboriert die Strafabmessung innerhalb des vom Gesetz gelassenen
Spielraums natürlich an demselben Mangel einer objektiven Proportion wie
die Gesetzgebung selbst innerhalb grösserer Grenzen.
Wenn jemand für einen Betrug um tausend Mark einen Monat Gefängnis
bekommt, so bekommt er nicht um einen solchen von zweitausend Mark nun
zwei Monate, und dies wäre auch völlig gegen unser
Gerechtigkeitsgefühl.
Es muss also jedesmal von neuem eine Proportion geschaffen werden, es
gibt keine Graduierung der Vergehen einerseits und der Strafen
andrerseits, mit Hülfe deren jede Missetat sich in der Skala der ersteren
derart einzeichnete, dass sich daraus unmittelbar ihre Stelle in der Skala
der zweiten ablesen liesse.
Während die zivilrechtliche Entscheidung eine absolute Gerechtigkeit
wenigstens ermöglicht, weil es sich für sie im Wesentlichen nur um
Wahrheit oder Falschheit von Behauptungen handelt, kennt die
strafrechtliche diese objektive Sicherheit nur in der Schuldfrage, bedarf
aber für die Bestrafung einer konstanten Relation zwischen zwei so
völlig heterogenen Dingen wie Vergehen und dafür zu erleidendem
(<399) Schmerz, die deshalb stets auf eine im letzten Grunde
willkürliche Satzung zurückgehen muss.
Und kann nun schon bei diesen gröbsten Unsittlichkeiten, die das
Strafgesetzbuch ahndet, eine objektiv richtige Strafe der Natur der Sache
nach nicht gefunden werden, so liegt auf der Hand, wie unlösbar den
feineren Unsittlichkeiten gegenüber die Frage ist, wie eine vollkommene
Gerechtigkeit ihre Strafe bemessen musste.
Die parallele Schwierigkeit findet bezüglich des Verhältnisses von
Tugend und Glück statt.
Solange es keinen Massstab einerseits für die Tugend, andrerseits für
die Glückseligkeit gibt, der die Werte der einen als stetige Funktionen
von, denen der anderen erkennen lässt, solange schwebt sogar die bloss
ideale Forderung, dass die Tugend einen Anspruch auf Lohn in sich trüge,
völlig in der Luft.
Denn wenn man selbst zugibt, die vollkommene Sittlichkeit verdiene das
vollkommene Glück, so ist damit noch nicht das Geringste über das
richtige Verhältnis ihrer unterhalb der absoluten bleibenden Quanta
bestimmt.
Aus diesem Mangel einer rationalen Bestimmtheit begreift man, wie
Lehren, die allein auf eine solche ihre Aussagen zu gründen meinen, dazu
kommen konnten, nur Tugend und Laster schlechthin, ohne Gradunterschiede
und mit ebenso absoluten Folgen anzuerkennen.
Mit welcher Entschiedenheit wir auch fordern mögen, dass der
Unsittlichkeit ihre Strafe, der Tugend ihr Lohn werde, wie sehr wir auch
im einzelnen Fall ein einmal für richtig erkanntes quantitatives
Verhältnis zwischen ihnen als unbedingte sittliche Notwendigkeit
festhalten mögen: weder jene prinzipielle noch diese singuläre Forderung
lassen sich als etwas so Selbstverständliches, innerlich Notwendiges
erweisen, wie es der Sicherheit Unseres Gefühles entspricht.
Aus sich heraus weist keines dieser ethischen Elemente auf das andere
hin, sondern erst reale historische Verhältnisse, welche ausserhalb ihrer
liegen, lassen die Forderung entstehen, dass sie sich entsprechen und zwar
in bestimmten (<400) Massen entsprechen.
Es mag nun nicht gezweifelt werden, dass diese ideale Forderung
wesentlich von dem Masse beeinflusst ist, in dem die Wirklichkeit Tugend
und Glück einander entsprechen lässt.
Es mag ebenso sicher sein, dass sie ihrerseits die Kraft gewinnt, die
Wirklichkeit mehr oder minder nach sich zu gestalten.
Für die wissenschaftliche Untersuchung aber sondern wir die Frage nach
der Berechtigung des Sollens, der Forderung jener Harmonie, vollkommen von
derjenigen, der wir uns jetzt zuwenden: der Frage, inwieweit sich denn
Tugend und Glückseligkeit in der Wirklichkeit entsprechen.
Täusche ich mich nicht, so sind sechs mögliche Behauptungen über das
reale Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit zu unterscheiden.
I. Es liesse sich annehmen, dass beides überhaupt gar nicht
auseinanderfällt, sondern dass Tugend und Glückseligkeit nur
verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache sind.
Wie eine Metaphysik behauptet, dass Denken und Sein, die objektive und
die geistige Welt, nur verschiedene Seiten oder verschiedene
Auffassungsweisen einer einheitlichen Substanz seien, so könnte dasselbe
Verhalten, das äusserlich als Tugend erscheint, sich innerlich als Glück
kundgeben.
Der motorische Vorgang, die nach aussen verlaufende Erregung gewisser
Nerven reflektiert sich zugleich als innerliche Empfindung; jedes Handeln
rein als physiologischer Akt ist zugleich eine Änderung des
Bewusstseinszustandes.
Überträgt man dies auf die höheren und komplizierteren
Handlungsweisen, so wäre es wohl möglich, dass, was uns ausserlich als
Tugend bez. Unsittlichkeit erscheint, sich innerlich als Glück bez.
Unlust kundgäbe.
Ebendasselbe Verhalten, das der soziale Kreis um uns Unsittlichkeit
nennt, würde subjektiv als Qual empfunden.
In der byzantinischen Theologie des späteren Mittelalters findet sich
der Gedanke zur Rechtfertigung der Ewigkeit der Höllenstrafen, dass der
Zustand der Verdammten ja nichts anderes sei als deren eigene, von jedem,
auf Erden etwa dazutretenden Lustgefühl losgelöste Schlechtigkeit, und
die Dantische Hölle hat man so zu interpretieren gesucht, dass alle in
ihr (<401) geschilderten Leiden nur die innerliche Empfindungsseite der
entsprechenden Sünden wären.
Man darf dies nicht mit der gewöhnlichen Vorstellung verwechseln, der
zufolge Lohn und Strafe vom eigenen Gewissen ausgeteilt werden; denn da
ist die sittliche oder unsittliche Tat das Vorangehende, dessen Folge dann
erst die Freude oder die Qual des Gewisses ist, wie kurz auch immer das
Intervall zwischen Ursache und Folge sei.
Was hier gemeint ist, ist vielmehr die unbedingte Einheit des
Verhaltens, das nur sozusagen der Erscheinung nach in die Doppelheit des
ethischen und des eudämonistischen auseinandergeht.
Ich habe schon oben eine Form des Eudämonismus besprochen, die sich
dieser Annahme nähert: die Lehre, dass unter mehreren Möglichkeiten des
Handelns diejenige erfolge, mit deren Vorstellung die grösste Lust
verbunden sei.
Verstehen wir diese Lehre so, dass die Willensvorstellung, der
Entschluss zur Tat mit derjenigen Vorstellung gemeint sei, deren
Herrschaft zugleich mit überwiegendem Lustgefühl eintritt, so haben wir
in beiden Fällen wenigstens insofern die gleiche Voraussetzung, als mit
dem Moment der Handlung unmittelbar ein eudämonistisches verbunden sein
soll, dort mit jedem Entschluss, hier nur mit dem sittlichen.
Zur Klarstellung dieses Verhältnisses sind, wie ich schon andeutete,
mehrere Möglichkeiten gegeben.
Man kann Sittlichkeit und subjektives Glück als die beiden objektiven
Seiten eines einzigen Geschehens fassen; oder als subjektive Reflexe oder
Erscheinungen eines dem Bewusstsein entzogenen, seinem An-Sich nach uns
unbekannten Vorganges; oder eines von beiden als die eigentliche
Realität, mit der aber das andere, wenn auch sekundären Charakters, so
doch in unmittelbarem Zugleich verbunden wäre, wie das Siegel und sein
Abdruck, die Hirnbewegung und die Vorstellung, oder ähnlich.
Wenn diese Verbindungen indessen nur aus dem direkten Verhältnis
beider Begriffe fliessen und rationale Notwendigkeiten darstellen sollen,
so sind es blosse metaphysische Glaubensartikel, die wie jeder derartige
Monismus wohl (<402) durch Biegung der Begriffe plausibel gemacht
werden können, aber zur Erklärung der wirklichen Erscheinungen nichts
beitragen.
Dagegen gibt es einzelne Fälle, deren besondere Umstände jene
Einheitlichkeit von Tugend und Glück verwirklichen.
Dies wird eintreten, wenn unter Tugend die politische Tugend verstanden
wird, und wenn zugleich der Kreis, für den sie sich zu bewähren hat,
klein genug ist, um seine Förderung jedem Mitglied unmittelbar als dessen
eigene Förderung fühlbar zu machen.
Dann ist die egoistische und die altruistische Handlung tatsächlich
noch ungeschieden, das Handeln zu Gunsten des ganzen Kreises schliesst
dasselbe zu Gunsten des Handelnden selbst ein.
Es mag also kein kausales oder teleologisches Verhältnis zwischen
beiden vorhanden sein, weder die Glückssteigerung des eigenen Selbst
braucht das ursprüngliche Motiv auszumachen, um dessentwillen die des
sozialen Kreises als Mittel gesucht wird, noch braucht die letztere den
letzten Bewusstseinszweck zu bilden, dessen Verwirklichung nun sekundär
auch die Verbesserung der eigenen Lage zur Folge hätte; sondern beides
fällt von vornherein zusammen, so lange sich das Interesse des
Individuums noch nicht von dem seines sozialen Kreises differenziert hat,
und die sittliche Forderung die Interessen des letzteren zum
ausschliesslichen Gegenstande hat.
Diese glückliche Konstellation zeichnete die griechischen Gemeinwesen
in ihrer Blütezeit aus, und der Begriff der Eudämonie, in dem sie ihr
praktisches Ideal sahen, enthält gerade dieses Zusammenfallen des
sittlichen, d.h. des sozialen Verhaltens mit dem eigenen Glücksgefühl.
Dazu ist es indessen, wie schon erwähnt, nötig, dass der soziale
Kreis ein engbegrenzter und leicht überschaubarer sei.
In einem grossen und komplizierten sozialen Organismus geht die
ethische Tat des Einzelnen durch zu viele Umsetzungen hindurch, ist zu
häufig nur ein Mittel zu Zielen, die an ganz entfernten Stellen und zu
viel späteren Zeiten erreicht werden, um die Einheitlichkeit des
Interesses noch hervortreten zu lassen.
(<403) II. Häufiger als dieses Verhältnis, das sozusagen eine
substanzielle Verbindung von Tugend und Glückseligkeit darstellt, findet
sich eine Kausalität zwischen ihnen behauptet, und zwar gewöhnlich so,
dass Tugend die Ursache der Glückseligkeit sein soll.
Schliesslich triumphiere doch die Ehrlichkeit und Sittlichkeit über
das Laster und verleihe dem Tugendhaften auch den äusseren
Glückseligkeitserfolg, während der Böse sich in seinen eigenen
Schlingen fange und seiner Strafe nicht entgehen könne; und selbst wenn
das nicht der Fall wäre, wenn in äusserlicher Beziehung nur dem Laster
der Erfolg dem Braven das Leiden beschieden wäre, so sei dies eben nur
äusserlich, während das gute und das böse Gewissen die reichliche
Ausgleichung in Bezug auf die eudämonistischen Folgen des ethischen
Verhaltens übernähme; und sollte auch dies noch nicht der Gerechtigkeit
Genüge tun, so sei ein überirdisches Leben anzunehmen, in dem der Gute
wie der Böse die Früchte ihrer irdischen Taten Ernten.
Die letztere Behauptung entzieht sich natürlich als blosser
Glaubensartikel der wissenschaftlichen Diskussion; denn man könnte zwar
darauf hinweisen, dass in dieser scheinbar idealen Gerechtigkeit allerhand
unseren Idealen Zuwiderlaufendes enthalten ist; z. B. könnte Manchem das
lange Zögern und Warten mit dem Austeilen von Lohn und Strafe nicht recht
Gottes würdig erscheinen; ferner ist dem Einen durch die Länge seines
Lebens eine viel grössere Chance zu sittlicher Besserung, also zu der
schliesslichen Seligkeit gegeben als dem Anderen; denn wenn er vermöge
der Freiheit auch eine gleich grosse Chance zur Unsittlichkeit hat, so ist
doch in jedem Fall schon die Verlängerung der Wahl eine Gunst, die dem
früh Gestorbenen versagt bleibt.
Diesen und sehr vielen sonstigen Bedenken könnte man freilich mit der
Erwägung begegnen, dass sie nur aus der Übertragung menschlicher und
relativer Vorstellungsweisen auf das Absolute stammen und dass unsere
irdischen Begriffe von Gerechtigkeit kein Mass abgeben, an dem die
göttliche sich beurteilen liesse.
Und würde man (<404) darauf antworten, dass der so zurückgewiesene
Anthropomorphismus überhaupt den Ursprung der ganzen Vorstellung bilde,
dass die göttliche Gerechtigkeit doch offenbar nur ein Abbild, eine
Idealisierung, eine Vervollständigung der in irdischen Dingen geübten
oder geforderten sei, so würde dies doch keinen Ausschlag geben.
Denn der Glaube legt die Grenzlinie, an der sich der als objektiv
anerkannte Anthropomorphismus von dem nicht mehr zuzugebenden scheidet,
eben dahin, wohin er sie aus Gründen, die mit dem Erkennen nichts mehr zu
tun haben, legen will.
Wenn sich hierüber also nicht streiten lässt, so trägt doch jener
religiöse Glaube, ganz abgesehen von seiner nicht konstatierbaren
Bewahrheitung an und für sich schon zur Herstellung des Gleichgewichtes
zwischen Tugend und Glückseligkeit bei.
Denn da die sichere Hoffnung auf ein Glück selbst schon ein Glück
ist, so wird der tugendhafte Fromme in der sicheren Überzeugung, dereinst
der himmlischen Seligkeit zu gemessen, sich schon auf Erden eines ganz
realen Glücks erfreuen, und zwar eines Glücks, das natürlich in dem
Masse an Umfang und Sicherheit zunimmt, in dem er sich steigender
Tugendhaftigkeit bewusst ist, und das, wie ganz unbezweifelbare Beispiele
lehren, oft genug die schlimmsten Unbilden aufwiegt, die ihn sonst treffen
und zwar gerade für sein Rechttun treffen können.
Dies gehört zu den häufigen Vorkommnissen, in denen unsere
Vorstellungen eines Verhaltens der Wirklichkeit, die ursprünglich falsche
sind, diese Wirklichkeit selbst so umgestalten, dass sie nachträglich
wahr werden.
Für das gesamte ethische Leben ist dieser Vorgang so wichtig, dass ich
ihn bei dieser Gelegenheit etwas näher erörtern will.
Das Objekt, von dem irgend ein Glaube gilt, steht uns doch nicht immer
als äussere, von uns unabhängige Realität rein beobachtbar gegenüber;
sondern auf praktischen, psychologischen, sozialen Gebieten machen wir
erst das Objekt, über das wir reflektieren, es entsteht und besteht in
Wechselwirkung mit der Vorstellung von ihm, die allmählich auf die
Umgestaltung der (<405) Wirklichkeit in ihrem Sinne wirkt.
So glauben wir oft, unter gegebenen Umständen - deren Gegebenheit aber
zunächst ein Irrtum ist - sei ein gewisser Zustand für uns der
passendste und lustvollste; indem wir ihn nun erstreben, findet eine
dadurch inszenierte allmähliche Anpassung jener Umstände an ihn statt,
so dass sein Eintreten schliesslich unsere Erwartung erfüllt - weil diese
Erwartung selbst die zu ihrer Erfüllung nötigen Bedingungen gestaltet
hat.
Dies findet gewiss unzählige Male in Ehen statt, die ohne tiefere
gegenseitige Kenntnis der Charaktere nur auf verliebte Illusionen hin
geschlossen werden; aber gerade dieser Glaube, dass man zu einander passe
und dass der gegenseitige Besitz ein Glück sei, bringt eine Ummodelung
des Verhaltens und des Wesens, ein Sichanschmiegen und wechselseitiges
Nachgeben mit sich, welches seine Voraussetzung a posteriori bewahrheitet.
Hierher gehört es, dass die Presse z. T. ihre Verbreitung der
Vorstellung verdankt, dass sie die öffentliche Meinung ausspricht, was
sie doch nur insofern tat, als sie eben durch ihre Verbreitung die
öffentliche Meinung nach sich bestimmt.
Ebenso kann der a priori falsche Glaube, dass man für einen bestimmten
Beruf beanlagt sei, durch Konzentration der Gedanken und Bemühungen auf
ihn schliesslich eine wirkliche Befähigung dazu ins Leben rufen.
Auch das Psychologische zeigt eine tiefe Bewahrheitung jener Fabel von
dem Ackersmann, der sein Feld nach einem darin vermuteten Schatz umgrub;
der so fleissig umgegrabene Boden trug seine Früchte in ungeahnter Fülle
und Schönheit, so dass der Glaube an einen unwirklichen Schatz ihm einen
wirklichen zuwege brachte.
Auch die Meinungen, die Andere über uns haben, führen uns oft in die
entsprechenden Beschaffenheiten, die uns ohne jene ferngeblieben wären;
die ungerechtfertigt schlechte Meinung der Gesellschaft über Jemanden hat
oft genug den Betroffenen demoralisiert und so jene Meinung a posteriori
gerechtfertigt.
Die Meinungen über das Sittliche üben solche Wirkungen in
hervorragendem Masse.
Ich habe (<406) schon in dem Kapitel über Verdienst und Schuld
ausgeführt, dass man im Sittlichen sehr vieles vermag, gegen
Versuchungen, schlechte Gewohnheiten, krankhafte Triebe, wenn man nur den
festen Glauben daran hat, dass man es kann - wie für den Kranken der
Glaube und die Hoffnung gesund zu werden ein reales und sehr wesentliches
Moment der Genesung ist.
Das Vertrauen darauf, dass es eine sittliche Weltordnung gebe, dass der
Lauf der Natur auf Realisierung des Guten und Edlen gerichtet sei, gibt
auch der persönlichen Lebensführung die gleiche Richtung und bewirkt so,
dass im Wirkungskreise des Einzelnen das realisiert wird, was er
eigentlich schon realisiert glaubt.
Die Annahme, dass der menschliche Wille an dem durch übermächtige
Gesetze bestimmten mechanischen Naturlauf nichts zu ändern vermag, wird
zu einer Rückbildung der Willenskraft, zu wachsender Passivität
gegenüber den äusseren Weltmächten führen, und so der Glaube diejenige
Wirklichkeit realisieren helfen, deren Realisiertheit schon sein Inhalt
ist.
Die Hoffnung, dass ein bestimmtes Ereignis eintreten werde, bestimmt
unser Handeln, welches gar nicht einmal direkt auf jenes als Zweck
gerichtet zu sein braucht, oft in einer Weise, die es dennoch
herbeiführt; und nicht nur die Hoffnung, sondern auch die Furcht; so kann
die Besorgnis, jemand möchte mir etwas zu Verbergendes abmerken, mich zu
einem unnatürlichen gezwungenen Benehmen führen, welches jenen in der
Tat auf den Gedanken bringt, von dem ich ihn gerade fernhalten wollte.
Und in dem Falle, in dessen Erörterung wir diesen Exkurs einfügten,
ist die Furcht, in der Hölle brennen zu müssen, ein ganz realer Schmerz,
der, auch abgesehen von seiner segensreichen prophylaktischen Wirkung, die
ethisch geforderte Harmonie zwischen der Sünde und dem daraus
hervorgehenden Leid herstellen hilft.
Dies führt nun auf die zweite Kausalität zwischen dem sittlichen
Verhalten und seinem Lohn, auf die durch das Gewissen vermittelte.
Kein Zweifel, dass sie in hohem Masse vorhanden ist; kein Zweifel aber
auch, dass das (<407) Verhältnis zwischen der Tat und ihrer
Gewissensfolge kein stetiges ist, und dass keineswegs eine
naturgesetzliche Bestimmung das Quantum der letzteren gegenüber dem
bestimmten Quantum der Sittlichkeit regelt.
Was den Ursprung des Gewissensschmerzes betrifft, halte ich es für das
Wahrscheinlichste, dass er die Vererbungsfolge derjenigen Schmerzen ist,
die viele Generationen hindurch dem Täter als Strafe für die unsittliche
Tat auferlegt wurden.
Weil in sehr vielen Fällen dem Vergehen gegen die ethische Ordnung ein
bestimmter Schmerz folgte, hat sich wahrscheinlich eine organische
Assoziation gebildet, die jenen Schmerz in irgend einem Masse eintreten
lässt, wenn jene Tat eintritt, so dass das Gewissen der individuelle
Nachhall der in der Gattung oft genug erlittenen und mitangesehenen
sozialen Strafen ist.
Die psychologischen Nachwirkungen der Empfindung haben immer etwas
Allgemeineres, Verbreiteteres, die Zuspitzung zu der speziellen
Lokalisierung verliert sich, sie steigt gewissermassen zu ihrem genus
proximum auf; dies gilt schon für die Empfindungsschicksale de
Individuums, viel mehr noch für die der Gattung; der sehr allgemeine, der
Lokalisierung ganz entbehrende Gewissensschmerz zeigt durchaus diesen
Charakter.
Ist diese Vermutung die richtige, so reduziert sie die viel behandelte
Frag nach der sozial-ethischen Zweckmässigkeit der Reue, des
Gewissensschmerzes einfach auf die Frage nach der Zweckmässigkeit der
Strafe, von der jene nur die durch Gattungserfahrung organisch gewordene
Festigung, Verinnerlichung, aber auch Verallgemeinerung ist.
Der Instinkt wird bekanntlich am besten aus der praktischen Erfahrung
ungezählter Generationen erklärt; eine bestimmte zweckmässige Bewegung
wurde so lange wiederholt, dass sich schliesslich daraus ein
physiologischer Mechanismus konsolidierte, der nun ohne weiteres
Bewusstsein zu wirken anfängt, sobald die Bedingungen für Erregung
seines Anfangsgliedes gegeben sind - wie das eben ausgekrochene Hühnchen
das Korn aufpickt, sobald das Bild desselben in sein Auge fällt; und
gerade so lässt sich das (<408) Gewissen erklären, gewissermassen als
ein rückwärts gewandte Instinkt, der mit einer eintretenden Vorstellung
nicht ein vorzunehmende Bewegung, sondern einen an ihr haftenden Schmerz
assoziiert; verbindet der Instinkt eine Handlung mit einer Empfindung, so
verbindet das Gewissen die Empfindung mit einer Handlung.
Kann die Gattungserfahrung so im wirklichen Sinn des Wortes in Fleisch
und Blut übergehen, dass ein bestimmtes Vorstellen sofort die Erregung
motorischer Nervengruppen auslöst, so lässt sich ebenso annehmen, dass
sie auch eine Verbindung gewisser Vorstellungen mit sensiblen Nerven
zustande bringen kann; der einer blossen Vorstellung folgende Schmerz ist
nicht schwerer und nicht anders zu erklären, als eine jener folgende
Bewegungstendenz.
Und es wird auf diese Hypothese hin auch klarer, weshalb de
Gewissensschmerz aus der bösen Tat so viel schärfer und unausbleiblicher
ist, als die aus der sittlichen Tat quellend Gewissensfreude; das muss in
demselben Masse der Fall sein als die Strafe für die böse Tat häufiger,
sicherer und eindringlicher eingetreten ist, als eine Belohnung für die
gute.
Ich will indessen nicht leugnen, dass unsere Hypothese in ihrer
Anwendung auf die innerlichen Folgen des guten Handelns, der immerhin
vorhandenen Stärke derselben nicht ganz zu entsprechen scheint; die
Sittlichkeit ist, wie ich glaube, nie in dem Masse belohnt worden und
namentlich nicht in so direkt fühlbarer Weise, dass sich ihre Wirkungen
im Gewissen aus der Vererbung ihrer das Individuum betreffenden Folgen
herleiten liessen.
Ich möchte deshalb noch den folgenden Gedanken zur Erklärung des
Gewissens, und zwar nach seiner Lust- wie Unlustseite hin, zu Hülfe
nehmen.
Abgesehen von den eudämonistischen Wirkungen des Handelns für den
Handelnden selbst wird für seinen sozialen Kreis aus der sittlich
genannten Tat im allgemeinen Lust und Befriedigung, aus der unsittlichen
Leid und Depression quellen.
Diese Verbindung, die vielleicht sogar analytisch ist, hat sich
jedenfalls durch Vererbung ausserordentlich gefestigt, derart, dass wir
(<409) sogar bei der Kunde von einer sittlichen Tat, die uns weder
direkt noch indirekt im geringsten angeht, ein freudiges Gefühl,
andrerseits bei der Vorstellung einer schlechten Handlung ein gleich
unpersönliches Gefühl von Unlust haben.
Ich glaube nun, dass diese gattungsmässige Reaktion auf unsere
Handlungsweise nicht nur in unserer Umgebung, sondern auch in uns, den
Handelnden selbst, zur Geltung kommt.
Wie wir überhaupt in unserem Verhältnis zur Gattung zugleich Erben
und Erblasser sind, so sind wir als Handelnde nicht ausgenommen von
denjenigen Bestimmungen und Eigenschaften, die der soziale Kreis, insoweit
er passives Objekt der Handlungen seiner Mitglieder ist, erworben und uns
vererbt hat.
Wir sind in jedem Augenblick zugleich Individuen im engeren Sinn und
Gattungswesen.
Man könnte sagen, die Gattung in uns reagiert auf ein bestimmtes
Handeln in bestimmter Weise, gleichviel ob wir selbst zufällig auch die
Handelnden sind oder nicht.
Die Objektivität, mit der wir uns selber im Denken so gegenüber
stehen, dass wir uns wie dritte Personen beurteilen, gilt doch auch für
das Fühlen; unsere Handlung läuft für uns als Mitglieder einer
bestimmten Gesellschaft in das Gefühl aus, das ihr als Tat innerhalb
dieser zukommt und das unabhängig von demjenigen ist, das sie etwa für
uns als Vollbringer dieser Tat nach sich zieht.
Es handelt sich hier also noch nicht um den realen Erfolg für die
Gesellschaft, von dem ein Teil natürlich auf uns zurückfällt: wer die
Gesamtheit schädigt, der mag persönlich davon in einer Hinsicht
profitieren, aber er muss sich von diesem Gewinn den Abzug gefallen
lassen, den er als Mitglied der geschädigten Gesellschaft erleidet; und
entsprechend auch bei Förderung der Gesamtheit.
Dies ist hier nicht gemeint, sondern das von den früheren derartigen
Vorkommnissen her mit der Tat assoziierte vererbte oder sonst
überlieferte Gefühl.
Danach wäre das Gewissen die Lust oder Unlust der Gattung über die
Tat, die in uns zu Worte kommt, und nur deshalb in erhöhtem Grade, wenn
wir selbst als wenn Andere sie vollbringen, weil das (<410) Interesse
sich ihnen in diesem Fall natürlich mit besonderem Nachdruck zuwendet.
Weil indes ausser den genannten Momenten wahrscheinlich noch eine ganze
Anzahl anderweitiger zur Erklärung des Gewissens herangezogen werden
muss, weil es eben trotz der schliesslichen Einheit und Einfachheit, mit
der es in die Erscheinung tritt, wahrscheinlich aus dem Zusammentreffen
höchst heterogener Ursachen hervorgeht, liegt auf der Hand, dass sein
Verhältnis zu unseren Handlungen nur ein ungewisses und schwankendes sein
kann; darf man zwar im Allgemeinen darauf rechnen, dass es zur
Ausgleichung des eudämonistischen Verhaltens mit dem sittlichen
beiträgt, so verhindert doch die historisch-genetische Anschauung ihm
gegenüber, ihm die mystische Rolle einer absoluten Vergeltung
zuzuschreiben.
Man wird vielleicht sogar sagen können: zugegeben, dass der Böse
überhaupt eine innere Strafe, der Gute einen inneren Lohn findet, - wovon
allerdings auch noch Ausnahmen vorkommen, die aber vielfach eine
psychopathische Deutung zulassen - so steht doch das Mass, in dem der
eudämonistische Erfolg eintritt, keineswegs im geraden, sondern eher im
umgekehrten Verhältnis zu der ethischen Qualität der Person.
Dies scheint mir aus der Anpassung des Gefühls an den gewohnten
Charakter der Handlungen hervorzugehen.
Je häufiger Unsittlichkeit geübt wird, desto mehr stumpft sich das
Gewissen dagegen ab, so dass die von ihm ausgehende Strafe um so geringer
wird, je häufiger sie verdient wird.
Der schlechte und verdorbene Charakter hat also tatsächlich einen
Glückseligkeitsvorsprung vor dem weniger demoralisierten, während der im
Allgemeinen sittliche Mensch oft für die kleinste Übertretung die
nagendste Reue, den tiefsten Gewissensschmerz empfindet; so dass in dieser
Hinsicht geradezu von einer Unsittlichkeitsprämie gesprochen werden kann.
Die Feinheit und Strenge des Gewissens nimmt zu und ab im umgekehrten
Verhältnis der Häufigkeit der daran appellierenden Fälle und die von
ihm ausgehende Unlustfolge des Lasters, (<411) wenn auch generell
zugegeben, gestaltet sich im Einzelnen gerade zum Gegenteil einer
angemessenen Ausgleichung.
Der Schmerz der Reue ist als ein Gegenstück zu dem Schmerz der
Selbstüberwindung, der Askese, anzusehen.
Beide haben ihren Wert ursprünglich nur in den positiven Zuständen,
zu denen sie gehören, wenn auch, wie wir sehen werden, in verschiedenem
Sinne.
Bei beiden verfestigt sich der Schmerz, der nur eine Begleiterscheinung
des sittlichen Prozesses ist, zu einem für sich bestehenden, über sich
nicht hinausfragenden Wert.
Mit derselben Leidenschaftlichkeit, mit der sich der Asket in sein
Leiden versenkt, bohrt sich der Reuige in den Schmerz über seine Missetat
ein und verlangt mancher Verbrecher selber nach der äusseren Strafe.
Habe ich vorhin die Reue ihrer Entstehung nach als einen rückwärts
gewandten Instinkt bezeichnet, so kann sie jetzt ihrem Inhalt nach als
vorwärts gewandte Askese gelten.
Denn wenn der Schmerz, der sich zur Askese steigerte, eintrat, so war
damit oder richtiger davor schon die Selbstüberwindung, der sittliche
Akt, gegeben; der sittliche Entschluss ist gefasst, und der Schmerz
entsteht nun dadurch, dass noch unsittliche, egoistische oder
eudämonistische Antriebe zu überwinden sind.
Umgekehrt ist bei der Reue die Unsittlichkeit schon vollkommen
überwunden und ihr sozial-evolutionistischer Zweck besteht in der
Besserung für die Zukunft.
Dieser Unterschied ist freilich insofern nur ein relativer oder
quantitativer, als sowohl die Askese wie die Reue auch das an dem anderen
hervorgehobene Moment enthält: die Askese ist gleichfalls ein
Durchgangspunkt zu künftiger vollendeterer Sittlichkeit und die Reue hat
gleichfalls ein Hinzutreten des sittlichen Impulses zum unsittlichen zur
Voraussetzung.
Allein die Betonung dieser qualitativ gleichen Bestandteile ist eine
verschiedene und sie liegt bei der Reue entschieden auf dem Moment der
Zukunft.
Dies gibt übrigens dem Gedanken Raum, dass vielleicht eine
weitergehende Differenzierung dieser letzteren Seite der Reue eine immer
selbständigere (<412) psychologische Existenz verschaffen wird.
Von dem Januskopf, den sie zeigt: dass sie einerseits als Schmerz über
die Tat nach der Vergangenheit hin sieht, andrerseits als Vorsatz des zu
Tuenden nach der Zukunft - ist doch nur das letztere nutzbar und eine
gesteigerte Zweckmässigkeit wird vielleicht dies allein bestehen lassen,
ohne dass es des Zusatzes und Umweges des Schmerzes bedarf, der doch an
und für sich ein Übel und eine Kraftverschwendung ist.
Für den Augenblick erscheint er freilich noch als unentbehrliche
psychologische Zwischenstation des Weges zwischen der Unsittlichkeit und
der Sittlichkeit, - eine Station, die demgemäss um so seltener erreicht
wird, je weniger man auf diesem Wege vordringt, die also dem generell
Unsittlichen am häufigsten erspart bleibt.
Von der Seite der Tugend her kommen wir zu dem entsprechenden Resultat.
Auch an das sittliche Handeln kann eine derartige Gewöhnung eintreten,
dass es keine wesentliche Gefühlsreaktion mehr auslöst.
Je sittlicher der Mensch ist, desto strenger sind seine Anforderungen
an sich selbst, desto seltener ist er mit sich selbst zufrieden, desto
geringer ist also der Lohn an innerem Glück, den er aus seinem Handeln
zieht.
Mit der steigenden Sittlichkeit des Handelns wächst auch die Höhe des
Ideals und zwar meistens in rascherer Progression als seine Realisierung,
und während sich der sittliche Mensch an das Mass seiner tatsächlichen
Sittlichkeit anpasst, wird sich der Unterschied eben dieser von dem Ideal
für sein Bewusstsein immer mehr verschärfen, von beiden Seiten her also
eudämonistische Minderung eintreten.
Schwächliche, eitle und unsichere Charaktere gewinnen viel mehr Lust
aus dem Bewusstsein einer gelegentlichen sittlichen Handlung, sei es wegen
niederer idealer Ansprüche, sei es wegen der auf Selbstbefriedigung
gerichteten Lebenstendenz, sei es, weil sich bei ungleichem und
schwankendem sittlichem Verhalten die Unterschiedsempfindlichkeit frischer
erhält, so dass hierdurch wieder die relative Seltenheit der Tugend durch
das lebhaftere mit ihr verbundene Glückseligkeitsgefühl eine Prämie
erhält.
Wie gerade der Unsittlichste den (<413) relativ geringsten
Gewissensschmerz empfindet, so empfindet gerade der Sittlichste die
geringste Gewissensfreude.
Viel komplizierter stellt sich das Verhältnis zwischen Tugend und
Glückseligkeit natürlich dar, wo nach der Verursachung äusserer
Glücksbedingungen durch sittliches Verhalten gefragt wird, wie das der
gewöhnliche Sinn der Frage ist, ob es dem Guten auf Erden gut und dem
Bösen schlecht zu ergehen pflege.
Die Beantwortung derselben hängt nun vor allem davon ab, ob die
sittlichen Qualitäten, um deren Folgen es sich handelt, allen Mitgliedern
einer Gesamtheit eigen seien oder nur die auszeichnenden Eigenschaften
einer gewissen Anzahl derselben bilden sollen.
Die Unsittlichkeit hat nämlich sowohl ihrem Ursprung wie ihrem Erfolg
nach zur Voraussetzung, dass die Gesamtheit sich anders verhalte.
Schon psychologisch würde der bösen Gesinnung das eigentlich
Verurteilenswerte fehlen, wenn es Niemanden gäbe, der eine andere hätte;
wie nur derjenige Mensch wirklich zu verurteilen ist, in dessen
Bewusstsein sich neben den bösen Antrieben auch noch sittliche finden,
die ihm zeigen, was er tun sollte, und an denen sich das Mass seiner
Schuld feststellt, so bedarf es auch unter den Individuen eines
Unterschiedes, der allein das Bewusstsein eigener Unsittlichkeit erregt,
damit die wirkliche Schuld zuwege bringt und überhaupt das Gute und Böse
als Urteilskategorien, Anderen wie sich selbst gegenüber, erst schafft.
Dazu kommt das noch Wesentlichere, dass die äussere, sozusagen die
technische Möglichkeit des Bösen meistens Verhältnisse voraussetzt, die
nur durch eine gewisse Herrschaft des Guten möglich sind und die das
Böse nun seinerseits zerstört; es würde eben nichts zu zerstören
haben, würde seine egoistischen Zwecke überhaupt nicht sich vorsetzen
können, wenn es nicht jene, anderer Gesinnung entstammenden Gebilde
gewissermassen als Objekte sich gegenüber fände.
Die Treue und Glauben, auf welche der Verkehr der Menschen zum
überwiegenden Teile gegründet ist, hat diese aufbauende Wirkung nur
dadurch, dass die ungeheure (<414) Majorität der Handlungsweisen sich
tatsächlich daran bindet, und nur daraus geht der Vorteil hervor, den der
Betrüger durch Verletzung dieser als selbstverständlich vorausgesetzten
Treue und Glauben gewinnt; bänden sich nicht die Anderen daran, so
würden sie es weder bei ihm voraussetzen, noch wären überhaupt die
Verkehrsformen geschaffen, die Jener nun zu seinem Vorteil missbrauchen
kann.
Nur der kann ein Vertrauen unsittlicherweise täuschen, dem es
sittlicherweise geschenkt wird.
Die dämonische Unsittlichkeit, die ihre Lust gerade darin findet, zu
tun, was verboten ist, zu zerstören, was aufgebaut ist, zu gemessen, was
einem Anderen zukommt, - sie ist doch nur dadurch möglich, dass eine
öffentliche Sittlichkeit Normen, Institutionen, Eigentum geschaffen hat;
der Reiz des Ehebruchs z. B., der für gewisse Naturen die eigentliche
Würze des sexuellen Verkehrs mit einer Frau ist, würde nicht auftreten,
wenn nicht die Einrichtung der Ehe existierte, die einen hohen Grad
allgemein vorhandener Sittlichkeit voraussetzt. Wenn Frauen, die die
Schranken der Sittlichkeit durchbrochen haben, vielfach Erfolge erringen,
die mit ihren naturgegebenen Reizen offenbar in gar keinem Verhältnis
stehen, so liegt dies daran, dass sie in der Degagiertheit des
Sich-Gebens, der Freiheit der Meinungen, der Offenheit in deren Aussprache
viele Reize zeigen können, deren Entfaltung sich die anständige Frau
selbst untersagt.
Die Voraussetzung für das, was sie durch ihre Unsittlichkeit voraus
haben, ist die Sittlichkeit der anderen Frauen, die deren
Wesensäusserungen dämpft und vielfach unterdrückt, und ihr Vorsprung
würde aufhören, wenn alle sich in gleicher Weise gäben.
Überhaupt: der ganze soziale Zusammenhalt, innerhalb dessen allein der
Unsittliche seinen Charakter offenbaren, seine Ziele und die Mittel zu
ihnen finden kann, würde bei allgemeiner Unsittlichkeit weder entstehen
noch bestehen können.
Der Zweck dieser Ausführung liegt in der Einsicht, dass man von einer
Glücksfolge der Unsittlichkeit nur unter der (<415) Voraussetzung
sprechen kann, dass diese Unsittlichkeit keine allgemeine ist; nur wenn
die unsittlichen Persönlichkeiten mehr oder weniger Ausnahmen bilden,
können sie eudämonistische Erfolge erzielen, die in dem Mass der
Verbreitung ihrer Gesinnung abnehmen.
Die Möglichkeit dieser Glücksfolge überhaupt ergibt sich vielleicht
am klarsten aus der Inkongruenz, die zwischen der Legalität und der
Moralität besteht.
Jede äussere Gesetzgebung nämlich, die der Sitte und der
gesellschaftlichen Ehre eingeschlossen, hat Lücken, an denen sie sich mit
der moralischen nicht deckt und von denen derjenige profitiert, der nicht
von innen heraus durch die letztere gefesselt wird; der gewissenlose
Schurke, der die äusseren Gesetze, aber auch nur diese beobachtet, kann
unzählige Vorteile erringen, die der innerlich Gewissenhafte sich selbst
verbietet.
Er hat also von vornherein einen Vorsprung, eine Waffe mehr im Kampf
ums Dasein.
Jener politische Grundsatz: Wo eine Freiheit ist, da ist auch eine
Steuer, gilt für diesen Fall nicht.
Wer sich vornimmt, sich von keiner Schranke hemmen zu lassen, ausser
der äusserlich gesetzlichen und also von seinem eigenen Interesse
gezogenen, hat in der Tat eine Freiheit, für die er keine Steuer zu
zahlen braucht -die Anderen zahlen sie für ihn.
Man könnte dies übersichtlich so darstellen:
(<416) Aufgabe der Kultur ist es, den Rayon der straflosen
Schlechtigkeit, die Prämie auf Gewissenlosigkeit in Erlangung äusserer
Glücksbedingungen, immer mehr zu verengern, die Verhältnisse so zu
gestalten, dass sie auf jegliche Immoralität mit Schmerzzufügung
reagieren.
Unsere rechtliche Verfassung, im Bewusstsein diesem Ziele zuzustreben,
nimmt seine Erreichtheit schon vorweg, indem sie die Privatrache
verbietet.
Unvollkommenere Rechtszustände oder leidenschaftlicheres Naturell
gestatten und fordern eine strafende Rückwirkung des Einzelnen auch auf
die Taten des zweiten Rayons.
Noch in hochgebildeten Zeiten, wie in der italienischen Renaissance,
wird es vorbehaltlos anerkannt, dass dort, wo die Allgemeinheit die
Bestrafung noch nicht in objektiv und subjektiv genügender Weise in die
Hand nimmt, der Einzelne sich selbst Recht schaffen dürfe; indem die
Privatrache verboten wird, ist offenbar wenigstens das kleinere Übel
gewählt, zugleich aber der Rayon des Gewissenlosen ihm relativ gesichert.
Wenn der religiöse Vorstellungskreis den Satz enthält: »Die Rache
ist mein, spricht der Herr« - so führt er diesen Prozess weiter und
erstreckt ihn auch auf diejenigen Handlungen, für welche die Privatrache
vom irdischen Recht nicht verboten ist; er setzt voraus, dass der
Unsittliche seine Strafe schon durch die objektive Weltordnung erhält.
Es findet hier ein Differenzierungsprozess statt; im Zustande der
Selbsthilfe, der privaten Sühnung der Unsittlichkeit verschwimmt noch die
Grenze des Erlaubten und des Strafbaren, die einzelne Handlung erscheint
bald unter der einen, bald unter der anderen Kategorie; fortschreitende
Entwicklung sondert das eine entschiedener vom anderen, sichert der
strafbaren Handlung ihre Strafe, der erlaubten ihre Freiheit.
Ohne nun fragen zu wollen, ob das Weiterführen dieser Differenzierung
nicht schliesslich zu einer unerträglichen Reglementierung des Handelns
führen würde, sei nur festgestellt, dass so lange sie eben noch nicht
auf jegliche unsittliche Handlung soziale Bestrafung gesetzt hat, der
Unsittliche eine Anzahl eudämonistischer (<417) Möglichkeiten
besitzt, die dem Gewissenhaften als solchem verschlossen sind.
Auch was das positive Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und den
Mitteln der Glückseligkeit betrifft, finden sich einige prinzipielle
Inkongruenzen.
Fassen wir einmal den unmittelbaren Dienst der Allgemeinheit ins Auge,
so findet sich vielfach die Erscheinung, dass die niedrigere und
schlechter entlohnte Arbeit doch die anstrengendere, doch den grösseren
Aufwand von Können und Willen fordernde Ist.
Innerhalb mancher Beamtenkategorien bedeutet das Aufsteigen von einer
gewissen Stufe ab immer weniger Arbeit und immer mehr Gehalt.
Soziale und politische Gründe, die hier nicht zu erörtern sind,
fordern oft die Einrichtung von Stellungen, die entweder vollkommene
Sinekuren sind oder nur in selten eintretenden Fällen wirkliche
Tätigkeit verlangen.
Wenn allein das Verhältnis gerecht scheint, dass der höchste Lohn an
Stellung, Besitz, Rechten usw. nur der höchsten und wirksamsten Leistung
folge, so ist es vielleicht nie vollkommener umgekehrt worden, als in dem
vorrevolutionistischen Frankreich, in dem alle Institutionen darauf
hingingen, die höheren Stände mit allen Mitteln zu Macht und Genuss
auszustatten und sie zugleich von allen Leistungen zu dispensieren,
während umgekehrt dem niederen Volk das Tragen aller Lasten und zugleich
der vollkommene Verzicht auf alle die Dinge zugemutet wurde, die nun
einmal als Bedingungen des Glücks erscheinen.
Und diese Diskrepanz zwischen Leistung und Lohn, die man doch als
Gestaltungen von Tugend und Glückseligkeit in äusserer Form, wenn auch
als einseitige, betrachten darf, hat in irgend einem Grade stets und
überall bestanden, zum Teil aus Gründen, die zu beseitigen möglich, zum
Teil aus solchen, von denen dies nicht zu hoffen ist.
Ich führe einige an.
Hat die gesellschaftliche Entwicklung zur Fixierung einer Stellung nach
Rang, Tätigkeit, Entlohnung geführt und zwar in einer für die
augenblickliche Lage durchaus zweckmässigen Proportion dieser
Bestandteile, so wird diese (<418) Proportion durch Weiterentwicklung,
oft wesentlich verändert, und zwar schon deshalb, weil jene Elemente ganz
verschiedene Anpassungsfähigkeit zeigen.
Eine bestimmte Stellung kann allmählich neue Funktionen, gewachsene
wie geminderte, erfüllen, während ihre Entlohnung noch als Rudiment des
früheren Zustandes bestehen bleibt, und ebenso umgekehrt.
Sie kann verantwortlicher werden, einen höheren Grad von Fleiss und
Treue fordern und doch auf der Stufe des gesellschaftlichen Ansehens
beharren, die den früheren für sie nötigen Eigenschaften entsprach usw.
Hier kann wachsende Variabilität und vervollkommnete Anpassung viel
gut machen.
Eine Form des Sozialismus findet sich mit der ganzen Schwierigkeit
kurzer Hand ab, indem sie die Entlohnungsfrage überhaupt ausstreicht;
schwierige und leichte, geistige und kommune Arbeiten werden mit dem für
Alle gleichen Lebensunterhalt gelohnt; oder vielmehr gilt dieser nicht
irgendwie als Lohn für jene, es besteht zwischen beiden nicht nur kein
quantitativer, sondern nicht einmal ein begrifflicher Zusammenhang.
Wenn überhaupt nicht mehr der Lohn das Motiv der Arbeit ist, so ist es
auch überflüssig, für die schwierigere Arbeit höheren Preis
auszusetzen.
Man hat nach dieser Richtung geltend gemacht, dass in der Gelehrtenwelt
schon heute eine derartige Verfassung herrsche: die Leistung des Gelehrten
würde, wenigstens vielfach, aus rein sittlichem, selbstlosem Interesse
vollbracht und ihre äussere Entlohnung stehe in gar keinem Verhältnis zu
ihrer Schwierigkeit.
Nun soll nicht geleugnet werden, dass ein solcher Zustand wenigstens
ausdenkbar ist, in dem weder die Not noch ein egoistischer Trieb, noch ein
äusserer Zwang irgendwelcher Art zur Arbeit antreiben, sondern diese
ausschliesslich aus Interesse an der Sache und sittlicher Hingabe an die
Allgemeinheit geschieht.
Angenommen aber, er wäre aus der Utopie in die Wirklichkeit
übertragen, so würde sich ein eigenartiger Widerspruch hervortun.
Das Interesse an der Sache, das allerdings jeden (<419) äusseren
Lohn zu ersetzen im Stande ist, ist in erheblicherem Masse doch nur bei
den schöpferischen und geistigen Tätigkeiten vorhanden.
Dieser Reiz fehlt den niedrigen, mechanischen, von den jetzigen
Proletariern ausgeführten Funktionen, die keine Ansprüche an die
geistigen Kräfte stellen, aber um so mehr an die körperlichen, an
Ertragen ästhetischer Unannehmlichkeiten und langweilig mechanischen
Tagewerks.
Für diese bleibt also, wenn sie nicht durch Lohn oder Zwang provoziert
werden sollen, nur die sittliche Hingabe an die Allgemeinheit, der man
damit dient, als Motiv übrig.
Es stellt sich also die wunderliche Erscheinung ein, dass gerade an die
Arbeiter der niedrigsten Klasse, die an die gröbste, äusserlichste und
einseitigste Arbeit gefesselt sind - dass an diese der Anspruch des
höchsten und schwersten Idealismus gestellt wird.
Im Bergwerk unter Tage zu, arbeiten, Senkgruben auszuräumen, die
gefährlichen Dienste des Lokomotivführers, des Arbeiters in der
chemischen Fabrik zu tun, nur auf Gründe der Sittlichkeit hin und ohne
einen Lohn dafür zu erhalten, erfordert offenbar einen so dauernden und
tiefen Enthusiasmus für die Allgemeinheit, der man damit dient, wie er
sich psychologisch bei so niedrigen, eingeengten, geistlosen
Lebensbeschäftigungen schwerlich einstellen dürfte.
Die unidealste Tätigkeit bedürfte also zu ihrer Vollziehung gerade
eines Maximums von Idealismus, die lähmendste und herabziehendste der
grössten sittlichen Schwungkraft der Seele.
Und ich sehe nicht, wie man diesen psychologischen Widerspruch des
Sozialismus beseitigen könnte, es sei denn durch die Behauptung, dass es
in jenen idealen Zuständen vermöge der Vollendung der Technik überhaupt
keine derartig unangenehmen und niedrigen Arbeiten mehr geben würde -
eine Hoffnung, deren sich jedes andere Verfassungsideal ganz ebenso
bedienen kann, um zu zeigen, dass unter seiner Herrschaft von Not und Neid
nicht mehr die Rede sein wird.
Die Aufhebung des Lohnes überhaupt verlegt also nur die
Disproportionalität; statt zwischen der Arbeit und ihren (<420) Folgen
lässt sie sie zwischen der Arbeit und ihren Motiven auftauchen.
Ja, die folgende Überlegung zeigt eine solche zwischen der Leistung
und der Lebenshaltung, die auch eine jeden Lohn ablehnende Sozialtheorie
nicht scheint beseitigen zu können.
Alle Kultur nämlich beginnt nicht nur mit einer qualitativen
Arbeitsteilung, infolge deren die verschiedenen Teile einer ursprünglich
nicht getrennten Tätigkeit von verschiedenen Personen ausgeführt werden,
sondern auch mit einer quantitativen, nach der der Eine viel, der Andere
wenig arbeitet -alle Kultur, wie gesagt, beginnt mit dieser Arbeitsteilung
und kann sie, wenigstens vorläufig, nicht überwinden.
Nun würde die Gleichheit der äusseren Glücksbedingungen für den
viel und den wenig Arbeitenden, ja die häufige Bevorzugung des Letzteren
noch nicht ungerecht sein, wenn die Arbeit dieses, obgleich quantitativ
gering, doch die höhere, feinere, kondensierter wäre.
Allein so lassen sich die Tatsachen nicht deuten.
Die Menschen der feineren und geistigeren Tätigkeit, die bei einem
vielfach müssigen und geniessenden Leben doch die höchsten Kulturgüter
hervorbringen und von höchstem Wert für die Allgemeinheit sind, bilden
immer nur eine geringe Prozentzahl aller derjenigen, die sich in der
gleichen äusseren Lage befinden.
Denn abgesehen von jenen grössten Genies, die zugleich mit der
grössten Charakterstärke ausgestattet sind und vermöge dieser sich
durch alle widrigsten Schicksale hindurch Bahn brechen, gehört eine
gewisse glückliche Sorglosigkeit und bequeme äussere Lage dazu, um die
feineren Fähigkeiten im Menschen zu entwickeln; da man nun aber nicht von
vornherein wissen kann, in wem solche Fähigkeiten schlummern, so muss die
Gesellschaft einer grösseren Anzahl von Individuen von vornherein
Lebensbedingungen gewähren, deren Annehmlichkeiten in keinem Verhältnis
zu ihren Leistungen für die Gesellschaft stehen - auf die Chance hin,
dass unter ihnen sich einige finden werden, die diese Lage zur Produktion
der höheren Kulturgüter anreizt; wie die Knappheit der Lebensbedingungen
und der Kampf ums (<421) Dasein Fähigkeiten entwickelt, so gibt es
andere, die nur durch die Reichlichkeit jener und in den
Waffenstillstandes dieses Kampfes zur Blüte kommen.
Ob dies nun durch Duldung einer irgendwie gestalteten Sklavenwirtschaft
oder des Kapitalismus oder durch die providenziellen Einrichtungen des
Sozialismus geschehe, ist gleichgültig für die Notwendigkeit, dass bei
unserer mangelhaften Erkenntnis vorhandener Talente vor ihrer Entwicklung
einer ganzen Anzahl von Menschen diejenige Musse und Lebensfreude gewährt
werden muss, die geeignet ist, etwa vorhandene Talente unter ihnen zu
derjenigen Entwicklung zu bringen, die die Gesellschaft zu ihrem
Fortschritt braucht; die übrigen aber bleiben sozialer Ballast, unnütze
Mitesser, deren äussere Glücksbedingungen in keinem Verhältnis zu ihrem
Verdienst um die Gesellschaft stehen und die doch nicht entbehrt werden
können; wenn
man reines Gold haben will, so muss man doch die Schlacken mit
ausgraben, in deren Verbindung allein es sich findet.
-Diese Ungerechtigkeit zeigt übrigens eine geringere Schärfe, wenn
wir an die Stelle der individualistischen Betrachtungsweise eine
kollektivistische setzen.
Fassen wir nämlich die Gesamtheit der so a priori bevorzugten
Persönlichkeiten zu einer Gruppe zusammen, so stellt nach unserer
Voraussetzung die Gesamtleistung derselben einen höheren Wert dar, als
die Gesamtopfer für sie betragen.
Diese Opfer sind die unumgängliche Bedingung für jene
Kulturförderungen, die mit ihnen zusammen, d. h. nach Abzug ihrer, eine
Erhöhung der sozialen Bilanz ergeben.
So betrifft doch auch, wenn die Aufwendung einem einzelnen zweifellos
sehr nützlichen Individuum gilt, die ihm gewährte eudämonistische
Lebenshaltung nicht nur genau diejenigen Teile seines physisch-psychischen
Organismus, die seine soziale Nützlichkeit unmittelbar produzieren;
sondern, zum Teil weil man diese von den sozial gleichgültigen nicht zu
trennen weiss, zum Teil weil sie vermöge der organischen Verbundenheit
mit den letzteren doch auch von diesen indirekt mitgefördert und getragen
werden,.(<422) muss die Gesamtheit des Menschen in einen gewissen
eudämonistischen Zustand versetzt werden, dessen eigentlicher Zweck doch
nur in einem kleinen Teil seiner Lebensäusserungen liegt.
In dem Masse nun, in dem die Gesamtheit der in relativ sorgloser und
arbeitsfreier Lage befindlichen Menschen als Einheit, als Sozialindividuum
angesehen wird, gilt für sie die gleiche Rechtfertigung ihres Zustandes.
Darum ist die ständische Gliederung der Gesellschaft die günstigste
Form, in der eine Durchfütterung sehr vieler Individuen geschehen kann,
damit wenigen aus ihnen, vorher nicht erkennbaren, die Produktion
origineller Kulturförderungen ermöglicht werde.
Solange bestimmt charakterisierte, Anderen gegenüber als geschlossene
Einheit geltende Stände die Kultur tragen, wird diese Leistung und ihre
ökonomisch soziale Begünstigung sozusagen auf ein einziges Konto
geschrieben, und die Verteilung ihrer Aktiva und Passiva auf verschiedene
Individuen kommt angesichts der Einheit des Ganzen, an dem diese nur
Glieder sind, relativ wenig zum Bewusstsein.
Erst wenn bei wachsender Differenzierung die Geschlossenheit der
Stände zersplittert, wenn das Individuum sowohl sachlich mehr auf sich
selbst gestellt und weniger von seiner engeren Gruppe getragen wird, als
auch von Anderen individuell und nicht als blosses Glied dieser letzteren
beurteilt wird - erst dann tritt die Ungerechtigkeit davon hervor, dass
einer grossen Anzahl von Individuen eine unverdient glückliche Lebenslage
gegönnt wird, damit die wenigen unter ihnen, in denen die latenten
Kulturkräfte liegen, die Möglichkeit zu deren Entwicklung haben.
Der positiven Leistung gegenüber begegnen wir nun einer doppelten
Ungleichmässigkeit ihres Kausalverhältnisses zum Lohn.
Zunächst entlohnt die Gesellschaft die für sie wertvollere Leistung
oft genug schlechter oder wenigstens nicht besser als die weniger
wertvolle.
Dies bedarf der Hervorhebung nur gegenüber dem Dogma, dass Seltenheit
und Brauchbarkeit den Wert der Leistung bestimmen, dass sie die (<423)
allein bewegenden Kräfte für Angebot und Nachfrage bilden und den Preis
der Ware oder der Tätigkeit genau regulieren.
Allein die Brauchbarkeit ist kein objektiver Faktor, keine sachlich
festzustellende Grösse; dass etwas gebraucht wird, ist nicht unbedingt
gültig zu erweisen, weil Brauchbarkeit einen Zweck voraussetzt, zu dem
der Gegenstand gebraucht wird, und ob ich mir diesen Zweck setze oder
nicht, Sache der unberechenbaren Subjektivität ist; ausserdem aber hängt
die so begründete Preisbestimmung weiterhin nicht davon ab, ob der
angebotene Gegenstand zu dem wirklich gesetzten Zwecke brauchbar ist,
sondern ob er dafür gehalten wird, was unvermeidlicherweise zahllose
Irrtümer hervorrufen muss, die sich dann praktisch als Ungerechtigkeiten
der Entlohnung zeigen.
Aber angenommen selbst, Seltenheit und Brauchbarkeit seien
gleichmässig objektive Grössen, so bestimmen sie doch nicht aus sich
heraus den Preis der Leistung, und dieser ist keineswegs eine stetige
Funktion jener.
Vielmehr ist die Entlohnung davon abhängig, ob der auf Seltenheit und
Brauchbarkeit zu gründende Anspruch auch wirklich geltend gemacht wird;
und ob dies überhaupt resp. in der richtigen Weise geschieht, hängt von
sehr vielen äusseren und inneren Bedingungen ab, die zu klar am Tage
liegen, um noch der Beleuchtung zu bedürfen.
Die Formel, die man auf allen Gebieten so oft wirksam findet: dem
Reichen wird gegeben, dem Armen wird genommen, zeigt auch hier ihre
tragische Wahrheit; je tiefer die soziale resp. wirtschaftliche Stellung
Jemandes ist, je weniger er mit seiner Arbeit schon errungen hat, desto
schwerer wird es ihm, den dem objektiven Wert seiner Leistung angemessenen
Lohn zu erringen; das wirtschaftliche Recht des Armen findet ebensoviele
Schwierigkeiten, sich durchzusetzen, wie sie sich oft seinen
prozessualischen Ansprüchen selbst da noch entgegenstellen, wo Gesetz und
Richter keinen Unterschied der Person anerkennen.
In ethischer Beziehung ist aber nun eine zweite Ungleichmässigkeit
zwischen Leistung und Lohn noch bedenklicher.
(<424) Zwei Tätigkeiten mögen in Hinsicht auf alles Subjektive:
Bemühung, Gesinnung, Fähigkeit genau gleichwertig sein, so kann doch ihr
Wert für die Gesellschaft, den diese zum Massstab ihrer Entlohnung macht,
sehr verschiedene Grösse haben, und umgekehrt bewirkt die Zufälligkeit
der sozialen Lebensbedingungen, dass eine leichtere und eine schwerere
Leistung von ganz gleicher objektiver Wichtigkeit und deshalb oft auch von
dem gleichen Lohnerfolge sind.
Ich erinnere z. B. an die Wirkung der räumlichen Entfernung zwischen
Produktions- und Konsumtionsort.
Je nach der Grösse derselben variiert die Entlohnung der in jeder
objektiven und subjektiven Hinsicht völlig identischen Leistung.
Der bekannteste Fall jenes Missverhältnisses liegt aber da vor, wo die
Häufigkeit des Angebotes den Preis herabdrückt.
Hier scheint ein Unterschied des sozialen Wertes von dem eigentlich
sittlichen Werte vorzuliegen.
Das Verdienst der sittlichen Handlung erscheint als das gleiche, ob nun
neben mir hundert Andere ebenso oder besser oder schlechter handeln.
Wie es in religiösen Dingen keine eigentliche Konkurrenz gibt, sondern
für Alle Platz in Gottes Hause ist, so fehlt auch im bloss Sittlichen
jener Wettbewerb, der die Leistung des Einzelnen um so minderwertiger
macht, von je mehren sie in gleicher Weise geleistet wird.
Dieses aber findet bekanntlich im Wirtschaftlichen im höchsten Masse
statt und schafft die grösste
403
Disproportionalität zwischen der Leistung des Arbeiters in jeder
subjektiven Beziehung einerseits und ihrer sozialen Entlohnung
andrerseits.
Nicht nur indem wir die Arbeit als eine sittliche Leistung ansehen,
folgt hieraus die Unmöglichkeit, der Sittlichkeit eine sichere
Glücksfolge zuzuerkennen, sondern vor allem ergibt sich dies aus der
Überlegung, dass die eigentliche und innerliche Sittlichkeit jedenfalls
noch weniger Macht zur Realisierung unserer eudämonistischen Wünsche,
noch weniger Einfluss auf die gerechte Gestaltung der äusseren
Verhältnisse besitzt, als ihre sichtbare Erscheinung in der Form der
Arbeit; wozu noch kommt, dass die andere (<425) Seite der geforderten
Proportion, das Glück in seinem ganzen Umfang, auch ihrerseits noch auf
viel komplizierteren Voraussetzungen ruht, als die einseitige Bedingung
desselben, die wir behandelten, der äussere Lohn der äusseren Arbeit.
Ist nun dieser letztere schon aus den angeführten Gründen nicht in
gerader Proportion zu den Mühen der Arbeit zu erzielen, so liegt auf der
Hand, wie viel weniger noch jenes von beiden Seiten her noch viel
schwierigere Verhältnis zwischen Tugend und Glückseligkeit durch innere
Zusammenhänge, gewissermassen durch Selbstregulierung in einer Weise
gestaltet wird, die unserer idealen Gerechtigkeitsforderung entspricht.
III. Vielleicht greift die umgekehrte Lehre tiefer.
Es ist jedenfalls psychologisch ein feinerer Gedanke, dass
Glückseligkeit die Ursache des sittlichen Verhaltens sei.
Aus einer gedrückten, unglücklichen, misszufriedenen Seele könne
höchstens ein legales, dem Sittengesetz sich äusserlich fügendes
Verhalten von gewissermassen knechtischem Charakter stammen, aber nicht
die wirklich freie Sittlichkeit, nicht diejenige, in welcher die Seele
sich ganz auslebt, ohne dass ein unversöhnter Rest bliebe.
Nur aus der innerlichen Harmonie der Seele heraus, aus der Einheit
ihrer Triebe, die keinem von ihnen einen unbefriedigten Anspruch übrig
lässt, könne die völlige Hingabe an die sittliche Idee erfolgen.
In der Tat wird man von der schönen Seele, wie ich sie im Kapitel
über Verdienst und Schuld geschildert habe, sagen können, dass sie
glücklich sei - nicht weil sie sittlich ist, sondern umgekehrt, der
Zustand, aus dem ihre Sittlichkeit quillt, ist Glückseligkeit.
Nach jenen Ausführungen ist die Sittlichkeit keine absolute, so lange
noch entgegengesetzte Antriebe in der Seele mächtig sind; und gewiss wird
der Kampf zwischen den feindlichen Kräften ein Gefühl von Leid und
Schmerz erzeugen, gewiss wird die Versuchung, der wir doch nicht oder
nicht widerstandslos nachgeben, es zu einer völligen Zufriedenheit nicht
kommen lassen; die Beseitigung dieser Hindernisse bedeutet nach der
Empfindungsseite hin Glück und lässt aus diesem (<426) Zustand die
vollkommene Sittlichkeit hervorgehen.
Mehr äusserlich gefasst, wird der Glückliche deshalb eher sittlich
sein, weil er für sich ja seine Wünsche erreicht und also keine
Veranlassung mehr hat, die Interessen Anderer um des seinigen willen zu
schädigen; man könnte sagen, es ist leicht, sittlich zu sein, wenn man
glücklich ist.
Das Christentum konnte die Moral seiner Anhänger gar nicht besser
fördern, als indem es ihnen die ewige Seligkeit samt ihrer irdischen
Eskomptirung verschaffte.
Aus dem so bewirkten Glücksgefühl quoll die Sanftmut, die Duldung,
die Gleichgültigkeit gegen Besitz und irdischen Eigengewinn jeder Art.
Auch nach der positiven Seite hin ist kein Zweifel, dass das Glück die
Seele erweitert, sie anregt, die Anderen am eigenen Glück teilnehmen, am
liebsten auch in der Umgebung keinen Schatten mehr zu lassen.
Die Freude ist es, die zu dem Gefühl führt: Seid umschlungen,
Millionen! Die Idee der Festlichkeit hat diesem Verhalten einen
unmittelbaren soziologischen Ausdruck gegeben; jedes freudvolle Ereignis
in der eigenen Familie ist von je her Veranlassung gewesen, den Nachbarn
und Freunden eine Freude zu bereiten, und je höher die soziale Stellung,
d. h. je mächtiger und bedeutender die eigenen Glücksmomente, desto
ausgedehnter der Kreis und desto reicher der Inhalt der Teilnahme an der
Freude; so führten allenthalben freudige Geschehnisse in der Familie der
Fürsten zu allgemeinen Spenden etc.
Die Betrachtung des entgegengesetzten eudämonistischen Verhältnisses
führt auf das gleiche Resultat.
Das Unglück hat unzählige Male etwas Demoralisierendes: indem es zur
Verbesserung der Lage auf unrechtmässigem Wege verleitet, unzählige
Versuchungen schafft, von denen der Mensch in glücklicher Lage nichts
weiss; indem es Neid und Hass erzeugt; vor allem aber durch ein
allgemeines Herabstimmen der Seele, das den sittlichen Enthusiasmus
lähmt.
Wie der in Hinsicht äusserer Umstände Glückliche allein in
unzähligen Fällen die Mittel hat, seiner Sittlichkeit Ausdruck und reale
Folge zu geben, so (<427) gestattet auch allein ihm die Enthebung von
eigenen Sorgen jene zunächst theoretische Erweiterung des Blicks auf den
umfassenderen Menschheitskreis, der dann die Taten der höheren
Sittlichkeit entspriessen; der Unglückliche und Elende hat meistens nicht
die Kräfte frei, die durch erweiterte, vom Subjekt abstrahirende
Weltanschauung das geistige Fundament einer weitgreifenden Sittlichkeit
legen, so wenig wie diejenigen, die die praktische Bewährung des
Altruismus ermöglichen.
Dem fügt sich nun vielleicht der zusammenfassende Gedanke an: wie man
die Zeugung als Wachstum über das individuelle Mass hinaus bezeichnet
hat, so kann man sagen, sei Sittlichkeit das Wachstum des
Glückseligkeitstriebes über das Mass des Individuums hinaus.
Dann ist überhaupt der absolute Unterschied zwischen eigenem und
fremdem Glück aufgehoben und an seine Stelle tritt ein nur quantitativer;
weil das eigene Glück, das erste und nächstliegende Ziel des Willens,
uns nicht genug tut, verbreitet sich der Trieb auf andere Wesen.
So paradox dies aussieht, so sehr es den unüberbrückbaren Unterschied
zwischen der eigenen und der fremden Empfindung zu übersehen scheint, so
sind doch psychologisch manche Fingerzeige auf ein solches Verhalten zu
finden.
So pflegt man bei starkem Familiensinn wenigstens das Glück der
nächsten Angehörigen unmittelbar als eigenes zu empfinden, und der
naivere Mensch fühlt und handelt oft genug in diesem Sinne, ohne sich
eines Unterschiedes bewusst zu werden, ob er denn eigentlich sein eigenes
oder das Glück seiner Nächsten fördert.
Vielleicht tritt hier jene geheimnisvolle, durch die metaphysischen
Ahnungen aller Epochen hindurchklingende Einheit des Menschengeschlechtes,
im letzten Grunde der organischen Wesen überhaupt, andeutungsweise in die
Erscheinung.
Oder anders ausgedrückt: das Glück würde so ein objektiver Wert
sein, dessen Realisierung der Handelnde zunächst an sich selbst, dann
aber, ohne qualitativen Sprung, an Anderen sucht, wie der ästhetische und
der Schmucktrieb etwa zunächst dahin führen können, dass jeder sich
selbst (<428) möglichst schön und geschmückt sehen will, dann aber
den gleichen Wunsch auch für seine Umgebung hat, für alles, was ihm vor
die Augen kommt; oder wie die Befriedigung aus der Erkenntnis am Anfang
eine egoistische ist, und in der unmittelbaren Wirkung ihres Inhalts auf
das Subjekt besteht, dann aber in oft unmerklichen Übergängen die
Aufklärung der Anderen als gleichwertiges Ziel erhält.
Dass die tatsächlichen Verhältnisse diese Entwicklung nicht in
völliger Reinheit zeigen, dass das Interesse für fremdes Glück
keineswegs erst auftritt, nachdem das eigene vollkommen erreicht ist,
brauchte die prinzipielle Bedeutung des Gedankens nicht zu stören.
Triebe, welche eigentlich nur als Fortsetzung gewisser anderer ihren
Sinn haben, werden sehr oft verselbständigt und machen ihre Ansprüche
geltend, unabhängig von der Befriedigung oder Nichtbefriedigung derer,
von denen sie ihren Ursprung nahmen; schon die Zufälligkeit des
Verhältnisses, in dem die äusseren Mächte des Seins zu unseren inneren
Bedürfnissen stehen, muss solche Unregelmässigkeiten bewirken.
Hat dieser Gedanke vom Wachstum des Glückstriebes über das
individuelle Mass hinaus irgend eine Richtigkeit und ist Sittlichkeit das
Interesse am Glück der Anderen, so liegt auf der Hand, dass dies den
Ursprung der Sittlichkeit aus dem Glück bedeutet und zwar in doppeltem
Sinn.
Einmal, indem der Glückstrieb, innerlich wachsend und nicht mehr am
eigenen eudämonistischen Zustand Genügen findend, sich verbreitert, und
so die Tatsache, dass ich selbst glücklich bin, sozusagen durch eine
Metempsychose übergeht in die, dass ich glücklich mache; zweitens aber,
mehr objektiv, erscheint das Glück als absoluter Endzweck, den das
Subjekt nur gewissermassen zufällig zunächst an sich selbst
verwirklicht; dies ist nur die einfachere und naheliegende Art seiner
Verwirklichung, an die sich dann die Sittlichkeit als seine Realisierung
an Anderen schliesst; so dass erstens die Idee des Glücks die Ursache
möglicher Sittlichkeit überhaupt, zweitens die Verwirklichung des
ersteren am Subjekt die Vorstufe der (<429) Verwirklichung der
letzteren ist; dann wäre das eigene Glück freilich mehr eine zeitliche
als eine ursächliche Bedingung der Sittlichkeit; diese müsste
gewissermassen durch jenes hindurch, ohne eigentlich von ihm
hervorgebracht zu werden.
Es ist nun nicht schwer zu sehen, dass gegenüber der relativen
Richtigkeit dieses Kausalverhältnisses zwischen Glückseligkeit und
Tugend mit dem gleichen Recht die relative Richtigkeit des vollen
Gegenteils davon behauptet werden kann und zwar insbesondere in
psychologischer Hinsicht.
Ebenso oft wie das Glück weich macht und zum Streben, Andere zu
beglücken, aufruft, ebenso oft macht es auch hart, übermütig und
verständnislos für Leiden, die uns fremd und ungekannt gegenüberstehen.
Umgekehrt vielmehr findet die Seele gerade aus dem eigenen Leid heraus
die liebevolle Hingabe an das Los Anderer, weil sie um so Mehr an Anderen
suchen wird, wenn das Geschick ihr die Freude in sich und an sich selbst
versagt; oft lernt man den Verzicht auf das eigene Glück, den die
Sittlichkeit so häufig fordert, erst dann, wenn unser Schicksal uns
belehrt, dass man auch ohne Glück auskommen kann.
Ich brauche nur an die ethische Bedeutung des Mitleids zu erinnern, die
jedenfalls stark genug ist, um den Versuch zur Ableitung der gesamten
Moral aus ihm hervorzurufen; wenn der Pessimismus Recht hat, für den alle
Sittlichkeit im Mildern des Leidens besteht, so ist nicht nur das Leiden
die Ursache, dass es überhaupt eine Sittlichkeit gibt, sondern auch
subjektiv würde sie nicht ohne Schmerzgefühl zustande kommen, da
Mitleiden doch eben ein Leiden ist, und da das Bewusstsein, dass der
Andere leidet, überhaupt nur in der Analogie mit einer selbsterfahrenen
Empfindung, in der Übertragung dieser auf das Subjekt ausser mir
entstehen kann.
Gerade die Flucht aus und vor dem eigenen Ich, in dem man keine Freude
findet, mündet oft an der sittlichen Hingabe an Andere.
Und wenn ich vorhin gesagt hatte, dass das Unglück keine Zeit hätte,
sich mit altruistischen Interessen praktisch abzugeben, so kann ganz
dasselbe (<430) auch vom Glück gesagt werden.
Der Grund dieser Zweideutigkeiten, der Unmöglichkeit, zu einem
sicheren psychologischen Kausalverhältnis dieser Elemente zu kommen, ist
der, dass die herzuleitende, als Folge betrachtete Erscheinung, hier die
Sittlichkeit, das Zusammenwirken einer sehr grossen Anzahl von Faktoren
voraussetzt; wenn wir sie also auf entgegengesetzte Affekte wie Glück und
Unglück hin in gleichmässiger weise eintreten sehen, so erklärt sich
das leicht durch die Variabilität der anderweitigen, zu diesen Affekten
hinzutretenden und sie spezialisierenden Faktoren.
Daher gibt es fast keine psychologische Erfahrung, zu deren Verlauf man
nicht auch das genaue Gegenteil, die ganz entgegengesetzte Folge aus
scheinbar gleicher Ursache auffinden könnte.
Das liegt an der Kompliziertheit des seelischen Geschehens, das ausser
den bewussten und in die Augen fallenden Momenten eine grosse Anzahl
minder bewusster enthält, die mit jenen zu Resultanten zusammengehend je
nach ihrer Art und Richtung das gleiche bewusste Antezedenz in sehr
verschiedene Konsequenzen und die verschiedensten Antezedenzien in die
gleiche Konsequenz können auslaufen lassen.
IV. Hiermit erledigt sich eigentlich schon das prinzipielle Gegenteil
der Behauptungen über ein positives Kausalverhältnis zwischen Tugend und
Glückseligkeit, die Annahme nämlich, dass die Welt durchgehendes das
Gute mit Bösem vergelte und dass es nur dem Bösen gut gehe.
Irre ich nicht, so sind es nicht philosophische und rationale
Begründungen, aus denen diese Überzeugung hervorgeht, sondern einerseits
ein gewisser populär-empirischer Pessimismus, andrerseits - insoweit man
dabei nur die Erde im Gegensatz zu einem anders eingerichteten jenseits im
Auge hat - religiös-asketische Grundsätze.
Das ungeschulte Denken ist besonders dann geneigt, zufällige
persönliche Erfahrungen als durchgehende Prinzipien anzusehen, wenn diese
pessimistischer Natur sind.
Unzählige Male hört man Behauptungen wie die, dass nur der Böse
triumphiere, dass es doch dem Edlen und Guten (<431) immer schlecht
gehe, in ganz prinzipieller, einen gewissen inneren Zusammenhang
postulierender Form aussprechen.
Man könnte diesen ganzen Pessimismus als blosse Reaktion auf den
gutgläubigen Optimismus auffassen, der durch die Annahme einer
prästabilierten Harmonie zwischen Tugend und Glückseligkeit so lange den
öffentlichen Geist beherrscht hat oder noch beherrscht.
Bevor man diesem gegenüber auf den Standpunkt eines nüchtern
abwägenden Realismus kommt, der überhaupt kein durchgängiges, sondern
nur ein zufälliges, immer nur für den einzelnen Fall festzustellendes
Verhältnis zwischen jenen annimmt -stellt der fragliche Pessimismus das
entgegengesetzte Extrem, die ergänzende einseitige Antithese dar, die
erst durchgemacht werden muss, ehe sich über beides die Synthese unseres
Standpunktes erhebt, die beiden Behauptungen für einzelne Fälle Recht
geben kann, weil sie beide als Prinzipien bestreitet.
Es kommt hierzu auch der verführerische Reiz der Paradoxe, der
Charakter des Geistreichen und Interessanten, der allen pessimistischen,
der hergebrachten Vorstellungsweise widersprechenden Allgemeinbehauptungen
anhängt.
Wer so urteilt, erscheint sich erhaben über die gewöhnliche
Anschauung, die harmlos an das glaubt, was sie wünscht, an die
schliessliche Harmonie unserer Ideale.
Er fasst in einem einzigen Urteil den Wert des gesamten Lebens nach
einer seiner Hauptbeziehungen zusammen, wie es eben nur durch ein
absprechendes, viel seltener durch ein positives Urteil möglich ist; und
viel weniger als der Optimismus braucht er auf eine empirische Widerlegung
gefasst zu sein, viel weniger kann ihm als diesem der Vorwurf der
Oberflächlichkeit gemacht werden.
Zudem verleiht schon die Form der Allgemeinheit, das Weitgreifende des
Urteils ein hohes intellektuelles Selbstgefühl und vermittelt durch die
Zusammendrängung grosser Vorstellungsmassen einen angeregten Zustand der
Seele, eine lebhafte und kräftige innere Bewegung, deren Reize von dem
spezifischen Inhalt jener Urteile in hohem Grade unabhängig sind.
Es kommt als weiteres psychologisches Moment die Verbitterung (<432)
über angesehene und selbsterlebte Ungerechtigkeiten hinzu, die sich in
dem allgemeinen Verdammungsurteile Luft macht.
Der Schatten, der über das eigene Geschick fällt, verbreitert sich
als Verdunkelung des Weltbildes überhaupt; der Groll gegen die Momente,
weiche die einzelne erfahrene Disharmonie veranlasst haben, ist
gewissermassen keine hinreichende Reaktion auf das empfundene Leid,
sondern erst indem man die gesamte Welteinrichtung dafür verantwortlich
macht, und dieses Einzelne als Erscheinung eines durchgehenden Mangels zu
verstehen glaubt, hat man, populär zu sprechen, einen Sündenbock
gefunden, eine Objektivierung der eigenen Verbitterung, die der
subjektiven Grösse derselben entspricht und sie sozusagen rechtfertigt.
Und endlich, der Tendenz nach hiermit übereinstimmend, erleichtert
sich solches und jedes Leid überhaupt, wenn man es als allgemeines, jeden
Lebenslauf in gleicher Weise treffendes ansieht.
Der eigentliche Stachel in allen Leiden, dasjenige, was die rein
subjektive Schmerzempfindung noch durch eine gewissermassen ethische
Schärft, ist der Gedanke: es hätte nicht zu sein brauchen, es hätte so
leicht anders sein können; alle Anderen sind frei davon, und dich gerade
und dich allein musste es treffen! Umgekehrt: das allgemein menschliche
Leid erträgt sich leichter; sei es, weil wir auch hier nur den
Unterschied empfinden und deshalb die Genossen im Unglück es indirekt
tragen helfen, indem es zu jenem intensiven Gefühl, ein Stiefkind des
Schicksals zu sein, gar nicht kommt; sei es, weil das allgemeine Auftreten
eines bestimmten Verhältnisses uns dasselbe als naturgesetzlich
erscheinen lässt: die stete Folge der Momente verkündet sachliche
Kausalität zwischen ihnen.
Was aber als unvermeidliche, naturgesetzliche Bestimmtheit erkannt ist,
das pflegen wir leichter zu ertragen, darunter beugen wir uns eher als
unter ebendasselbe, wenn es uns nur durch launenhafte, zufällige
Kombination der Schicksalsgründe getroffen hat.
Wie immerhin noch eine gewisse Gerechtigkeit und Befriedigung des
ethischen Anspruches da stattfindet, wo (<433) ein Gesetz, das dem
Inhalt nach falsch und ungerecht ist, doch von der Rechtsprechung auf
unparteiische Weise befolgt wird, so wird jenes negative Verhältnis
zwischen Tugend und Glückseligkeit uns weniger empören, wenn wir es als
eine objektive Notwendigkeit betrachten, die ohne Ansehen der Person
überall da in die Erscheinung tritt, wo ihre Voraussetzungen gegeben
sind.
Wird mit dieser zumeist freilich einer exzentrischen Verzweiflung oder
einem prahlerischen Wortpessimismus entspriessenden Anschauungsweise die
Verursachung des Glücks durch die Tugend prinzipiell negiert und in ihr
Gegenteil verwandelt, so kann nun auch die zuvor besprochene Verursachung
der Tugend durch die Glückseligkeit eine absolute Verneinung finden.
Man kann behaupten, dass gerade das Leiden der einzige Nährboden der
Sittlichkeit, das Glück ihr unbedingter Verderber ist, dass, wie die
Bibel es ausdrückt, eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein
Reicher ins Himmelreich komme.
Die psychologischen Motive dieser Meinung habe ich in dem Kapitel über
Verdienst und Schuld auseinandergesetzt, während ihre sachliche
Begründung immer nur für einzelne Erscheinungen gelten, aber nicht
denjenigen prinzipiellen und unmittelbar sachlichen Zusammenhang
nachweisen kann, auf den es gerade ankommt.
Auch findet dabei meistens dieser Irrtum statt: die Verwirklichung des
sittlichen Zweckes fordert oft einen Verzicht auf Glückseligkeit; allein
um diesen zu vollziehen, bedarf es des schon vorangegangenen sittlichen
Entschlusses.
Wenn also auch der tatgewordenen, in die Erscheinung tretenden
Sittlichkeit eine eudämonistische Minderung vorangeht, so darf doch aus
diesem Nacheinander kein Auseinander gemacht werden, da vielmehr das
eigentlich Sittliche schon vorangegangen sein muss, um den ganzen
erscheinenden Prozess erst möglich zu machen, dessen erstes Glied dann
freilich ein Leiden ist.
V. Nun scheint mir nur eine Idee übrig zu bleiben, die ein
prinzipielles Verhältnis zwischen Tugend und Glückseligkeit (<434) -
dass das eine ist oder nicht ist, wenn und weil das andere ist -
ermöglichen könnte: die Idee nämlich, dass ein Drittes da sei, aus dem
beides sich entfaltet; weder Tugend braucht die Ursache von
Glückseligkeit noch Glückseligkeit die Ursache von Tugend zu sein, aber
beide können die Folgen eines anderweitigen Verhaltens sein, das sie nun
doch indirekt zusammenbindet.
Wer etwa im ästhetischen Ideal die höchste Aufgipfelung der
Weltentwicklung erblickt, wird gern behaupten, dass ein Mensch, der sein
Leben und das der Anderen, so weit sein Einfluss reicht, so schön wie
möglich gestaltet, dadurch einerseits vollkommen sittlich, andrerseits
vollkommen glücklich sein muss.
Und zwar lässt sich dies entweder so denken, dass Tugend und
Glückseligkeit die Mittel und Vorstufen sind, die realisiert werden
müssen, um zur Schönheit als Endzweck zu gelangen; oder die Schönheit
kann unmittelbarer erreicht werden, und Tugend und Glück sind ihre
Folgen, die Blüten, die sich aus ihr als Wurzel entfalten.
Um diese Möglichkeiten zu ergründen, müsste zunächst die
dornenreiche Frage nach dem Wesen des Schönen gelöst werden, über die
ich mich hier mit einigen Andeutungen begnüge.
Es ist kein Zweifel, dass die organische Entwicklung wenigstens in sehr
vielen Fällen dahin führt, das Nützliche, für die Lebenserhaltung
Notwendige auch angenehm und erfreulich zu machen.
Denn wäre das Schädliche angenehm, das Nützliche unangenehm, so
würde, wie ich bereits anderwärts ausführte, jenes aufgesucht, dieses
geflohen werden und dadurch eine Depravierung und Ausrottung der Gattung
stattfinden.
So viele Ablenkungen dieser Weg der Entwicklung auch erfahren mag, auf
die ich später komme, so hat er doch zu dem Resultat geführt, dass
vielerlei Dinge und Vorgänge, die für die Gattung nützlich sind, uns
bei der Wahrnehmung ihrer Existenz Vergnügen bereiten, auch ohne dass sie
für den Wahrnehmenden selbst oder im Augenblick einen Nutzen darböten.
Zunächst wird auf Grund jener evolutionistischen Notwendigkeit das
Nützliche freudig empfunden und dann diese Empfindung derart (<435)
unmittelbar an den Gegenstand geknüpft, dass seine Nützlichkeit sich gar
nicht mehr für das individuelle Bewusstsein braucht geltend zu machen.
Wie dem Einzelnen ein Gegenstand, der ihm nützlich ist, zugleich
Freude erweckt, und später auch durch seine blosse Erscheinung, ohne dass
er noch aktuell nützlich wirkte, lustvoll ist, so wird derselbe Erfolg
durch die Erfahrung der Gattung erreicht, die in dem Einzelnen wirksam
ist.
Ich glaube, dass manche geheimnisvolle Seiten des Schönen
durchsichtiger werden, wenn wir es so als dasjenige auffassen, was die
Gattung als nützlich erprobt hat und was uns, insoweit die Gattung in uns
lebt, deshalb Lust bewirkt, ohne dass wir als Individuen eine reale
Veranlassung zu letzterer hätten.
Das mag jener Interesselosigkeit, jener Gleichgültigkeit gegen die
reale Existenz des Gegenstandes zum Grunde liegen, die man so oft als
Charakteristikum des ästhetischen Zustandes angeführt hat.
Denn dann ist es in der Tat die blosse Vorstellung des Gegenstandes,
deren es zur Reproduktion der Gattungsempfindungen bedarf, und ob ich
persönlich die Nützlichkeit des Gegenstandes geniesse oder nicht, ist
für diese spezifische Empfindung ganz gleichgültig.
Daher jene Verklärung, jener Charakter einer gewissen Irrealität und
Überirdischkeit des Schönen; er stammt aus der zeitlichen Ferne der
realen Motive, aus denen wir jetzt ästhetisch empfinden, wie sich der
gleiche verklärende Hauch über die eigenen Erlebnisse vergangener Zeiten
legt, und gleicht jenem Duft, den die Raumferne um die Gegenstände webt
und ihnen gewissermassen die körperhafte Schwere nimmt.
Daher nun auch die Vorstellung, dass das Schöne etwas Typisches, über
die Vereinzelung absoluter Individualität sich Erhebendes sein müsse;
die Fülle der Gattungsempfindungen, die, in mir konzentriert, das Gefühl
des Schönen hervorrufen, hat natürlich das Spezifische und rein
Individuelle ihrer einzelnen Bestandteile längst abgestreift und nur
vermöge eines typischen Charakters kann ein Gegenstand jene
Gattungsgefühle hervorrufen, die aus (<436) einer überwältigenden
Anzahl von Einzelerfahrungen gleichsam destilliert und deshalb nur durch
diejenige Vorstellung psychologisch reproduzierbar sind, die selbst als
ein Allgemeines über dem Individuellen steht.
Daher jener Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der das ästhetische
Urteil begleitet: er entstammt der Anregung unzähliger dunkler ererbter
Empfindungen und Erfahrungen, und bildet die psychologische
Begleiterscheinung solcher Vorstellungen, die wir haben, weil unzählige
Andere sie vor uns hatten, und die dadurch gewissermassen das Urteil der
Gesamtheit repräsentieren.
Wenn dennoch auch unter den ästhetischen Urteilen grosse
Ungleichmässigkeit herrscht, so ist doch, sobald man grosse Gruppen ins
Auge fasst, die Gleichmässigkeit innerhalb jeder derselben gegenüber den
von anderen Vererbungen erfüllten so bedeutend, dass die individuellen
Unterschiede nicht grösser erscheinen, als sie selbst bei den festesten
und ältesten Vererbungen vermöge der Variabilität der Einzelnen
auftreten.
Wenn uns das Schöne als Darstellung eines Ideals erscheint, eines
Höchsten und Absoluten, dem die Einzelerscheinung sich nur annähern
könne, ohne sich mit ihm in seiner Totalität zu decken, so ist dies aus
der Annahme erklärlich, dass die grosse Zahl der hier mitspielenden
Gattungserfahrungen allerdings ein Bild mit so vielen, aber auch so
unbestimmten Zügen ausgeprägt und in die Seele des Individuums gesenkt
hat, dass jede einzelne Vorstellung, von der es reproduziert wird, als
nicht vollkommen ihm entsprechend empfunden wird.
Auch von einem »richtigen Geschmack« zu sprechen ist nur möglich,
wenn man das Gattungsgefühl als das richtige ansieht, an dem sich alle
anderen messen.
Denn an sich kann ein Gefallen nicht richtig oder falsch sein, da es
kein Objekt sich gegenüber hat, an dem es sich kontrollieren könnte.
Man kann nur dasjenige Gefühl ein falsches nennen, das momentan
auftauchend durch ein entgegengesetztes und definitives verdrängt wird;
und wie dieses letztere als Ausdruck der ganzen Persönlichkeit gilt, die
den Massstab für ihre einzelnen (<437) Inhalte bildet, so ist das
Gattungsgefühl der Massstab für das individuelle.
Das Ganze des Menschen oder die Gattung findet nicht das Richtige,
stimmt nicht mehr als das Individuelle mit einem objektiv Wahren überein;
sondern ihre Inhalte sind als solche dem Einzelnen gegenüber die wahren.
Dass das ästhetische Urteil des Einzelnen sich mit dem der Gattung
deckt und also ein richtiges ist, kann sich freilich oft erst
nachträglich ergeben, wird oft so auftreten, dass es gewisse latente
Gattungserfahrungen zum ersten Mal in das Bewusstsein hebt und deshalb
zunächst nur Widerspruch findet; allein dies ändert an der Tatsache
nichts, dass angesichts des Mangels jedes sachlichen Kriteriums für die
Richtigkeit eines ästhetischen Urteils nur die Übereinstimmung mit dem
Gattungsurteil übrig bleibt, die freilich wegen der Kompliziertheit und
vielfachen Dunkelheit desselben sich in anderen Formen als in der eines
äusserlichen consensus omnium ausspricht.
Auch die Unmittelbarkeit des ästhetischen Urteils, der Mangel an
verstandesmässiger Vermittlung, die häufige Unmöglichkeit, es aus der
persönlichen Erfahrung herzuleiten und durch sprachlich ausdrückbare
Gründe zu stützen, endlich der Gegensatz, in den es sich manchmal gerade
zu dem setzt, was uns als Individuen nützlich oder angenehm ist - dies
alles macht den Ursprung aus einer auf den Einzelnen vererbten
Gattungserfahrung wahrscheinlich.
In diesem Sinne ist jene fast berüchtigte Behauptung freilich richtig,
dass die Fülle der weiblichen Brüste wohlgefällig ist, weil sie die
Voraussetzung begründet, dass sie sich am besten zum Nähren des Kindes
eignet; die Kluft zwischen dem grob praktischen Utilitarismus, der in
diesem Ursprung zu liegen scheint, und dem formalen ästhetischen Reize
dieses Gebildes wird, wie mir scheint, reichlich durch die Umwandlung
ausfüllbar, die die jahrtausendlange Vererbung hervorbringt und vermöge
deren dem Einzelnen solche Empfindungen in einer ganz anderen, viel
feineren und sozusagen vergeistigten und abstrakten Form überliefert
werden, als sie an ihrem Ursprung (<438) besassen.
Es scheint mir nicht zweifelhaft, dass allerdings die Tüchtigkeit für
die Sexualzwecke wenigstens einen Teil des Wohlgefallens am weiblichen
Körper bedinge.
Allerdings nur einen Teil; denn da das Weib noch andere Funktionen als
die physiologischen innerhalb der Gesellschaft zu erfüllen hat, so wird
auch die Tüchtigkeit zu diesen anderen, insoweit sie äusserlich in die
Erscheinung tritt, unser Wohlgefallen hervorrufen; eine Gesichtsform und
Ausdruck, die der Gattungserfahrung nach mit Milde, Treue, angenehmem
Temperament usw. verbunden ist, wird uns schön erscheinen, auch wenn das
Verbindungsglied zwischen der Erscheinung und unserem Gefallen an ihr: die
Assoziation mit dem generell Nützlichen, längst dem Gedächtnis der
Einzelnen und der Gesamtheit entschwunden ist; ich glaube, wenn die
Wirkung der Schönheit nicht diese tieferen Wurzeln hätte, so würde es
weder geschehen, noch ohne Scham eingestanden werden können, dass die
blosse Schönheit einer Frau zum Beweggrunde einer lebenslänglichen
Verbindung mit ihr wird.
Wenn Belladonna durch seine Wirkung, die Pupille zu erweitern, die
Schönheit der Frauen erhöht, so liegt dies offenbar daran, dass die
Erweiterung der Pupille gewisse geistige Verfassungen zu begleiten pflegt,
die als edlere und wünschenswerte erprobt sind, unter anderen den
friedlichen, ruhigen Zustand und die Ekstase, während eine enge Pupille
unschön wirkt, weil sie gemäss unbewusst gewordener Erfahrung, die
Begleiterin eines schlechten Temperaments und böser Leidenschaften ist.
So knüpft sich die Empfindung der Schönheit allenthalben an
diejenigen Dinge, deren Zweckmässigkeit generell anerkannt ist, aber in
dem Augenblick des
ästhetischen Urteils fast stets unbewusst bleibt und sich nur durch
das Moment der ästhetischen Freude kund gibt; für ein gegebenes Gebälk
fordern wir Säulen von bestimmtem Umfang, offenbar weil die Erfahrung
gezeigt hat, dass es nur durch solche sicher getragen wird, und sind durch
dünnere ästhetisch beleidigt; wenn die Eisenkonstruktionen erst weiter
verbreitet sein werden, so wird man sich an dünnere (<439) Säulen
gewöhnen und mit der bis jetzt noch nicht gattungsmässig verbreiteten
Erkenntnis, dass sie ebenso zweckentsprechend sind, sie eben so schön
finden.
Halten wir nun fest, dass es das für den Bestand der Gattung
Nützliche gewesen sein muss, was ihr angenehm geworden ist, und dass der
eigentümliche Timbre, der das Schöne vom bloss Angenehmen unterscheidet,
durch den psychologischen Charakter der Gattungsempfindungen und durch die
Wechselwirkungen und Komplikationen verständlich ist, in die jene mit den
rein individuellen Seeleninhalten treten, so erhält von hier aus die
Lehre, die das Schöne zum Einheitspunkt der Sittlichkeit und
Glückseligkeit macht, allerdings eine bedeutsame Beleuchtung.
Denn dann würde die Erfüllung der Seele mit Schönem bedeuten, dass
die Zwecke der Gattung zu Zwecken des Individuums geworden sind; in dem
Mass, in dem sie vollständig ist, würde aus ihr folgen, dass der
Widerstreit zwischen dem persönlichen und dem Gattungsinteresse gehoben
ist, d. h. sie würde ebenso der eudämonistischen wie der moralischen
Forderung genügen.
Die Schönheit ist diejenige Form der Nützlichkeit für die Gattung,
die sich zur Lustursache des Individuums emporgebildet hat.
Ist diese Ableitung richtig, so ist es auch richtig, dass die Hingabe
an das Schöne das Mittel ist, um beiden Interessen zu genügen, und dass,
objektiv gewandt, die Erfüllung der Welt mit Schönem einen nach beiden
Seiten hin befriedigenden Zustand erzeugen würde.
Andrerseits lässt sich sagen, dass die gleichmässig auf diese hin
gerichtete Bestrebung notwendig zu einer ästhetischen Befriedigung bez.
einer entsprechenden Gestaltung der objektiven Welt führen müsste, weil
das Schöne eben nichts anderes ist, als die Form, in der beiderlei
Interessen sich vereinigen, durch die das Gattungsinteresse im Einzelnen
in der Art lebendig wird, dass es ihm selbst ein Freudegefühl erregt.
Und wenn wir zu den höchsten Beziehungen aufsteigen und die
Glückseligkeit als eine Form des individuellen, die Sittlichkeit als eine
solche des Gesamtheitslebens (<440) ansehen, so ist das Ästhetische
insofern eine Versöhnung beider, als es das Allgemeinste in der
individuellsten Form darstellt.
Wir verlangen vom Kunstwerk einerseits den vollkommen typischen
Charakter, der das Gemeinsame einer unbegrenzten Zahl von
Einzelerscheinungen zum Ausdruck bringt; andrerseits aber doch die
vollkommenste Individualität, den Anschein völliger Persönlichkeit, die
allein Interesse und die Vorstellung der Wahrheit erregt.
Während die Wissenschaft abstrakte Allgemeinheit erstrebt, sucht die
Kunst konkrete Allgemeinheit; auch was wir in der Natur oder an
Gegenständen überhaupt das Schöne nennen, ruft - neben jener direkten
Genesis durch unbewusst gewordene Nützlichkeit - das ästhetische Gefühl
wahrscheinlich nur durch formale oder symbolische Beziehungen zum
typisch-menschlichen Sein hervor.
Diese Verkörperung des Allgemeinsten im Individuellsten bewirkt es
offenbar, dass wir bei der Lust, die uns das Schöne bereitet, weniger als
bei den meisten anderen die Empfindung haben, es sei eine egoistische.
Die Versöhnung der beiden entgegengesetzten Pole der Geisteswelt, des
Persönlichen und des Gattungsmässigen, wie sie im Schönen vorliegt,
spiegelt sich so in seiner Wirkung, indem sie einen so subjektiven Vorgang
wie die Lust, doch mit dem Gefühlston von Unpersönlichkeit und
Allgemeinheit ausstattet.
Ginge nun die Entwicklung von der gattungsmässigen Nützlichkeit zur
individuellen Lust am Schönen geradlinig und ungestört vor sich, so
würde wenigstens durch das ästhetische Interesse eine reale und
innerlich begründete Verbindung von Tugend und Glückseligkeit gestiftet.
Allein sie wird tatsächlich auf die stärkste Weise abgelenkt und zwar
insbesondere dadurch, dass die ästhetische Form, die durch ihre
Nützlichkeit für die Gattung einen gewissen eudämonistischen Wert
errungen hat, diesen auch bewährt, wenn sie sich an einem anderen, aber
nicht nützlichen Objekte findet - was unzählige Male vorkommt.
Gewisse Gesichtszüge, die im Allgemeinen mit einer sittlichen und
liebenswürdigen (<441) Gemütsverfassung verbunden und durch die
Gattungserfahrung hierüber reizvoll geworden sind, werden schliesslich
unabhängig von jener ursprünglichen oder normalen Verbindung vererbt und
behalten nun ihren eudämonistischen Wert, auch wenn sie sich an völlig
anders beschaffenen Wesen finden.
Auch sind die Erfahrungen der Gattung über das ihr Nützliche
keineswegs sichere und mit einander übereinstimmende, schon deshalb
nicht, weil das für eine Anpassungsperiode Nützliche in einer folgenden
schädlich geworden sein, nichtsdestoweniger aber die eudämonistische
Bedeutung behalten kann, die es in der ersten erworben hat.
Auch kann bei den äusserst verschiedenen Forderungen, die das Leben an
uns und die wir an das Leben stellen, eine gewisse Eigenschaft oder
Funktion wohl nützlich sein, aber angesichts des vielfachen Abbruchs, der
durch sie anderen, vielleicht minder wichtigen, aber doch vorhandenen
Anpassungen und Tendenzen geschieht, nicht zu eudämonistischem Werte für
den Einzelnen emporsteigen.
Kurz, wenn das Schöne auch seinem Ursprung nach, wie ich vermute, eine
wirkliche Synthese von Tugend und Glückseligkeit enthält, so hat sich
doch seine Form hinreichend selbständig gemacht, um die mit ihm
verbundenen ästhetischen Empfindungen auch da zu erregen, wo die
Verknüpfung der Naturkräfte es aus ganz anderen Ursachen entspringen
liess, als diejenigen sind, die es generell hervorriefen.
Die folgende Regel, die für das ganze Verständnis des geistigen
Lebens von grundlegender Wichtigkeit ist, äussert auch hier ihre Macht.
Wenn unser Gefühlsleben sich in Anpassung an ein theoretisches
Weltbild gewisse Inhalte gegeben hat, so bleiben dieselben auch dann noch
eine Zeitlang in Kraft, wenn jene theoretischen Überzeugungen schon durch
andere ersetzt worden sind.
Unser Gefühl ist konservativer als unser Verstand, und es überdauert
die Zustände des Vorstellungslebens, in deren Zusammenhang allein es
verständlich und gerechtfertigt war.
Das gilt schon für das individuelle Leben, wo Neigungen und
Abneigungen, (<442) Reizbarkeiten und innerliche Bindungen noch in
Epochen hinübergenommen werden, die sich von den Überzeugungen und
Vorstellungen, an die jene Gefühle sich anschlossen, längst gelöst
haben.
Dem Wechsel in unserem Vorstellungsleben passt sich unser Gefühl nicht
mit gleicher Geschwindigkeit an, sondern hinkt ihm in vielen Fällen nach.
Gibt dies schon zu unzähligen Konflikten, Ungleichmässigkeiten und
problematischen Schwankungen Gelegenheit, so zeigt das Kulturleben die
gleiche Erscheinung mit den gleichen Folgen, in den allergrössten
Buchstaben geschrieben.
Es gibt vielleicht keine Epoche, in die nicht Ideale und
gefühlsmässige Strebungen hineinreichten, die ein früheres Weltbild
ausgestaltet hatte und die ihre Kraft nicht verloren, als das
verstandesmässige Vorstellen der Gattung längst über jene Grundlage
hinausgeschritten war; so ist unsere jetzige Kultur noch mit
Herzensbedürfnissen und Idealen aus der mythenbildenden, aus der
mittelalterlichen, aus der vorrevolutionären Zeit belastet, mit
Gefühlen, die ihre ehemaligen Zusammenhänge und Rechtfertigungen vor dem
Verstande längst eingebüsst haben, aber vermöge der langsameren
Anpassungsfähigkeit des Gefühls noch als Rudimente fortbestehen und die
Zeit in schwer heilbare Zwiespältigkeit zwischen dem Gefühl und den
Forderungen des Gemütes einerseits, dem objektiven Weltbilde und dem
Denken andrerseits versetzen.
Solche Diskrepanzen werden sich auch darin äussern, dass unsere
ästhetische Empfindung noch in ihrer Anpassung an frühere Epochen der
Gattungsentwicklung beharrt, während die sittlichen Forderungen sich
über diese hinaus aus einer ganz anderen Vorstellung von der Ordnung der
Dinge entfalten; so tragen die ästhetischen Neigungen der Meisten heute
noch romantisch-Individualistischen Charakter, während ihre ethischen
Ideale schon realistisch-sozial sind.
Wenn deshalb auch in den Zeiten, in denen die fraglichen
Schönheitsideale sich bilden, deren Befriedigung neben der des Empfindens
auch noch die der sittlichen Forderungen mag eingeschlossen haben, so
reisst doch das verschiedene (<443)Tempo, in dem beides sich weiter
entwickelt hat, diese Harmonie auseinander.
Wenngleich nicht unmittelbar unter diese Regel gehörig, so doch nicht
ohne jede Beziehung zu ihr ist die folgende Überlegung.
Die Gründe, aus denen die Opposition und der Widerwille gegen den
Sozialismus in unseren höheren Kreisen hervorgeht, sind zum Teil
ästhetischer Natur und als solche doppelter Art.
Einmal fürchtet man, der Sozialismus möchte alle Differenzierungen
und Individualisierungen zu einem Gleichheitsbrei zusammenstampfen, in dem
Kultur und Bildung und alle ästhetischen Reize des Lebens ersticken.
Wie eben erwähnt, haben unsere Vorstellungen vom Schönen noch fast
durchweg individualistische, persönliche Gestalt, und die bisherigen
Kunstformen scheinen ins Leere zu fallen, wenn sie statt des persönlichen
einen sozialen Inhalt aufnehmen sollen; poetisch verwertbar erscheint
dieser höchstens so lange, wie er als Kämpfer gegen eine noch bestehende
Ordnung der Dinge auftritt.
Abgesehen aber von dieser Befürchtung scheut man sich überhaupt das
Terrain zu betreten, von dem die sozialistischen Bestrebungen ausgehen:
das Elend der unteren Millionen, der Schmutz und die Verkommenheit ihres
körperlichen und geistigen Daseins, der Hunger, die Krankheiten, die
Verkrüppelung, die alle auf die Ausbeutung des Niederen durch den
Höheren zurückgeführt werden - das sind unästhetische Gegenstände,
von denen man sich mit Schaudern abwendet, indem man sich noch dazu
einbildet, besonders mitfühlend und sittlich beeindruckbar zu sein, weil
man dies alles »nicht mit ansehen könne.« Allein die Möglichkeit
solchen Wegsehens wird in dem Masse geringer, in dem die Kraft der unteren
Stände zum Geltendmachen ihrer Forderungen wächst; wenn sie diese mit
unüberhörbarer Stimme stellen, so wird man der ästhetischen Dissonanz
nicht mehr entgehen können, die das Bewusstsein jenes Elends mit sich
bringt.
Nun gibt es zwei Mittel, sich von einem widrigen Schauspiel zu
befreien: entweder man sieht weg oder man ändert es.
Im (<444) Allgemeinen wird zwar der erstere Weg vorgezogen; wenn
aber Diejenigen, die sich jetzt vom Elend der Massen aus ästhetischen
Gründen fernhalten, von demselben erst wirklich durchdrungen sein werden,
so werden sie aus den ganz gleichen, aus der Unerträglichkeit, diese
Bilder stets im Bewusstsein zu haben, an ihrer Umgestaltung arbeiten.
Dann wird der ästhetische Impuls allerdings der Hebel sein, durch den
das Gefühl eigener Befriedigung und die Erfüllung sittlicher Forderung
auf gleiche Höhe gehoben werden; dann wird das griechische Ideal der
schönen Individualität, das in der Eudämonie und Kalokagathie
Glückseligkeit und Sittlichkeit zusammenband, als Ideal der schönen,
ästhetisch vollkommenen Gesellschaftsverfassung zu der gleichen Funktion
auferstehen.
Von viel verbreiteterem Einfluss ist jedenfalls der Glaube, dass die
Religion die Vermittlerin zwischen Tugend und Glückseligkeit sei.
Was zunächst das Verhältnis der Religion zur Sittlichkeit betrifft,
wird man sagen können, dass es sittlich ist, den Geboten Gottes zu
folgen, weil im Allgemeinen jede soziale Gruppe sich ihren Gott so
konstruiert, dass er befiehlt, was sie als das sozial Zuträgliche
erkennt.
Wenn es auch vom Standpunkt des Einzelnen aussieht, als ob die Religion
uns die sittlichen Gesetze vorschriebe, so ist vom Standpunkt der Gattung
aus das Umgekehrte der Fall: sie schreibt der Religion vor, welche
sittlichen Gesetze sie anzuerkennen hat.
Wie Gott, als Schöpfer des Alls betrachtet, doch nur ein analytischer
Ausdruck, ein Name für die vorausgesetzte Ursache der tatsächlich
vorgefundenen Welt ist, wie wir aus seinem Begriff als Urgrund des Seins
nichts herausdeduzieren können, was wir nicht vorher aus der realen
Erfahrung heraus in ihn hineingelegt hätten, gerade so ist er als
Schöpfer der sittlichen Gesetze nur die substanziirte Idee eines Urquells
der sittlichen Gebote, die der Einzelne als Tatsache vorfindet und für
die er, die Erfahrung aus den relativen Lebensgebieten auf das Absolute
übertragend, ebenso einen Gesetzgeber hypostasiert wie für den
Weltinhalt einen (<445) Schöpfer oder für das Weltgeschehen eine
erste anstossgebende Kraft.
In allen diesen Fällen ist Gott nur der Ausdruck für ein Problem, der
aber hier, wie auch sonst oft genug - am auffälligsten etwa beim
Kraftbegriff - schon für dessen Lösung gehalten wird.
Wenn der Fromme die Kraft zur Befolgung der sittlichen Gesetze Gott zu
verdanken bekennt, wenn er das eigenste und innerlichste Tun auf ihn als
den eigentlich Verursachenden zurückführt, so ist das nur eine
Weiterführung und Steigerung ebendesselben psychologischen Vorgangs, der
auch die sittliche Gesetzgebung selbst auf Gott projiziert.
Es findet sich eine tiefgreifende Analogie zwischen dem Verhalten zur
Allgemeinheit und dem Verhalten zu Gott.
Vor allem ist das Gefühl der Abhängigkeit hier entscheidend; das
Individuum fühlt sich an ein Allgemeineres, Höheres gebunden, aus dem es
fliesst und in das es fliesst, dem es sich hingibt, aber von dem es auch
Hebung und Erlösung erwartet, von dem es verschieden und doch auch mit
ihm identisch ist.
Ich zweifle nicht, dass alle diese Empfindungen, die sich in der
Vorstellung Gottes wie in einem focus imaginarius begegnen, sich auf das
Verhältnis zurückführen lassen, das der Einzelne zu seiner Gattung
besitzt, und zwar einerseits zu den vergangenen Generationen, die ihm die
hauptsächlichen Formen und Inhalte seines Wesens überliefert haben,
andrerseits zu der mitlebenden, die ihm die Funktionierung und spezielle
Ausgestaltung derselben bestimmt.
Die Theorie des Ursprungs der Religionen aus dem Glauben an
weiterlebende Vorfahren harmoniert damit.
Wir hängen in der Tat wesentlich von dem ab, was vor uns war, und was
sich zunächst zu der Autorität der Väter über die Kinder konzentriert.
Wir sind von der Gesellschaft gleichermassen wie sie sich in der Zeit
und wie sie sich im Raume ausdehnt, abhängig.
- Ein gewisser Rest wird freilich bleiben, insofern eine direkte
Abhängigkeit des Einzelnen von der physikalischen Natur besteht, die
gleichfalls entweder besondere Gottheiten (<446) oder bestimmte Seiten
der einen Gottheit hervorrief.
In der Hauptsache aber und namentlich in der moralischen Beziehung zur
Gottheit wird es möglich sein, die psychologische Seite des religiösen
Verhaltens in die gleiche des sozialen Verhaltens aufzulösen.
Insbesondere jene Demut, in der der Fromme alles, was er ist und hat,
Gott zu verdanken bekennt, in ihm die Quelle seines Wesens und seiner
Kraft erblickt, lässt sich richtig auf das Verhältnis des Einzelnen zur
Gesamtheit übertragen.
Denn auch nicht schlechthin Nichts ist der Mensch Gott gegenüber,
sondern nur ein Staubkorn, eine schwache, aber immerhin doch nicht völlig
nichtige Kraft, ein Gefäss, das jenem Inhalt aufnahmefähig
entgegenkommt.
Wenn eine geklärte Gottesidee ihr Wesen darin hat, dass alle bunten
Mannigfaltigkeiten, alle Gegensätze und Verschiedenheiten des Seins und
des Sollens und insbesondere unsere inneren Lebensinteressen in ihm ihren
Ursprung und zugleich ihre Einheit finden, so können wir nun ohne
Weiteres die soziale Gesamtheit an seine Stelle setzen; denn sie ist es,
aus der die ganze Fülle der Triebe fliesst, die sie uns als Resultate
wechselnder Anpassungen vererbt, die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse,
in denen wir stehen, die Ausbildung der Organe, mit denen wir die
verschiedenen und oft schwer zu vereinigenden Seiten der Welt auffassen -
und doch ist die soziale Gruppe etwas hinreichend Einheitliches, um als
realer Einheitspunkt dieser divergenten Ausstrahlungen angesehen zu
werden.
So ist ferner der göttliche Ursprung der Fürsten nur der analytische
Ausdruck für die völlige Konzentrierung der Gewalt in ihren Händen;
sobald die soziale Vereinheitlichung, die Objektivierung des Ganzen dem
Einzelnen gegenüber einen gewissen Grad erreicht hat, erscheint sie
diesem als überirdische Macht, und ihr gegenüber, mag sie noch
unmittelbar als soziale bewusst sein oder sich schon in das Gewand der
Gottesidee gehüllt haben, erhebt sich in genau gleicher Weise das
Problem, wie viel der Einzelne tun könne oder müsse, um seinem Sollen zu
genügen, und (<447) wieviel von dem ihm jenseitigen Prinzip dazu
geschieht.
Die Selbständigkeit des Individuums im Verhältnis zu der Macht, von
der es doch die Kraft der Selbständigkeit empfangen und die dieser Ziele
und Wege bestimmt, ist hier wie dort die Frage.
So versetzt Augustin das Individuum in eine historische Entwicklung,
der gegenüber es ebenso unselbständig und ohnmächtig ist, wie es nach
ihm Gott gegenüber ist; so geht die Frage des Synergismus durch die ganze
Kirchengeschichte ebenso hindurch wie sie die Geschichte der inneren
Politik bestimmt.
Wie nach der streng religiösen Auffassung der Einzelne nur ein Gefäss
der Gnade oder des Zorns Gottes ist, so nach der sozialistischen ein
Gefäss der von der Allgemeinheit ausgehenden Wirkungen; beide Fälle
wiederholen die gleiche ethische Grundfrage nach dem Wesen und dem Rechte
des Individuums, und in beiden Formen bietet die Hingabe desselben an das
ihm jenseitige Prinzip oft die letzte noch mögliche Befriedigung, wenn
die auf sich selbst angewiesene Individualität keine innere
Bestandsfähigkeit mehr besitzt.
Von einem der höchsten Würdenträger der katholischen Kirche dieses
Jahrhunderts wird von zuverlässiger Seite die Äußerung berichtet: »Die
ideale Seite der katholischen Kirche ist nur gefördert worden durch
Menschen, die eine schwere Sünde oder einen grossen Irrtum hinter sich
hatten.« Der Grund hiervon ist der, dass die blosse Form unfehlbarer
Sicherheit dem Einzelnen einen Halt gewährt, dem gegenüber der Inhalt
der kirchlichen Lehre relativ gleichgültig ist, und der um so eifriger
gesucht wird, dem man sich um so vorbehaltloser in die Arme wirft, je
unsicherer der Mensch auf seinen individuellen Wegen geworden ist, je
unzuverlässiger sich ihm das individualistische Prinzip erwiesen hat.
Das ist aber eben diejenige Sicherheit, die der Einzelne nur in der
Anlehnung an eine Gesamtheit findet; das katholische Prinzip als solches,
der Anspruch oder die Fiktion, dass diese Lehre eigentlich die
weltumfassende, der Allgemeinheit im absoluten Sinn eigene sei, vermittelt
(<448) dies Gefühl von Ruhe und Sicherheit, als sei dem Einzelnen die
Verantwortung für dasjenige abgenommen, was er in Übereinstimmung mit
der katholischen Lehre glaubt oder tut.
Aus der gesellschaftlichen Natur des Menschen und ihrer geschichtlichen
Entwicklung geht der Zug hervor, für die Unsicherheiten und Zweifel
seiner Individualität eine Beruhigung und einen Hort dadurch zu suchen,
dass er sich an eine Allgemeinheit anlehnt und in sie einordnet, und die
Macht der katholischen Kirche über die an sich selber irre gewordenen
Seelen ruht in der unbedingten Sicherung und Festigkeit, die sie zu bieten
weiss, und die nichts anderes ist, als die psychologische Verdichtung und
Vertretung ihres katholischen, d. h. die Gattung als Ganzes umfassenden
Charakters.
Die religiöse Form ist unzählige Male nur das Gewand eines
soziologischen Inhalts.
In dem Hass und der moralischen Verurteilung den Ketzern gegenüber ist
namentlich für grössere Massen gewiss nicht der Unterschied in der
Lehre, den sie oft gar nicht verstehen, das Bewegende und Entscheidende,
sondern die Tatsache der Opposition der Einzelnen gegen die Gesamtheit;
der echt soziale und oft freilich auch ethische Hass gegen denjenigen, der
das Denken und Wollen der Gesamtheit negiert, verkleidet sich nur in den
religiösen Glauben, es sei der spezifische Inhalt dieser Abweichung, der
zur Verfolgung der Ketzer triebe.
Liegt das tiefere Wesen der Religion, insoweit sie Sittenlehrerin ist,
darin, dass Gott die Personifikation der Allgemeinheit als Gesetzgeberin
für den Einzelnen ist, geht seine ethische wie seine kosmische Bedeutung
aus der psychologischen Notwendigkeit des Satzes hervor: keine Bewegung
ohne ein Wesen, von dem sie ausgeht, und ebenso kein Gesetz ohne ein
Wesen, von dem es gegeben wird - so decken sich allerdings die religiösen
Normen mit den jeweiligen moralischen Notwendigkeiten.
Allein wenn auch für die Befolgung derselben die Form der Religion
einen unermesslichen Vorteil bildet, so liegt in der Verselbständigung
derselben wieder die grosse Gefahr, (<449) dass sie mit einem aus ganz
anderen Quellen fliessenden Inhalt erfüllt werden kann.
Vielleicht gibt es für das erstere kein klareres Beispiel, das
zugleich so unmittelbar die Metempsychose der sozialen Forderung in die
religiöse zeigte, wie das Bussrecht, das die Kirche von Anfang des
Mittelalters an übte.
Die Bussbücher, die seit dem 7. und 8. Jahrhundert in den
britannischen, fränkischen und deutschen Landen verbreitet waren, gaben
für alle möglichen, eigentlich der staatlichen Rechtsprechung
anheimfallenden Sünden einen Massstab der - hauptsächlich in Fasten
bestehenden - Busse an, deren Exekutive meistens den Bischöfen zustand.
Der Bischof unternahm Reisen, um überall Gericht zu halten, um die
äussere und innere Sühnung der Vergehen zu bewirken.
Das Interessante ist dies, dass das Verbrechen als Sünde erscheint,
der Verstoss gegen die soziale Ordnung zugleich als ein solcher gegen die
religiöse, und dass dieser letztere Gesichtspunkt offenbar den ersteren
im öffentlichen Bewusstsein verdrängt hat.
Hierbei konnte dasjenige, was wir nur moralisch strafbar nennen, keine
scharfe Grenze gegen das rechtlich Strafbare bewahren; Trunkenheit und
sinnliche Ausschweifung wurden qualitativ und vielfach auch quantitativ
ebenso wie Mord und Meineid bestraft; der Sinn ging auf Besserung und
Versöhnung des Schuldigen.
Ein Doppeltes wurde so gewonnen: einmal erschien die Verletzung der
menschlichen Ordnung zugleich als eine solche der göttlichen Ordnung und
wurde dadurch mit einer doppelten Mauer umgeben; dann aber unterlagen
Taten, welche als eine Verletzung der ersteren nur indirekt wirkten, der
Verantwortung als Sünden gegen die letztere.
In der kirchlichen Gerichtsbarkeit schuf sich der sittliche Geist eine
Prophylaxis, indem er manche scheinbar mit dem Individuum abgeschlossene,
sozial unwirksame Tat noch als strafbar anerkannte; denn dieser Schein ist
eben ein trügerischer, auch die unmittelbar nur individuellen Sünden
sind mittelbare Schädigungen der Allgemeinheit.
Das Bewusstsein von der Verwerflichkeit derselben konnte aber in
breiteren (<450) Massen nur durch äusserliche Strafbarkeit, wie die
Kirche sie aussprach, geweckt werden.
Indem aber die Religion den grossen sittlichen Fortschritt vermittelte,
der das eigentlich Verantwortliche in den Willen und die Gesinnung legt,
indem sie die für die Sittlichkeit entscheidenden Momente in erhöhtem
Masse auf das Individuum übertrug, löste sie die Unmittelbarkeit des
sozialen Bewusstseins und entzog der ethischen Betätigung des Einzelnen
das Kriterium des Gemeinwohles.
Daraus gehen dann Erscheinungen hervor wie die, dass die christliche
Kirche einerseits eine schrankenlose individuelle Wohltätigkeit, ein
Hingeben alles Besitzes an die Armen gelehrt und vielfach zu Wege gebracht
hat, andrerseits aber seit ihrer Ausbreitung über grosse Kreise einer
geregelten Armenpflege ganz ermangelt, die dann erst am Ende des
Mittelalters, teils von freien Vereinen, teils von Städteverwaltungen
energischer in die Hand genommen wurde.
Die Religion schafft ein Ideal, das sich freilich vielfach aus den
Mitteln zum Gemeinwohl rekrutiert, aber nachdem es einmal geschaffen ist,
seine Macht auch in antisozialer Richtung zeigen kann.
Die Verselbständigung von Form und Inhalt dieser Prozesse bewirkt,
dass sowohl die moralisch-sozialen Wirkungen ohne die Religion als auch
die Religion ohne jene bestehen kann.
Die Religion hat uns Empfindungen gelehrt gegen Welt und Menschen,
soziale Zusammenschlüsse hervorgebracht, Kräfte in uns entwickelt, die
ohne sie schwerlich wären ausgebildet worden, die in ihrem Werte und
ihrer Wirkung bleiben, wenn ihr religiöser Inhalt und Vehikel längst
veraltet und verfallen ist.
Das zeigt sich mit grosser Deutlichkeit an der Tatsache, dass die
Moralstatistik für die religiöse Minorität innerhalb grösserer Gruppen
stets die günstigere ist.
So haben, um nur ein Beispiel von vielen anzuführen, die Katholiken in
Preussen, die Protestanten in Bayern die bessere Moralstatistik, und zwar
sowohl in Bezug auf uneheliche Geburten wie auf Kriminalität, auf
Selbstmorde, auf Kindererziehung.
Aus naheliegenden (<451) Gründen muss der religiöse
Zusammenschluss der von der herrschenden Religion Dissidierenden ein
festerer, ihr kirchliches Leben ein regeres sein, und die versittlichende
Wirkung davon zeigt sich hier also in ihrer völligen Unabhängigkeit von
dem spezifischen Inhalt der Lehre.
Wie Recht und Gesetz von höchstem sozialem Werte sind, selbst wenn der
Inhalt derselben der allerverschiedenste und selbst wenn er noch der
allerunvollkommenste ist, so hat die Religion ihre sittlichen Wirkungen
auch bei der grössten Divergenz und bei der grössten Unvollkommenheit
ihrer Dogmen geübt.
Wie andrerseits die religiöse Legislative und Exekutive durch die
Priesterschaft unzählige Male all den Interessen zuwidergelaufen ist, die
aus anderen Motiven heraus sittlich genannt werden, lehrt jeder Blick in
die Kulturgeschichte.
Die ganze Untersuchung über das Verhältnis zwischen religiöser und
sozialer Moral wird verdorben, wenn man sie prinzipiell statt historisch
behandelt.
Einerseits sind die Gottesideen von einander aufs Weiteste verschieden,
Vitzliputzli und Jupiter, Brahma und Jehova, der Christengott und der
angebetete Geist des Häuptlings der Südseeinsulaner oder Afrikaner haben
doch kaum eine andere Vorstellung als die allervageste eines Wesens, das
mächtiger ist als der Gläubige, mit einander gemein.
Und wenn nun auch die Moralen der betreffenden Völker und Epochen
nicht weniger getrennte Inhalte aufweisen, so ist doch die Verschiedenheit
im einen keineswegs eine Funktion der Verschiedenheit im anderen, und es
ist keine Formel zu entdecken, die aus der Moral eines Volkes seine
Religion oder umgekehrt konstruieren liesse, sobald man über die
allerallgemeinsten Charakterzüge hinausgeht.
Wenn es auch wahr ist, dass der Mensch sich in seinen Göttern malt, in
dem doppelten Sinne wahr, dass er mittelbar aus ihnen zu erschliessen und
unmittelbar in ihnen abgebildet ist, so steht doch das Abbild zum Original
in demselben unstetigen Verhältnis, in dem es in den wirklichen
bildnerischen Versuchen der Völker steht.
Über den prinzipiellen Versuch aber, die (<452) Religion als
dasjenige tiefste Moment des Menschenlebens aufzufassen, aus dem seine
Sittlichkeit hervorgeht, ist doch folgendes zu sagen.
Kein Gedanke führt einen Geburtsschein mit sich, der von vornherein,
ohne dass man seinen Inhalt prüfte, anzeigte, ob er vom guten oder vom
bösen Prinzip stammt; erst dann also, wenn wir einen Gedanken als guten
erkannt haben, können wir sagen, es ist der Wille Gottes.
In diesem Kriterium, nach dem der Begriff des Guten dem Willen Gottes
vorangeht, liegt eine grosse Gefahr für die autoritative Haltung der
Kirche, und sie muss deshalb den Satz bekämpfen: dadurch, dass wir die
Tat als moralisch gut erkennen, erkennen wir sie als den Willen Gottes.
Sie setzt an Stelle dieses moralischen Kriteriums das der kirchlichen
Überlieferung, die im einzelnen Falle entscheidet, was der Wille Gottes
ist und was nicht.
Der katholische Priester mit seiner Macht, über die sittliche
Zulässigkeit jeder einzelnen Handlung zu entscheiden, ist für den
Gläubigen der Mund Gottes; der eigentliche Charakter des Moralischen:
dass wir es als einen Befehl vernehmen, bei dem nicht weiter zu fragen
ist, wozu? - diesen Charakter trägt die Entscheidung vom Beichtstuhl.
Man gebe sich darüber keiner Illusion hin, dass diese blinde, jeden
selbständigen Gebrauch der Vernunft ausschliessende Hingabe an die
Offenbarung die einzige Bedingung ist, unter der wir die sittlichen
Gesetze von Gott ableiten können; andernfalls, so wie wir den Begriff des
Guten mit einem selbständigen, für sich gültigen Inhalt erfüllen, wird
dieser sofort zum Richter über das, was uns als Wille Gottes überliefert
ist.
Auf theoretischem Gebiet findet sich ganz Entsprechendes.
Während ein rationalistischer Standpunkt nur das als göttliche
Offenbarung anerkennt, was den Gesetzen unseres Denkens und der auch sonst
anerkannten Wahrheit gemäss ist, lehrt umgekehrt die Kirche: nur das, was
Gott offenbart hat, ist Wahrheit.
Wie das Gute keinen Sinn für sich haben und nicht an und für sich
geboten sein soll, sondern erst durch die göttliche Autorität gut und
geboten wird, so (<453) hat auch das Wahre keinen Sinn für sich, der
es zum Kriterium der überlieferten Offenbarung machte, sondern umgekehrt
wird diese zum Kriterium des Wahren.
So sehr sich das freie sittliche und intellektuelle Gefühl gegen einen
solchen Standpunkt sträuben mag, so kann man ihm doch vollständige
Konsequenz nicht absprechen.
Schliesslich ist die Autorität der rein sittlichen Gesetze für uns
auch eine Glaubenssache, ebenso wie die Geltung der axiomatischen
Grundlagen des Erkennens, wie alles Letzte und Höchste überhaupt, das
eben als solches nicht mehr auf ein Höheres zurückzuführen ist, aus dem
es die Möglichkeit des Bewiesenwerdens schöpfte; und so kommt es nur
darauf an, dass man an jene kirchliche Autorität ebenso glaube, um es
ganz in der Ordnung zu finden, dass die tugendhaftesten Menschen, die in
Zeiten und Ländern lebten, wo sie von Christus nichts wussten, zur Hölle
verdammt, dass Ketzer verbrannt werden usw. Auf dem Standpunkt solchen
Glaubens entwickelt sich aus Grundlagen, die durchaus nicht unbeweisbarer
sind als die einer anderen Moral, mit derselben Konsequenz die Moralität
solcher Vorstellungen, wie sich aus abweichenden Grundlagen die
Immoralität derselben entwickelt.
Das Entscheidende ist hier eben der absolute Wert, den das eine oder
das andere besitzt.
Aller Streit, aller Versuch eines Beweises hört rationeller Weise hier
auf; denn es handelt sich gerade um diejenigen Axiome und Denkformen, die
jedem Streiten und Beweisen zu Grunde liegen müssen, um überhaupt ein
gegenseitiges Verständnis zu erzielen.
Das menschliche Denken ist nun einmal so eingerichtet, dass irgend ein
Letztes unbewiesen vorausgesetzt werden muss, das zum Kriterium alles
weiteren anzuerkennenden Seins und Sollens diene.
Dieses Kriterium selbst kann nur insoweit zum Gegenstand der Kritik
gemacht werden, als man fragt, ob es tatsächlich konsequent oder
inkonsequent durchgeführt wird.
Ist das erstere der Fall, so lässt sich nichts mehr dagegen sagen,
weil dies nur von der Voraussetzung eines anderen Fundamentes aus
geschehen könnte, (<454) das aber gerade von Jenem nicht anerkannt
wird.
Ist man deshalb erst einmal entschlossen, das religiöse Gebot als das
allein sittliche anzusehen, so ist es ein analytischer, aber eben deshalb
sicherer Satz, dass alle Sittlichkeit nur aus der Religion zu schöpfen
ist.
Hiergegen kann man nur etwa durch den Nachweis ankämpfen, dass dieser
Standpunkt von den so Behauptenden selbst nicht durchgeführt wird, dass
der Inhalt ihres Gesetzbuches noch anderes und selbst Widersprechendes
enthält.
Wäre dies aber nicht der Fall, so stünde einfach Dogma gegen Dogma,
da auch jede andere Begründung der Moral schliesslich an einem Dogma
stillhalten muss.
Selbst jene Mindestforderung innerer Konsequenz und
Widerspruchslosigkeit des Moralsystems ist bei näherem Zusehen keineswegs
so unmittelbar einleuchtend, so einfach und unzweideutig, wie sie klingt.
Denn wenn man den immanenten Zusammenhang eines moralischen
Gesetzbuches untersucht, dessen Mannigfaltigkeit sich scheinbar rein
logisch aus einem Grundprinzip entwickelt, so findet man auf Schritt und
Tritt sachliche Voraussetzungen, Vermittlungen, Überzeugungen, die über
die blosse Logik weit hinausgehen, aber ganz unbefangen als denknotwendig
eingeschwärzt werden.
Es ist einer der verbreitetsten Irrtümer, materiale Inhalte und
Ergebnisse des Denkens für formal logische zu halten, weil die
Unbezweifeltheit ihrer Wahrheit und die lange Gewöhnung an sie zu jener
Allgemeingültigkeit und psychologischen Notwendigkeit geführt hat, die
wir im allgemeinen nur den rein logischen Normen zusprechen.
»Rein logisch« nennt es z. B. der populäre Ausdruck, dass man einem
armen Menschen kein ungezähltes Geld anvertrauen soll; »rein logisch«
ist es ihm, wenn bei dem Vorhandensein eines bestimmten Nahrungsquantums,
nach dem zwei Individuen Begehr tragen, ein Kampf unter diesen ausbricht:
und doch zeigt eine leichte Überlegung, dass aus der vorausgesetzten
Situation die fragliche Folge keineswegs rein logisch hervorgeht, sondern
noch einer dazwischentretenden durchaus materialen Prämisse bedarf.
(<455) Keine ethische Norm wird für alle Verzweigungen der
Verhältnisse die richtige Handlungsweise rein logisch aus sich entwickeln
lassen, sondern allenthalben werden aus den mitgebrachten und instinktiven
Überzeugungen der Deduktion Bestandteile eingefügt.
Das Prinzip der Kasuistik, dem die Entscheidung vom Beichtstuhl folgt,
hat zur durchaus richtigen Grundlage die Einsicht, dass keine göttliche
Offenbarung, kein von oben gegebenes Moralgesetzbuch ein für allemal als
die Direktive des Handelns ausreichte.
Mit einem oder wenigen Prinzipien als Obersatz kommt man nicht durch
einfache Subsumtion jedes einzelnen Falles zu einer klaren Entscheidung;
vielmehr würden wir mit jenen und den bloss logischen Operationen bald
kläglich verlassen sein, wenn uns nicht von allen Seiten her ein
materiales Sollen ganz selbstverständlich bekannt wäre und zu Hilfe
käme.
Statt der logischen Konsequenz, die aus dem Material der göttlichen
Gebote das Gebäude der sittlichen Welt errichtete, entdecken wir bei
näherem Zusehen noch auf Schritt und Tritt Kräfte ganz anderer
Provenienz, die an dem Bau mitarbeiten.
Ob man nun aber auch mit der Logik und einigen allgemeinen Grundsätzen
ein Moralsystem aufbauen könne; oder ob die ganze Fülle seiner
Einzelheiten gleich unmittelbare Gebote des Göttlichen seien - immer ist
die Frage, ob die Übereinstimmung mit den logischen Geboten, der
widerspruchslose Zusammenhang des einzelnen wirklich ein Kriterium der
Zulässigkeit und Zulänglichkeit des Ganzen ist.
Die grüblerische Frömmigkeit des Mittelalters hat bekanntlich die
Frage aufgeworfen, ob Gott an die logischen Gesetze gebunden wäre, und so
unsinnig uns heute dieses Problem und seine Behandlung erscheint, so kann
man in ihm doch den sehr ernsthaften Grundgedanken erblicken, dass ein
Zwang für den Willen, seine Inhalte der Logik gemäss zu entfalten, nicht
existiert.
Schliesslich hat der Wille in sich selbst seine letzte Instanz, und
wenn er das Unlogische will, so kann man ihm in Bezug auf die äussere
Welt wohl nachweisen, dass er in ihr (<456) keine Realisierung finden
kann, aber nicht, dass er seine Realisierung nicht wollen könne; und in
Bezug auf den Widerspruch innerhalb seiner kann man die innere
Unmöglichkeit eines solchen Willens nur durch Anrufung jener logischen
Instanz beweisen, deren Gültigkeit er ja gerade abweist.
Was aber für den Willen überhaupt gilt, gilt auch für den Teil
desselben, den wir den sittlichen Willen nennen und der sich uns in der
Form des Imperativs darstellt.
Der Wille, der in jedem Sollen liegt, braucht sich als blosser Wille,
d. h. hier, als blosses Sollen genau so wenig an die logische Konsequenz
zu binden, wie er es gelegentlich seiner egoistischen oder sonstigen
Inhalte tut.
Diese Autonomie des Sittlichen gegenüber der Logik gilt freilich für
alle anderen Moralsysteme ebenso wie für die religiösen.
Allein sie machen seltener von ihr Gebrauch, - wenigstens scheinbar -
weil sie gerade in der logischen Konsequenz, mit der sie eine Bestimmung
an die andere ketten und so jede einzelne von jeder anderen tragen lassen,
ihre Hauptstütze suchen, wenn auch das Fundament des Ganzen ausserlogisch
ist.
Die religiöse Moral braucht für ihre Bestimmungen nicht in demselben
Masse den gegenseitigen logischen Zusammenhang, weil sie für jede
einzelne an die höchste Instanz verweist, die gleichmässig über allen
steht und in der alle sich schneiden.
Bedarf die religiöse Ethik nach dieser Seite hin weniger der
Unterstützung, die sich ihre Einzelheiten gegenseitig durch logischen
Zusammenhang gäben, so scheint sie eben desselben andrerseits um so
weniger entraten zu können.
Denn die wirkliche Welt, die sie als Produkt des göttlichen Willens
vor sich sieht, ist doch genau nach logischen Prinzipien und
ununterbrochenem Zusammenhang der Teile geordnet.
Nirgends stossen wir in der Schöpfung auf etwas, was als rhapsodische
Willkürlichkeit des Schöpfers gedeutet werden müsste.
Es ist deshalb durchaus unwahrscheinlich, dass das Gesetzbuch, durch
welches er die durch uns zu verwirklichenden Geschehnisse bestimmt, nach
anderen Prinzipien, nach unlogischen, (<457) verfasst sei.
Die Normen, die Gott in aller sonstigen Welt befolgt hat, wird er doch
bei dem kleinen Ausschnitt derselben, der das menschliche Handeln regeln
soll, nicht durchbrechen wollen, und deshalb wird gerade die Berufung auf
Gott nur bei dem strengsten realen und logischen Zusammenhang der
ethischen Bestimmungen stattfinden können.
Dies ist freilich nur ein Wahrscheinlichkeitsschluss, und wenn das
religiös-sittliche Dogma Unzusammenhängendes und innerlich Unlogisches
anbefiehlt, so wird es sich darauf berufen können, dass jene Autonomie,
die das menschliche Wollen von dem Kriterium der Logik befreit, doch
gewiss dem göttlichen nicht abgesprochen werden kann.
Das eine ist allerdings kein Zweifel: der subjektiven Seite der
Sittlichkeit wird durch das religiöse Verhalten in hohem Masse genügt.
Man kann an den religiösen Moralprinzipien gewisse Imperative
vermissen, man mag die ihrigen für objektiv falsch und verderblich
halten, aber man wird nicht leugnen können, dass das Bewusstsein,
sittlich zu handeln, gerade dem von religiösen Triebfedern Bewegten in
ungetrübter und subjektiv zulänglicher Weise eigen zu sein pflegt.
Auch dort, wo der Gottesgedanke durch den Glauben an Lohn und Strafe im
Diesseits oder jenseits seine praktischen Wirkungen hervorbringt, und wo
andere Standpunkte deshalb die Reinheit der Moral vermissen, wird doch in
der Regel dem persönlichen Pflichtbewusstsein genügt sein, und es wird
diejenige Vorstellung fehlen, die das eigentliche Kriterium subjektiver
Unsittlichkeit ist, die Vorstellung nämlich, dass man anders empfinden
und handeln sollte als man es in Wirklichkeit tut.
Erst dann wird diese eintreten, wenn anderweitige Sittenregeln sich
einen von dem Religiösen unabhängigen Platz neben ihm erobert haben und
nun ihnen, die mit imperativischer Kraft das Bewusstsein erfüllen, um der
egoistischen Vorteile willen entgegengehandelt wird, die aus dem
religiösen Gehorsam fliessen.
So lange dies nicht der Fall ist, so lange dem letzteren keine
(<458) Konkurrenz in der Seele des Frommen gemacht wird, hat man weder
einen Hebel, durch den man ihn in seinen auch noch so abergläubischen
Ideen erschüttern könnte - weil sein Bewusstsein keinen festen Punkt
ausserhalb derselben hat -noch hat man ein Recht, ihm einen Mangel an
subjektiver Sittlichkeit vorzuwerfen.
Und nun komme ich auf den zweiten Punkt, der in unserer Frage, ob die
Religion den Einheitspunkt von Sittlichkeit und Glückseligkeit bildet,
noch aussteht, auf die Bemessung ihres eudämonistischen Wertes.
Die Religion hat als Moralprinzip das Eigenartige, das ihr auch zu der
Macht über die Seelen hilft: dass sie dem Menschen sein eigenes Heil und
Glück zur Pflicht macht - in umgekehrter Richtung wie das ästhetische
Ideal, das ihm die Pflicht zum Glück machen will.
- Wenn auch logisch die Pflicht nur Gott gilt und die Erlangung der
Seligkeit die Folge jener ist, so habe ich doch häufig bemerkt, dass
jenes Mittelglied psychologisch ausgeschaltet, und die Seligkeit bez. die
Anwartschaft auf sie zum Inhalt der sittlichen Forderung wird.
Der Verdammte, d. h. zum Schmerz Verurteilte, ist als solcher
Gegenstand des sittlichen Abscheus der Frommen, während sich mit dem
Begriff der Seligkeit selbst der der sittlichen Erhabenheit und Heiligkeit
verbindet.
Alle religiöse Unduldsamkeit, alle gewaltsame Bekehrung durch Folter
und Scheiterhaufen beruht, wenn nicht auf hierarchischer Selbstsucht, auf
dieser eigentümlichen Vorstellung, dass man die Menschen zu ihrem eigenen
Heil zwingen könnte und müsste wie zur Erfüllung einer Pflicht.
In der Geschichte der Ketzerverfolgungen begegnen wir unzählige Male
dem gewiss oft genug ehrlichen Ausspruch, dass nur die Liebe zu den
verirrten Kindern, nur die Sorge für ihr Heil zu diesen Zwangsmassregeln
getrieben habe.
Die Vertreter des göttlichen Prinzips verlangen, dass jeder auf sein
Seelenheil bedacht sei; und es ist nur konsequent, wenn Augustin die
Duldsamkeit gegen die Ketzer als eine Grausamkeit gegen sie bezeichnet.
(<459) Während man in allen anderen Verhältnissen jeden die Folgen
seines Handelns für ihn selbst tragen lässt, ohne auf diese selbst ein
moralisches Urteil über ihn zu gründen, sobald jene Folgen auch wirklich
auf ihn beschränkt bleiben und weder direkt noch indirekt in individuelle
oder soziale Verhältnisse Anderer eingreifen, ist auf religiösem Gebiet
die Neigung vorhanden, den Menschen nach den ihn allein treffenden
irdischen oder jenseitigen Folgen seines Handelns zu beurteilen, d. h.
vorauszusetzen, dass es seine Pflicht wäre, die Seligkeit zu gewinnen.
Und eben dieselbe Tendenz wird dem göttlichen Wesen zugeschrieben;
gerade je gütiger, je mehr auf das Wohl seiner Geschöpfe es bedacht ist,
desto mehr ist sein Endzweck mit ihnen nur ihre Glückseligkeit und desto
ausschliesslicher verlangt es deshalb von ihnen nur, dass sie ihm die
Möglichkeit geben, sie zu beseligen; in dem Masse, in dem der Gott
aufhört, Götze zu sein und für sich selbst reale und ideale Tribute wie
ein irdischer Herrscher zu verlangen, in demselben Masse bleibt von der
Pflicht gegen ihn nur der Teil übrig, der sich auf uns selbst bezieht.
Das erhabenste göttliche Wesen kann unmöglich um eines
Zustandes seiner selbst willen irgend eine Handlung von uns fordern,
sondern nur um unseretwegen, und offenbar nur diejenige, die die Bedingung
bildet, unter der es uns das uns zugedachte Heil kann angedeihen lassen.
Am weitesten in dieser Richtung ist die Heilslehre Buddha's
vorgeschritten, die den Gott ganz und gar fortlässt und als sittliche
Pflicht der Gläubigen einzig und allein die Erlangung des eigenen Heils
fordert.
Gewiss würde die Religion auf diese Weise Glückseligkeit und Tugend
in die engste prinzipielle Verbindung setzen, wenn nur alle tatsächlichen
Forderungen des sittlichen Bewusstseins einerseits, des Glückstrebens
andrerseits auf diese Weise Befriedigung fänden.
Für das letztere gilt dasselbe, was ich oben für das erstere
ausführte; wie Religiosität freilich dann mit der Tugend zusammenfällt,
wenn man von vornherein alles, was als ethische (<460) Forderung
auftritt, sofort als religiöse auffasst oder als sittlich nur das
anerkennt, was die Religion fordert, so fällt sie auch mit der
Glückseligkeit zusammen, wenn man entweder das Glücksverlangen so
verengt, dass es mit dem, was die Religion gewährt, oder das letztere so
zu erweitern weiss, dass es mit jenem übereinstimmt.
Ich will für den eudämonistischen Wert der Religion nur zweierlei
Gesichtspunkte anführen, und zwar zunächst einen mehr negativen.
Mit der überwiegenden Mehrzahl unserer Strebungen zu einem Ziel ist
die Bemühung verbunden, Mitstrebende von eben diesem Ziel
auszuschliessen; da der Umfang des Gewünschten stets grösser ist als der
des Erreichbaren, so ist die Erfüllung eines Wunsches für ein Individuum
fast immer nur so möglich, dass Anderen der gleiche Wunsch unerfüllt
bleibt; welche unermesslichen Leiden durch diesen Kampf auf fast allen
Gebieten des organischen und sozialen Lebens hervorgerufen werden, bedarf
keiner Ausführung.
Fast allein auf dem religiösen Gebiet können die Kräfte und
Strebungen der Einzelnen sich voll ausleben, ohne mit einander in
diejenige Konkurrenz zu geraten, die sonst aus dem Überwiegen der
Wünsche über die möglichen Befriedigungen hervorgeht.
Obgleich das Ziel Allen gemeinsam ist, gewährt es doch auch Allen die
Möglichkeit der Erreichung und hat nicht ein gegenseitiges
Sich-Ausschliessen, sondern im Gegenteil ein Sich-AneinanderSchliessen zur
Folge.
Zwar findet Ähnliches bei einigen anderen idealen Interessen statt,
besonders bei dem vaterländischen Waffendienst und bei wissenschaftlichen
und künstlerischen Bestrebungen.
Allein bei den letzteren kommt es doch nur allzu häufig vor, und liegt
vielfach auch in der Natur der Sache, dass die gesuchten Befriedigungen,
soweit sie äusserlich sind, der Ruhm, der materielle Erfolg, aber auch
das Bewusstsein eigenen Wertes nur auf Kosten Anderer und durch ihr
relatives Zurückbleiben zu finden sind.
Und bei dem ersteren werden die hier in Frage stehenden Glücksfolgen
des fehlenden Wettbewerbes durch anderweitige (<461) entgegengesetzte
allzusehr aufgehoben.
Die Konkurrenzlosigkeit innerhalb der religiösen Bestrebungen findet
vielleicht ihren treffendsten symbolischen Ausdruck in der Kommunion.
Hier soll durch ein für Alle gleiches Mittel ein für Alle gleicher
Zweck erreicht werden - ein Parallelismus der Interessen unter
gleichzeitiger Konkurrenzfreiheit, wie er grossartiger und umfassender nie
erreicht worden ist.
In wie hohem Masse aber dieser Charakter der Religion eudämonistisch
wirkt, zeigt sich insbesondere in den Festen.
Denn diese haben ihr ganzes Wesen darin, dass sie einerseits eine
Vereinigung der Gläubigen im religiösen Gedanken, andrerseits mit und
durch dieselbe eine Luststeigerung enthalten.
Die vollkommenste Vereinigung hiervon ist vielleicht das
Weihnachtsfest: im bescheidensten Hause wie im Fürstenschloss die gleiche
Stimmung und das analoge Tun, eine reale Vereinigung Zusammengehöriger,
soweit es die Verhältnisse gestatten, und eine ideelle über die ganze
Christenheit verbreitete.
Und hier ist nun als wesentlich eudämonistische Folge die Erweiterung
des Ich zu beachten, die der Zusammenschluss mit der Gesamtheit der
Gläubigen zur Folge hat.
Der Gedanke, mit einer ausserordentlich grossen Anzahl von Menschen das
Gleiche zu empfinden und zu erlangen, das Bewusstsein, an Gütern Teil zu
haben, aus deren Besitz mich nicht nur keiner verdrängen kann oder will,
sondern an dem er, ob der Niedrigste oder der Höchste, gerade im
Zusammenschluss mit mir Teil hat - dies Bewusstsein bildet die positive
Seite der Konkurrenzlosigkeit im Religiösen.
Und hieran schliesst sich ein direkt eudämonistisches Moment.
Der psychologische Reiz der Religion liegt jedenfalls auch darin, dass
sie in einem einheitlichen Rahmen und eigentlich durch einen einzigen
Gedanken so sehr verschiedenartige Triebe und Erschütterungen darbietet:
die Zerknirschung und die Erhebung; Gott gegenüber zu stehen und mit ihm
vereint zu sein; die Furcht und die Hoffnung; das Leben für das jenseits
und die Regulative für das Diesseits.
Sehr gut charakterisiert sich dies in dem Komplex von (<462)
Gemütswirkungen, die das Zeichen des Kreuzes im Mittelalter auslöste.
Krieg und Frieden, Freude und Leid, Busse und weltlichste
Unternehmungen zeigten es als ihre Aegide, es gab kein Gebiet des
Gemütsleben das nicht in ihm ein schützendes und stützendes Symbol,
eine Verkörperung und zugleich Vergeistigung gefunden hätte.
Es war das überall gültige Zeichen von dem lückenlosen Umfange, in
dem der religiöse Gedanke sich des menschlichen Tuns und Empfindens
bemächtigt hatte.
Man könnte dies die psychologische Massenwirkung der Religion nennen.
Die Seligkeit der religiösen Schwärmerei, das unbeschreibliche und
durch nichts aufzuwiegende Glück der still innigen oder aufgeregt
ekstatischen Hingabe an Gott, das Gefühl einer erhöhten und erweiterten
Existenz, die das religiöse Leben uns erschlösse - diese Momente sind
psychologisch ausdeutbar durch die Fülle der teils apperzipierten, teils
frei steigenden, aber grösstenteils unbewussten Vorstellungen, wie die
Religiosität sie in sich schliesst.
Jeder derartige psychische Bewegungsreichtum erregt ein hohes
Lustgefühl, für das der Inhalt der Vorstellungen relativ ohne Belang
ist.
Die Ursache aber, aus der er sich mit den religiösen Vorstellungen
verbindet, liegt, wie ich glaube, in dem oben ausgeführten sozialen
Ursprung der Gottesidee.
Die ganze Autorität der Gattung über den Einzelnen, die Fülle der
Normen, deren Ursprung aus realen Gattungserfahrungen längst vergessen
ist, die Errungenschaften, die dem Einzelnen überliefert werden, ohne
dass er wüsste woher, die Führung durch Gattungsinstinkte, die ihm auf
übernatürlichen Ursprung hinzuweisen scheinen - alles dies konzentriert
und personifiziert sich in der Gottesidee und gerade weil die Masse der
Vererbungen, Überlieferungen und Einflüsse jeder Art in diesem
einheitlichen Punkte die höchste psychische Kraft gesammelt hat, weil er
die wichtigsten Beziehungen der Gattung sozusagen im Auszuge enthält, ist
er im Stande, jenen Reichtum von Vorstellungen und (<463) Empfindungen
zu entfalten, dessen eudämonistische Wirkung vielfach nicht hoch genug
geschätzt werden kann.
Dies wird indes im Allgemeinen nur für die Augenblicke besonderer
religiöser Erhebung oder für solche selteneren Individuen gelten, die
ihr gesamtes Gefühlsleben nach diesem Tone abstimmen; sonst pflegt, wenn
man von der Glückseligkeit der Kinder Gottes spricht, eine Verwechslung
vorzugehen zwischen dem, was die Religion gewährt, was von ihr ausgeht,
und dem, was sie gestattet, was mit ihr zu vereinigen ist.
Wer sein Leben von vornherein durch bestimmte religiöse Dogmen lenken
lässt, hat vielfach freilich einen sicheren Anhalt in Konfliktsfällen,
ein Prinzip für die Auswahl unter den sonstigen eudämonistischen
Momenten des Lebens.
Wenn sich nun daraus ein relativ ungestörter Zustand von Behagen
ergibt, so schreiben wir das leicht der Religion als Ursache zu und
übersehen, dass sie nur auswählt und gestattet, aber nicht die
Lustursachen selbst hervorbringt, die das Leben des Gläubigen schmücken.
Im übrigen malt sich die ganze Zufälligkeit und Prinzipienlosigkeit
des Verhältnisses zwischen Religion und Glück in den höchst
entgegengesetzten psychologischen Folgen, die der Glaube an Gott und
Unsterblichkeit für unser Beurteilen und Empfinden des Diesseits hat.
Die Idee des Brahma, des all-einen und all-guten Prinzips, ist
jedenfalls nicht nur ein Ausdrucksmittel, sondern auch eine Wurzel des
indischen Pessimismus geworden.
Hatte die lebhafte und üppige Phantasie der Inder erst einmal ein
solches absolutes, über alle irdische Unvollkommenheit hinausliegendes
Gottwesen geschaffen, so musste an diesem Ideal gemessen alle Wirklichkeit
wertlos erscheinen.
So wurde der indische Pessimismus geradezu zum Schatten, den das
blendende Licht der Brahmaidee warf.
Auch wenn andere Religionen es fertig gebracht haben, die Erde als ein
Jammertal erscheinen zu lassen, ist es sehr fraglich, ob der Gedanke der
Existenz und der Erlangbarkeit eines ewig freudenvollen Himmels in jedem
Augenblick ein hinreichend tröstendes Äquivalent dafür (<464)
bietet.
Vielmehr bleibt die Verleidung des irdischen Lebens bestehen, auch wenn
der Gedanke des Gottesreichs, der sie hervorgerufen und eudämonistisch
ausgeglichen hatte, nicht mehr diese Kraft besitzt.
Die Vernachlässigung der Interessen des Diesseits, die Verdunkelung
und Verdammung seiner Freuden mögen theoretisch sehr wohl auch
eudämonistisch durch den Gedanken einer jenseitigen, überschwenglichen
Entschädigung gerechtfertigt sein; in der psychologischen Wirklichkeit
jedoch dürfte die Mehrzahl der Gläubigen kaum in jedem Augenblick neben
den so geschaffenen Lücken in ihrem Bewusstsein Platz für jene
Ausgleichung haben.
Es tritt in denjenigen Religionen, die getrennte Schicksale im jenseits
lehren, die Unsicherheit für den Einzelnen dazu, ob er zu den
Auserwählten gehören, bez. ob er bis zum Schluss seines Lebens der
jenseitigen Belohnung würdig bleiben wird.
Es kommen endlich die quälerischen inneren Zweifel in Betracht, die
von der Religiosität dann untrennbar sind, wenn der Kulturfortschritt zur
Verselbständigung ihres Gebietes neben dem der sozialen, der
intellektuellen, der sittlichen Interessen geführt hat.
Ihre Entwicklung weicht dann in Richtung und Tempo oft genug und weit
genug von der der letzteren ab, um gerade die festen und mit dem
Gemütsleben tief verwachsenen religiösen Überzeugungen zum Grunde des
peinigendsten Dualismus, der schwersten inneren Kämpfe werden zu lassen.
Alle Konflikte zwischen den entgegengesetzten Parteien mit ihren
wechselseitigen Angriffen, Verfolgungen und Schädigungen finden dann ihr
genaues Gegenbild in der inneren Parteiung des Einzelnen, in dem Verhalten
seiner von den entgegengesetzten Trieben bewegten Vorstellungsmassen.
Man kann dem freilich entgegenhalten, dass dieser negativ
eudämonistische Erfolg doch nicht ein solcher der Religion, sondern
gerade ihrer Bezweifelung sei und uns erspart bliebe, wenn wir uns
innerhalb ihrer Grenzen hielten.
Allein, da die Triebe und Gedanken, aus denen der Widerspruch gegen die
Religion fliesst, ebenso tief in unserer (<465) Natur ruhen, wie ihre
eigenen Wurzeln, wenn sie sich auch später als diese entwickeln, so wird
man die erwähnten Konflikte für einen notwendigen Nebenerfolg der
Religion halten müssen, für den ihr also die Verantwortung zufällt,
ungefähr wie ein stark bevormundendes Regiment die Verantwortung für die
Revolution zu tragen hat, die sich gegen dasselbe erhebt.
Man kann andrerseits den hohen eudämonistischen Wert des religiösen
Glaubens nicht leugnen.
Der Verdunkelung und Schmälerung der irdischen Freuden steht die
erhabene Lust gegenüber, die der Versenkung in den Gedanken Gottes und
des Paradieses selbst dann entspringt, wenn die Hoffnung einstigen eigenen
Genusses dem Bewusstsein fern bleibt.
Das blosse Sichhineindenken in so grossartige Vorstellungen, die
Gewissheit ihrer Wirklichkeit, kann eine interesselose Lust hervorrufen
und natürlich eine um so höhere, je dunkler der Hintergrund des realen
Lebens ist, von dem sie sich abheben.
Auch auf diesem Gebiet empfinden wir wesentlich nur den Unterschied:
das irdische Leid vermehrt sich durch den Glanz des Himmels, und umgekehrt
dieser durch jenes, und es liegt auf der Hand, wie sehr es von der
Verschiedenheit der psychologischen Komplexion abhängt, welches von
beiden Momenten im Bewusstsein überwiegen soll.
Und wenn der schmerzhaften Ungewissheit über die Wahrheit der
religiösen Dinge und über das Los, das dem eigenen Ich durch sie
bereitet werde, auch die beruhigende Sicherheit des Glaubens und die Lust
gegenübersteht, die schon in der blossen Hoffnung künftiger Seligkeit
liegt, so ist auch für diesen Punkt klar, wie wenig ein prinzipielles
Verhältnis zwischen Religiosität und Glückseligkeit besteht, wie wenig
die eine unmittelbar die andere zur Folge hat, und dass vielmehr erst
dazwischenstehende psychologische Verhältnisse den Ausschlag darüber
geben, welche von beiden Möglichkeiten, die positiv oder die negativ
eudämonistische, im einzelnen Fall sich verwirklicht.
Vl. Nach alledem scheint mir ein prinzipielles Verhältnis zwischen
Tugend und Glückseligkeit ausgeschlossen; d. h. (<466) es scheint mir
unmöglich, direkt oder indirekt von einem Vorhandensein oder einem
bestimmten Quantum des einen, einen rationellen Schluss auf das andere zu
ziehen.
So sehr also auch Jedes von beiden selbstverständlich aus
vorangegangenen physisch-psychischen Verhältnissen gesetzmässig
entspringt, so stehen sie doch zu einander im Verhältnis blosser
Zufälligkeit, und das eine gibt nicht die geringste innerlich notwendige
Anweisung auf das andere.
Diese Zufälligkeit und die Unendlichkeit möglicher Kombinationen im
Seelenleben lassen sie allerdings oft genug streckenweise zusammengehen,
allein wo sie selbst durch reale Beziehungen verknüpft werden, ist das
eine niemals die unmittelbare Ursache des anderen, sondern es bedarf immer
eines gewissen dazwischenstehenden Prozesses, der zu beiden wiederum in
einem zufälligen Verhältnis steht; so z. B. die Verfassung des
Gemeinwesens, durch die der sittlichen Tat des Einzelnen eine
entsprechende Belohnung folgt, oder die persönliche Konstitution, die
durch ein ausserordentlich reges Gewissen der Unsittlichkeit genügende
innere Strafe bereitet.
In das Verhältnis zwischen Tugend und Glückseligkeit treten immer
hinreichend viel variable Grössen ein, um die Konstanz des Verhältnisses
zwischen ihnen zu verhindern.
Und überhaupt sind beide Begriffe viel zu umfassend, nach Inhalt und
Umfang zu unbestimmt, als dass eine einfache und sichere Beziehung
zwischen ihnen möglich wäre.
Aber gerade dieser etwas verschwommene und vielseitige Charakter so
hoher Allgemeinbegriffe, der dem realistisch Denkenden die Ergründung
ihres gegenseitigen Verhältnisses äusserst erschwert, erleichtert sie
einer vorschnellen Metaphysik.
Man braucht bei sehr abstrakten Begriffen, die ein ausgedehntes Gebiet
von Einzelvorstellungen unter sich haben, nur die Bedeutungsnuancen, die
man betonen will, richtig auszuwählen, um alle möglichen Kombinationen
zwischen ihnen nachzuweisen.
So kostet es die kleinste Mühe, Harmonie oder Disharmonie zwischen
Weisheit und Glück, Schönheit und Tugend, Tugend und Weisheit usw.
nachzuweisen.
Jeder von diesen Begriffen (<467) enthält so viele und zwischen so
weiten Grenzen sich bewegende Einzelvorstellungen, dass sich sowohl
Berührungen wie Entgegengesetztheiten unter ihnen ohne weiteres auffinden
lassen, freilich auf die Gefahr hin, dass das Gegenteil des eben
Behaupteten mit eben demselben Rechte behauptet werden kann.
Diese Möglichkeit ist, beiläufig bemerkt, für das Verhältnis
zwischen Tugend und Glückseligkeit von jenem Optimismus benutzt worden,
der so gern die in idealer Zukunftsferne liegenden Resultate historischer
Entwicklung und sittlicher Forderung als sachlich rationale
Notwendigkeiten an den Anfang der Entwicklung überhaupt setzt und nun die
tatsächlichen Gegenbeweise gegen seine Harmonien als Täuschungen,
oberflächliche Trübungen oder Folgen eines Sündenfalles ansehen muss.
Das ist jene eigentümliche Spiegelung, die die einstigen Ergebnisse
der Gattungsarbeit schon als geleistet erscheinen lässt, bevor die Arbeit
überhaupt begonnen, und ihre notwendige Unerreichtheit während des Weges
zu ihnen nicht sowohl als ein Nochnicht, sondern als ein Nichtmehr
vorstellt.
Georg Simmel: Einleitung
in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe
Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93
Vorworte
Band 1:
1.
Kapitel: Das Sollen
2.
Kapitel: Egoismus und Altruismus
3.
Kapitel: Sittliches Verdienst und sittliche Schuld
4.
Kapitel: Die Glückseligkeit
Band 2:
5.
Kapitel: Der kategorische Imperativ
6.
Kapitel: Die Freiheit
7.
Kapitel: Einheit und Widerstreit der Zwecke
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