Georg Simmel: Einleitung
in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe
Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93
Band 1:
Zweites Kapitel: Egoismus und Altruismus (S. 85-210)
Der »natürlichere« Charakter des Egoismus gegenüber
dem Altruismus
Tatsächlichkeit seiner Herrschaft;
zeitliches Verhältnis zum Altruismus
Methodologische Schätzungen des
Egoismusprinzips
Der Egoismus in der Natur
- seine ethische Bedeutung
Der logisch-erkenntnistheoretische Beweis des Egoismus als
tatsächlichen Motives
Leerheit des Egoismusbegriffs
Moralprinzip
des Willensmaximums
Das Verhältnis von Egoismus und Altruismus als
bewusster Triebfedern
Die Alternative zwischen ihnen; Mischungen und
Übergänge; die objektiven Ziele
Das Ich und seine Inhalte
Die
Pflichten gegen sich selbst
Allgemeinster Gesichtspunkt für das
Verhalten des Einzelnen zu einer Gesamtheit
Sittlichkeit als
Sozialegoismus
Die Selbsterhaltung; das Moralprinzip des
Lebensmaximums
Die Ehre
(< 85) Moralphilosophische Betrachtungen pflegen damit zu beginnen, dass der
natürliche Ausgangspunkt menschlichen Handelns der Egoismus ist: Im
Anfang war das Ich; und nicht nur zeitlich habe in der Entwicklung der
Menschheit und des Menschen der Egoismus den Vortritt vor dem Altruismus,
sondern er habe ihn, weil er sachlich das Primäre, der natürlichste und
ursprünglichste Trieb alles Lebenden sei.
Nur wie die Kunst zur Natur; die veredelte Frucht zur wildwachsenden,
so verhalte sich die altruistische Gesinnung zur egoistischen.
Diese sei der natürliche Mittelpunkt unserer Handlungen, um den sie
sich sozusagen von selbst bewegen, während es immer einer besonderen
Kraft bedürfe, um sie aus dieser Bahn heraus in die des Altruismus zu
lenken, aus der sie dann wieder in jene zurückfallen, sobald die
besondere Einwirkung und Modifizierung aufgehört hat - wie die Schwere
sofort wieder den irdischen Körper abwärts zieht, sobald ihm die Stütze
entzogen ist, die ihre Erscheinung zeitweise aufhob. (<86)
Es gibt nur wenige Begriffe, mit denen soviel Missbrauch getrieben, so
viel Scheinerkenntnis hervorgerufen ist wie mit dem des »Natürlichen«.
Kein Mensch weiss zu bestimmen, was damit eigentlich gesagt werden
soll, dass der Egoismus ein natürlicher Trieb und der Altruismus etwas
anderes ist.
Entweder man stelle das Bewusstsein samt allen seinen Inhalten der
Natur als dem unbewussten Sein gegenüber, alles vom Zweck geleitete
Geschehen dem bloss mechanischen Lauf der Dinge, dann gehört auch das
egoistische Wollen nicht in die blosse »Natur« hinein; oder man
betrachte die Natur als den Inbegriff aller erkennbaren Erscheinungen -
dann gehört die Aufopferung des Egoismus ganz ebenso zu ihr wie seine
Durchführung.
Aber mitten durch den menschlichen Willen eine metaphysische Grenzlinie
zu legen, die seinen Erscheinungen ganz verschiedenartige Provenienzen
aufdrängt, ist völlig inkonsequent und willkürlich.
Es können, so viel ich sehe, nur zweierlei Gesichtspunkte sein, unter
denen der Egoismus als der natürliche Trieb gegenüber dem Altruismus
erscheint.
Zunächst die Tatsache seiner weiteren Verbreitung.
Wir sind gewöhnt, das Typische, überall Auftretende und die
Erscheinungen im allgemeinen Beherrschende als das natürliche Fundament
des betreffenden Gebiets anzusehen, über das das Seltenere, Individuelle,
nur in besonderer Formung und Aufgipfelung der Kräfte sich Darstellende
erst als sekundäres Gebilde hinauswächst.
Aber wir wissen nicht etwa von vornherein, was der Begriff des
Natürlichen bedeutet, so dass die Häufigkeit und der durchgehende
Charakter einer Erscheinung nur die ratio cognoscendi für ihn, nur die
äusserliche Signatur wären, auf die hin wir ihr das Prädikat des
Natürlichen zuerkennen; sondern dieses selbst hat an und für sich keinen
bestimmten Inhalt und ist deshalb nichts als ein Name für die Eigenschaft
des Durchgängigen, Allgemeinen, überall Bemerkbaren. (<87)
Im Denken wie im Empfinden, im Ethischen wie im Ästhetischen erwirbt
das Verbreitete, Volksmässige, statistisch Überwiegende den Titel des
Natürlichen, und da nun der Altruismus dem Egoismus gegenüber sehr in
der Minorität zu bleiben scheint, erregt dieser die Vorstellung, der
natürlichere Affekt zu sein.
Zieht sich die Frage so dahin zusammen, wie Egoismus und Altruismus
sich quantitativ verhalten, so darf man nie vergessen, dass nur für die
oberflächlichste Beobachtung die Tat unmittelbar der Herold ihrer
Gesinnung ist.
Vielmehr ist diese immer Sache der Deutung und oft einer äusserst
schwierigen.
Verhältnismässig einfach liegt der Fall noch da, wo bewusste
Heuchelei die egoistische Absicht nur in die Form eines altruistischen
Handelns kleidet; oder wo umgekehrt ein gewisses Mass von Egoismus
zunächst aufgewendet werden muss, z. B. beim ökonomischen Erwerb, um die
Mittel zu altruistischem Handeln zu gewinnen.
Sehr erschwert aber wird die Entscheidung, ob Egoismus oder Altruismus
vorliegt, oft dadurch, dass das Bewusstsein des Handelnden selbst nicht
die richtige Auskunft über seine Motive zu geben vermag.
Es gibt genug unklare Menschen, die in der Meinung, dass Güte eine
Schwäche sei, egoistisch zu handeln glauben, während sie unbewusst von
lauter Motiven der Gutmütigkeit und des Altruismus bestimmt werden;
andere, die um ihren fundamentalen Egoismus nicht nur vor andern, sondern
auch vor sich selbst zu verbergen, ihm auf altruistischen Umwegen genügen
oder der Selbstsucht allerdings entsagen, aber nur wo und weil sie von den
unvermeidlichen Gewissensschmerzen ein grösseres Leid befürchten als
ihnen die egoistische Handlung Freude bereitet, so dass das Motiv doch
wieder Egoismus ist.
Noch komplizierter liegen die Sachen, wenn die soziale Gruppe Formen
für das egoistische wie für das altruistische Handeln geschaffen hat, in
welchen jegliche Gesinnung sich notwendigerweise bewegen muss und die dann
ihrerseits wieder auf die Gesinnung zurückwirken. (<88)
Die Festsetzungen des Rechts, der Sitte, der Verkehrsformen jeder Art,
die die Allgemeinheit zu ihrem Nutzen, d. h. im sittlichen, der
individuellen Selbstsucht entgegengesetzten Interesse geprägt hat,
erstrecken sich schliesslich soweit in alle Lebensverhältnisse des
Einzelnen hinein, dass er in jedem Augenblick von ihnen Gebrauch machen
muss.
Je ausgedehnter und mannigfaltiger meine Beziehungen zu anderen
Menschen sind, desto häufiger bin ich genötigt, um meines Vorteils
willen für den ihrigen in der Form der Assoziation wie der Zuwendung zu
sorgen.
Je grösser die Kreise sind, in denen der Einzelne steht, ein desto
kleinerer Teil jedes derselben kann er nur sein, desto weniger kann er
unmittelbar egoistisch verfahren, sondern muss seine eigene Förderung von
der der Personen und Kreise erwarten, mit denen er zusammengeschlossen
ist.
Hierin liegt die wichtige Erkenntnis, dass die blosse quantitative
Ausdehnung der Beziehungen, Interessen, Verbindungen rein als solche schon
ein Hebel der Sittlichkeit, über den Egoismus hinweg, wird.
Auch die egoistischsten Absichten können nicht anders verwirklicht
werden als in den Formen, die sozial vorgeschrieben sind und die ihrer
Tendenz nach allerdings jenen Absichten sehr entgegengesetzt sind; ich
erwähne den Gebrauch rechtlicher Formen bei betrügerischen
Transaktionen, die äussere Höflichkeit bei innerer Schurkerei u.
ä.
Es ist die Aufgabe der Kultur, die Formen des Verkehrs, deren sich ein
jeder zur Erreichung seiner Zwecke bedienen muss, mehr und mehr so zu
bilden, dass sie der Aufnahme eines unsittlichen Inhalts widerstreben; und
es ist unvermeidlich, dass, je mehr diese Formen auch über den Inhalt des
persönlichen Handelns Macht gewinnen, der Egoismus desselben von dem
Altruismus, der in jenen liegt, gekreuzt wird, so dass es schliesslich
sehr schwer zu entscheiden sein dürfte, ob die loyale Handlung nur als
Mittel zum egoistischen Zweck oder aus selbständigem sittlichem Interesse
entsprungen sei. (<89)
Wo der Einzelne unter die Forderungen des Rechts und der Sitte sich
beugt, findet auf höheren Kulturstufen eine meistens wohl kaum
entwirrbare Mischung von Eigeninteresse, das mit der Verletzung jener
Formen sich selbst beeinträchtigen würde, und von verselbstständigtem,
sittlich-altruistischem Interesse statt.
Man muss immer im Auge behalten, dass die Arbeit für das eigene Glück
dieses nicht unmittelbar bereitet; dass sie vielmehr in der Bearbeitung
äusserer und hauptsächlich menschlicher Objekte besteht, welche dann
erst auf uns lustweckend zurückwirken.
Mag der Endzweck noch so sehr ein persönlicher sein - zu den Mitteln
müssen wir uns aus uns selbst entfernen.
Es bedarf des Umweges über objektive Verhältnisse, an die wir uns
hingeben, die wir kennen lernen und bearbeiten müssen, damit endlich
durch viele Zwischenglieder hindurch ihre Wirkung in uns die Reaktion der
Freude auslöse.
Da der Mensch aber, namentlich je höher die Kultur steigt, mehr und
mehr nach lebhaften Interessen als solchen strebt, da diese Kultur die
definitiven Ziele ferner und ferner an den Horizont des Bewusstseins und
schliesslich hinter ihn rückt, so wird sich das Interesse auch des
Egoisten mehr und mehr an die objektiven Verhältnisse heften, mit denen
er immerwährend zu tun hat.
Die Lebensbedingungen der Menschheit werden allmählich so kompliziert,
der Kampf ums Dasein so immer mehr zum Kampf um die Mittel zum Dasein,
dass alle Interessen gar nicht mehr der definitiven Lust und Schmerz,
sondern ihren Bedingungen und den Bedingungen ihrer Bedingungen gelten.
Die Ausbildung des teleologischen Apparats überdeckt und verschlingt
den Endzweck; aber eben dadurch erheben wir uns über das persönliche
Interesse, das diesen ausmachte, zu den objektiven Interessen, die sich an
die Mittel zu ihm heften.
Indem freilich ebendieselbe Kulturhöhe den Kreis erweitert, in dem der
Kampf ums Dasein spielt, und die Ansprüche steigert, die das Leben an uns
und die wir an das Leben stellen, werden persönlich altruistische
Verhältnisse oft durch die Schwierigkeit der Selbsterhaltung gekreuzt;
die langen und verwickelten Wege, auf denen man überhaupt zu den Mitteln
der Bewährung altruistischer Gesinnung gelangt, fordern die
Aufmerksamkeit so für sich, dass schliesslich selbst da, wo die letztere
Gesinnung den Ausgangspunkt bildet, das Bewusstsein sich an egoistische
Maximen anpassen muss und so auch von dieser Seite eine Sonderung des
Egoismus vom Altruismus oft undurchführbar sein dürfte. (<90)
Diese Bemerkungen sollen nur die Schwierigkeit des Problems: wie weit
der Egoismus unserer Handlungen den Altruismus überwiegt, beleuchten und
mit ihr die Unberechtigung der Vorstellung, dass der Egoismus das
natürliche Fundament unseres Handelns ist, insoweit sie auf die
tatsächliche Herrschaft des Egoismus gegründet ist.
Es ist nun allerdings kein Zweifel, dass, wenn einmal unser Handeln auf
ein einheitliches Prinzip zurückgeführt werden soll, ganz allein der
Egoismus dazu taugt.
Da Gesinnungen immer nur erschlossen, nie unmittelbar konstatiert
werden können, so hat Sophistik und psychologische Willkürlichkeit zwar
nach beiden Seiten hin freies Spiel; allein tatsächlich scheitert der
Versuch einer monistischen Zurückführung alles Handelns viel eher, wenn
er nach der altruistischen als wenn er nach der egoistischen Seite hin
unternommen wird.
Kein Mensch hat je etwas getan, was sich nicht mit längeren oder
kürzeren Umwegen auf egoistische Motive bringen liesse, während die
altruistische Auslegung selbst bei dem gutwilligsten Vorurteil an einer
Reihe von Fällen halt machen muss.
Diese Möglichkeit einer durchgehenden Reduktion des Handelns auf
Egoismus wird, weil sie den kraftsparenden Trieb nach Einheitlichkeit des
Vorstellens befriedigt, leicht zu dem Glauben auswachsen, dass der
Egoismus auch wirklich allen Handlungen zum Grunde läge.
Die Vorstellung, zu einem Verständnis des Lebens nur durch
Vereinheitlichung seiner Triebfedern zu gelangen, bedroht ethische
Deduktionen freilich nicht selten mit dem Zirkel, den Egoismus als eine
Art von Altruismus und den Altruismus als eine Art von Egoismus zu
erklären, während doch gerade ihr Charakter als unmittelbar bewusste
ethische (<91) Affekte darauf beruht, dass sie nicht aufeinander
zurückführbar sind, dass eines nur in der Ausschliessung des andern sein
Wesen hat.
Das Egoismusprinzip hat überhaupt als Erklärung wie als praktische
Norm etwas sehr Verstandesmässiges und rational Einleuchtendes.
Deshalb herrscht da, wo das Recht vorwiegend logischen und
rationalistischen Charakters ist, die Vorliebe, den Kollektivbesitz der
Körperschaften zu negieren und nur das persönliche Sondereigentum, den
Egoismus in Substanz, anzuerkennen.
Im modernen Italien ist diese Tendenz sehr sichtbar; die Reduktion
aller Rechtsverhältnisse auf die klaren, logischen Bestimmungen des
römischen Rechts hat zur Folge, dass man sich gegen die Vorteile des noch
vielfach vorhandenen Gemeindebesitzes blind macht, der freilich nicht mit
so rationalen, durchsichtigen Kategorien behandelt werden kann wie jenes.
Der zweite Gesichtspunkt, von dem aus der Egoismus als die natürliche
Triebfeder erscheinen kann, ist sein zeitlich früheres Hervortreten dem
Altruismus gegenüber.
Nicht nur die seltenere, sondern auch die spätere Erscheinung sei
dieser, erst zugleich mit der Entwicklung der höheren Funktionen des
menschlichen Gemüts erhebe er sich und wachse langsam mit
fortschreitender Vervollkommnung unseres Wesens.
Und zwar gelte dies ebenso für den Einzelnen wie für die Gattung; das
Kind folgt wie das Tier nur seinen selbstischen Antrieben und kennt im
allgemeinen keine Rücksicht auf Andere und keinen Verzicht um
ihretwillen; und das sei die Verfassung, die im Kindesalter des
Menschengeschlechts als Krieg aller gegen alle die herrschende sei.
Über die Wahrheit dieser Behauptung kann man streiten.
Der Egoismus in dem Sinn, mit dem wir in der Ethik zu tun haben, kann
erst auftreten, wenn irgend eine menschliche Gesellschaft existiert.
Von dem präsozialen Menschen können wir uns keine bestimmtere
Vorstellung machen.
Es müssen ihm so wesentliche Eigenschaften gefehlt haben, dass die
Anwendung des gleichen Namens für ihn von zweifelhafter Berechtigung ist.
(<92)
In Gesellschaft aber kann der Mensch nur leben, wenn er schon seinem
Egoismus Einhalt getan und mehr oder weniger für andere zu leben gelernt
hat.
Nun mögen im Ideale höchster Kultur alle Zustände so geordnet sein,
dass die Beiträge, welche der Einzelne zum Bestehen der Gesellschaft
liefert, ihm schliesslich selber zu gute kommen und aller Altruismus sich
als blosses Mittel des Egoismus herausstellt; primitive Zustände aber
sind von dieser Versöhnung entschieden sehr weit entfernt; je härter und
namentlich je unorganisierter der Kampf gegen die Natur und gegen
feindliche Gruppen noch ist, um so häufiger wird das Bestehen des Ganzen
die Aufopferung des Einzelnen verlangen.
Damit überhaupt die Zustände sich bilden können, in denen der Mensch
als solcher existieren und seinen Egoismus entfalten kann, muss ein
gewisses Mass von Altruismus schon vorhanden sein, ganz ebenso wie
intellektuell ein Bewusstsein des Ich erst durch Abscheidung und Gegensatz
gegen Andere entstehen konnte.
Auch hören wir fast durchgehendes von mehr oder weniger
kommunistischen Zuständen bei sehr primitiven sozialen Gruppen.
Und wenn diese auch nicht aus einer unmittelbar altruistischen
Gesinnung in unserm Sinn, sondern aus einer einfachen sozialen
Notwendigkeit hervorgehen, so beweisen sie doch jedenfalls, dass ein
unbedingtes Durchsetzen der selbstsüchtigen Bestrebung um jeden Preis
sich für die frühesten Zustände des Menschengeschlechts nicht
nachweisen lässt.
Wenn man übrigens die Tatsache, dass reale Zustände früherer Zeiten
sich als Triebe auf die späteren Generationen vererben und zwar
insbesondere dann als solche bewusst werden, wenn die Verhältnisse ihnen
nicht mehr selbstverständliche und unbedingte Verwirklichung gestatten -
wenn man diese Tatsache für das vorliegende Problem verwerten will, so
könnte man annehmen, dass der spezifische Altruismus in unserem Sinne ein
von jenem ursprünglich kommunistischen Zustande her vererbter Instinkt
ist, der durch die Reibung mit dem inzwischen gross gewordenen Egoismus
bewusst (<93) wird und erst in diesem Gegensatz seinen eigentlichen
Sinn erhält.
Andererseits darf freilich nicht übersehen werden, dass nach
sprachlichen und sonstigen Zeugnissen derjenige Wert, den wir dem sittlich
Ausgezeichneten zusprechen, sich in früheren Kulturen an den Mächtigen,
Reichen, Glücklichen heftete.
Die Worte für sittliche Qualitäten bezeichnen durchgehendes
ursprünglich das physisch Gute und Schlechte.
Noch in der buddhistischen Moral ist der Sittliche ganz allein der, der
sein eigenes Heil, das irdische wie das der Erlösung zu erreichen weiss.
Im Englischen bedeutete das Wort villain ehemals einen Leibeigenen, das
Wort noble eine sozial hochstehende Persönlichkeit, daraus ist für jenes
die Bedeutung eines schlechten, für dieses die eines guten Charakters
geworden.
Der Unterworfene erschien als Schlechter und mit gewissem Rechte,
insofern die kriegerische Tugend, in welcher er zurückstand, früher den
wesentlichen Inhalt des sozialen und also sittlichen Verdienstes bildete;
und eben weil er als Schlechter erschien, gewann seine Unterdrückung
einen moralischen Rechtstitel, der noch vorhielt, als jene Schätzung
längst nicht mehr die allein gültige war.
Gedrücktheit der sozialen Stellung und Unsittlichkeit stehen
tatsächlich in Wechselwirkung, namentlich dann, wenn die erstere ein
Pariatum ist, derart, dass sie als Erniedrigung empfunden wird, weil
gewisse Elemente da sind, welche eine höhere Stellung rechtfertigten; es
wirkt hier ein gewisses Gefühl der Rache gegen die Gesellschaft, die die
Ausstossung vollzogen hat, zusammen mit dem Wunsche, diese Vogelfreiheit
nun wenigstens zu solchen Vorteilen und Freuden zu benutzen, auf welche
die Mitglieder der »Gesellschaft« verzichten müssen.
Die sittliche Anrüchigkeit des Schauspielertums, die dies belegt,
bessert sich eben deshalb auch in Wechselwirkung mit der sozialen Stellung
der Schauspieler.
Von ähnlichen Gesichtspunkten aus verstehen wir, wie der persönlich
Bevorzugte, egoistisch Glückliche zu sozial-ethischer Wertschätzung
gelangen (<94) konnte.
Für die Allgemeinheit war die Existenz von Einzelnen, die sich in
glücklicher und behaglicher Lage befanden, vorteilhaft.
Der Arme, Unglückliche war der Allgemeinheit zur Last; ferner, die
Reichen und Mächtigen bildeten die sittlichen Begriffe nach ihrem
Belieben und nach ihrem Bilde.
Die Schmeichelei und der Vorteil der andern ebenso wie ihre eigene
Macht erhoben ihr Sein und Tun auch zu dem normalen und seinsollenden;
endlich hat sich wohl aus der allgemeinen Vorstellung des Seinsollenden,
Erstrebenswerten noch nicht genügend dasjenige, was in egoistischer
Hinsicht sein soll, von dem differenziert, was in altruistischer sein
soll, an beide knüpft sich die gemeinsame Vorstellung des Wertvollen.
In demselben Masse nun, in dem die absolute Herrschaft des Starken
über die Schwachen gebrochen wurde und der tatsächliche Einfluss der
breiten Massen die Ausgleichung der Glücksgegensätze zur sittlichen
Aufgabe emporhob, in demselben musste auch die ursprüngliche
Konfundierung des Glücklichen mit dem sittlich Wertvollen verschwinden,
die der egoistischen Bestrebung eine sittliche Rechtfertigung zu leihen
schien.
Gleichviel indes, welches das zeitliche Verhältnis zwischen dem
Hervortreten des Egoismus und des Altruismus ist, in jedem Fall ist die
Denkweise ungerechtfertigt, die auf eine frühere Entwicklung jenes hin
ihm das Prädikat grösserer Natürlichkeit zusprechen will.
Wenn man den Altruismus für einen weniger natürlichen Trieb hält als
den Egoismus, weil er sich später einstellt, so muss man ebenso den
Geschlechtstrieb für einen weniger natürlichen halten als den Hunger,
weil er sich erst im zweiten Jahrzehnt des Lebens, dieser aber schon an
seinem ersten Tage einstellt; oder den Wuchs des Bartes für weniger
natürlich als den des Haupthaares.
Die ganze Denkgewohnheit, die das Ältere, Primitivere in ein besonders
nahes Verhältnis zur »Natur« setzt und ihm darauf hin gewisse
Qualitäten zuspricht, ist völlig verkehrt und missverständlich.
Scheiden wir zwischen der Natur und irgend (<95) einem Gegensatz zu
ihr, mag er Kultur oder Sittlichkeit oder Zweckmässigkeit heissen, so
sind freilich diese Zustände immer die zeitlich späteren; aber ganz
ungerechtfertigt ist die Umkehrung davon, dass nun das zeitliche
Verhältnis schon genügen soll, um dem Früheren den Charakterzug, mehr
Natur zu sein, anzuheften und ihm daraufhin Licht- oder Schattenseiten
zuzusprechen, die sich aus den Verhältnissen seines Inhalts an und für
sich nicht ergeben.
In sehr verschiedener Weise hat der vorgeblich natürliche Charakter
des Egoismus seine Beurteilung bestimmt.
Gerade weil er natürlich ist, müsse er überwunden werden; das
Frühere sei stets das Unzulänglichere und der rastlose Strom der
Weltentwicklung dringe darauf, jeden gegebenen Zustand zu beseitigen und
einen vollkommeneren an seine Stelle zu setzen, die Vernunft als die
höhere Stufe über die Natur zu erheben.
Umgekehrt zieht der Egoismus doch gerade aus seiner Stellung als
frühester und natürlichster Trieb einen Vorteil in der Beurteilung.
Nicht nur die resignierende Überlegung, dass die Natur doch
schliesslich die reale Macht ausübt und aller entgegengesetzten Bemühung
zum Trotz sich immer wieder geltend macht, lässt uns mit dem, was wir
natürlich nennen, als mit einer gegebenen Tatsache rechnen, gegen die es
so töricht ist kämpfen zu wollen wie gegen das Kausalgesetz; sondern,
auch wertvoller und vorzüglicher erscheint uns dasjenige, dem wir den
Namen des Natürlichen geben.
Wenn wir die Wesensart eines Menschen, die wissenschaftliche Erklärung
einer Tatsache, die künstlerische Darstellung einer Person natürlich
nennen, so sprechen wir damit ein Lob aus; ja in Epochen, wo die
Schattenseiten einer falsch gerichteten Kultur sich sehr fühlbar machen,
genügt die blosse Vorstellung der Natürlichkeit eines Verhältnisses, um
es wertvoll erscheinen zu lassen, wie es bei Rousseau, den Physiokraten
und schon wieder in manchen modernen Kreisen der Fall ist.
Darum haben volkswirtschaftliche Schulen, deren Parole die Entfesselung
des Egoismus ist, sich auch immer auf (<96) den natürlichen Charakter
dieses Triebes berufen und ihr Prinzip schon durch diese seine Eigenschaft
für gerechtfertigt erachtet.
Im Ganzen ist das Verhältnis einfach dies, dass dasjenige, was aus
gewissen sachlichen Gründen vorgezogen wird und wertvoller erscheint, den
Ehrentitel des Natürlichen erhält, der, an sich ganz inhaltlos und
unbestimmt, mehr ein Ausdruck für anderweitig festgestellten Wert als der
Grund eines solchen ist.
Darum bezeichnet jede Schule ihre Grundsätze in theoretischer,
praktischer, ästhetischer Beziehung als die natürlichen, so dass dieser
Ausdruck das Schicksal des Vernünftigen, Harmonischen und mancher anderer
teilt, die vorgeblich objektive Eigenschaften von Dingen und Gedanken
bedeuten, welche dann durch den Besitz eben jener einen bestimmten Wert
erhielten, während es tatsächlich nur analytische Bezeichnungen sind,
mit denen man den Vorzug ausdrückt, den andere, oft völlig einander
entgegengesetzte Motive den Dingen verleihen.
Schon deshalb können wir das Natürliche nicht zugleich als ideale
Norm annehmen, weil die Natur, an unseren Ideen gemessen, keineswegs
einheitlich und widerspruchslos ist.
Alle Maximen, mit denen man das Naturgeschehen zu charakterisieren
glaubt, z. B. dass die Natur stets den kürzesten Weg geht, dass sie
keinen Sprung macht u. a., lassen sich ebensogut umkehren.
Sogar im Triebleben der Tiere widerspricht die Natur sich selbst. Neben
den mächtigen Trieb der Mutterliebe pflanzt sie den Wandertrieb, der
jenen im Konfliktfalle so überwindet, dass die Schwalben oft im späten
Herbst ihre zarten jungen verlassen und sie elend in ihren Nestern
umkommen lassen.
Die Mannigfaltigkeit der Lebensbedürfnisse und -bedingungen führt
sogar in der natürlichen und sexuellen Zuchtwahl dazu, eine zweifellos
nutzbare Eigenschaft in ihrer Ausbildung niederzuhalten, weil sie
anderweitig schädlich ist; oder diese Ausbildung erfolgt doch, zieht dann
aber auch die schädlichen Folgen nach sich.
Auch die Vorteile der Gattung haben oft einen Kampf ums Dasein mit
einander zu bestehen, insofern sie nicht neben einander bestehen (<97)
können.
Die geschlechtliche Zuchtwahl hat es z. B. bewirkt, dass bei vielen
Tieren die Männchen grösser, entwickeltet und variabler sind als die
Weibchen; aber dies gerade ist der Grund, weshalb wenigstens beim Menschen
so viel mehr männliche als weibliche Kinder bei und kurz nach der Geburt
verunglücken.
Die glänzenden Farben vieler Vögel, die sie durch das gleiche Prinzip
erlangt haben, machen sie andrerseits ihren Feinden kenntlicher und der
Nutzen derselben konkurriert mit dem Nutzen möglichster Unscheinbarkeit.
So nützlich die monogamische Treue in vieler Hinsicht für die Art
ist, so ist andrerseits nicht zu leugnen, dass die jährlich erneute
Auswahl der schönsten und tüchtigsten Männchen oder Weibchen eine
bessere Nachkommenschaft wahrscheinlich macht als das lebenslängliche
Zusammenbleiben der Paare, welches auch den im Laufe der Zeit
heruntergekommenen Exemplaren die Möglichkeit der Fortpflanzung gewährt.
Nach den Zielen und Prinzipien betrachtet, die wir der Natur
unterlegen, sind ihre Wege unzählige Male rückläufig und verneinen
dasjenige, was sie eben mit allen Mitteln zu bejahen schienen.
Wenn wir irgend einen bestimmten Zweck, Handlungsweise oder Grundsatz
als natürlich bezeichnen, so lösen wir damit einen Faden aus dem
unendlichen Gewebe der Wirklichkeit herausl der in dieser von andern,
entgegengesetzt gerichteten, durchkreuzt und von seiner ursprünglichen
Richtung abgebogen wird.
Einheitliche Ideen und Normen, die den Charakter des Zwecks tragen,
sind der Natur gegenüber immer einseitig und halbwahr, weil sie, nicht in
ihr selbst liegend, vom anthropomorphen Standpunkt aufgenommene
Abstraktionen aus ihr sind; so kann es geschehen, dass uns die Ordnungen
der Natur der menschlichen Technik gegenüber einerseits unendlich
überlegen erscheinen, andrerseits sehr unvollkommen und ungeschickt - wie
in der Vergeudung von Keimen, teilweise in der Einrichtung des Auges, in
der Notwendigkeit des Schmerzes zur Lebenserhaltung; und wir kommen
deshalb weder dadurch, dass wir das Natürliche zugleich als Moralprinzip
(<98) meinen anerkennen zu müssen, noch dadurch, dass wir gerade in
dem Gegensatz zum Natürlichen und in seiner Verneinung die eigentlich
sittliche Aufgabe erblicken, zu einem widerspruchslosen und einheitlichen
Inhalte der letzteren.
Denn das muss hier nochmals hervorgehoben werden, dass der Gegensatz
zwischen der Natur und der Vernunft - derart, dass die erstere dem
Egoismus, die letztere der Sittlichkeit entspräche - absolut nicht
diejenige Aufklärung bringt, die die bisherige Ethik fast durchgehendes
von ihm erwartet.
Für vernunftbegabte Wesen ist die Vernünftigkeit eben der natürliche
Zustand und das wird auch vom Sprachgebrauch anerkannt, indem Taten eines
ungeheuren Egoismus, die einen Rückfall in die vorvernünftige Stufe der
Menschheitsentwicklung einschliessen, unnatürlich heissen.
Der obige Gegensatz pflegt genauer als der zwischen Sinnlichkeit und
Vernunft bezeichnet zu werden; die Sinnlichkeit ist dabei das
psychologische Vehikel egoistischer Unsittlichkeit und die Vernunft das
der altruistischen Sittlichkeit.
Nun zeigt aber eine vorurteilslose Überlegung sofort, dass hier
zwischen der vorgeblichen Ursache und der Folge gar keine Beziehung
besteht.
Bezüglich der Vernunft steht die Sache so.
Die Vernunft in theoretischer Hinsicht ist der Bestimmungsgrund einer
gewissen Form des Denkens; geben wir für den Augenblick zu, dass sie ein
»Seelenvermögen« ist, so ist sie ein solches, das mit einem gegebenen
Material gewisse Umformungen, Steigerungen, Kombinationen vornimmt; sie
bildet aus einzelnen Erfahrungen allgemeine Sätze, aus relativen
Begriffen absolute Ideale, aus auseinanderliegenden Wahrheiten neue
Schlüsse usw. In diesem Sinne hat der sittliche Wille unbedingt nichts
mit der Vernunft zu tun und die Kantische Behauptung, dass er praktische
Vernunft sei und dass es »schliesslich eine und dieselbe Vernunft« sei,
die im Erkennen und im Praktischen wirke, war der Ausdruck und ist noch
die Ursache unzähliger Unklarheiten und Irrtümer.
Ich kann absolut nicht einsehen, was die Willenstat, meinen Vorteil
für den eines Andern (<99) oder einer Gesamtheit aufzugeben, mit dem
Vermögen, aus gewissen Prämissen einen Schluss zu ziehen, gemeinsam hat,
es sei denn, dass man den Begriff der ihnen gemeinsamen Vernunft zu dem
des Bewusstseins oder der Seele überhaupt erweitere, wobei dann aber
jeder spezifische Sinn jener Verbindung fortfällt.
Sie kann also nur in der umgekehrten Richtung zustande kommen: gewisse
Willenstaten, deren Ursprung an ganz anderen Punkten zu suchen ist,
erhalten nachträglich den Ehrentitel des Vernünftigen.
Dass die Vernunft so zum praktischen Ideal wurde, ist ein typischer
Vorgang.
Es ist nämlich häufig, dass das psychologische Vehikel, die
psychologische Bedingung der Erkenntnis für den objektiven Inhalt
derselben und die mit dieser Erkenntnis verbundene Idealbildung eine
unverhältnismässige Bedeutung gewinnt.
Ich wähle zunächst einige Beispiele aus nicht philosophischen
Gedankenkreisen.
Man hat bemerkt, das Charakteristische in der Denkart von Adam Smith
sei mehr ein gewisses Sich-Überlassen dem Zuge einmal ergriffener Ideen
als ein gestaltendes Eingreifen in den Ablauf derselben und zur
Beseitigung der hervortretenden Widersprüche; indem er so die Natur
seines Vorstellens einfach in sich walten liess, sei er sogar in der
wissenschaftlichen Arbeit seinem objektiven Prinzip, dem laisser aller,
anheimgefallen.
Für Ibsen ist die Wahrheit formales künstlerisches Prinzip,
alleiniges Vehikel der ästhetischen Darstellung, und zugleich nun
materiales Prinzip, höchster ethischer Gesichtspunkt, um den sich seine
Probleme fast durchgehend drehen.
Eine starke Selbstbeobachtung pflegt auch starke Selbstschätzung mit
sich zu führen und wo das subjektive Gefühl auf die Ausbildung der
Weltanschauung von wesentlichem Einfluss war, da wird es auch in dem
objektiven Weltbild eine wichtige Rolle spielen.
Bei den Philosophen ist es zunächst die Ruhe und die Ungestörtheit
den Bewegungen der Welt gegenüber, die die subjektive Bedingung ihrer
Denktätigkeit ist und dann so oft zu ihrem objektiven Ideale auswächst.
Die Zurückgezogenheit, die Ataraxie, (<100) die Gleichgültigkeit
gegen subjektive Vorgänge gewinnen für den Denkinhalt des Weisen eine
erhebliche Bedeutung, weil sie die Voraussetzung seines Denkens als
psychischer Tatsache sind.
Und das Gleiche gilt nun von der vernunftmässigen Geistesbetätigung
und zwar in doppelter Hinsicht.
Naturen, die sich besonders im reinen, vernunftmässigen Denken
bewegen, sind geneigt, einerseits das theoretische Ideal als das höchste
Unter allen Idealen überhaupt und sogar als objektives Weltprinzip
anzusehen, andrerseits jedes sonst gewonnene Ideal unter den
Vernunftbegriff einzureihen und so die psychologische Bedingung der
ethischen Reflexion zum objektiven Massstab ihrer Inhalte werden zu
lassen.
Indem Sokrates in Übereinstimmung mit den Sophisten davon ausging,
dass es zur Tugend eines begrifflichen Wissens als Mittels bedürfe, wird
ihm dies unter der Hand zu dem Satz, die Tugend sei selbst ein Wissen.
Das vernunftmässige Erkennen ist für Spinoza das Mittel, das uns zum
Höchsten führt; aber dieses Höchste selbst ist nun wieder nichts als
eben die vernünftige Erkenntnis selbst.
Weil für Kant die Vernunft es ist, die das Übersinnliche erkennt,
darum soll sie selbst ein übersinnliches Objekt sein; ihr
erkenntnisstheoretisches Verhältnis zum Dinge an sich lässt sie selbst
zu dem metaphysischen Charakter eines solchen aufsteigen.
Der Endzweck der Natur, so drückt er sich einmal aus, kann und muss,
weil die Idee davon nur in der Vernunft liegt, selbst seiner objektiven
Möglichkeit nach nur in vernünftigen Wesen gefunden werden.
Und so liegt für alle diese Denker das ethische Ideal in der
Seelenkraft, welche seine wissenschaftliche Erkenntnis bedingte, in der
Vernunft.
Weil diejenigen Menschen, von denen die ethischen Formulierungen, das
Zusammenfassen der sittlichen Instinkte in Begriffsnormen ausging, unter
ihren geistigen Fähigkeiten wesentlich die sogenannte Vernunft
ausgebildet hatten und derselben zu jener ethischen Begriffsbildung
bedurften, schien sie auch zu dem Inhalt des Sittlichen eine besondere
Beziehung zu haben.
An und für sich (<101) ist, wie gesagt, nicht einzusehen, wieso ein
egoistisches Leben unvernünftiger sein soll als ein sittliches.
Das wäre nur der Fall, wenn etwa ein bestimmter Endzweck schon gesetzt
wäre und nun der Egoismus ein schlechteres Mittel zu seiner Erreichung
wäre als der Altruismus; denn das Ergreifen eines falschen Mittels
beweist allerdings einen Mangel an Vernunft als einem formalen
Seelenvermögen.
Dass aber überhaupt ein Endzweck gesetzt wird und welcher, hat mit der
Vernunft als Denkkraft gar nichts zu tun, wenngleich sie zu seiner
begrifflichen Formulierung und zum Finden der Mittel für seine
Durchführung gehören mag.
Von seiten der Vernunft als Denkkraft steht es fest, dass der
Unsittliche sich zur Durchsetzung seiner Zwecke ganz ebenso vernünftiger
Mittel bedient wie der Sittliche.
Statt dass also der Vernunftcharakter eines gewissen praktischen
Verhaltens den Ursprung desselben bezeichnete, ist er vielmehr nur ein
Wertbegriff, nichts als der Ausdruck einer gewissen Schätzung dieses
Verhaltens.
Nachdem man sich schon darüber klar geworden ist, dass die Vernunft
als Seelenvermögen eine blosse Hypostasierung, dass nicht erst sie ist
und dann die einzelnen Seelenvorgänge aus ihr, sondern dass sie nur
gewisse einander ähnliche psychische Prozesse nachträglich unter eine
Bezeichnung fasst - nach alledem beharrt doch merkwürdiger Weise noch die
ethische Schätzung der Vernunft, als wären die sittlichen Handlungen ihr
Produkt: womit denn nicht nur jene alte psychologische Scheinerkenntnis
wiederholt, sondern noch der parallele Fehler begangen wird, das
Vernunftmässige für die positiv wertgebende Eigenschaft der Handlungen
zu halten, während es seinem ursprünglichen Begriffe nach überhaupt
weder mit positivem noch mit negativem Werte etwas zu tun hat und so nur
der Name und die Hypostasierung von anderweitig empfundenen Werten ist.
Über die Beziehung der Sinnlichkeit zum Egoismus will ich nur
folgendes bemerken.
Wenn die Erregung gewisser Sinnesempfindungen in mir den Endzweck
meines Handelns bildet, über den ich nicht hinausfrage, so ist wohl kein
(<102) Zweifel, dass ein solches Handeln egoistisch heissen darf.
Allein darum ist die Umkehrung noch nicht richtig, dass alles
egoistische Handeln den Charakter der Sinnlichkeit trüge.
Kant hat richtig darauf aufmerksam gemacht, dass, wenn man einmal die
eigene Lust zum Zweck des Handelns macht, das Mittel für sie an und für
sich und abgesehen von seinen sonstigen Wirkungen sittlich gleichgültig
wäre.
Ob man also in den groben Empfindungen der Sinne oder in den feineren
Genüssen der Vernunft sein Vergnügen finde, mache prinzipiell keinen
Unterschied.
Entsprechend könnte man nun sagen, dass, wenn man einmal egoistisch
handelt, es gar keinen Unterschied macht, ob es die Sinnenlust oder irgend
ein anderer Zustand meines Ich sei, in dem ich die grösste Befriedigung
meines Egoismus erblicke.
Das Ich lebt doch in jeder beliebigen von meinen Energien, und es ist
deshalb in dem Begriff dieses Ich kein Grund zu entdecken, weshalb das
egoistische Handeln sich gerade nur auf den sinnlichen Teil der
Seelenenergien beziehen sollte.
Kant hat doch auch in theoretischer Beziehung erkannt, dass die Sinne
niemals irren, nicht weil sie immer richtig urteilen, sondern weil sie
überhaupt nicht urteilen.
Ganz entsprechend hätte er sagen müssen, dass die Sinnlichkeit nicht
unsittlich ist, nicht weil sie immer das Richtige will, sondern weil sie
überhaupt nicht will.
Dass diese Erkenntnis hinter der Meinung zurücksteht, die in der
Sinnlichkeit als solcher den Verderber der Sittlichkeit erblickt, ist im
allgemeinen durch die Neigung veranlasst, die Vorgänge in uns zu
substantialisieren und insbesondere das Unterliegen des Sittlichen in uns
auf irgend eine überwältigende, relativ äusserliche Macht zu schieben.
Wie die Versuchung im Allgemeinen, so wird die Sinnlichkeit im
Besonderen als eine ausserhalb des eigentlichen Ich gelegene Potenz
vorgestellt, die sich partikularistisch durchzusetzen sucht und dies in
dem Masse erreicht, in dem ihre für sich bestehende Kraft grösser ist
als die der vernünftigen Seele; die leichter erkennbaren Beziehungen zum
Körper, die die Sinnlichkeit (<103) anderen Seelenfunktionen
gegenüber zeigt, erleichtern diese Abtrennung ihrer von dem Ich und ihre
Entgegensetzung gegen dieses.
Hier aber tritt die Unsicherheit und Zweideutigkeit dieser allgemeinen
Begriffe in ein helles Licht.
Während die Sinnlichkeit sonst in die Kategorie des Egoismus fällt
und ein sinnlich bestimmter Mensch im Allgemeinen als unsittlich
erscheint, bringt das Bedürfnis, das Unsittliche als eine äussere Macht
aus uns herauszuprojizieren, es gerade dahin, die Sinnlichkeit als etwas
ausserhalb der Seele Gelegenes und als eine Macht anzusehen, die das Ich
angreift.
Das Doppelverhältnis, das der Begriff der Sinnlichkeit zu dem des Ich
hat, und nach dem beide einmal völlig identifiziert und dann wieder
völlig einander entgegengesetzt werden, bereitet schon die Erkenntnis
vor, dass der Ichbegriff überhaupt keinen hinreichenden konkreten Inhalt
hat, um dem Egoismusbegriff einen solchen zu verleihen.
Vielmehr unterliegen die einzelnen Handlungen unmittelbaren
Werturteilen, und die sittlich verurteilten werden dann nachträglich
unter dem Namen des Egoismus zusammengefasst.
So füllt denn die Sinnlichkeit so wenig wie irgend eine andere
psychische Funktion den Begriff der Selbstsucht aus, da auch ihr direktes
Gegenteil als das eigentliche Ich des Menschen gilt.
Es liegt in der gleichen irrtümlichen Richtung, wenn man meint, mit
der Zurückführung des Handelns auf Egoismus sei ein mechanisches Prinzip
gewonnen, das in der praktischen Welt die gleiche Stellung einnehme wie
Druck und Stoss in der physischen, während der Altruismus immer etwas von
der Wirkung in die Ferne behalte.
Jenen glauben wir zu verstehen, dieser bleibt ein Wunder, ein Rätsel,
zu dessen Lösung man die Erscheinungswelt durchbrechen und zu dem
unsinnlichen Ding an sich unseres Wesens oder zu der metaphysischen
Alleinheit alles Seienden meint greifen zu müssen.
In dem Kapitel über das Sollen ist nun ausgeführt, dass nur die
Häufigkeit der in die Augen fallenden Erscheinungen von Druck und Stoss
gegenüber denen der Fernwirkung jene (<104) für uns zum Urphänomen
macht, welches, selbst keiner Erklärung weiter bedürftig, vielmehr allen
anderen Erscheinungen die Möglichkeit der Erklärung durch
Zurückführung auf sich gewähre.
So verhält es sich auch mit Egoismus und Altruismus; wäre letzterer
so häufig, wie es tatsächlich jener ist, und umgekehrt, so würde der
Egoismus eine besondere Erklärung zu fordern und sie gefunden zu haben
scheinen, wenn auch er auf Altruismus zurückgeführt wäre.
Die Anpassung an das häufigste Phänomen lässt aus dem Prinzip der
Kraftersparniss heraus dieses als das selbstverständliche, keine
Erklärung mehr fordernde, erscheinen.
Haben wir aber den Egoismus einmal als fundamentale Tatsache, als
einheitlich einziges Prinzip des Praktischen anerkannt, dann muss freilich
dasjenige Handeln, das gerade in der Verneinung des Egoismus besteht, als
metaphysisches Rätsel angesehen werden.
Steht es fest, dass alles Handeln nur insoweit verständlich erklärt
ist, als es auf Egoismus zurückgeführt wird, wie es in der Kantischen
Sittenlehre und in der populären Vorstellungsweise liegt, so ist damit
die Aufgabe gegeben, allen Altruismus nur als Mittel zu egoistischem Zweck
zu verstehen oder die Nötigung, ihn als ein Wunder hinzunehmen, das in
den erklärbaren Lauf der Natur unerklärbar und aus einer anderen Ordnung
stammend eingreift.
Aber darüber sei man sich klar, dass es nicht innere und sachliche
Eigenschaften sind, auf Grund deren der Egoismus als das verständliche,
der Altruismus als das wunderbare und transzendente Prinzip erscheint;
sondern dass ganz allein, wenn und weil einmal der Egoismus dogmatisch als
der allein verständliche Erklärungsgrund hingestellt ist, auf dem
Altruismus jener Charakter des Unerklärlichen haften muss, der ihm an
sich nicht in höherem Grade als dem Egoismus eignet.
Was die sachlich völlig ungerechtfertigte Vorstellung, der Egoismus
sei ein mechanisches Prinzip für die Erklärung des Handelns, zu
unterhalten geeignet ist, das ist die Tatsache, dass mechanische
Weltanschauungen sich immer dazu neigten, (<105) den Egoismus als
alleiniges praktisches Prinzip anzuerkennen.
Der Materialismus, der sich, gleichviel mit welcher Berechtigung, als
das exakte Prinzip der Naturerklärung empfindet, hat in der Regel auch
den Egoismus adoptiert und auch dadurch ihm den Anschein, als besitze er
die Exaktheit eines mechanischen Prinzips, vermehren helfen.
Wieso indes das Handeln in der Richtung der eigenen Interessen diesem
Prinzip sachlich mehr entspricht, als das in altruistischer Richtung, ist
nicht einzusehen.
Gerade wenn man sich rein auf den Boden der Tatsachen stellt, so
hindert nichts, auch den Altruismus als eine Tatsache anzusehen.
Wenn jede über die Wirklichkeit hinausgehende Norm verschmäht wird,
so bleibt noch immer zu fragen, was denn in dieser Wirklichkeit sich
findet, und die bloss formale und methodische Überzeugung, dass man mit
nichts als dem augenblicklichen Belieben, der blossen Wirklichkeit des
Wollens zu rechnen hat, gibt noch nicht die geringste Anweisung auf den
Inhalt dieser Willkür und lässt dessen Bestimmung als Egoismus oder
Altruismus noch völlig frei.
Und endlich kann auch nicht anerkannt werden, dass der Egoismus das
»einfachste« Prinzip sei, auf das im methodischen Interesse eben um
dieser Eigenschaft willen alle Handlungen zurückgeführt werden müssten.
Es ist ein vollkommener Irrtum, der allerdings durch den Glauben an das
einfache Ich oder die einfache Seele nahegelegt wird, dass der Egoismus
dem Altruismus gegenüber etwas einfaches sei.
Denn auf jenes metaphysische Wesen in uns richtet sich die Bestrebung
des Egoisten keineswegs, vielmehr immer auf konkrete Zustände,
Empfindungen, Geschehnisse.
Und nicht nur zeigen die subjektiven Gefühle und Erregungen, denen er
nachgeht, so raffinierte Komplikationen, dass die Einheit des Ichbegriffs
sie unmöglich decken kann, sondern auch die Technik des Egoismus, die
auch ihm oft genug zum Endzweck auswächst, hängt in ihrer Einfachheit
oder Nicht-Einfachheit genau wie die des Altruismus von den äusseren
Umständen und dem (<106) Intellekt des Handelnden ab.
Wäre der Egoismus aber auch wirklich die einfachste Erklärung des
Handelns, so ist damit noch lange nicht bewiesen, dass er auch die
richtige sei.
Es ist auch eine von den grundfalschen prästabilierten Harmonien, dass
die Wahrheit immer einfach sei.
Weder Newtons Principia, noch Kants Kritiken, noch Gauss'
Disquisitiones arithmeticae sind »einfach«.
Dagegen gibt es nichts Einfacheres als die phlogistische Theorie
Stahls; oder jene Formen der Entwicklungslehre, die alle Gestaltung der
Organismen auf den direkten Einfluss der äusseren physikalisch-chemischen
Lebensbedingungen schieben; oder die rohe Teleologie, die alle
natürlichen Erscheinungen aus dem Nutzen für den Menschen, alle sozialen
durch bewusste Übereinkünfte und Festsetzungen erklärt.
Die subjektive Kategorie Einfach und Kompliziert steht in gar keinem a
priori zu fixierenden Verhältnis zu dem objektiven Wesen der Dinge, folgt
vielmehr nur aus der Beschaffenheit und Ausbildung unseres Intellekts und
dessen zufälligem Verhältnis zu den Dingen.
Man könnte höchstens von der Regel aus: principia praeter
necessitatem non sunt augenda, und von der grösseren Häufigkeit und
Unbezweifelbarkeit egoistischer Handlungen aus versuchen, den Egoismus als
heuristisches Prinzip aufzustellen.
Man würde dann die Zurückführung aller Handlungen auf Egoismus als
das vielleicht im Unendlichen liegende Ideal wissenschaftlicher Erkenntnis
ansehen und jede einzelne Handlung soweit wie es unserm Erkennen möglich
ist, aus egoistischen Triebfedern herleiten.
Unter der Voraussetzung, dass der Egoismus überhaupt ein klares und
konkretes Prinzip sei, wäre gegen diese Tendenz methodisch nichts
einzuwenden.
Doch glaube ich, dass sie sachlich einen falschen Weg einschlägt.
Die Erklärung der Handlungen aus dem eigenen Vorteil des Individuums
ist so naheliegend und so häufig geübt, dass mir angesichts vielfacher
Resultatlosigkeit derselben der umgekehrte Versuch rätlicher erscheint;
es ist sehr möglich, dass in vielen unserer Handlungen eine altruistische
Zweckmässigkeit (<107) steckt, die dem Individuum nicht bewusst ist,
aber erst den Schlüssel der Handlung an die Hand gibt - ungefähr in dem
Sinn, den der Pessimismus vielfach ausgeführt hat: dass der Einzelne sehr
vieles in Hoffnung auf individuelles Glück tut, das ihm indes nur durch
eine List der Natur vorgespiegelt wird, die mit ihm und seinem Tun nur
ihre Zwecke, resp. die Zwecke der Gattung erreichen will.
Namentlich die Handlungen, die nicht aus einer entschiedenen
Alternative zwischen Egoismus und Altruismus hervorgegangen sind und die
sich innerhalb sozial überlieferter Formen bewegen, haben diese ihre Form
aus altruistischen, aber allmählich unbewusst gewordenen Zwecken
erhalten.
Die Konzentrierung des Bewusstseins auf den engeren, vom Ich
umschriebenen Kreis, sowie die Selbstverständlichkeit der sozialen
Zweckmässigkeit mögen da, wo nicht stärkere Reibung zwischen Egoismus
und Altruismus das Bewusstsein überhaupt schärft, Handlungen geschehen
lassen, deren eigentlich altruistischen Charakter erst die
wissenschaftliche Analyse zu entdecken vermag.
Die Richtung der psychologisch-historischen Wissenschaft und ihrer
Erfolge geht jetzt im Ganzen dahin, im scheinbar Individuellen mehr und
mehr den Ursprung aus der Allgemeinheit und die Richtung auf sie zu
finden; vielleicht dürfte deshalb gerade die Herleitung des Handelns aus
sozial-altruistischen Motiven als heuristisches Prinzip grosseren Erfolg
versprechen.
Zum wenigsten muss sie neben der Zurückführung auf den Egoismus
ebenso festgehalten werden, wie in der Naturerkenntnis die Maxime, dass
zwischen je zwei Erscheinungen immer tiefere Ähnlichkeiten, ins
Unendliche hin, zu entdecken sind, neben der, dass zwischen ihnen immer
tiefere Unterschiede, bis zu einer nicht angebbaren Grenze, gefunden
werden können.
Die Darwinsche Lehre vom Kampf ums Dasein hat zunächst der
Vorstellung, dass der Egoismus das einzig Natürliche im Menschen sei,
bedeutende Verstärkung gebracht.
Die unmittelbare logische Notwendigkeit des Kampfes zum (<108)
Durchsetzen des eigenen Vorteils schien nun vor aller Augen zu liegen.
Allein es wurde so dasjenige, was Darwin als Tatsache voraussetzt, als
ein analytischer, logisch erwiesener Satz angenommen.
Weshalb zwischen zwei Hungrigen, wenn nur Nahrung für einen vorhanden
ist, ein Kampf eintritt und nicht ein friedliches Teilen oder ein
freiwilliger Verzicht des einen, das können wir nicht weiter erklären.
Logisch notwendig ist der Kampf nicht, wie die wenigen Fälle zeigen,
wo er unterbleibt.
Wir müssen dies im Auge behalten gegenüber Ansichten, welche den
Kampf für selbstverständlich, für eine unmittelbare Folge des Triebes
halten; das ist er nicht, sondern er ist die Folge einer besonderen
Eigenschaft der tierischen Natur, welche durch Hunger und andere Begierden
allerdings erregt wird, aber keineswegs mit ihnen identisch ist, so wenig
wie überhaupt irgend ein Mittel zur Befriedigung eines Triebes
selbstverständlich, analytisch, »rein logisch« ist, sondern stets erst
erlernt, erworben, angezüchtet werden muss.
Abgesehen aber von dieser Frage der logischen Dignität des Egoismus
erscheint er vom Darwinismus aus jedenfalls als das einzig exakte Prinzip
für die Erklärung des Handelns.
Kommt alle Entwicklung der Arten nur so zustande, dass ein Individuum
auf Grund seiner günstigeren Eigenschaften die Mitbewerber von den nicht
für alle zureichenden Lebensbedingungen ausschliesst und so eine
hervorragende Wirkung auf die nächste Generation gewinnt, indem es eine
zahlreichere Nachkommenschaft als andere zu hinterlassen und jene
Eigenschaften auf sie zu vererben imstande ist: so ist der Egoismus, das
Durchsetzen des eigenen Lebens auf Kosten aller anderen, die
rücksichtsloseste Unterdrückung des Konkurrenten, offenbar die Aegide
des organischen Lebens überhaupt, und der Verzicht darauf würde es zu
einer Entwicklung überhaupt nicht kommen lassen.
Und zwar ist das Bedenkliche nicht nur, dass der Egoismus damit als
tatsächliche Triebfeder, sondern auch als Mittel zu demjenigen aufgezeigt
wird, was wir als sittlichen Endzweck empfinden: zur Höherbildung der
(<109) Gattung und zu ihrer Ausstattung mit immer günstigeren
Eigenschaften.
Ist der Kampf der Individuen untereinander der alleinige Hebel
organischer Entwicklung, so ist er ein Gesetz in dem doppelten Sinn:
dessen, was ist, und dessen, was sein soll; und es erscheint vermessen,
wenn der Mensch mit Negierung dieser Triebfeder den Zweck der Erhöhung
seiner Gattung auf einem anderen Wege erreichen will, als ihn die Natur
mit offenbarem Erfolge eingeschlagen hat.
Nun muss freilich vor allem die Vorstellung abgewehrt werden, als
predigte der Darwinismus das Evangelium der rohen Kraft, als sei der
unmittelbare Egoismus, der nur auf Steigerung der individuellen
Überlegenheit ins Unendliche zielt, für ihn das eigentliche und einzige
Mittel der Vervollkommnung der Arten.
Darwin hebt selbst z. B. hervor, dass der Mangel des Menschen an
körperlicher Kraft und Grösse ihm vielfach zum Nutzen ausgeschlagen sei,
da ein Wesen, welches für sich allein genug Grösse und Kraft besitzt, um
im Kampfe ums Dasein gut durchzukommen, wahrscheinlich nicht sozial
geworden wäre.
Dass der Mensch darauf angewiesen ist, sich mit seinesgleichen zusammen
zu tun, um sich zu behaupten, hat seine intellektuellen und moralischen
Eigenschaften so gesteigert und verfeinert, dass er schliesslich jener
Schwäche seine alle andern Wesen überragende Machtstellung verdankt.
In gleichem Sinn hat man behauptet, dass die Frauen ihre Macht
innerhalb der zivilisierten Gesellschaft gerade ihrer Schwäche verdanken,
und dass die Emanzipation, wenn sie ihnen die gleiche Kraft wie den
Männern verliebe, sie mit diesen in einen Kampf ums Dasein eintreten
liesse, dessen Erfolge wenigstens nach manchen Seiten hin nur sehr
unvollkommen der Prärogative gleichkämen, deren sie jetzt gerade durch
den Verzicht auf ihn gemessen.
Es gibt überhaupt keinen grösseren Irrtum, als dass die Stärke der
Individuen und die mechanische Überwindung der Gegner das allein
Entscheidende für die Existenz einer Art sei.
Denn nehmen wir an, eine Art sei so stark und zweckmässig organisiert,
dass (<110) ihr ohne Weiteres alle anderen Wesen zum Opfer fallen und
sie sich dadurch ins Unermessliche vermehren kann, so wird doch bald ein
Punkt erreicht werden, an dem sich ihre Mitglieder untereinander aufessen
müssten, um noch Nahrung zu finden, weil eben alles andere vertilgt
wäre.
Ein gewisser Mangel an Macht ist die zweifellose Bedingung, unter der
das unter den irdischen Verhältnissen mögliche Maximum an Macht
ausgeübt werden kann.
Auch der Krieg kann nur solange bestehen, als die Kriegswerkzeuge noch
nicht einen gewissen Grad von Vollendung erreicht haben.
Gäbe es Kriegsmaschinen, die ganze Heere und ganze Festungen in einem
Augenblick vom Boden rasierten, so wäre der Krieg selbst eine
Unmöglichkeit.
Selbst in dem Falle, in dem Darwin das Wachstum einer Eigenschaft ins
Unendliche für nützlich erklärt, ist er vielleicht im Irrtum.
Er macht nämlich darauf aufmerksam, dass zwar die Steigerung der
meisten Qualitäten durch natürliche Zuchtwahl eine bestimmte Grenze hat,
über die hinaus diese nicht mehr wirken kann, weil das weitere Anwachsen
jener von keinem Nutzen mehr wäre, dass aber für die fortgesetzte
Entwicklung des Gehirns und der geistigen Fähigkeiten keine solche Grenze
der Nützlichkeit für die Gattung existiere.
Hat indes der Pessimismus mit seiner Behauptung Recht, dass die
steigende Klugheit und Kultur die Menschen unglücklicher macht, so stellt
dies die geistige Qualität in eine Reihe mit jenen physischen.
Wie den gigantischen Tieren der Vorwelt gerade ihre Grösse und Stärke
zum Verderben gereichen musste, weil sie zu ihrem Unterhalte eine
ausserordentliche Nahrungsmenge brauchten und deshalb leichter als
kleinere Tiere in tödlichen Nahrungsmangel gerieten, so lässt es sich
denken, dass ein entwicklteres Gehirn Ansprüche an die Welt stellt und
stellen muss, die in rascherem Verhältnis als ihre Befriedigung wachsen,
so dass für die ganze Menschheit eintrete, was man jetzt von einer
Einzelpersönlichkeit, wenn auch in mehr scherzhaftem Sinne manchmal sagt,
dass sie zu klug wird.
Es ist kein Zweifel, dass (<111) nicht nur Vollkommenheiten des
Denkvermögens, sondern auch Unvollkommenheiten desselben, Stumpfheit,
Irrtümer und Illusionen, höchst zweckmässig und Resultate hoher
Anpassung sein können, und dass intellektuelle Vervollkommnung unter
Umständen diese Anpassung zerstören und der Wohlfahrt des Einzelnen wie
der Gattung hinderlich sein könnte; so dass es mindestens noch tieferer
Untersuchung bedürfte, ob die ungemessene Steigerung und Stärkung auch
dieser Eigenschaft vorteilhaft wäre.
Diese Beispiele wehren indes nur die roheste und unmittelbarste Form
des Egoismus als einer Waffe im Kampf ums Dasein ab, aber nicht das
egoistische Prinzip als solches.
Der Verzicht auf das Anwenden der brutalsten Waffen braucht noch keinen
Verzicht auf den Kampf zu bedeuten, und ist sozusagen nur eine Frage der
Technik des Egoismus.
Andere Vorkommnisse dagegen leiten uns von dieser nur vorläufigen
Einschränkung des Egoismus gerade aus dem Gesichtspunkt in der
Entwicklungslehre auf einen gründlicheren Verzicht auf denselben.
Bei den Insekten ist fast durchgehendes das Männchen kleiner als das
Weibchen und zwar nach einer sehr wahrscheinlichen Vermutung aus folgendem
Grunde.
Da die Insekten sehr vielen Gefahren ausgesetzt sind, so kommt es für
die Erhaltung der Art durchaus darauf an, dass die Weibchen, sobald sie
zur Erzeugung von Nachkommenschaft bereit sind, sofort geschlechtsreife
männliche Individuen vorfinden.
Deshalb werden diejenigen Männchen, welche sich am frühesten
entwickeln, die grösste Wahrscheinlichkeit haben, Nachkommenschaft zu
hinterlassen.
Dies sind aber die kleineren, denn je kleiner ein Individuum ist, desto
früher erlangt es seine Reife.
Der männliche Teil der Nachkommenschaft erbt natürlich die geringe
Grösse, die also von wesentlichem Vorteil für die Art ist, während die
grösseren Männchen, weil sie später reif wurden, weniger
Nachkommenschaft hinterlassen werden.
Es ist kein Zweifel, dass die Kleinheit der Insektenmännchen ihrem
Individualegoismus vielfach hinderlich sein (<112) muss.
Sie dient nur der sexuellen Seite desselben und zugleich und vor allem
der Erhaltung der Gattung.
Die Zuchtwahl befriedigt das Interesse des Einzelwesens hier in
geringem Grade, um auf dessen Kosten die Gesamtheit zu schützen.
Von hier eröffnet sich nun ein Blick auf den Zusammenhang zwischen
Zuchtwahl und Egoismus, der jene primäre Beziehung zwischen beiden ganz
revolutioniert, welcher zufolge das Individuum für seine Gattung gar
nichts Besseres tun könnte, als seine Kräfte und Eigenschaften zu der
gesteigertsten und rücksichtslosesten Geltung zu bringen.
Behält man im Auge, dass angesichts der Unzulänglichkeit der
Lebensbedingungen diejenigen Organismen sich am sichersten erhalten, die
einen Vorteil vor andern gleichgearteten haben, so werden offenbar auch
solche Aggregate von Organismen, die anderen ähnlichen gegenüber als
Einheit auftreten, unter das gleiche Gesetz fallen.
Ist dies aber der Fall, so ist keineswegs damit gesagt, dass nun
innerhalb eines solchen Aggregats jedes einzelne Individuum nach maximaler
Befriedigung des Eigeninteresses zu streben hatte, wenn das Interesse des
Ganzen maximisiert werden sollte.
Freilich ist es der Kampf und zwar der denkbar energischste und
egoistischste, sowohl gegen andere Wesen wie gegen die Ungunst der Natur,
der Erhaltung und Förderung der Art bewirkt; aber es braucht keineswegs
immer der Kampf der Individuen derselben Gruppe unter einander zu sein,
sondern kann auch der der Gruppen unter einander sein, wobei dann der
Einzelne sich zu seiner Gruppe verhält wie das Glied zum ganzen Körper.
Auch nach den Prinzipien der Zuchtwahl im individualistischen Sinn wird
nicht derjenige Körper den Vorteil im Kampf ums Dasein gewinnen, dessen
einzelne Zellen oder Glieder etwa auf Kosten aller andern zur Hypertrophie
strebten; sehr oft wird die Entwicklung eines Gliedes, die unter
Umständen zu einem gewissen Punkt gelangen könnte, unterhalb desselben
abgebrochen, weil die Stärkung und Anpassung des Ganzen diese
Unterordnung verlangen und diejenigen Wesen, bei (<113) denen sie
stattfindet, einen Vorteil im Kampf ums Dasein voraushaben.
Ob man nun die allgemeine Analogie des gesellschaftlichen Organismus
mit dem individuellen für berechtigt halten mag oder nicht: sobald eine
gesellschaftliche Gruppe als Einheit wirkt und der Vorteil derselben eben
als solcher zum Gegenstand des Daseinskampfes wird, so ist der
Individualegoismus als alleiniges Vehikel der Rassenverbesserung
entthront.
Neben den Individualegoismus setzt sich der Gruppenegoismus, auf den
ich zunächst nur mit dem Hinweise darauf eingehen will, dass er den
ersteren in voller Übereinstimmung mit der Zuchtwahllehre in sein
Gegenteil umzubiegen vermag.
Der Altruismus bildet also nicht, wie eine rohe und oberflächliche
Form jener Lehre meint verkünden zu können, ein Gegenstreben gegen die
Wege der Natur, auf denen sie das Wohl und die zweckmässige Gestaltung
der organischen Welt zustande bringt, sondern ist gerade eins der Mittel,
durch welche eben dasselbe für die höheren organischen Komplexionen
erreicht wird.
Die Resultate des Kampfes ums Dasein für die Gesamtheit sind nur
dadurch so segensreiche, dass es Waffenstillstände in ihm gibt, nur
dadurch, dass die Angehörigen einer Familie, eines Standes, Staats usw. a
priori Frieden unter einander halten.
Es scheint mir nicht unmöglich, dass solche Vereinigungen überhaupt
Resultate gerade dieser evolutionistischen Notwendigkeit sind, dass jede
Gruppe eine Anzahl Kollektivgebilde innerhalb ihrer züchten muss, welche
in solchem Masse den Frieden ihrer Mitglieder unter einander fordern, wie
das notwendige quantitative Verhältnis von Kampf und Frieden innerhalb
des Ganzen als günstig erscheinen lässt.
Man könnte von diesem Gesichtspunkt aus alle Kollektivgebilde in eine
Reihe gliedern, je nach dem Mischungsverhältnis von innerem Kampf und
innerem Frieden, welches in ihnen evolutionistisch notwendig und
durchgeführt ist.
Die ganze Sozialgeschichte kann von dieser Fragestellung aus ihre
Entwicklungen zeigen: mit welchem Grade von sozialer Festigkeit ist ein
bestimmtes (<114) Mass von individuellem Antagonismus der
Gruppenmitglieder verträglich? Welchen Masses individueller Konkurrenz
bedarf die Gruppe gerade, um zu einer bestimmten Kulturstufe aufzusteigen?
Welchen Einfluss hat die quantitative Erweiterung einer Gruppe auf die
Entfesselung oder die Niederhaltung der Konkurrenz ihrer Individuen? Ist
etwa eine Differenzierung wahrnehmbar, wonach gewisse Teilgruppen einer
grösseren Gruppe immer stärkeren persönlichen Antagonismus ausbilden,
während in anderen ein immer stärkerer Verzicht auf denselben gefordert
wird? Steht der Egoismus der Gruppe als solcher, andern Gruppen
gegenüber, in einem funktionellen Verhältnis, etwa dem der umgekehrten
Proportionalität, zu dem Egoismus ihrer Glieder untereinander?
Wie die künftige Soziologie diese Fragen auch im Einzelnen entscheiden
möge, das Folgende steht schon jetzt fest.
So wahr es ist, dass man zum Kriege rüsten soll, wenn man den Frieden
wünscht, so gilt doch auch das Umgekehrte: nur wenn der Einzelne und die
Allgemeinheit nach gewissen Seiten hin Frieden und Sicherheit besitzt,
haben sie gesammelte und geordnete Kräfte zum Kampf nach anderen Seiten
hin; wie der Krieg die Bedingung des rechten Friedens, so ist der Frieden
die Bedingung des rechten Krieges.
Die Gruppe, innerhalb deren der Egoismus des Individuums auslischt, ist
als Ganzes freilich nur in dem Masse altruistisch, als sie wieder eine
Einheit innerhalb einer grösseren Gruppe bildet.
Zum Altruismus haben es bis jetzt eigentlich nur Individuen, selten
ganz kleine Gruppen - Familien, Arbeiterverbände oder ganz gelegentliche
Zusammenschliessungen, wie zu wohltätigen Zwecken - gebracht.
Die eine Familie fühlt sich der andern gegenüber zwar noch zu
sittlichem Verhalten, zur Beschränkung des absoluten Egoismus verbunden,
aber doch lange nicht so wie die Individuen untereinander; und irgend ein
Mitglied der einen Familie ist gegen irgend ein einzelnes Mitglied der
andern Familie in viel höherem Masse sittlich gebunden, wie es die
Familien als ganze gegen einander (<115) sind.
Die Menschheit als Ganzes würde sich den Einwohnern eines andern
Sternes gegenüber, wenn es ihren Interessen gälte, so wenig an ein
Moralgesetz gebunden fühlen, wie etwa gegenüber den Pflanzen.
Dies hängt vielleicht mit der Entstehungsweise der Moral durch
äussern Zwang zusammen; zuerst war es ein enger Kreis, der nur darauf
hielt, dass sich Individuum gegen Individuum sittlich betrug; dann
erfolgten Vergrösserungen, welche diese Kreise als Sozialindividuen in
sich schlossen und sie einem Zwänge unterstellten, der zu moralischer
Gerichtsbarkeit auswuchs usf.
Und da nun der früheste Zustand der am festesten vererbte ist und
zudem die äussere Verpflichtung sich auch jetzt noch in demselben Masse
abschwächt, in dem der Kreis, den sie betrifft, grösser ist: so ist es
begreiflich, dass das moralisch-altruistische Verhalten in dem Masse
schwächer wird, in dem es statt von Einzelnen von Gruppen ausgeht und
statt auf Einzelne sich auf grössere Kreise richtet.
Die unbedingte persönliche Hingabe an den grössten Kreis, an das
Vaterland, ist kein Gegengrund, weil dieser Altruismus zugunsten der
politischen Gruppe gerade schon zu jenen frühsten Zeiten bestand und
seinerseits erst das Fundament bildete, auf dem der Altruismus den
Einzelnen gegenüber zur sittlichen Forderung wurde.
Die grösste Gruppe als Ganzes ist aber ihrem einzelnen Mitglied
gegenüber absolut egoistisch und wenn es scheint, als brächte sie um
eines solchen willen altruistische Opfer, so sind dies so gut wie immer
nur Umwege zu ihren Zielen der Selbsterhaltung und -steigerung.
Sie verhält sich zum Einzelnen wie der Gott Spinozas, von dem, weil er
selbst kein einzelnes Wesen ist, nicht verlangt werden dürfe, dass er
unsere Liebe zu ihm erwidere.
Nur dies könne man sagen, dass gerade weil Gott, unendlich und
allumfassend, jedes Einzelwesen einschliesst, unsere Liebe zu ihm ein Teil
der unendlichen Liebe sei, mit der er sich selbst liebt.
So könnte der Altruismus des Einzelnen seiner Gruppe gegenüber ein
Teil des absoluten Egoismus sein, mit dem die Gruppe sich (<116) selbst
liebt.
Hätte die Vorstellung der Gesamtheit im absoluten Sinn eine konkrete
Berechtigung, so wäre die Gesamtheit gewiss nicht moralisch, weil sie
nichts sich gegenüber hat.
Wie beim Individualegoismus sehr wohl ein Trieb, ein Interesse
aufgeopfert wird, wenn die Gesamtheit der andern dadurch gewinnt, aber
diese Gesamtheit der Triebe und Interessen selbst nicht aufgeopfert werden
kann, ohne den vorausgesetzten Begriff des Egoismus und das Wesen, das ihn
trägt, zu zerstören, so kann bei Gesamtheit im weitesten Sinn nur von
einem Altruismus ihrer Teile untereinander, aber nicht des Ganzen die Rede
sein.
Wie man von der Liebe gesagt hat, dass sie ein Egoismus zu zweien
wäre, so könnte man vielleicht von der Sittlichkeit als Ganzem sagen,
dass sie ein Egoismus zu Allen ist.
Es berührt sich hiermit, wenn eine sozialistische
Geschichtsphilosophie die privatwirtschaftliche Gesellschaft sich so
entwickeln lässt, dass das Kapital sich in immer weniger und weniger
Händen zusammenhäuft und schliesslich einem Einzigen gehören muss, an
dessen Stelle dann nur die Gesellschaft zu treten braucht, um ohne
gewaltsamen Übergang in der sozialistischen Verfassung darin zu sein.
Dann würde der höchstgesteigerte absolute Egoismus und die ideal
sittliche Verfassung der Gesamtheit zusammenfallen.
Wenn also der Egoismus des Einzelnen weder als Erklärung für die
tatsächliche Entwicklung der Gattung noch unter den jetzigen
Verhältnissen als Norm für sie, wie sie sein soll, zureicht, so müssen
wir andrerseits fragen, ob die moralische Kultur in ihrer höchsten
Aufgipfelung und der möglichsten Niederhaltung des Kampfes ums Dasein in
allen Fällen segensreich wirkt.
Man hat darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Fürsorge für die des
Lebens kaum Fähigen, die Vermehrung der sozialen und medizinischen
Mittel, sie am Leben zu erhalten, sie auch in höherem Grade befähigt,
ihr Geschlecht fortzupflanzen, wodurch eine schwächliche und ungesunde
Rasse erzeugt wird.
Ich bin überzeugt, dass die (<117) zunehmende körperliche
Schwächlichkeit namentlich unserer höheren Stände sich wenigstens zum
Teil daher schreibt, dass wir jetzt elende Kinder, die früher gestorben
wären, aufbringen und dadurch sowohl für die jetzige wie für die
folgenden Generationen die Rasse herunterbringen.
Es ist interessant, wie die Kultur gerade an diesem Punkt in die
Extreme schwingt: die Spartaner töteten die schwächlichen Kinder,
während heutige Eltern gerade solchen Kindern gegenüber eine besondere
Pflicht und eine besondere Liebe empfinden.
Es lebt indes die entgegengesetzte Strebung doch noch fort.
Der Starke empfindet gegenüber dem Schwachen, der Vollkommenere
gegenüber dem Unvollkommeneren eine gewisse Abneigung, die noch über die
Verachtung seiner hinausgeht, geradezu einen gelinden Hass.
Vom Standpunkt des Egoismus aus möchte man eher umgekehrt an eine
gewisse Zuneigung glauben, weil auf Kosten des Schwächeren sich der
Stärkere besonders durchsetzen kann, und in der Tat empfindet auch der
Sieger, im Schachspiel wie in Kriege, dem geschlagenen Feind gegenüber
eine freundlich versöhnliche Stimmung, und vielfach ist auch eine gewisse
Sympathie für den Schwächeren überhaupt bemerkbar, die sich aus jenem
Moment, aus einem Hilfleistungstriebe und aus der Freude am Kleinen und
Harmlosen zusammensetzen mag.
Wo aber jener antipathische Zug vorkommt, setzt er ein starkes
soziologisches Element voraus; der Schwache ist mir widerwärtig, weil er
ein schlechtes Exemplar meiner Gattung darstellt, durch welches diese als
Ganzes heruntergebracht wird; ein Teil der Verachtung, die dem moralisch
zu verurteilenden zukommt, laste auch auf ihm; denn auch den Unsittlichen
betrachte ich und verachte ich nur insofern als solchen, als er sozialen
Schaden anrichtet.
Unter den Tieren wird es oft beobachtet, wie kranke und schwächliche
Exemplare von den Genossen verfolgt und gequält werden, bis sie zu Grunde
gehen, ohne dass irgend ein direkter Grund des Daseinskampfes diese
Tatsache hervorbrächte.
Die mittelbare Veranlassung (<118) dazu ist bei Herdentieren,
Zugvögeln etc. am einleuchtendsten: sie müssen die untüchtigen
Individuen zu entfernen mit ihr Zug nicht durch Marode behindert und
Raubtiere nicht durch Nachzügler und liegengebliebene Invalide auf ihre
Spur geleitet würden.
Bei Kindern ist dieser Instinkt oft noch in reiner Form zu beobachten,
indem sie vielfach einen unüberwindlichen Abscheu vor Kranken und
irgendwie Deformierten haben und schwächliche Kameraden stets zur
Zielscheibe für Spott und Misshandlung machen.
Während also der Individualegoismus, wenn die darwinistischen
Voraussetzungen wirklich den Kampf jedes gegen jeden lehrten, zu dem
Wunsche führen müsste, von möglichst schwachen Nebenexemplaren der
Gattung umgeben zu sein, wirkt der Gattungsegoismus gerade im
altruistischen Sinne dahin, dass den Schwachen und Untüchtigen ein
Instinkt von Verachtung, Widerwillen, beinahe Hass entgegensteht.
Ist der Egoismus der sozialen Gruppe nach den Prinzipien des
Daseinskampfes verständlich und führt er zu einer Aufhebung des
Einzelegoismus, so muss diesem letzteren also der angemasste Vorzug, das
einzig natürliche Prinzip des Handelns und Sollens zu sein, abgesprochen
werden.
Wenn freilich der Sozialismus den Versuch gemacht hat, seine Macht
durch ein Bündnis mit der Naturwissenschaft zu vermehren, so ist dies in
gleicher Weise falsch, insbesondere wenn es sich um internationalen
Sozialismus handelt, der nicht einmal den Gruppenegoismus bestehen lassen
will.
Die Herabsetzung der Individualität und des persönlichen Vorzugs zu
Gunsten einer allgemeinen Gleichheit findet in der Evolutionslehre gewiss
Stützen, aber öfter noch Gegenbeweise.
Die ganze Zuchtwahl wird von dem Gedanken beherrscht: wer hat, dem wird
gegeben; die herrschenden Arten haben die Wahrscheinlichkeit immer
grösserer Ausbreitung, die schon höher organisierten Gruppen der Art
pflegen noch immer in höherem Grade weiter abzuändern als die auf
niedriger Stufe stehengebliebenen.
Entsprechend nehmen auch diejenigen wilden (<119) Stämme, welche
durch irgend eine Ursache, wenn auch nur unbedeutend geschwächt werden,
immer weiter ab, bis sie ausgestorben sind, weil dadurch sofort einem
konkurrierenden Nebenstamme ein Übergewicht verschafft wird.
Das natürliche untermenschliche Sein zeigt ebenso eine unbarmherzige
Aristokratie und Durchsetzung der individuellen Macht wie in andern
Fällen die vollkommenste Aufopferung des Individuums.
Unsere Prinzipien sind immer nur einzelne durch das Denken
herausgelöste Fäden aus dem unendlichen Gewebe der Wirklichkeit, in der
sie sich tatsächlich unlösbar mit denjenigen verweben, die unser Denken
als die entgegengesetzten zeigt.
Wenn aber auch die Betrachtung der Wirklichkeit uns den Egoismus als
den einzig durchgehenden und natürlichen Charakter des Wollens zeigte, so
würde sich darum diejenige Verwerflichkeit nicht mindern, die man ihm aus
ethischen Motiven oder Gefühlen heraus zusprechen mag; sondern wenn sogar
noch der Beweis hinzukäme, dass er das geeignetste Mittel für die
Wohlfahrt der Gesamtheit sei, so würde weder seine Abweisung als letztes
ethisches Prinzip darunter leiden, noch seine Annahme als solches dieser
Unterstützung bedürfen.
Das letzte insbesondere ist wichtig einzusehen.
Er ist nämlich gar nicht ethisches Prinzip, wenn er solcher
Begründung noch bedarf, weil diese bedeutet, dass er nur Mittel zu irgend
einem andern, als unmittelbar wertvoll empfundenen Zweck ist.
Dass er aber selbst als ein letzter und absoluter Zweck vorgestellt
werden kann, ist trotz der instinktiven Zurückweisung nicht zweifelhaft,
die die ethische Gewöhnung der allermeisten Menschen dem entgegensetzen
dürfte.
Die Inhalte des definitiven Wollens sind eben nicht weiter erweisbar
oder widerlegbar und wenn jemand behaupten wollte, er empfände die
absolute Durchführung des Egoismus als sittliche Pflicht, so müsste man
dies genau ebenso als indiskutable Tatsache hinnehmen wie die gleiche
Aussage über den Altruismus.
Das Sollen ist ein so rein formaler Begriff, dass es sich keinem Inhalt
versagen kann.
Höchstens scheint (<120) man dem entgegenhalten zu können, dass,
was sich unmittelbar logisch widerspricht, auch nicht gesollt werden kann,
weil es als denkunmöglich auch nicht gewollt werden kann.
Und ein solcher Widerspruch liege hier vor, wenn man sich des
Kantischen Ausspruchs erinnere, mit dem er die eudämonistischen
Moralprinzipien widerlegt: man Befehle niemandem etwas, was er schon
unausweichlich von selbst täte; solle es deshalb eine Pflicht, einen
Imperativ geben, so könne er nicht das eigene Glück betreffen, denn für
dieses sorge jeder Mensch schon, ohne dass es ihm als Sollen auferlegt
werde.
Und eben dies scheint sich allgemein gegen den Egoismus als
Moralprinzip anwenden zu lassen.
Da derselbe sich ganz von selbst verstünde und immer wenigstens latent
und zur Verwirklichung drängend vorhanden sei, da es nicht zu seiner
Durchführung, sondern nur zu seiner Bekämpfung eines besonderen Impulses
bedürfe, so könne er nicht der Gegenstand eines besonderen Befehls sein;
der Imperativ des Egoismus trage Steine zu einem fertigen Haus und begehe
einen unmittelbaren logischen Widerspruch.
Allein es scheint mir, dass dieser Gedankengang selbst unlogisch ist,
denn er setzt unbefangen voraus, was die egoistische Ethik gerade
ableugnet: dass sich der Mensch von selbst und naturgemäss um sich selbst
drehe.
Die Kantische Verengung davon auf die Glückseligkeit als
selbstverständliches Willensziel erledigt sich mit dem Hinweis auf die
Askese und die Selbstquälerei jeder Art, der gegenüber ein Imperativ,
sich des eigenen Glückes mehr anzunehmen, entschieden denkbar ist; denn
wenn man auch jene Tendenzen noch als eudämonistische ansieht und
behauptet, sie würden verfolgt, weil sie den betreffenden Individuen Lust
gewährten, so verwischt man den Unterschied zwischen Lust und Leid
überhaupt und macht das Glücksstreben zu einem blossen Synonymum von
Wollen überhaupt, hebt damit seinen spezifischen Sinn auf und kommt zu
keiner Erkenntnis.
Welchen Inhalt wir aber auch hiervon abgesehen dem Egoismus geben
mögen, keiner (<121) ist so durchgehend und selbstverständlich, dass
nicht schon das ganz primäre, sittlich unbeeinflusste Wollen ihm entgegen
entscheiden und dadurch die Möglichkeit geben könnte, ihn zum Inhalt
eines Sollens zu machen.
Wir sind nur allerdings durch die bisherigen sittlichen Anschauungen
gewöhnt, Sittlichkeit und Altruismus als gleichwertige Begriffe zu
gebrauchen.
Das soziale Endziel der Sittlichkeit erscheint als selbstverständlich
und deshalb findet man selbst da, wo der Egoismus gelehrt wird, doch fast
immer die Rechtfertigung, dass unter seiner Herrschaft auch die
Allgemeinheit am besten fahre.
Wie man das Handeln eines Menschen theoretisch nur dann zu verstehen
meint, wenn man es auf Egoismus zurückgeführt hat, so meint man es nur
rechtfertigen zu können, wenn man es schliesslich auf Altruismus
zurückgeführt hat.
Besonders hervortretend ist dies auf wirtschaftlichem Gebiet.
Die freihändlerische Lehre von der Harmonie der Interessen will nicht
nur dem Egoismus freies Feld lassen, sondern hält seine Entfaltung für
unbedingtes Erfordernis; das laissez faire bezeichnet ihren Standpunkt
doch nur einseitig nach der Seite der Regierenden hin, denen sie damit
Passivität auferlegt, aber sie stellt daneben die ganz entschiedene
aktive Forderung, dass nun jeder auch diese Freiheit benutze, seinen
eigenen Interessen mit möglichster Intensität und Rücksichtslosigkeit
nachgehe.
Wenn sie auch glaubt, das geschähe ganz von selbst und mit
naturgesetzlicher Notwendigkeit, sobald nur der Zwang und die
Einschränkung von oben her wegfielen, so würde sie doch jedenfalls, wenn
einmal ein freiwilliger individueller Verzicht auf die Konkurrenz
vorkäme, dies als ungehörig brandmarken.
Aber allerdings nur, weil sie glaubt, dass das öffentliche Leben
dadurch Schaden nähme, dass der Gesamtheit am besten gedient wird, wenn
jeder Einzelne nur für seinen persönlichen Vorteil sorgt.
Wird also der Egoismus hier auch als letzte subjektive Norm
hervorgehoben, so ist doch das letzte objektive Ziel die Wohlfahrt
(<122) der Gesamtheit und jener nur ein technisches Verfahren für
diese.
Völlig anders, wie gesagt, ist die Gesinnung, die den Egoismus als
Endzweck anbefiehlt oder wenigstens billigt.
Wir werden zwar immer deutlicher im Laufe unserer Untersuchung zu
erkennen haben, dass der Egoismusbegriff noch gar keine Anweisung auf
einen bestimmten einzelnen Handlungsinhalt gibt; welche Handlung man aber
auch unter diesem an und für sich ganz hohlen Begriff verstehe - es liegt
kein zwingender Grund vor, weshalb das sittliche Bewusstsein nicht mit ihr
abschliessen könnte.
Es liesse sich prinzipiell in Abrede stellen, dass der Egoismus
dasjenige ist, was schlechthin nicht sein soll, der Altruismus das, was
sein soll.
Man könnte etwa behaupten, das klassische Altertum sei ganz und gar
egoistisch gewesen, es habe den Altruismus als Selbstzweck nicht gekannt,
und alle patriotische Hingebung sei entweder ein sozialer Zwang gewesen,
der zwar zum selbständigen Triebe geworden sei, aber doch höchstens
einen Indifferenzzustand zwischen Egoismus und Altruismus dargestellt
habe, während jedenfalls die Gruppe als solche den höchsten Egoismus
besessen habe; oder diese Hingabe sei nur ein Umweg des Egoismus gewesen,
der bei der Kleinheit der Gruppe und der Unmittelbarkeit, mit der ihre
Förderung dem Einzelnen zu gute kam, sich vermöge dieser letzteren
selbst am besten gestanden habe.
Demgegenüber habe nun das Christentum einen Altruismus aufgestellt,
der nichts anderes sei wie das übertreibende Extrem der in Gegensätzen
schwingenden Geistesentwicklung: dass man das Seinsollende mit dem
Altruismus identifiziert habe, finde seine Parallele darin, dass nach der
verklungenen Lebenslust des Altertums die Askese zum sittlichen Ideal
geworden, dass an Stelle seiner Gegenwartsfreude alle Seligkeit in ein
spätes jenseits verlegt sei.
Man könnte nun behaupten, dass diese Epoche, in der der Altruismus den
Bereich des Sollens ausgefüllt habe, nicht ewig zu beharren brauche;
vielleicht sind (<123) der moderne, auf vielen Gebieten hervortretende
Individualismus, die Subjektivität der Weltanschauungen, die Theorien des
Solipsismus einerseits, der naturalistischen und materialistischen Ethik
andrerseits nur tastende Vorempfindungen, dunkle Ahnungen, die an der
grossen Hauptsache herumraten, an der Emanzipation des Sollens vom
Altruismus, an der Befriedigung des Gewissens mit dem vollen Durchsetzen
der eigenen Person.
In der ethischen Empfindung, die sich mit diesem Endzweck zufrieden
gibt, ist eine zweifache Nuancierung möglich.
Sie kann eine rein subjektive sein, die die eigene Person zum Mass
aller Dinge macht.
Das Sollen ist in das Ich hineinverlegt, ohne doch darum zu
verschwinden.
Nur der objektive Massstab, das Ideal, an dem sonst die eigene Leistung
als eine nicht von vornherein mit ihm zusammenfallende bewertet wurde, ist
in Wegfall gekommen.
Das tel est notre plaisir gilt dem eigenen Innern gegenüber als die
höchste Instanz und für die Gesamtheit der Seeleninhalte nehmen die als
egoistisch vorgestellten Triebe die Stellung ein, wie der autokratische
Fürst oder Gott seinem Gebiet gegenüber: er befiehlt nicht, was recht
ist, sondern das und nur das ist recht, was er befiehlt.
Ausserhalb dieser inneren Totalität hat das Sollen keinen Inhalt, das
gemütliche Empfinden und Wollen befriedigt sich bei sich selbst, indem es
zu einer Spaltung zwischen den allgemein angenommenen, obgleich sehr
ungenau so ausgedrückten Gegensätzen: Wollen und Sollen gar nicht kommt.
Die Empfindung, die dem letzteren entspricht, verbindet sich von
vornherein mit dem ersteren.
Es ist also nicht der Ruhezustand eines Tierischen Egoismus, der von
einem Sollen überhaupt nichts weiss, sondern ein solcher, der das Sollen
wohl kennt, aber es praktisch zu einer Spannung zwischen seinen und den
übrigen Tendenzen der Seele nicht kommen lässt.
Diese Verfassung zeigen häufig sehr kräftige und trotzige Naturen,
bei denen das Gefühl, über allen anderen Subjekten zu stehen, zu einer
Erhebung auch über alles Objektive (<124) fortgebildet ist.
Die Übereinstimmung zwischen Egoismus und Sollen kommt hier nicht so
zustande, dass eine Gesetzgebung da ist, der sie sich unterwerfen, mit der
aber ihr Wollen übereinstimmt, während es wohl denkbar wäre, dass dies
nicht der Fall sei; sondern sie kennen überhaupt keine Gesetzgebung für
sich als die aus ihrem Willen hervorgehende.
Ihr Wille hat nicht Recht, sondern ist Recht.
Aus einer andern Stimmung heraus empfindet man wohl ein höchstes,
seinem Begriffe nach unpersönliches Sollen.
Man erkennt an, dass es eine objektive Norm gibt, die dem subjektiven
Handeln den Wert verleiht oder entzieht; allein diese Norm wird durch rein
selbstsüchtiges Handeln erfüllt Die Inhalte der sittlich-teleologischen
Reihe gipfeln sich nur bis zu diesem auf.
Der Egoismus findet seine ethische Befriedigung nicht unmittelbar bei
sich selbst, sondern auf dem Umwege seiner Übereinstimmung mit einem
Sollen, das a: priori ausserhalb seiner liegt.
Dies ist ganz und gar von der vorhin gestreiften Lehre zu
unterscheiden, nach der das Sollen seinen eigentümlichen Inhalt im
Allgemeinwohl findet und der Egoismus nur das beste Mittel zu dessen
Verwirklichung ist.
Vielmehr fragen in unserem Falle die einzelnen egoistischen Impulse
nicht über sich hinaus, sondern treten nur in die formale Kategorie des
sittlichen Ideals, die Pflicht ist ausschliesslich Pflicht gegen sich
selbst, aber wirkliche, subjektiv , empfundene Pflicht.
Der Unterschied gegen die vorige, Nuance ist der, dass dort die Pflicht
ihrer Form nach nichts, anderes ist als Egoismus, hier ihrem Inhalte nach.
Dort ist die Verbindung zwischen Sittlichkeit und Eigensucht
analytisch, hier synthetisch.
So fein und spitz dieser Unterschied in der rein begrifflichen
Darlegung scheint, so breit und entschieden sind die psychologischen
Gegensätze, für die er der prinzipielle Ausdruck ist.
Das Sollen in den Egoismus zu verlegen, ist Sache einer starken,
beherrschenden, auf sich ruhenden Persönlichkeit.
Den Egoismus in das Sollen hineinzulegen, werden schwächliche Naturen
geneigt sein, die zu feige sind, um mit (<125) dem inneren Imperativ
überhaupt zu brechen und den Halt an einer objektiven idealen Norm
entbehren zu können; die aber andrerseits den Zwiespalt des Innern nicht
ertragen können, wie er sich so leicht beim Festhalten einer solchen Norm
und gleichzeitigen anders gerichteten Trieben ergibt, und die deshalb zu
dem Ausweg kommen, die Form des einen mit dem Inhalt des andern zu
erfüllen.
Eine annähernd genaue Parallele zu dem Unterschied dieser beiden
Richtungen des Egoismusprinzips bietet der Altruismus selbst.
Auch er kann entweder unmittelbar ein Synonymum des Sollens oder eine
Erfüllung eines anderweitig empfundenen Sollens sein.
Das erstere ist klar.
Der Altruismus kann mit der sittlichen Verpflichtung schlechthin
identifiziert werden, die letzte Quelle Jeder einzelnen Ausgestaltung
dieser bilden.
Andrerseits kann man ein Gefühl von Verpflichtung überhaupt
empfinden, dessen dunkler Antrieb uns nachher zu altruistischen Handlungen
führt, oder kann für die höchste moralische Instanz den göttlichen
Befehl als solchen halten, der dann das Gebot des Altruismus zu seinem
Inhalte hat.
Auch hier findet in der charakterologischen Ausgestaltung dieser
begrifflichen Entgegengesetztheit ein entsprechendes Verhältnis wie oben
statt.
Die sittlich kräftigen, in ihrer Sittlichkeit ganz auf sich selbst
stehenden Naturen werden dazu neigen, wenn sie überhaupt altruistisch
empfinden, darin auch die volle moralische Befriedigung zu finden, die
altruistische Handlung als Selbstzweck anzusehen und sich für diese nach
nichts anderem als Quelle und als Stütze umzusehen.
Umgekehrt werden die schwächeren und dumpferen Naturen erst
anderweitige instinktive, mystische, theologische Antriebe brauchen, um
diese dann mit altruistischem Inhalt zu erfüllen.
So sehen wir auch von dieser Seite, wie wenig das Sollen als solches
sich dagegen wehrt, dem Egoismus und dem Altruismus gleiche Bedingungen zu
gewähren. (<126) Neben den Versuch, die tatsächliche Alleinherrschaft
des Egoismus auf naturwissenschaftliche Weise zugebenden, kann man den
Gedanken stellen, eben dieselbe auf logisch-erkenntnisstheoretische Art zu
erweisen.
Weil die ganze Welt, die Gesamtheit alles dessen, was für mich
überhaupt in Betracht kommen kann, nur meine Vorstellung ist, weil ich im
Denken nie über mein Ich hinauskommen kann, darum könnte ich es auch
nicht im Handeln; alles Vorstellen ist eben mein Vorstellen, und so ist
alles Wollen mein Wollen, und ich kann gar nichts anderes als meine Ziele
erreichen wollen.
So wenig nach dem Kantischen Ausdruck im Erkennen die Dinge als solche
in meinen Geist überwandern, so wenig können im Wollen die Interessen
anderer als solche mich bestimmen; wie vielmehr alles Objektive nur
insoweit für mich existiert, als es subjektiv und meine Vorstellung wird,
so ist auch jeder andere und seine Interessen in praktischer Hinsicht nur
durch das Medium meiner Interessen für mich vorhanden, und nur so, dass
ich seine Interessen zu den meinigen mache, kann mein Wille altruistischen
Inhalt erlangen.
Angenommen, es liesse sich wirklich auf diesem oder einem anderen Wege
erweisen, dass alle Handlungen schliesslich auf Eigeninteresse
hinauslaufen, so würde damit der Wertunterschied der Handlungen, ihre
Qualifikation als gute und böse in keiner Weise berührt.
Es übertragen sich dann nur die Begriffe von Egoismus und
Selbstlosigkeit, Sinnlichkeit und Edelmut usw. auf die Differenzierungen
des als Ganzes egoistischen Strebens.
Es ist nichts damit gewonnen, wenn man ein ganzes Gebiet gleichsam in
eine andere Tonart transponiert, da doch die Intervalle, die die Melodie
bestimmen, dieselben bleiben.
Das führte einfach zu der Notwendigkeit, einen Egoismus im weiteren
Sinne von einem solchen im engeren Sinn zu unterscheiden.
Wir würden zugeben, dass jeder im letzten Grunde nur seine eigenen
Interessen verfolgt, würden nun aber denjenigen auch fernerhin
altruistisch (<127) nennen, der seine Interessen eben in der
Realisierung der Interessen Anderer sieht.
Was uns, die wir Unterschiedswesen sind, eigentlich interessiert und
zum ethischen Urteil anregt: das Verhältnis der Handlungen untereinander,
bleibt das gleiche und zeigt phänomenal die Unterschiede zwischen
Egoismus und Altruismus wieder auf, auch wenn das ganze Handeln, das beide
umfasst, als egoistisch bezeichnet wird.
Da der Begriff des Egoismus überhaupt nur im Gegensatz zu dem des
Altruismus einen Sinn hat, so ist er, wo der letztere überhaupt
unmöglich ist und logisch ausgeschlossen bleibt, ein leeres Wort, ein
blosser Name, ungefähr wie der Begriff Gottes im Pantheismus - denn nur
durch den Gegensatz von Gott und Welt kann der erstere Begriff einen
spezifischen Sinn erhalten, während es eine blosse Verdoppelung der
Bezeichnung ist, wenn man die Gesamtheit möglicher Existenz Gott nennt.
Das ist die Tautologie, auf die jeder Monismus führt und die der
theoretische Solipsismus, von dessen Vergleichung mit dem praktischen wir
ausgingen, in derselben Weise begeht.
Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven, eingebildeten und
realen Vorstellungen bleibt umgeändert bestehen, wenngleich die
Gesamtheit des Vorstellens subjektiv genannt werden muss; es handelt sich
dann innerhalb desselben nicht mehr um absolut objektive und absolut
subjektive Vorstellungen, sondern um beides im relativen Sinn; jedoch ihr
Verhältnis untereinander, worauf allein es für alle Zwecke des Erkennens
ankommt, bleibt dabei genau das Gleiche.
Es ist gleichsam, als ob das ganze Weltbild an eine andere Stelle des
Raumes versetzt würde, was uns vollkommen unmerklich bliebe, da keine von
den Relationen, in denen unser Leben und Vorstellen verläuft, dadurch
eine Änderung erführe.
Es ist überhaupt ein völlig vergebliches Bemühen, aus dem Begriff
des Handelns irgend einen bestimmten Inhalt desselben, ob egoistischer
oder anderer Art, herauspressen zu wollen.
So wenig mir der Begriff des Vorstellens eine Anweisung (<128) auf
den Inhalt des Vorstellens gibt, so wenig kann aus der Tatsache, dass ich
überhaupt zweckmässig will, ein einzelner Zweck egoistischer oder
anderer Art deduziert werden.
Die fälschliche Ausdehnung der Tatsache, dass ich das Subjekt meines
Wollens bin, dahin, dass ich auch das Objekt desselben sei, dass der
Ausgangspunkt des Handelns zugleich auch sein Ziel sein müsse, ist
hinreichend durchsichtig, um keiner weiteren Auseinandersetzung zu
bedürfen.
Es ist für die Dehnbarkeit logisch-erkenntnisstheoretischer
Voraussetzungen, wenn man sie zu realen Erkenntnissen benutzen will, sehr
bezeichnend, dass eben derselbe subjektive Idealismus, der den Egoismus
als allein mögliche Handlungsweise begründen sollte, auch zur Unterlage
der gerade entgegengesetzten Tendenz gemacht worden ist.
Wenn nämlich alle anderen Personen samt ihren Empfindungen und ihren
Zwecken nur in meiner Vorstellung existieren, so bilden sie ja einen Teil
meines Ich und sind von denen, die ich im engeren Sinn die meinigen nenne,
gar nicht absolut unterschieden.
Ihre Empfindungen sind, so weit sie überhaupt für mich in Betracht
kommen und Einfluss auf mein Handeln gewinnen können, Empfindungen in
mir, die Befriedigung, die aus der Erreichung ihrer Zwecke quillt, lebt in
mir.
Anderen Schmerzen zuzufügen, die Erfüllung ihrer Wünsche, so weit
sie in meiner Macht liegt, zu verweigern, ist demnach ein Leid, das ich
mir selbst antue, und über dessen Bedeutung als solches sich nur ein
unklares und befangenes Vorstellen täuschen kann.
Angesichts des Umfangs, den die unter der Vorstellung des Anderen in
mir befindlichen Empfindungs- und Zweckkomplexe aufweisen, ist die
Befriedigung derselben, die wir Altruismus nennen, die ausgedehnteste
Befriedigung des Egoismus.
Während also die frühere Deutung des Idealismus besagt, dass es einen
Altruismus im hergebrachten Sinne gar nicht gebe, weil ich über mein Ich
nicht hinauskönnte, schliesst diese aus derselben Tatsache, dass es einen
Egoismus im hergebrachten Sinne gar nicht gebe, da kein Gegensatz zwischen
mir und (<129) den anderen, zwischen meinem Willen und dem ihrigen in
Wirklichkeit vorhanden sei, und es nur vollkommener Klarheit hierüber
bedürfe, um auch im Handeln keinen Unterschied mehr zwischen den eigenen
und den sogenannten fremden Interessen zu machen, die, insoweit sie für
mich existieren, d. h. für den Standpunkt des Idealismus überhaupt
existieren, ja nur meine eigenen wären.
So haben auf theoretischem Gebiet Descartes und Kant aus der gleichen
Tatsache: eine Welt wird vorgestellt, das absolut Entgegengesetzte
gefolgert; jener: also existiert der vorstellende Geist, aber über sein
Objekt ist dadurch noch nichts ausgemacht; dieser: also existiert diese
Welt, aber über den vorstellenden Geist ist dadurch noch nichts
ausgemacht.
Wir sehen hier recht, wie wenig monistische Vorstellungen uns zu realen
Erkenntnissen verhelfen; es bleibt eben alles beim Alten, wenn ich das in
Frage stehende Gebiet in seiner Gesamtheit einheitlich charakterisiere,
und es ist nur Sache der Betonung, durch welchen der verschiedenen in
dieser Alleinheit inbegriffenen Bestandteile ich ihm eine Färbung nach
der einen oder der anderen Seite hin erteilen will.
Ganz entsprechend kann etwa der Pantheismus als Vergottung der Welt
oder als Verweltlichung Gottes aufgefasst werden.
Die zuletzt genannte Lehre verkennt, dass es sich in aller Ethik nur um
das Verhältnis des empirischen Ich zum empirischen Du handelt, für
welches Verhältnis es ganz gleichgültig ist, ob beide in einem absoluten
Ich eingeschlossen sind.
Dieses letztere habe ich eigentlich nicht mehr das Recht, als Ich zu
bezeichnen, weil dieser Ausdruck nur so lange einen Sinn hat, wie ihm ein
Du gegenübersteht.
- Den gleichen Fehler begeht von der entgegengesetzten Seite die
Alleinheitslehre, die die Schranke zwischen dem Ich und dem Du durch den
Gedanken der Wesenseinheit alles Seienden niederreisst; während jene
Theorie lehrt: Du bist ich, sagt diese: tat twam asi; auch für sie ist
der Unterschied zwischen dem Ich und dem Du, auf dem alles ethische
Problem ruht, nicht vorhanden, (<130) aber nicht, weil das Ich absolut
ist, sondern weil es absolut nicht ist, und der metaphysische Urgrund des
Seins, in den, sie eins sind, nur von dem trügerischen Wechselspiel der
Erscheinungen, das sie zu trennen scheint, überdeckt wird.
Allein eben in dieser getrennten Erscheinung liegt das ganze Problem
des Egoismus und Altruismus; alle Bestrebungen, Handlungen, Empfindungen,
auf die es in der Praxis ankommt, knüpfen sich an den empirischen
Unterschied zwischen dem Ich und dem Du, der dadurch nicht geringer wird,
dass in einer Beziehung, die jenseits aller hier in Betracht kommenden
liegt, beide eins sind.
Auch an dieser Gleichheit der Folgerungen zeigt es sich, dass die
Alleinheitslehre methodisch nichts anderes ist als der Idealismus in
objektiver Wendung.
Schopenhauer behauptet, dass, wer einmal den Zusammenhang aller Wesen
durchschaut habe, des Egoismus unfähig sei, weil er erkannt habe, dass
jedes Leid, das er anderen zufüge, ihn selbst treffe; er könne keinen
Unterschied mehr zwischen sich und den anderen machen, deren Förderung ja
die eigene sei.
Aber dem kann man entgegenhalten, dass, wenn zwischen meinen
Empfindungen und denen der anderen kein Unterschied existiert, ich nicht
den geringsten Grund habe, das eigene Glück für andere aufzuopfern; denn
wenn ihr Glück das meine ist, so ist doch auch mein Glück das ihre, und
wenn alles in einen Topf geworfen wird, so fällt alles Interesse daran
fort, an wessen Namen sich die Förderung heftet.
Mit der Aufhebung des Gegensatzes ist der absolute Egoismus ebenso
möglich, wie der absolute Altruismus; oder vielmehr beide unmöglich.
Empirisch betrachtet, sind die Beziehungen, die Ausgleichungen und
Gegensätze zwischen den Gefühlen, die ich die meinigen nenne, und den
fremden, die in meiner Vorstellung leben, sehr mannigfaltig und ihre
Wirkungen auf die Herausbildung von Egoismus und Altruismus keineswegs mit
einem Wort auszumachen.
Freilich verstehen wir die Empfindungen des anderen nur nach Analogie
der eigenen Empfindungen; allein dann hat wieder der Wert, den wir auf
(<131) das Sein und Empfinden anderer legen, eine Wirkung auf
denjenigen, den wir unserem eigenen Lebensinhalt geben.
Zwischen der Intensität der unmittelbaren und der Mitempfindung findet
Wechselwirkung statt: einerseits empfinde ich um so lebhafter mit, je
stärker und tiefer der angeschaute Vorfall mich selbst einmal getroffen
hat, andrerseits werden eigene Schicksale um so stärkere
Empfindungsreaktionen auslösen, je öfter und inniger wir sie schon mit
anderen mitempfunden haben.
Dabei ist natürlich die abstumpfende Wirkung der Gewöhnung in
Abrechnung zu bringen, wie überhaupt da, wo ein angeschautes Schicksal
einen Einfluss auf entsprechende Eigenempfindungen gewinnen soll, immer
zwei entgegengesetzte Tendenzen nach Ausgleichung ringen: einmal die
Neigung, das abzuspiegeln, was wir vor uns sehen, den Weg mitzugehen, der
vor unseren Augen betreten wird, uns in das mit hineinziehen zu lassen,
was von anderen geäussert wird; andrerseits aber die Neigung, gerade das
Gegenteil zu empfinden, dasjenige Gefühl in uns selbst auslösen zu
lassen, das das Komplement des Angeschauten bildet.
Es ist in unsrer Seele die Neigung zu einer Reaktion vorhanden, die man
mit den optischen Nachbildern vergleichen könnte: wenn ein gewisser
Gesamtzustand der Seele, in dem die Möglichkeit jeglicher Empfindung
ruht, vorhanden ist, so wird leicht die stärkere Erschütterung durch
einseitigen Reiz die Folge haben, dass nun eine Abstumpfung der Fähigkeit
zu diesem eintritt, und, so weit nun überhaupt noch weiter empfunden
wird, die entgegengesetzten Energien in Tätigkeit treten.
Daher ist in jeder Seele eine Mischung der Neigungen zur Ergebung in
das, was andere tun oder empfinden und der, gerade das entgegengesetzte zu
wollen oder zu fühlen.
Auch daraus erhellt es, dass ein eintretender Reiz uns so leicht sowohl
nach der Seite des Egoismus wie nach der des Altruismus anregen kann, wie
uns eine ausgesprochene Behauptung, noch ganz abgesehen von der sachlichen
Dignität ihres Inhaltes, einerseits von vornherein zur Einstimmung,
(<132) andrerseits zum Widerspruch zu reizen vermag.
Von grosser Wichtigkeit ist hier die Quantität des Reizes nach der
einen oder nach der anderen Seite; sehr oft nimmt uns ein Reiz in seiner
ursprünglichen Richtung bis zu einem gewissen Grade mit, und erst von
einem gewissen Quantum, einer gewissen Höhe seiner Entwicklung an
schlägt die Wirkung direkt in ihr Gegenteil um, so dass die Erfahrung
scheinbar die ganz entgegengesetzten Folgen mit dem gleichen Ausgangspunkt
verbunden zeigt.
Es ist nicht immer der Fall, was zu denken nahe liegt, dass
übermässige Verzärtelung des eigenen Ich mit Gleichgültigkeit gegen
Andere verbunden ist; im Gegenteil kommt es auch häufig vor, dass solche
Menschen auch die Empfindungen anderer in übertriebener und exzentrischer
Weise nachfühlen.
Hier ist das Entwicklungsschicksal des eintretenden Reizes das
umgekehrte, wie ich es oben für möglich erklärte.
Schwache Naturen werden durch Empfindungen anderer sehr leicht in die
gleiche Richtung mitgerissen, und erst wenn diese Gleichheit einen hohen
Grad erreicht hat, derart, dass die eigenen Interessen oder die
eingewurzelte Subjektivität des Ich darunter zu leiden beginnen, schlägt
der scheinbare Altruismus, die scheinbare Hingabe an die Gefühle des
Anderen in ein schroffes Zurückziehen in sich selber um.
Umgekehrt ist die Gleichgültigkeit gegen das Leiden anderer auch eine
Ursache, dass der Einzelne nun auch gegen eigenes Leid hart ist.
Bei wilden Völkern wird häufig eine ausserordentliche Leichtigkeit
des Selbstmordes beobachtet.
Dazu mag die Gleichgültigkeit beitragen, die sie gegen Schmerzen
überhaupt haben, ausserdem aber der Mangel an Teilnahme und Mitgefühl,
mit dem sie Leiden und Sterben Anderer mit ansehen; die Härte gegen sich
selbst ist nicht nur die Ursache der Härte gegen Andere, sondern steht
auch in Wechselwirkung mit dieser, die ihrerseits eine Folge sozialer
Notwendigkeiten ist.
Je nach der Verschiedenheit der persönlichen und der äusseren
Verhältnisse wird das Empfindungsschicksal einer Seele sie für das
gleiche, das sie an anderen (<133) vorstellt, empfänglicher oder
gleichgültiger machen; grosses Leid kann das Herz ebenso hart gegen das
Leiden Anderer machen, wie es diesem gegenüber mitfühlend und weich
machen kann usw.
Die Folgen der Tatsache, dass die Empfindungen des Anderen nur durch
das Medium meiner eigenen für mich existieren, sind also keinesfalls mit
einem Wort und mit einer einseitigen Theorie zu erschöpfen, am wenigsten
aus dem blossen Begriff des Ich und des Anderen zu deduzieren.
Der Ichbegriff ist überhaupt ein ganz formaler, jedes bestimmten
Inhalts oder jeder Hinweisung auf einen solchen noch so sehr entbehrender,
dass die entgegengesetztesten Strebungen daran geheftet und darin
verkörpert werden.
Einerseits ist das Ich das gute Prinzip, die Sittlichkeit in uns.
Wo die Individualität metaphysisch als der tiefste Urgrund des
Seienden gefasst wird, da ist es auch der gebotene Zweck des Handelns,
eine immer schärfere Ausprägung derselben herbeizuführen, und dies
harmoniert mit dem Glauben, dass das Ich das ursprüngliche Gute sei, ja
wie man es ausgedrückt findet, dass der Unsittliche gewissermassen keine
eigentliche Persönlichkeit, kein rechtes Ich besässe.
Es trägt dazu jene Eitelkeit bei, die sich in der Sprachwendung
ausdrückt, dass die Sünde, die Versuchung stärker sei als wir, während
wir doch nie sagen, dass die Tugend stärker ist als wir; das Gute
erscheint als das eigentliche Ich, dem das Böse als äussere Gewalt eines
Nicht-Ich gegenüber steht.
Andrerseits wird aber auch die sittliche Forderung gerade als eine
Macht empfunden, die dem eigentlichen Inhalt des Ich entgegentritt, als
ein Gesetzgeber, dem vor allen Dingen der »Eigenwille« sich beugen muss
und der das Ich in Bahnen zwingt, die es, sich selbst überlassen, nicht
gehen würde.
Dies ist ein Punkt, wo eine Verwandtschaft des Monotheismus mit dem
Pantheismus hervortritt; wo nur ein täuschender Schein die
Individualität als solche aus dem en cai pan auftauchen lässt, oder wo
es der Weg der natürlichen Weltentwicklung ist, sie wieder in dieses
zurückzuführen, da liegt es auch als ethischer Glaube (<134) nahe,
dass das individuelle Prinzip als solches das Böse darstelle.
Diese Zweideutigkeiten und Unsicherheiten stammen zum grossen Teil aus
der Unklarheit, die den Begriff des Ich in theoretischer wie in
praktischer Hinsicht umgibt.
In ersterer zwar haben Hume und Kant die wesentlichste Förderung
gebracht, indem sie nachwiesen, dass das Ich oder die Seele auch nur
Vorstellungen sind, aber keine absoluten Substanzen; auch sie sind nur
Kollektivnamen, mit denen wir gewisse Erscheinungen zusammenfassen, ohne
dass sie ausserhalb dieser etwas Greifbares und Begreifbares vorstellen.
Wenn wir für das Denken, das uns als blosse Funktion erscheint, einen
Träger suchen, von der Vorstellung ausgehend, dass, wenn gedacht wird,
doch ein Etwas, das denkt, dasein muss, so übertragen wir ein
Verhältnis, das innerhalb des Vorstellens gilt, auf das Vorstellen als
Ganzes, begehen also den logisch falschen Schluss a dicto secundum quid ad
dictum simpliciter, denjenigen Trugschluss, mit dessen Hülfe vielleicht
die Mehrzahl metaphysischer Aussagen über das Ganze des Seins und Denkens
zustande gekommen ist.
Wir wissen bekanntlich absolut nichts von der Beschaffenheit der
sogenannten Seele, sondern alles, was wir von ihr sagen können, löst
sich in die einzelnen Vorstellungen auf, die ihren realen Inhalt bilden.
Der Ichbegriff muss aber deshalb so leer sein, weil er den Raum für
die divergentesten Einzelheiten gewähren muss.
Der Mensch ist ein so wenig einheitliches Wesen, so viele Triebe,
Bedürfnisse, Ideale, erfüllen ihn in jedem Augenblick, dass der Egoismus
schlechthin ein ganz hohler Allgemeinbegriff ist.
Wie die Einsicht in jenen Charakter des Ich die theoretische
Philosophie zu dem Verzichte darauf geführt hat, aus dem Begriff des Ich
irgend eine reale Eigenschaft der denkenden Substanz erschliessen zu
wollen, so muss sie uns auch zeigen, dass kein reales Ziel der praktischen
Bestrebung aus ihm herauszuerkennen ist.
Wir wissen vielleicht in den täglichen Lebensbeziehungen sehr gut, was
wir meinen, wenn wir jemanden einen Egoisten nennen; (<135) allein an
wissenschaftlicher Klarheit darüber fehlt vieles.
Wenn wir hören, dass der Unsittliche nur sich selbst, nur das Eigene
sucht, nur an sich denkt usw., so taucht auch hier das Bedenken auf, dass
mit der blossen Vorstellung Ich, die im Zentrum der Bestrebungen des
Egoisten stehen soll, noch gar nichts Bestimmtes gesagt und gegeben ist,
noch keine Direktive auf bestimmte Handlungen, keine Anweisung auf einen
bestimmten Gedankenkreis.
Dass der Egoist seinen eigenen Interessen nachgeht, heisst im Grunde
nur, dass er will, was er will - genau wie die meisten Definitionen des
Sittlichen nur eine Umschreibung dafür sind, dass der Mensch soll, was er
soll.
Es ist doch tatsächlich nie das leere, formale, ungreifbare Ich, aus
dem rein als solchem irgend ein Sinn des Egoismusbegriffes, irgend eine
Definition des Egoisten sich ergebe.
Da jeder einzelne Willensakt, aber doch auch jede allgemeinere
Gesinnung einen konkreten Inhalt haben muss, das Ich aber an und für sich
völlig inhaltslos und nichts als der Kreis ist, den wir der Gesamtheit
unserer Vorstellungen umschreiben, so ist es nur die Gewohnheit alter
Assoziationen zwischen der Form und ihrem gewöhnlichen Inhalt, wenn wir
mit dem Ausdruck, dass jemand sich selbst Zweck ist, nur sich selbst
sucht, schon irgend etwas gesagt zu haben glauben.
Es ist die gleiche Leerheit der Bestimmung wie in dem Moralprinzip: man
solle den Menschen immer zugleich als Zweck, nie als blosses Mittel
betrachten.
Der Mensch kann überhaupt nie Zweck sein, sondern immer nur eine
Modifikation, ein Schicksal seiner, auf dessen Bestimmung es eben ankommt;
auch wem es Zweck ist, seine Mitmenschen zu quälen, macht sie ebenso zum
Zweck, wie wer ihnen wohltun will.
Wo das Gegenstück dieser Pflicht, nämlich die, sich selbst zum Zweck
zu machen, die Pflicht der Selbsterhaltung, in Frage steht, da gibt
entsprechend die Tatsache, dass das Selbst nicht eine unzweideutig
einheitliche Substanz, sondern eine Sammlung der mannigfaltigsten Inhalte
ist, der Möglichkeit (<136) Raum, die allerverschiedenartigsten
Ansprüche des Individuums mit dieser Flagge zu decken - und oft genug
Contrebande.
Ausserdem enthält die Formulierung, der Mensch solle nie bloss als
Mittel, sondern immer zugleich als Zweck angesehen werden, eine Hinweisung
auf ein quantitatives Verhältnis, auf ein Kompromiss beider
Gesichtspunkte, zu dessen Bestimmung indes nichts getan ist, während es
doch gerade auf diese Masse allein ankommt; jener Formel würde man schon
genügen, wenn man die Ausbeutung des Menschen als Mittels zu einem ganz
ausserordentlich hohen Grade triebe und ihn dabei nur in unendlich
geringem Masse als Zweck behandelte.
Die Erbsünde der Ethik, dasjenige stillschweigend vorauszusetzen,
worauf es gerade ankommt, tritt auch hier wieder recht hervor; man meint,
über den Sinn davon, dass ein Mensch dem anderen Zweck ist, so sicher zu
sein, dass man mit dem blossen Aussprechen dieses Satzes das Wesentliche
gesagt zu haben glaubt.
Wüsste man nicht aus sittlichen Instinkten, sittlicher Erfahrung und
Praxis, welchen ungefähren Inhalt man von vornherein in jeder
Moralvorschrift zu suchen hat, so würde die Norm, den Nebenmenschen als
Zweck anzusehen, eine unverständliche Redensart sein.
Man könnte versuchen durch den Gegensatz zur Sittlichkeit einen Inhalt
für den Egoismus zu gewinnen.
Sittlichkeit bestände darin, dass man den Anderen tut, was man will,
dass sie einem tun.
Die entgegengesetzte Handlungsweise sei Egoismus.
Derjenige sei Egoist, der Anderen das antut, wovon er unter keinen
Umständen wollen kann, dass sie es ihm tun, der die Anderen zu Handlungen
ihm gegenüber bewegt, die er selbst ihnen zu erweisen keineswegs willens
ist.
Dies würde vielleicht hinreichen, wenn es sich auf einen allgemeinsten
Lebenszweck bezöge, z. B. Glückseligkeit; dann würde derjenige
allerdings Egoist sein, der mit völliger Gleichgültigkeit gegen das
Glück Anderer dieses nur für sich erstrebt.
Als den Sinn des Egoismus pflegt man freilich nur das Streben nach Lust
anzusehen, offenbar indes ohne anderes (<137) Motiv, als dass man der
sittlich verwerflichen Selbstsucht auch den sittlich geringwertigsten
Inhalt geben wollte.
Wenn wir aber überhaupt annehmen, dass es ausser der Lust noch Werte
gibt, so ist es auch ein Fehler, den Egoismus sofort als ein Streben nach
eigener Lust anzusehen.
Da die Lust auch nur ein Wert des Lebens ist, bei dem sich nicht weiter
fragen lässt: wozu? - so lassen sich noch andere ihr in dieser Hinsicht
koordinierte Zustände denken, deren Realisierung in Bezug auf das
handelnde Ich ohne Rücksicht auf andere Wesen geschehen kann, etwa
Vollkommenheit, ästhetische Qualifizierung, religiöse Vollendung usw.
Die ganze Schwierigkeit, die realen menschlichen Zwecke überhaupt auf
einen Generalnenner zu bringen, einen allgemeinen Zweck des Lebens zu
erkennen, richtet sich auch gegen die inhaltliche Bestimmung des Egoismus
und verhindert es, als eine solche Bestimmung die obige, dass man den
Anderen tut, was man von ihnen nicht leiden will usw., zu erkennen.
Wir tun vieles rein Sittliche in Bezug auf Andere, wovon wir
entschieden nicht möchten, dass es uns geschehe.
Wenn der Richter einen Verbrecher gerecht bestraft, so kann er sich
doch dabei denken: Wenn ich das begangen hätte, würde ich davon gelaufen
sein; er will also nicht, dass ihm dasjenige geschieht, was er sittlicher
Weise Anderen zufügt.
Angenommen aber auch, diese Bestimmung reichte hin, so würde sie
dennoch nur für ganz einfache und beschränkte Fälle als Kriterium
gelten.
Freilich bin ich egoistisch, wenn ich jemanden betrüge, insofern ich
unmöglich wollen kann, dass mir das gleiche von Anderen geschehe.
Man wird aber auch zweifellos eine egoistische Gesinnung an demjenigen
erkennen, der um einer Lust willen der öffentlichen Sittlichkeit ins
Gesicht schlägt - während hier das Kriterium, dass er nicht wollen kann,
dass ihm das gleiche geschehe, offenbar keinen Sinn hätte.
Wer im politischen Leben stehend aus blossem persönlichem Ehrgeiz und
mit Gleichgültigkeit gegen die politischen Folgen einer bestimmten Partei
mit allen Mitteln (<138) die Herrschaft zu verschaffen sucht, wird dem
Vorwurf des Egoismus nicht entgehen, wenngleich man diesen nur sehr
gezwungen so ausdeuten könnte, dass er Anderen getan hätte, was er von
Anderen zu leiden nicht willens wäre.
Alle Depravirungen sozialer Zustände, der Inhalte des öffentlichen
Geistes, die von dem Egoismus der Einzelnen ausgehen, treffen doch nicht
andere Einzelne in der Art und in dem Masse, dass man das Verderbliche und
Egoistische daran nach jenem persönlichen Kriterium beurteilen könnte.
Und selbst, wo sich der Egoismus gegen einzelne Personen in der Art
richtet, dass der Gedanke, von ihnen eventuell leiden zu können, was man
ihnen antut, überhaupt möglich ist - selbst da wird manche trotzige
Kraftnatur damit einverstanden sein, das Gleiche zu leiden, was ihr
Egoismus Anderen antut, wenn ein Stärkerer kommt, der sie unterwirft.
Die Definition des Egoismus also, dass er anderen täte, was er von
ihnen zu leiden nicht geneigt wäre, ist zum Teil überhaupt nicht
anwendbar, weil sich der Egoismus gegen Interessenkreise richten kann, die
in dem Handelnden selbst kein Gegenbild finden, zum Teil einfach
psychologisch unwahr.
Christliche Märtyrer, die nur Segen und Gebete für ihre Verfolger
hatten, stürzten sich oft mit Leidenschaft in das Martyrium und
ermunterten jene zu immer schlimmerer Peinigung; sie taten ihnen also
dasjenige, dessen gerades Gegenteil sie sich selbst angetan wünschten.
Gerade die tiefste Sittlichkeit besteht auch sonst oft genug darin,
dass man Anderen tut, wovon man unter keinen Umständen wünscht, dass sie
es einem wiedergeben.
Auch dieses Kriterium des Egoismus ist also nur insoweit ein solches,
als man es auf Handlungsweisen anwendet, die man schon von vornherein als
unsittliche vorstellt.
Indes eröffnet sich vielleicht in dieser Richtung die wie immer
problematische Möglichkeit, zu einem höchsten Moralprinzip zu gelangen,
das dann auch dem Egoismusbegriff eine nähere Bestimmung gestattete.
Man könnte als ein solches Moralprinzip nämlich aussprechen: Du
sollst dasjenige (<139) wollen, dessen Erfüllung zugleich die
Erfüllung eines maximalen Teiles alles überhaupt vorhandenen Willens
ist.
Dies enthält ebenso wenig Empirisches, ist ebenso formal und allgemein
wie das Prinzip Kants; es lässt die inhaltliche Bestimmung als
Utilitarismus oder Idealismus noch vollkommen frei und enthält das
höhere Genus über diesen beiden; wenn jemand etwa das Glück
zurückwiese, so würde der Utilitarismus es ihm aufdrängen müssen, um
seinem Grundsatz zu genügen, würde damit aber offenbar in Gegensatz zu
dem allgemeinen Gefühl des Richtigen geraten.
Mehr kann man nicht tun, als allen Menschen das gewähren wollen, was
sie selbst wollen.
Durch das Maximum, das dafür gefordert wird, wird erstens
ausgeschlossen, dass man jeden törichten und eigensinnigen Willen jedes
Einzelnen zu befriedigen suchen solle, da hierdurch in den meisten Fällen
die Befriedigung wesentlicherer und dauernderer Willensinhalte sogar
desselben Menschen geschädigt würde.
Zweitens wird dadurch auch jede eigene übertriebene Aufopferung
ausgeschlossen, die schliesslich doch eine Beeinträchtigung des Willens
der Gesamtheit in sich schliesst, jede Erfüllung eines Einzelwillens, bei
der im Grossen und Ganzen die Erfüllung aller anderen Wünsche leiden
würde.
Und wenn tatsächlich die jetzt lebende Gesamtheit einen Willen
erkennen liesse, gegen dessen Erfüllung sich unsere Sittlichkeit
sträubt, so bedeutete dies nur, dass der Gesamtwille der Zukunft unserer
Meinung nach ein anderer sein wird.
Es verhält sich dies wie die Ehre, welche die Meinung andrer Menschen
von uns bedeutet; man kann die Ehre innerhalb der umgebenden Gesellschaft
verloren haben und doch selbst überzeugt sein, dass man nicht ehrlos ist.
Dies hat dann den Sinn, dass in einem andren Kreise, dessen Urteil
nicht durch augenblickliche Unvollkommenheit getrübt ist, die Meinung
über uns eine andere wäre.
Wir halten es nun zwar oft für unsere Pflicht, das Wollen eines
kleinen Kreises von Wollenden zu erfüllen, dem eine überwiegende Zahl
anders Wollender gegenübersteht; für (<140) die Thermopylenkämpfer
war es sittlich, das Wollen der paar tausend Griechen gegenüber dem der
unzähligen Perser zu dem ihrigen zu machen; der Wille von tausend Zulus
bringt für mich offenbar nicht dieselbe sittliche Verbindlichkeit mit
sich, meinen Willen ihm anzupassen, wie das Wollen eines einzigen mir nahe
stehenden Menschen.
Dieser ethische Partikularismus erklärt sich so, dass alle
Allgemeinheit, von der man weiss, ursprünglich aus dem Kreise der
Stammesgenossen besteht, und dass den Willen dieser selbst im Gegensatz zu
dem später bekannten Anderer durchzusetzen, notwendiges Mittel im Kampf
ums Dasein ist.
Die Vorstellung, dass Sittlichkeit in der Erfüllung des Willens des
zunächst allein bekannten kleinen Kreises besteht, wird so fest, dass die
spätere Erweiterung des Allgemeinheitsbegriffes die aus jener
hervorgehende Gesinnung nur schwer und langsam umgestalten kann.
Es kommt hinzu, dass dem Willen der grossen Allgemeinheit oft am
vollkommensten gedient wird, wenn der Einzelne den Willen einer begrenzten
Allgemeinheit zu dem seinigen macht.
Indem die Griechen sich dem für den Augenblick quantitativ
überwiegenden Willen der Perser entgegenstellten, förderten sie den Sieg
der Kultur über die Barbarei und damit schliesslich doch den Willen der
Majorität der Menschheit.
Das Moralprinzip des Willensmaximums bildet gewissermassen die positive
Wendung oder auch das Fundament des Satzes: volenti non fit injuria.
Wenn dasjenige, was ich gemäss dem Willen eines Andern tue, auch ihm
gegenüber kein Unrecht ist, so kann es doch anderweitig ein schweres
Unrecht sein; aber doch nur, insoweit es dann dem Willen dritter Personen
zuwiderläuft.
Eine Tat, die gegen Niemandes Willen wäre, könnte nicht unrecht sein.
Untersucht man die sittlich genannten Willensakte, so findet man, dass
sie durchgehendes einen dem Willen Andrer parallelen Inhalt haben und in
dem Masse als spezifisch sittlich gelten, wie dieser Wille der Andern ihr
Motiv bildet.
Nun aber ist jeder auf ein Ziel gerichtete Wille nur dann sittlich,
wenn (<141) dieses Ziel selbst sittliche Würde besitzt; die Förderung
irgend eines Prozesses innerhalb der Gesamtheit des Geschehens hängt in
ihrer ethischen Bedeutung von den Folgen dieses Prozesses, den weiteren
Gliedern der kausalen und teleologischen Kette, und diese wieder von den
ihnen folgenden ab.
Dass A den Willen von B fördert, ist demnach nur sittlich, wenn der
Wille von B selbst sittlich ist; dieser ist aber seinerseits nur sittlich,
wenn er den Willen von C fördert, usf. Folglich ist die Sittlichkeit des
einzelnen Willensaktes von der Gesamtsumme der Willensförderungen
abhängig, in deren Zusammenhänge er wirkt.
Der Nerv dieser Deduktion ist der Gedanke, dass, wenn einmal die
Qualität eines Wollens von der Förderung eines andern Wollens abhängig
ist - dass dann vermöge der Abhängigkeit jedes ethischen Zieles von
einem weiteren schon der erste Wille nicht sittlich wäre, wenn er nicht
ausser seiner unmittelbaren Motivierung durch einen andern noch zu der
Förderung aller andern beitrüge.
Nun liegt zwar der Einwand sehr nahe, dass es dann nie zu einer
wirklich sittlichen Handlung kommen könnte, da doch irgendwo einmal ein
absolut Wertvoller Wille dasein müsste, um durch seine Förderung allen
davon abhängenden sittliche Bedeutung zu geben - da es einen solchen aber
der Voraussetzung nach nicht geben soll, so kommen wir nur auf einen
regressus in infinitum.
Allein diese logische Antinomie gilt psychologisch nicht in gleicher
Schärfe; hier wie auch sonst häufig wird die logisch unendliche Reihe
für das Bewusstsein an einem endlichen Punkt unterbrochen, der meistens
durch seine Verschwommenheit und Unbestimmtheit gewissermassen einen
psychologischen Ersatz für die logisch geforderte Unendlichkeit bietet.
Wie man etwa die Förderung der Kirche und des Komplexes des
hierarchischen Willens als letzte sittliche Pflicht ausgesprochen hat,
obgleich doch eigentlich nur der Wille Gottes das letzte Objekt derselben
sein kann, den jene ihrerseits zu fördern, angeben - ebenso tritt an die
Stelle eines absolut Wertvollen Willens das (<142) Maximum der Willen,
die von dem aktuellen Wollen des Individuums zu einem problematischen
höchsten führen und jenes individuelle Wollen in weiterem und weiterem
Kreise umgeben.
Man kann nun nicht mehr fragen, ob dieser Gesamtwille etwas Gutes
wolle, das Erfüllung verdiene; denn das Gute bedeutet eben gar nichts
anderes als die höchstmögliche Erfüllung dieses Gesamtwillens, und wir
nennen erst diejenigen Handlungsweisen gut, welche ihr dienen.
Und so können wir uns denken, dass das Gute nur ein analytischer
Ausdruck wäre für den Willen der Majorität, und dass wir an diesem erst
den Massstab hätten, nach dem wir über Gut und Böse urteilen.
Eine nur annähernd genaue Konstatierung dieser Majorität wäre
freilich ein lächerliches Verlangen; denn von den auf der Hand liegenden
Schwierigkeiten abgesehen, müsste doch auch die Intensität der
Willensakte in die Berechnung einbezogen werden; wir dürften einem
flüchtig aufblitzenden oberflächlichen Willensakt nicht so viel
Einwirkung auf das Fazit einräumen wie einem tief gegründeten und
energischen.
Auch das ist zu beachten, dass wir sehr oft Dinge aus der Entfernung
wollen, die wir in der Nähe oder im Besitz nicht mehr wollen; und selbst
für dasjenige Wollen, das sich nach Erfahrung seiner Verwirklichung nicht
in sein Gegenteil verkehrt, ist zu beachten, dass die nachträgliche
Täuschung ebenso möglich ist, wie die vorgängige.
Aber das sind Schwierigkeiten, die sich auch gegen jedes andre
Moralprinzip richten, das überhaupt eine Beziehung zur Gesamtheit
enthält.
Wir haben ebensowenig die Mittel, mit Sicherheit zu bestimmen, dass bei
der Durchführung einer Handlungsnorm als allgemeinen Gesetzes, wie Kant
es verlangt, nicht irgend ein Widerspruch herauskommt, noch weniger, ob
eine bestimmte Handlungsweise bis in ihre fernsten Folgen hinein die
Glückssumme auf Erden vermehrt oder nicht.
Nimmt man dieses Moralprinzip an, so würde der Wille sich in demselben
Masse von der sittlichen Norm entfernen, in dem sein Inhalt mit einem
geringeren Quantum der (<143)überhaupt vorhandenen Willensinhalte
parallel geht.
Dann könnte dieser Norm freilich entgegengehandelt werden, ohne dass
man in Egoismus zu verfallen brauchte; wenn z. B. selbstsüchtige
Interessen zu gunsten eines kleinen Kreises aufgeopfert werden, dessen
Willen dem des grössten sozialen Kreises entgegensteht.
Es würde ein allmählicher Übergang von dem das Maximum wirklicher
Willensakte in sich herstellenden Einzelwillen zu demjenigen stattfinden,
der ein Minimum, d. h. nur sich selbst, aber keinen anderen repräsentiert
und der dann der schlechthin egoistische wäre.
Dies findet Fortsetzung und Analogie im Verhältnis des Individuums zu
sich selbst.
Vom Gesichtspunkt der egoistischen Lebensweisheit aus sind wir mit dem
einzelnen Triebe in dem Mass zufrieden und gönnen ihm freien Lauf, in dem
er mit allen übrigen Trieben harmoniert und den Endzweck wie die Mittel
der anderen fördert.
Jeder einzelne Willensakt gewinnt unsere Billigung, wenn er ein
möglichst grosses Quantum des überhaupt in uns vorhandenen Willens
darstellt und verwirklicht.
Ja dies ist ein analytischer und sogar identischer Satz, da das Wir,
die billigende Persönlichkeit, nichts anderes ist als die Hauptsumme der
vorhandenen Strebungen und Vorstellungen; wie der Wert des Individuums
für die Gesamtheit sich nach dem Quantum des in dieser vorhandenen und
von ihm realisierten Willens bemisst, so der Wert des einzelnen
Willensaktes für das Gesamt-Ich nach der Grösse desjenigen Teiles vom
Wollen des Ich, den er in sich repräsentiert.
Häufig genug machen wir die Erfahrung, dass einzelne Strebungen in uns
mit dem Charakter des Egoismus auftreten, dass sie, obgleich inhaltlich
der Majorität des in unserem Leben entfalteten Willens entgegengesetzt,
im Augenblick die hinreichende Intensität gewinnen, um sich
durchzusetzen.
Sie finden dann von der Gesamtheit unseres Wesens, nachdem die
augenblickliche Störung ausgeglichen und das Durchschnittsniveau des
Lebens wiedergefunden ist, die gleiche Beurteilung, wie ein egoistischer
Mensch (<144) innerhalb seines Kreises.
Es liegt freilich auf der Hand, dass es nur einer andern grundlegenden
Gesinnung bedarf, um das genau entgegengesetzte Moralprinzip ganz ebenso
plausibel erscheinen zu las sen.
Der Pessimismus der Willensmetaphysik könnte beweisen, dass der Wille
durch seine Befriedigung nicht aufgehoben, sondern umgekehrt gesteigert
werde.
Jede Tat, die zu gleich den Willen eines Andern erfüllt, dient nur
dazu, in diesem neue und stärkere Ansprüche an das Leben erstehen zu
lassen; die entsagenden Seelen, die mit jedem Wollen abgeschlossen haben,
pflegen sich nicht unter den Glückskinder zu finden, denen alles nach
Wunsch und Willen gegangen ist.
Da nun aber der Wille Leiden ist, da gerade die Auslöschung des
Willens den verborgenen Endzweck aller Moral bildet, s ist gerade
derjenige Wille der sittliche, der dem Willen möglichst vieler Andrer
entgegenarbeitet und ihn bis zur Vernichtung unterdrückt.
Nun wird zwar der Wille durch ein gewisses Mass von Widerstand belebt;
allein über dieses hinaus erlahmt er an der Entgegengesetztheit der ihm
begegnende Strebungen, wie der Muskel sich durch ein gewisses Mass von
Widerstand, das er bei seiner Tätigkeit zu überwinde hat, stärkt, an
einem Übermass desselben aber erschlafft Die Verringerung des
Willensquantums durch gegenseitig Hemmung der Willensbewegungen würde in
der Richtung des Weltprozesses überhaupt liegen, der auf Zerstreuung der
Energie, auf Ausgleichung aller bewegenden Kräfte geht.
Jenes secundum naturam vivere der Stoiker als allgemeines Moralprinzip
würde zu dem Prinzip des Willensminimums als seiner speziellen
Ausgestaltung führen und zwar in dem doppelten Sinne, dass die
menschlichen Tendenzen einerseits, als Teil der Weltbewegung, so deren auf
Paralysierung der Kräfte gerichteten Weg beschleunigten und sich ihr
unmittelbar einfügten; und dass sie andrerseits, mit relativer
Selbständigkeit ihr gegenüberstehend, als Mikrokosmos ihr Schicksal in
sich, abspiegelten und wiederholten.
Und dann bedarf es nur des mit dem Willenspessimismus ja auch (<145)
sonst verbundenen Monismus, um auch den Egoismusbegriff mit
entgegengesetztem, Inhalt wie oben zu erfüllen.
Egoistisch wäre dann derjenige Wille, der mit der eigenen Befriedigung
zugleich ein Maximum sonst vorhandener Wollungen befriedigte; denn er
würde durch die Illusionen und weiteren Willensbewegungen, die ihm
folgten, den Weltprozess zu Gunsten eines kurzen Zeitabschnittes desselben
verlangsamen und abbiegen.
Dann deckt sich der menschliche Wille schon im Allgemeinen mit dem
Egoismusbegriff, denn der Sinn des Egoismus ist doch nur der, dass sich
der Teil eines Ganzen dem Wege dieses entgegensetzt.
Der Teilwille, der in der Menschheit objektiviert ist, verfährt nach
der Konsequenz dieser Lehre in dem Mass egoistisch, in dem er sich durch
innerhalb seiner stattfindende Befriedigungen anregt und so die Erlösung
des Ganzen hintanhält.
Wenn wir, von der begrifflichen Unklarheit des Egoismus absehend, auch
zugeben wollten, dass er die alleinige Wurzel alles psychischen Lebens,
zeitlich und sachlich die Grundlage sei, auf die alles Handeln
zurückweist, so wäre es doch ein gründlicher psychologischer Irrtum, im
Bewusstsein des Handelnden in jedem Fall irgendwo versteckte egoistische
Triebfedern aufsuchen zu wollen.
Denn wenn auch die Sorge für die Interessen des Anderen, die
Aufopferung des Ich für andere Ichs und für die Gesamtheit, die
Bezähmung der rücksichtslosen Triebe zunächst nur Mittel und Umwege
für den Egoismus gewesen sein sollten, so macht sich hier doch jene
höchst weitgehende und folgenreiche Eigenschaft des menschlichen Geistes
geltend, derzufolge ihm, was ursprünglich nur Mittel war, zum Zweck
auswächst.
Dasjenige, was nur mit Rücksicht auf damit zu erreichende Zwecke Sinn
und Bedeutung hatte, streift unzählige Male diese Beziehung ab und stellt
sich als Ziel dar, das nur um seiner selbst willen erreicht werden soll;
alle äussere Sitte z. B. gewinnt allein (<146) durch diesen Prozess
die Kraft, an und für sich als sittliche Vorschrift aufzutreten, da sie
doch ursprünglich nur das Mittel oder die Bedingung fernerliegender
sozialer Zwecke war.
Müssten wir in jedem Augenblick die ganze teleologische Reihe vor
Augen haben, die eine bestimmte Handlung rechtfertigt, so würde sich das
Bewusstsein in unerträglicher Weise zersplittern.
Um für das zunächst notwendige Durchsetzen des Mittels gesammelte
Kraft zu haben, muss dies zunächst für sich allein das Bewusstsein
beherrschen und je ausgebildeter und konzentrierter der teleologische
Apparat der Menschheit wird, desto häufiger kommt es vor, dass man
überhaupt in den Mitteln befangen bleibt und zum Endzweck gar nicht
vordringt.
Es ist häufig zu beobachten, wie einzelne Handlungen, um zu ihrem
egoistischen Ziel zu gelangen, den Umweg über altruistische nehmen
müssen, und wie diese nun selbst zu Zwecken werden, über die nicht
weiter hinausgedacht wird.
Humane Behandlung von Untergebenen, wenn auch ursprünglich nur aus
naheliegendem eigenem Interesse hervorgegangen, wächst doch zum
Bewusstsein einer innerlichen Pflicht, eines sittlichen Selbstzweckes
empor; Bemühungen und Aufopferungen im öffentlichen Interesse,
ursprünglich aus Eitelkeit und Wichtigtuerei unternommen, werden
glücklicher Weise oft genug zu wirklichen persönlichen Interessen, denen
der Betreffende mit aufrichtiger Selbstlosigkeit obliegt; Amt und Beruf,
die nur die Notwendigkeit der Lebensfristung zu ergreifen gezwungen hat,
erlangen eine Kraft über die Seele des Menschen, eine Konzentrierung
aller seiner Interessen auf sie, die weit über das zu dem rein
egoistischen Zwecke nötige Mass hinausgeht.
Auch an ehelichen Verhältnissen ist es zu beobachten, dass sie,
wenngleich nur aus Versorgungs- und anderen Rücksichten eingegangen,
schliesslich zu wahrhaft sittlichen und gegenseitig aufopferungsvollen
werden, weil das eheliche Leben mit der Fülle und der Eigenart seiner
Beziehungen sich aus dem blossen Mittel zu gewissen äusseren Zielen zu
innerlichem Selbstzweck entwikkelt, so dass der Satz: die Liebe käme in
(<147) der Ehe, auch wo sie bei Eintritt in dieselbe nicht vorhanden
sei, eine sehr tiefe Bedeutung besitzt.
Auch im öffentlichen Geiste finden entsprechende Vorgänge statt; die
Fürsorge für die Enterbten: Besserungsanstalten, Armensteuern,
Findelhäuser, Asyle für Obdachlose - ist freilich aus dem Sozialegoismus
herausgewachsen, der aus dem Überhandnehmen des Proletarierelends so
viele Schädigungen fürchtete, dass er, um dem vorzubeugen, lieber jene
Opfer brachte; aber schliesslich heftet sich das Interesse der Einzelnen
und der Gesamtheit an dieses Mittel in so hohem Grade, dass die grössten
Spenden für derartige Institute kaum aus dem Bewusstsein sozialer
Zweckmässigkeit, sondern aus der Fürsorge für die Armen und Elenden als
Selbstzweck hervorgehen.
Gerade der Gesichtspunkt der Prophylaxis, dessen wachsende Betonung auf
allen Gebieten eine der glänzendsten Erweiterungen des Menschengeistes,
eine in ihren Folgen unübersehbare Vertiefung des kausalen und
teleologischen Prozesses darstellt, wird die altruistischen Umwege für
egoistische Zwecke immer mehr hervortreten und in demselben Verhältnis
auch immer mehr zu Selbstzwecken werden lassen.
Ich bin überzeugt: man wird einst eine neue soziale Ära von dem
Auftauchen des Gedankens datieren, dass der Kampf gegen die Armut nicht
durch Almosen und der gegen das Verbrechen nicht durch Strafen zu führen
ist, sondern durch eine Organisation des öffentlichen Wesens, die Armut
und Verbrechen überhaupt nicht entstehen lässt.
In dem Masse nun, in dem die sozialen und egoistischen Zwecke durch
altruistische Prophylaxis erreicht werden, werden Jene natürlich für das
Bewusstsein um eine Stelle tiefer gerückt, die Vorstufen des
schliesslichen Zieles müssen immer mehr das Denken und die Praxis auf
sich konzentrieren, und selbst wenn Altruismus nichts anderes sein sollte
als Prophylaxis des Egoismus, so muss er, je höher dieser sich
aufgipfelt, um so mehr zum psychologischen Selbstzweck auswachsen; und
zwar offenbar nicht nur den einzelnen Handlungen nach, sondern, wenn
dieser Prozess oft genug (<148) an solchen vorgegangen ist, auch als
Prinzip und allgemeine Tendenz.
Dieses Umschlagen des Egoismus in Altruismus, diese aus dem Egoismus
selbst hervorwachsende Wertung des sittlich altruistischen Verhaltens
lässt sich noch an einem anderen Vorgang beobachten.
Der Mensch beurteilt den Wert des anderen Menschen zunächst nach dem,
was dieser hin nützt; wir empfinden ein Leben als Wertvoll nicht nach der
Summe von Lust und Unlust, die es selbst enthält, sondern nach den
Gütern der Sittlichkeit und Kulturentwicklung, die es produziert, also
eigentlich egoistisch, nach dem, was es uns, den Beurteilenden, leistet.
Hier aber macht sich eine merkwürdige Dialektik des Egoismus geltend.
Eben diese Kriterien, die der Einzelne an der Beurteilung Anderer und
ihrem Nutzen für ihn ausgebildet hat, wendet er schliesslich auch auf
sich selbst, gewissermassen gegen sich selbst an; aus der vielfachen
Wertschätzung des Anderen, insofern er mir nützlich ist, erhebt sich,
destilliert sich die Nützlichkeit für einen Menschen überhaupt als
Kriterium des Wertes, unter welches dann auch ich selbst falle.
Wie wir uns theoretisch doch als ein Produkt der Welt betrachten, die
wir selbst vorstellend produzieren, wie wir uns als ein Objekt unter
Objekten ansehen, die doch nur für uns als Subjekte existieren, ganz
ebenso reihen wir uns schliesslich objektiv in diejenigen
Beurteilungskategorien ein, die wir ursprünglich nur für Andere, uns
Gegenüberstehende geschaffen haben.
Der Egoismus rächt sich damit an sich selbst, indem wir durch eine Art
induktiven Verfahrens uns schliesslich selbst nur so weit für Wertvoll
halten, als wir Andere für Wertvoll gehalten haben, nämlich durch das
Handeln für altruistische Interessen.
Die Entwicklung wird hier in wunderlicher Weise rückläufig.
Der Wertbegriff, aus dem Egoismus entstanden, füllt sich, auf mich
selbst bezogen, mit entgegengesetztem Inhalt.
Die Möglichkeit, uns selbst objektiv gegenüberzustehen, begründet
es, dass wir unser Leben auch unter den unglückseligsten (<149)
Umständen für Wertvoll halten, wenn es nur sittlich ist.
Wir Beurteilen uns dann so, wie einen Anderen, dessen Leben wir aus
rein egoistischen Motiven wünschen, weil es sittlich, d. h. für uns
andere Wertvoll ist, gleichviel ob er selbst Leiden oder Freuden davon
hat.
Die Geschichte des Judentums zeigt mehrfach solche Fälle, in denen ein
egoistisches, Anderen gegenüber sich abschliessendes Verhalten gewisse
Normen ausgebildet hat, die sich dann auch auf diejenigen erstrecken, im
Gegensatz gegen welche sie ursprünglich geschaffen wurden.
Der Monotheismus der Juden bedeutete zuerst bekanntlich keineswegs,
dass ihr Gott der einzige wäre, den es überhaupt gäbe.
Er war nur anders und grösser als die Götter der anderen Völker und
war deshalb sowohl Ursache wie Folge ihrer Abscheidung von diesen.
Da nun der Stolz auf diesen Gott die Vorstellung von ihm höher und
höher trieb, wuchs sie schliesslich zu der des allein existierenden,
allein herrschenden göttlichen Wesens aus; der Trieb und das Bewusstsein,
etwas Höheres und Besseres als alle Anderen zu haben, steigerte den Gott,
den sie für sich allein hatten, zu einem, der auch über alle anderen
Macht besass.
Nun aber wurde gerade diese Vorstellung zu einer Kraft, welche die
Schranke zwischen ihnen und der übrigen Welt beseitigen half.
Der eine, allumfassende Gott wirkte schliesslich zu dem christlichen
Glauben, dass alle Menschen Brüder seien.
Die Erhebung über die Anderen führte auf diesem Umwege zur Gleichheit
mit ihnen.
- Es hat sich ferner unter den Juden ein äusserst reger und
weitgehender wohltätigkeitssinn ausgebildet, offenbar daher stammend,
dass sie durch den Ausschluss und die Benachteiligung von seiten der
Völker, unter denen sie lebten, auf vielfache gegenseitige Unterstützung
angewiesen waren und sich um so solidarischer miteinander verbunden
fühlen mussten, je strenger ihr Gegensatz gegen die Andersgläubigen war.
Und nun bemerkt man, dass dieser Wohltätigkeitssinn sich vielfach
über den Kreis der Stammesgenossen hinaus auch auf die Andersgläubigen
erstreckt, also auf diejenigen, durch deren (<150) Gegensätzlichkeit
gegen die Juden sich das Wohltätigkeitsmoment so stark in diesen
ausgebildet hat.
Schon auf niedrigeren Gebieten kommen mancherlei altruistische und
sozusagen ideale Bestrebungen auf diesem egoistischen Wege zustande.
So löst sich der Geiz von dem reinen Egoismus, in dem er wurzelt, und
wird zur Abneigung gegen Geldausgeben überhaupt.
Der wahre Geizhals kann es nicht mit ansehen, dass Andere Geld
ausgeben, verhindert sie so viel wie möglich daran, auch wenn sein
eigenes Interesse nicht ins Spiel kommt.
Durch einen leicht verständlichen Abstraktionsprozess emanzipiert sich
eine Handlungsweise, die zunächst aus blosser Selbstsucht befolgt wurde,
von dieser Einschränkung und wird zur allgemeinen Norm, zu einem
praktischen Ideal, dessen Realisierung objektiv um seiner selbst willen
und bei jeder möglichen Gelegenheit gesucht wird.
Der Gegensatz gegen den Egoismus tritt so in doppelter Form auf: als
Interesse für andere Personen und als Interesse für eine objektive Norm.
Allein beide sind doch nur verschiedene Stufen des gleichen
psychologischen Prozesses.
Nur dadurch erscheinen Interessen und Normen uns als objektiv, dass sie
für eine möglichst grosse Zahl von Subjekten gelten.
Auch im Theoretischen gilt uns diejenige Erkenntnis als die objektive,
die von, der Gesamtheit der Subjekte anerkannt wird - deren derartiges
Anerkanntwerden man wenigstens hofft oder fordert -, und wir haben vom
erkenntnisstheoretischen Standpunkt gar kein anderes Kriterium für
Wahrheit; innerhalb des einzelnen, Subjektes gilt das gleiche: dass ihm
als objektiv wahr und objektiv berechtigt diejenigen Vorstellungen
erscheinen, die, mit der Gesamtheit seiner sonstigen Erkenntnisse und
Triebe harmonieren; Vorgänge, deren Feststellung in jedem, einzelnen
Falle man für subjektiv und zweifelhaft halten mag, erhalten durch
Häufigkeit der Beobachtungen den Charakter objektiver Richtigkeit.
Das Subjektive und das Objektive stehen sich psychologisch durchaus
nicht als getrennte Genera gegenüber, sondern eine allmähliche
Steigerung führt von jenem zu diesem; (<151) was wir in Erkenntnissen,
Normen, Interessen Jeder Art objektiv nennen, ist nur eine quantitative
Häufung von Einzelnem, das uns, so lange es nur als solches bewusst
bleibt, subjektiv erscheint.
Wie dasjenige objektive Wahrheit ist, was Wahrheit für die Gattung
ist, im Gegensatz zu der Vorstellung des einzelnen Subjektes, so ist das
Interesse für ein objektives Ideal im Gegensatz zum egoistischen Wollen
nur dasjenige, was die Interessen des weitesten sozialen Umkreises in sich
enthält.
So entsteht das praktische sachliche Interesse am eigenen Schaffen
dadurch, dass man für die Gesamtheit schafft.
Wer nur für sich arbeitet, wird immer mehr an den Erfolg und Preis der
Arbeit denken, sie wird ihm das Mittel zu einem ausser ihrem sachlichen
Inhalt liegenden Zwecke sein.
Wenn wir aber statt an uns selbst an eine Gesamtheit von Subjekten
denken, deren Interessen und Individualitäten sich für unsere
Vorstellung in ihrer Einzelheit gegenseitig paralysieren, wenn wir kein
einzelnes Subjekt mehr haben, an das als Spezialzweck sich unsere Arbeit
richten soll, so wird das Bewusstsein frei für das Interesse an der Sache
selbst.
Es ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass es zuerst zur Zeit der
italienischen Renaissance eine Wissenschaft und Kunst des Kriegswesens
gab; das neutrale, sozusagen künstlerische Interesse an der korrekten
Kriegführung entstand durch das Condottierentum, das allen Parteien
abwechselnd zu Diensten stand, und so unter Aufhebung einseitiger
partikularistischer Zwecke sein Interesse ausschliesslich der Sache selbst
zuwenden konnte.
Durch das Mittelglied hindurch, dass Sittlichkeit eine Form des
Interesses für das Allgemeine ist, steht mit der Objektivierung unserer
Interessen bei dem Arbeiten für Andere die Erscheinung in Verbindung,
dass die Freude am eigenen moralischen Handeln als solchem um so geringer
wird, je höher die Moralität selbst steigt; nicht nur, weil unsere
Pflichten in schnellerer Progression wachsen als unsere Leistungen,
sondern weil, je reiner und tiefer die Sittlichkeit wird, um so mehr
(<152) das Interesse an ihrem Objekt jede subjektive persönliche
Regung unterdrückt.
Auf der höchsten Stufe tröstet man sich beim Misslingen einer guten
Tat nicht mit der guten Absicht, die man gehabt habe; wo das Moralische
als solches sich von selbst versteht, da mischt sich kein subjektives
tröstendes Moment in das Bedauern um das Objektive, auf das ganz allein
es uns ankommt.
Wenn das Charakteristische der Idee die Zeitlosigkeit ist, die
Gleichgültigkeit gegen ihre Realisierung im jetzt und Hier, so entspricht
dem im sittlichen Idealismus das Tun absolut um der Sache willen, wobei
die Opfer, die vorher gebracht werden, und die positiven und negativen
Folgen für das Individuum gleichgültig sind.
Dem Idealisten in der Wissenschaft ist es gleichviel, wer die wichtige
Entdeckung macht, ob er selbst oder ein anderer, wenn sie nur überhaupt
gemacht wird.
Die Loslösung des Interesses an der Sache von dem an der Person, um
derentwillen jenes ursprünglich entstand, ist einer der wichtigsten
Vorgänge im ethischen Leben.
Indem er sowohl an dem egoistischen wie an dem altruistischen Interesse
als Ausgangspunkt beginnen kann, ist er eines der stärksten Bindeglieder
zwischen beiden und zeigt, wie falsch es ist, den Charakter eines
Willensaktes immer als egoistisch oder altruistisch ansprechen zu wollen,
da eben das sachliche Interesse zu einer Triebfeder werden kann, die über
das eine wie über das andere gleichmässig hinausführt.
Wie die Trennung der Menschen in Schafe und Böcke falsch ist, so ist
es auch die der einzelnen Handlungen in egoistische und altruistische -
nicht nur, weil beide Elemente in unzähligen Taten untrennbar
durcheinander gehen, sondern weil unzählige, psychologisch angesehen,
ganz jenseits dieses Gegensatzes stehen.
Allerdings liegt die Alternative nahe genug: mit jeder Handlung, die
man unternimmt, müsse man entweder das eigene Interesse fördern, oder
wenn nicht dieses, so das eines Anderen, sonst wäre kein Motiv zu dieser
Handlung aufzufinden.
Unser Wille bindet sich an solche logische Distinktionen nicht, und
findet kein Hindernis, an (<153) gewissen objektiven Geschehnissen als
letzten Zielen Halt zu machen, auch wenn dieselben gar keine bewusste
Beziehung zu Egoismus oder Altruismus haben.
Die Vorstellung Fichtes, dass wir in uns die Nötigung finden, einiges
zu tun, bloss und lediglich, damit es geschähe, ist in viel weiterem Sinn
richtig als er meinte.
Es gilt nicht nur für die sittlichen Handlungen; ja für diese gilt es
sogar vielfach nicht, wenigstens z. B. nicht für die Kantische Auffassung
vom Sittlichen, denn das Motiv ihres Vollbrachtwerdens ist doch nicht die
Realisierung ihres sachlichen Inhaltes, sondern das allgemeine Gesetz oder
die allgemeine Glückseligkeit, der sie dienen, oder Ähnliches.
Aber gerade unter Abweisung jedes über die Tat selbst hinausgehenden
Endzweckes wird diese selbst rein objektiv zum Gegenstand des Willens.
Dieser hat viel zu sehr rein funktionellen Charakter, bestimmt aus
seinem Begriff heraus viel zu wenig die Zwecke, auf die er sich richten
kann, als dass man ihn von vornherein in die Alternative egoistischen oder
altruistischen Inhalts einsperren könnte.
Gerade ethische Anforderungen, deren psychologische Kraft wenigstens
unbezweifelbar ist, haben oft genug ein objektives Ideal als Strebensziel
aufgestellt, bei dem gerade nicht mehr gefragt werden sollte, wer denn den
Nutzen davon hätte.
Es war die bahnbrechende Tat Platos, das Objektiv-Gute im Umkreis des
menschlichen Verhaltens zu entdecken.
Hatte der Kreis der sokratischen Interessen sein Zentrum
ausschliesslich im Menschen gefunden und sollte alles Sittliche geschehen,
weil es für den Menschen gut war, so stellte nun Plato dieses bloss
Menschliche in den Dienst einer allumfassenden Idee.
Wie die Naturzwecke sich für ihn aus der Beschränktheit auf das
menschliche Wohl, die Sokrates gelehrt hatte, emanzipieren und der
objektiven Vollendung des Weltganzen dienen, so stellen sich auch die
sittlichen Zwecke des Menschen für ihn auf eine höhere Warte, indem sie
Glied und Mittel zu einer allgemeinen Weltordnung werden.
Er kennt ein objektives Gutes, bei dem nicht weiter gefragt werden
kann, (<154) wozu es denn gut sei, und das, weit entfernt von unserem
Nutzen oder Schaden seinen Massstab zu entlehnen, vielmehr selbst den
Massstab für unseren wahrhaften Nutzen oder Schaden bildet.
Es gibt für Plato gar keinen subjektiven Grund und kein persönliches
Verhältnis, aus dem das recht würde, was objektiv und ideell nun einmal
unrecht ist; so dass er streng verbietet, erlittenes Unrecht zu vergelten.
Denn jemandem Böses zuzufügen ist eben unsittlich und von dieser
sachlichen Bestimmung kann die persönliche Zufälligkeit, dass man selbst
vorher Böses erlitten, keine Ausnahme rechtfertigen.
Zum ersten Mal war hier dargelegt, dass eine gewisse Gestaltung der
Dinge an und für sich gut, schön und wünschenswert sei; dass die
Ausprägung eines objektiven Ideals sittliche Notwendigkeit besitze; und
dass der Endzweck unseres Handelns von einem ausser uns gelegenen
absoluten Prinzip gesetzt sei.
Wenn die Stoiker später als ethisches Ziel die Übereinstimmung mit
der allgemeinen Weltvernunft forderten, wenn die christliche Ethik
dasselbe darstellte als Realisierung des Reiches Gottes auf Erden, so
haben wir den Gründer dieser objektiven Moralprinzipien in Plato zu
suchen, der zum ersten Mal das absolut Gute von der Verschlingung mit der
menschlichen Subjektivität, mag sie egoistisch oder altruistisch sein,
loslöste und jene höchste objektive Idee in das Zentrum des Weltkreises
stellte.
Vielleicht ist der Gang der menschlichen Erkenntnis notwendig der, dass
dem vollkommenen Befangensein in dem Hier und jetzt der Bestrebung, dem
schlechthin persönlichen und subjektiven Wollen die Vorstellung eines
absoluten objektiven Ideals folge, dass, was ursprünglich nur in uns
lebt, in der Form einer über alles Persönliche hinausliegenden Forderung
sich verkörpere und dass dann erst spät folgenden Perioden die
Erkenntnis auch dieses scheinbar Festen als eines schlechthin Menschlichen
vorbehalten bleibt.
Jene scheinbare Objektivität mag einen Zirkel enthalten, indem sie das
menschliche Gute zu einem absoluten erhebt und nun wieder das menschliche
von diesem ableitet; aber (<155) weder leidet ihre, historische
Wichtigkeit, noch hat ihre psychologische Kraft darunter gelitten.
Den Irrtum, dass es in jedem interessierten Handeln nur eine Wahl
zwischen Egoismus und Altruismus gäbe, hat ferner die Neigung zur
Personifikation begünstigt.
Wie man das objektive Geschehen vielfach nur so verstehen zu können
meinte, dass man ihm menschlich seelenhafte Motive unterschob, so scheint
das Wollen keinen Sinn zu haben, wenn es nicht schliesslich den Zustand
menschlicher Wesen zum Zweck hat; der psychologische Irrtum dieser
Anthropomorphisierung ist hierbei ebenso sicher, wenn auch nicht so
augenfällig wie jener physikalische.
Andrerseits wirkt die Tendenz der Parteiung mit, die überhaupt unser
Weltbild formen hilft und zweifellos zu den Kategorien gehört, in die wir
die Erscheinungen aufnehmen, um eine Verstandeswelt aus ihnen zu, machen.
Unser praktisches Leben steht ganz im Bann der Partei - eine Folge der
sozialen Zweckmässigkeit des Parteilebens, das durch einseitige
Konzentration eine Unzahl von Kräften wirksam werden lässt, die ohne den
Anhalt an einer Partei latent bleiben.
Dazu kommen die persönlichen Gegensätze in den realen und idealen
Interessen, die jedes bestimmte Denken oder Tun von dem entgegengesetzten
eines Anderen: sich abheben lassen; wie wir uns im Ganzen und Allgemeinen
des Ich erst am Du bewusst werden und erst in der Spannung zwischen beiden
jedes seinen Sinn bekommt, so gilt das Gleiche von den einzelnen Inhalten
der Seele.
Die Notwendigkeit eines Unterschiedes, damit eine spezifische
Empfindung zustande komme, und die grössere Leichtigkeit des Denkens, das
seine Gegenstände in wenigen, energisch entgegengesetzten Färbungen
erblickt, wirken ferner zusammen, um unser Weltbild allenthalben unter das
Zeichen der Parteiung zu stellen.
So gewinnt denn jene primäre Parteiung zwischen dem Ich und dem Du
eine solche Macht über unser Denken, dass wir bei der Frage nach den
Endzielen unseres Wollens erst dann am Ende zu sein glauben, wenn wir bei
dem egoistischen oder dem altruistischen Interesse (<156) angekommen
sind.
Dieser Einschränkung gegenüber müssen wir auf der empirischen
Freiheit des Willens in dem Sinne bestehen, dass es gar keinen Gegenstand
geben kann, auf den er sich nicht richten könnte.
so gut wie man alles zu denken vermag, es sei denn, dass es sich
logisch widerspreche, so gut kann man alles wollen; und so wenig der
Begriff des Seins aus sich heraus auf einen bestimmten Inhalt hinweist,
aber auch keinen ausschliesst, genau so verhält es sich mit dem Begriff
des Wollens.
Jede beliebige Sachvorstellung kann unter der Kategorie und dem
eigentümlichen Realitätsgrade des Wollens, ebensogut wie unter denen des
Sollens, des Seins, des Könnens etc. bewusst werden.
Neben den rein objektiven Strebungen, die jenseits von Egoismus und
Altruismus stehen, beobachten wir unzählige Fälle einer Mischung, eines
allmählichen Übergangs zwischen beiden, so dass es schon deshalb
prinzipiell falsch ist, in jeder Handlung die egoistischen von den
altruistischen Triebfedern scharf sondern zu wollen.
Freilich scheint es, als ob ein tieferes Eindringen zu diesem Ergebnis
führen müsste.
An der Oberfläche der Erscheinungen liegt Egoistisches und
Altruistisches unentwirrbar durcheinander; die Durchkreuzung des
individuellen Wollens mit sozialen Strebungen, die Umkleidung des
selbstischen Verlangens mit dem Schein der Aufopferung für Andere lassen,
sobald man sich sozusagen an die erste Instanz der Handlungen hält, die
Grenzen von beiden fortwährend ineinander laufen und sogar nicht nur für
die Beurteilung durch den Dritten, sondern auch durch das eigene
ungeschulte Bewusstsein.
Bei tieferem Eindringen sondern sich die Triebfedern entschiedener.
Die letzten Absichten enthüllen sich, das Mannigfaltige des ersten
Anblicks zerlegt sich in seine ursprünglichen Tendenzen, vor der
ausschlaggebenden Kraft verschwinden die Unehrlichkeiten und
Selbsttäuschungen, die den Beisatz scheinbar anders gerichteter
Eigenschaften hervorriefen.
Allein über diese zweite Instanz der Erkenntnis erhebt sich noch eine
dritte, die das(<157) Erkenntnis der zweiten reformiert.
Die tiefste Einsicht ist doch wohl die, die den Zusammenhang der
einzelnen Tat mit dem Ganzen der Persönlichkeit zeigt.
Und gerade dieses Ganze der psychologischen Zusammenhänge, aus dem der
Willensakt hervorgeht, enthält offenbar überall eine Mischung ganz
entgegengesetzter Tendenzen.
Obgleich die Seele keine einheitliche Substanz ist, die als
Schnittpunkt aller ihrer einzelnen Äusserungen diese in gegenseitige
Verbindung setzte, so stehen diese Äusserungen doch zum wesentlichsten
Teile miteinander in empirischen, assoziativen und apperzeptionellen
Beziehungen und Wechselwirkungen, so dass jeder spätere Akt auf den
früheren ruht, jede einzelne Seelenäusserung auf der Summe der
gleichzeitig vorhandenen, wenn auch in verschiedener Stärke sich geltend
machenden Energien.
Und weil die Seele keine einheitliche Substanz ist und deshalb auch
keine absolut einheitliche Qualifizierung gemäss den menschlichen
Kategorien besitzt, ist eben ihr Gesammtinhalt, über den sich die
einzelne Äusserung erhebt, sehr mannigfaltig und zeigt diese
Mannigfaltigkeit, diese Unmöglichkeit der Charakterisierung mit einem
einzigen Worte, gerade je tiefer und feiner man eindringt.
Die Erkenntnis nimmt hier also die häufige Entwicklung, dass ihre
letzte Stufe morphologische Gleichheit mit ihrer ersten besitzt; die
Mischung egoistischer und altruistischer Motive, die sich beim ersten
Hinsehen aus der Unsicherheit der Beobachtung und Deutung ergab, scheint
bei näherem Eingehen einer entschiedenen Trennung der Motive der
einzelnen Handlungen Platz zu machen, und erst wenn man auf die letzten
Gründe des Handelns zurückgeht, erkennt man nun sicherer und schärfer,
wie kein einzelner Willensakt ganz von der Gesamtheit der Persönlichkeit
zu lösen ist, in der sich jedenfalls Egoismus und Altruismus mischen.
Die logische Entgegensetzung beider verhindert eben nicht den
praktischen und psychologischen Übergang zwischen ihnen.
So haben wir z. B. eine unentwirrbare Vermengung von Egoismus und
(<158) Altruismus, von Ehrsucht und Fürsorge in dem allgemein
menschlichen Zuge, die eigenen Meinungen über das theoretisch und
praktisch Richtige allen Anderen aufzudrängen und das Leben derselben
nach jenen zu gestalten.
Vielleicht am klarsten tritt diese Mischung der Motive bei religiöser
Unduldsamkeit und Bekehrungssucht hervor; das reinste Interesse für das
Seelenheil der Mitmenschen, die heiligste und selbstloseste Liebe zu ihnen
kann dazu ganz ebenso mitwirken wie die teuflischste Herrschsucht, die
unerträglichste Anmassung, die bornierteste Unfähigkeit, irgend einen
Widerspruch zu ertragen.
Darum befindet sich die moralische Kritik dieser Unduldsamkeit und
mancher anderen gegenüber in einer gewissen Verlegenheit: manche
Überzeugungen können eben nicht tolerant sein, wenn sie stark,
aufrichtig, subjektiv sittlich sein sollen.
Darum wird ganz konsequent schon in der früheren Zeit der christlichen
Kirche die Duldung der Irrlehren als eine Schuld angesehen, die Staat und
Kirche um des Seelenheils zahlreicher Menschen willen nicht auf sich laden
dürften; Augustin bezeichnet deshalb die Toleranz als eine Grausamkeit.
Selbstsüchtige und selbstlose Momente vermischen sich in der
Intoleranz oft in so ununterscheidbarer Weise, dass nicht nur die
quantitative, sondern auch die qualitative Analyse völlig versagt ist; es
sind sehr häufig gar nicht zwei ursprüngliche Motive, die sich mischen,
sondern ein einziges, das psychologisch zwischen beiden steht und die
logische Ausdeutung sowohl nach der einen wie nach der anderen Seite wie
als Mischung beider verträgt.
Es gibt sogar Mischungen egoistischer Triebe und objektiver Ideale, die
eigentlich alle Requisite eines ausschliessenden Egoismus tragen und doch
wegen des Beisatzes der letzteren als gerechtfertigt erscheinen; z. B.
dass man Schönes an sich und um sich pflege, selbst mit Opfern und in den
Seiten der Existenz, zu denen kein Blick eines Anderen dringt; oder dass
man ebenso Erkenntnissinteressen befriedige, ganz ohne Rücksicht darauf,
ob Anderen davon mitgeteilt wird oder nicht, (<159) und Ähnl.
Man sieht daran recht, wie der ganze Hass, der den Egoismus als
formales Prinzip des Handelns überhaupt trifft, nur in seinen einzelnen
und fühlbaren Inhalten wurzelt.
Wo diese Inhalte feiner und vergeistigter sind, wenn auch so raffiniert
wie möglich und in Prinzip und Gesinnung gar nichts anderes als Egoismus;
wo Dritte durch sie vielleicht nur auf weiten und schwer erkennbaren
Umwegen beeinträchtigt werden, da hebt sich die Handlung für den Dritten
und auch für das eigene Bewusstsein leicht über den Gegensatz von
Egoismus und Altruismus in die Sphäre des objektiven Interesses, dem man
positiven sittlichen Wert zuschreibt - in den obigen', Fällen vielleicht
nicht nur, weil diese objektiven Inhalte an, und für sich eine gewisse
Verdichtung der sittlich sozialen Interessen enthalten, sondern auch wegen
der Unschädlichkeit und Harmlosigkeit, mit der der ihnen Hingegebene sich
wenigstens von dem gröberen und unmittelbaren Interessenkampf gegen
Andere fernzuhalten pflegt.
An dem Anfang der sozialen Entwicklung, an dem das Individuum sich noch
nicht als fest umschriebene Persönlichkeit.' innerhalb seiner Gruppe
gefunden hat, wird die Zweideutigkeit zwischen Egoismus und Altruismus
besonders stark sein;' wo der Interessenkreis des Ich sich von dem seiner
Umgebung, auf die die altruistische Tätigkeit sich zu richten hätte,
noch nicht scharf sondert, wird entweder mit einer und derselben Handlung
leicht beiden Ansprüchen genügt, oder die häufige Aufopferung des
Einzelnen bei dem geringen Wert des Individuums noch nicht scharf
empfunden.
Andrerseits, bietet wieder die entwickeltere Kultur gerade durch die
Differenzierung der Persönlichkeit manche Mittel zur Vereinigung beider
Tendenzen.
Die Differenzierung der Wesen untereinander stellt nämlich deshalb
eine höhere Entwicklungsstufe dar, weil das einzelne Wesen um so mehr
Aussicht haben wird, sich zu erhalten, je verschiedener seine
Lebensbedingungen von denen seiner Nachbarn sind, d. h. je weniger es um
dieselben Dinge mit ihnen zu konkurrieren braucht; ein Maximum (<160)
von Bevölkerung findet sich auf einem Terrain von gegebener Ausdehnung,
wenn ein Maximum von Verschiedenheit in der Organisation der Bevölkernden
stattfindet.
Dem entspricht es auch, dass die niederen Geschöpfe in der Natur einen
Verhältnismässig grösseren Raum und die niedrigen Gesellschaften ein
verhältnismässig höchst umfangreiches Gebiet brauchen.
Demnach vereinigt die Differenzierung und Individualisierung in
schöner Weise das Interesse des Ich mit dem der Anderen: sie gibt jenem
ein relativ unbestrittenes Gebiet, eine Möglichkeit der Lebensführung,
der nur eine geringe Konkurrenz droht, während sie andrerseits das Feld
für Andere frei macht.
Der Mangel eines absoluten Unterschiedes zwischen individuellem und
Allgemeinheitsinteresse ist nun besonders für die Epoche klar, in der die
Familie bezw. die Gens die soziale Einheit bildet, sei es, dass sie ohne
höheren staatlichen Zusammenhang für sich lebte, sei es, dass sie in
einem solchen einbegriffen war, aber doch noch so scharf gegen jede andere
Familie sich als Ganzes abgrenzte, dass sie ganz für jede Tat des
Einzelnen verantwortlich gemacht wurde.
Hier kann es vielfach zu einem Bewusstsein der Interessenspaltung
zwischen dem Ich und den Anderen gar nicht gekommen sein.
Die Familie bietet einen sozial-einheitlichen Zustand dar, aus dem die
Differenzierung einerseits zum Individuum, andrerseits zur erweiterten
sozialen Gruppe führt.
Wir dürfen uns aber den Zustand der Familiengruppe nicht als eine
»Mischung« von Egoismus und Altruismus, Individualismus und
Kollektivismus denken; vielmehr war er etwas ganz Einheitliches,
Ungemischtes, aus dem erst die spätere Entwicklung zu diesen einseitigen
Standpunkten führt, die er vollkommen ungeschieden in sich enthält, und
von denen wir uns erst nachträglich vorstellen, dass sie jenen Zustand
zusammensetzen.
Um so häufiger wird der zusammengesetzte Charakter einer Handlung nur
für die subjektive Betrachtung bestehen, als die gleiche Tat je nach dem
Standpunkt des Urteilenden sowohl egoistisch wie altruistisch sein kann.
Von welchem Grundsatz aus ich dies verstehe, (<161) wird die
Analogie mit dem Begriff der allgemeinen Menschenliebe ergeben.
Untersuchen wir im einzelnen, welche Forderungen man damit zu decken
pflegt, so finden wir, dass es immer nur relative Allgemeinheiten sind, um
die es sich handelt.
Der weitere Kreis von Pflichten wird dem engeren gegenüber als der der
allgemeinen Menschenliebe bezeichnet, ohne dass er selbst ein absolut
weiter wäre.
Wenn es also z. B. spezifische Pflicht ist, für meine Familie zu
sorgen, so erscheint es dagegen als ein Resultat der allgemeinen
Menschenliebe, wenn ich für einen kranken Reisegefährten, den ich nicht
weiter kenne, sorge.
Nun kann man aber auch dies als eine engere Pflicht ansehen, dass ich
für einen solchen unglücklichen Menschen, der etwa niemand anderen hat,
etwas tue und dem gegenüber ist es allgemeine Menschenliebe, wenn ich
einen Beitrag für ein Krankenhaus gebe, dessen Insassen mir völlig
unbekannt sind.
Und wenn dies etwa ein Krankenhaus in einer anderen Stadt meines
Vaterlandes ist, so erscheint dies als spezifische Liebespflicht
gegenüber der, für ein Krankenhaus im fremden Lande etwas zu geben, als
allgemeine gegenüber der, es für ein Krankenhaus in meiner Vaterstadt zu
tun.
Dass wir dies aber als Liebe und nicht direkt als: Pflicht bezeichnen,
liegt daran, dass das Pflichtbewusstsein unseren Geist noch nicht tief
genug durchdrungen hat, um auch unser Verhältnis zu den ferner Stehenden
unter dem Gesichtspunkt der Pflicht erscheinen zu lassen; so dass, was wir
für sie tun, als ein opus supererogationis erscheint, als etwas, was nur
noch Sache der über die Pflicht hinausgehenden Liebe ist.
Die Pflicht beschränkt sich ursprünglich auf den engen sozialen Kreis
und dieser erweitert sich doch nur so langsam, dass für das nur
Gefühlsmässige noch immer ein grosser Spielraum bleibt.
Wie hier also die gleiche Tat je nach der Grösse des Kreises, von dem
aus man sie betrachtet, sowohl als spezifische Pflicht wie als Folge
allgemeiner Menschenliebe erscheinen kann, so kann die entsprechende
Doppelheit der Ausdeutung auch in Bezug auf Egoismus und Altruismus
(<162) eintreten.
Wenn ich z. B. in hingebender Weise für meine Familie sorgend dazu
Mittel anwende, die dritte Personen beschädigen, so ist diese
Handlungsweise von dem blossen Ich aus gesehen altruistisch, von dem
weiteren sozialen Kreise aus aber egoistisch; denn für diese bilde ich in
der in Betracht kommenden Hinsicht mit meiner Familie zusammen ein
einziges Subjekt.
Allgemeiner ausgedrückt: die Interessiertheit für einen bestimmten
sozialen Kreis ist für diesen Altruismus, für den darüber
hinausliegenden jedoch Egoismus.
Insoweit ich mich als Glied dieser Gruppe fühle oder als solches
betrachtet werde, ist die Handlung, die sie fördert, egoistisch; insoweit
ich mich aber ihr noch gegenüber stelle, sei es als blosses Individuum,
sei es als Mitglied einer anderen Gruppe, ist ebendieselbe altruistisch.
Dieser Umstand, dass der gleiche soziale Kreis, nämlich der, engere,
einerseits Objekt meines Altruismus, andrerseits meines Egoismus ist,
bewirkt natürlich die mannigfaltigsten Kreuzungen und
Ungleichmässigkeiten des sittlichen Empfindens.
Bei unentwickelter Kultur bildet der engere Kreis, an den der Einzelne
gewiesen ist, das alleinige Material seiner Sittlichkeit.
Nur das Verschulden gegen die eigene Gruppe wird rechtlich geahndet,
während der fremden gegenüber Gesetzlosigkeit herrscht, und das
innerliche sittliche Bewusstsein entspricht dem, indem es offenbar eine
strafende Reaktion des Gewissens nur an die Sünden gegen den
unmittelbaren Stammeskreis, nicht oder viel weniger an solche gegen die
fremde Gruppe knüpft.
Dies wird in erhöhten Verhältnissen anders empfunden.
Das Vergehen gegen den eigenen engeren Kreis ist hier oft das als
weniger unmoralisch beurteilte, da es mehr als Verletzung des
Eigeninteresses erscheint; indem die gesteigerte Kultur eine grosse Anzahl
von Gruppen unter gemeinsamen ethischen Gesichtspunkten befasst, wird die
Solidarität der einzelnen Gruppe in sich erst als eigentlicher Egoismus
bewusst.
Die ethische Berührung und sozusagen Reibung der Gruppen aneinander
bewirkt, dass der naive (<163) Egoismus der Gruppe, welche ihren ganzen
Gesichtskreis allein ausfüllte, zu einem eben durch den Gegensatz
bewussten wird.
Die Zusammengehörigkeit der egoistischen Zwecke mit denen einer Gruppe
kann also genau die entgegengesetzten ethischen Folgen haben, je nachdem
diese Gruppe die einzige ist, gegen die man Pflichten hat, oder von einer
weiteren umgeben ist.
In höheren Verhältnissen sind beide Gesichtspunkte nur in der
theoretischen Analyse trennbar, während die Praxis ihre Mischung zeigt:
so ahndet z. B. die moderne Gesetzgebung einerseits Vergehungen innerhalb
der eigenen Familie weniger scharf, andrerseits schärfer als die gegen
Fremde.
Dieses Doppelverhältnis zum engeren Kreise wird sittlich und rechtlich
sehr schwierig, wo Mischverhältnisse in bezug auf ein Eigentum vorliegen,
so dass unsicher ist, ob es Gemeingut in dem Sinne ist, dass der Einzelne
ihm als einem Besitz einer juristischen Person gegenübersteht, oder im
Sinne des Condominium, an dem jeder realen Anteil hat, so dass das Ganze
aus den Anteilen der Einzelnen zusammengesetzt ist.
Im letzteren Fall ist das Vergehen weniger sittlich strafbar, weil der
Sünder sich damit mehr ins eigene Fleisch schneidet.
Das Glarner Gesetzbuch straft den im fremden Walde Frevelnden als Dieb,
den aber, der es im Walde der eigenen Gemeinde tut, nur als FrevIer - in
direkter Umkehrung also des Verfahrens primitiver Gruppen.
Im Ganzen lässt der Glaube an das absolute Ich, an die einheitliche
substantielle Seele auch im Ethischen den Gegensatz des Eigeninteresses
gegen das altruistische schroffer erscheinen, als er tatsächlich ist.
Wenn jene metaphysische Idee der Seele sich für eine vorgeschrittene
Erkenntnis in die Einzelvorstellungen auflöst, deren Summe die Seele
bildet, so ist der weitere Schritt nun der, dass das Ich auch in dieser
Form als der Schnittpunkt sozialer Kreise, als das Resultat sozialer
Bewegungen erkannt wird.
Nicht nur in unserem Besitz an Wissen ist nur ein verschwindendes
Minimum völlig originell und fast alles Erbschaft der Gattung, sondern
auch unsere Triebe, Neigungen und Interessen sind viel häufiger,(<164)
als es dem naiven Selbstbewusstsein scheinen mag, aus sozialen Fäden
gesponnen.
Mein Glück ist identisch mit dem meiner Familie, meine Ehre mit der
meines Standes, meine geistige Förderung mit der von gleichen Interessen
bewegter Kreise, meine religiöse Erhebung mit der meiner Gemeinde etc.
Es ist freilich sehr billig, diesen Ausdruck für einen ungenauen und
bildlichen zu erklären, da nur eine geringe Analyse dazu gehöre, um
darzutun, dass der Zusammenhang meines Empfindungsniveaus mit dem der
erwähnten Kreise auf einfacher Kausalität, aber nicht auf unmittelbarem
Zusammenfallen beruhe.
Demgegenüber scheint mir die folgende Betrachtung berechtigt und für
alle Ethik wichtig.
Wo man von der Einheit eines Gebildes irgend welcher Art spricht, da
meint man - da uns die absolute metaphysische Einheit unzugänglich ist -
die Wechselwirkung der Teile.
Der Zusammenhang derselben, der sie als Teile eines Wesens erscheinen
lässt, ist die Folge der wechselseitig ausgeübten Anziehungs- oder
sonstigen Kräfte.
Und da wir eben keinen anderen Begriff von Einheit haben, so dürfen
wir überall da von ihr sprechen, wo ein bestimmtes Mass gegenseitig
wirkender Kräfte sichtbar wird.
Und zwar gibt sich dieses Mass in der Bildung dessen zu erkennen, was
man einerseits den objektiven Geist, andrerseits die Gesellschaftsseele
genannt hat.
Bei dauernderen Beziehungen von Individuen untereinander gestaltet sich
zwischen ihnen ein gemeinsames Niveau, das dann in relativer
Unabhängigkeit von jedem einzelnen Mitgliede besteht.
Wo eine Vereinigung stattgefunden hat, deren Formen beharren,
wenngleich einzelne Mitglieder ausscheiden und neue eintreten; wo ein
gemeinsamer äusserer Besitz existiert, dessen Erwerb und über den die
Verfügung nicht Sache eines Einzelnen ist; wo eine Summe von
Erkenntnissen und sittlichen Lebensinhalten vorhanden ist, die durch die
Teilnahme der Einzelnen weder vermehrt noch vermindert werden, die,
gewissermassen substantiell geworden, für jeden bereit liegen, der daran
teilhaben will; wo Recht, Sitte, Verkehr Formen ausgebildet haben,
(<165) denen jeder sich fügt und fügen muss, der in ein gewisses
räumliches Zusammensein mit Anderen eintritt -da überall ist
Gesellschaft, da hat die Wechselwirkung sich zu einem Körper verdichtet,
der sie eben als gesellschaftliche von derjenigen unterscheidet, die mit
den unmittelbar ins Spiel kommenden Subjekten und ihrem augenblicklichen
Verhalten verschwindet.
Hier hat die Wechselwirkung denjenigen Grad von Innigkeit erreicht, der
die Individuen, in ihrer Gesamtheit als eine Einheit erscheinen lässt und
in der fraglichen Beziehung das Individuum als solches aufhebt.
Der Anteil des Einzelnen im Geben und Empfangen ist nicht mehr
herauszusondern.
Dieses Verhältnis mag viele erkenntnisstheoretische Schwierigkeiten
haben, für das unmittelbare und namentlich das naivere Bewusstsein stellt
es sich jedenfalls so dar, dass die eigene Ehre, das eigene Glück etc.
gewissermassen Teile eines sozialen - standesmässigen, familienhaften
etc. - Besitzes an diesen Gütern sind; sie gehen gleichsam aus der
einheitlichen Quelle des sozialen Besitzes an den Einzelnen über, weil
sie auf alle Anderen übergehen.
Mit der Zerfällung des absoluten einheitlichen Ich in die Summe der
wirklichen Vorstellungen, welche die historische Entwicklung der
Persönlichkeit entstehen lässt, harmoniert es, dass auch unsere
egoistischen Handlungen nicht alle Teile und Beziehungskreise unseres Ich
zu fördern pflegen, sondern nur bestimmte derselben, während andere
davon unberührt bleiben und häufiger noch gewisse Opfer bringen müssen.
Selten durchsetzt ein neu auftretender Wille die bestehenden
Verhältnisse unseres eigenen Ich und unserer Interessen so, dass er sich
überall an sie vollkommen anschmiegte, dass das neue Verlangen von
vornherein nur zusammenstimmende und kommensurable Beziehungen zu unseren
sonstigen aufwiese und genau eine Stelle einnähme, welche noch von nichts
anderem, erst zu verdrängendem besetzt wäre; sondern sogar der
egoistischste, in Bezug auf Andere rücksichtsloseste, ja verbrecherische
Wille (<166) wird zu seiner Durchführung Opfer an Kraft, Zeit,
Bemühungen, sittlichem Widerstreben, Besorgnis vor äusseren Folgen usw.
fordern.
Weil wir keine aus einem Einheitspunkt heraus harmonisch entwickelten
Wesen sind, sondern einen Teil unseres Ich dem anderen angegliedert haben,
wie die Zufälligkeit unserer äusseren und inneren Lebensgeschichte es
mit sich brachte, und deshalb höchst verschiedenartige und oft
entgegengesetzte Interessen in uns vereinigen, wird die Wirkung unserer
Taten sich meistens auch in Bezug auf uns selbst spalten und ein Teil
unseres Ich muss Opfer bringen, sozusagen altruistisch verfahren, damit
ein anderer Teil sich egoistisch fördern könne.
Lehrt uns nun aber ein weiterer Blick, dass diese verschiedenen
Interessen aus sozialen Entwicklungen herstammen und von der Nabelschnur,
die sie mit diesen verband, nur teilweise gelöst, unzählige Beziehungen
und Wirkungen zu ihnen hin besitzen, welche gleichfalls die
mannigfaltigsten Komplikationen und Gegensätzlichkeiten untereinander
aufweisen: so ist klar, dass die Folgen unserer Handlungen sie sehr selten
als entschieden egoistische oder altruistische, weder der Gesinnung noch
der äusseren Erscheinung nach, werden auftreten lassen.
Die Namen Egoistisch und Altruistisch sind oft nur Bezeichnungen a
potiori, indem sie die überwiegende Tendenz und Folge einer Handlung
aussprechen, die sich tatsächlich in eine Reihe von keineswegs
harmonischen, kausalen und teleologischen Momenten spaltet.
Die rücksichtsloseste Habgier schliesst doch in vielen Fällen
wenigstens die über den nackten Egoismus hinausgehende Fürsorge für die
Familie ein, die Eitelkeit ist eine nur auf Grund sozialer Beziehungen
entstehende Eigenschaft, Rauflust und Gewalttätigkeit sind Erbschaften
einer Zeit, wo diese Eigenschaften für das Bestehen der Gruppe höchst
notwendig waren; die unerhörte und zum Teil verbrecherische Selbstsucht
und Habgier von Kapitalisten, die z. B. einige der grossen Eisenbahnnetze
Nordamerikas bauten, haben dadurch doch Millionen von Menschen (<166)
die Bedingungen für fruchtbare Tätigkeit und Wohlhabenheit geschaffen
usw.
Ich erwähnte schon die Notwendigkeit altruistischer Umwege zur
Erreichung egoistischer Ziele, welche gleichfalls zur Vermischung und
Verwischung beider Prinzipien leitet: Eduard I. brauchte Geld und Soldaten
und dies war der Ursprung der Freiheiten der englischen Verfassung, indem
es ihn nötigte, zur Erreichung seiner egoistischen Zwecke dem
Volksinteresse Konzessionen zu machen; die ewig geldbedürftigen Bourbonen
greifen dazu, alle Ämter zu verkaufen, aber eben dadurch eröffnen sie
dem Bürgerstand den Weg zur Staatsverwaltung.
Lehrreich ist auch der folgende Vorgang.
Das irische Parlament war bis zum Jahre 1768 ein reiner Popanz, durch
alle Mittel der Gewalt und der Korruption von England beherrscht und jeder
Spur von Selbständigkeit entkleidet.
Ausser der kleinen Patriotenpartei, welche sich um Henry Flood schaarte,
bewahrten nur noch die grossen adligen Familien eine gewisse
Unabhängigkeit, die aber von vornherein einen ganz andern Charakter als
die in dem Programm der Patrioten trug, eine Unabhängigkeit, die von
ihrer Habgier, ihrer Gesetzlosigkeit, ihrem Egoismus getragen wurde.
Da nun aber die englische Regierung während der Verwaltung von Lord
Townshend ihre Unabhängigkeit zu brechen wünschte, um das Parlament noch
unterwürfiger zu machen, trieb sie jene den Patrioten in die Arme und
liess sie mit diesen zu einer Partei verschmelzen, die dann die
Unabhängigkeit des Parlaments durchsetzte.
Um die Freiheit im egoistischen Sinne zu wahren, machte es der Adel
möglich, dass sie im patriotischen Sinn gewonnen wurde.
Eine naheliegende Vorstellung ist hier abzuwehren.
Vielfach schon hat man dem Egoismus das Verdienst zugeschoben, zur
besseren Erreichung seiner Zwecke den Altruismus ins Leben gerufen zu
haben.
So ist gelegentlich der Versklavung - statt der ursprünglichen Tötung
des überwundenen Feindes - gesagt worden: wenn auch das Motiv ein rein
egoistisches war, einerlei, gesegnet sei der Egoismus, der den Wert des
Menschenlebens (<168) erkannte und anstatt dasselbe in wilder Wut zu
zerstören, Selbstbeherrschung genug besass, es sich und damit der
Menschheit zu erhalten.
Ein vollkommener Irrtum! Nicht der Egoismus als solcher, nicht die
selbstsüchtige Gesinnung führt zur Schonung des Überwundenen, sondern
die Verhältnisse, welche jetzt seine Verwertung als Arbeitstier möglich
und nützlicher machen als seine Vernichtung und die gewachsene Einsicht
in diese Verhältnisse.
Auch macht der Egoismus damit ja nur ein Teilchen von dem gut, was er
selber Böses angerichtet hat, da er doch den ganzen Kampf und die
Überwindung des einen durch den andern heraufbeschwor.
Die Argumentation ist ungefähr die: gesegnet sei der Dieb, dass er,
von der Furcht vor der Strafe ergriffen, das Gestohlene wiedererstattete
und damit das Recht des Eigentums anerkannte.
Der Tat, um derentwillen der Egoismus gesegnet wird, hätte es
überhaupt nicht bedurft, wenn er von vornherein nicht existiert hätte.
Nur höherer Intellekt, allenfalls noch höhere Selbstbeherrschung,
nicht höherer Egoismus hat in jenem Falle entschieden.
Und abgesehen von der Frage nach der Gesinnung darf auch in Bezug auf
den äussern Erfolg in keiner Weise etwa gesagt werden, dass die Kräfte,
die das Böse wollen, schliesslich immer das Gute schaffen müssen; die
Zufälligkeit der geschichtlichen Entwicklung, die Interessen und Triebe
des Einzelnen und der Gesamtheit so regellos durcheinander wachsen liess,
hat ebenso oft unversöhnlichen Gegensatz zwischen ihnen gestiftet, wie
sie sie von seiten der Ursache wie von seiten des Zwecks her zusammengehen
liess; der Gegensatz wie die Solidarität der Interessen quellen oft aus
der identischen Wurzel, z. B. im Kaufmannsstand, wo die Gleichheit der
Branche einerseits eine unerbittliche Konkurrenz, andrerseits einen zur
Verbindung und gemeinsamem Vorgehen nötigenden Parallelismus der
Interessen bewirkt.
Nach beiden Seiten hin neigt das populäre Bewusstsein zu Irrtümern.
Den Gegensatz des altruistisch-sozialen gegen das egoistische (<169)
Interesse stellt man sich gern als einen nur an der Oberfläche liegenden,
der tieferen Wahrheit nach aber als eine schliessliche Einheitlichkeit
vor; wir werden Gelegenheit haben, diesen metaphysischen Optimismus in
seiner ganzen Grundlosigkeit darzustellen.
Andrerseits aber wirkt der Zug unseres Geistes, eher den Unterschied
als die Gleichheit zu bemerken, dahin, vor dem egoistischen Teile unserer
Strebungen die sozialen Fäden zu übersehen, die sich überall
hineinspinnen.
Es kommt hinzu, dass diese auch durch die Länge der Vererbung
selbstverständlich geworden sind, während die egoistischen Interessen
mehr am Augenblick haften.
Und dieser Mangel an Erkenntnis hat wieder manche ethische
Unzulänglichkeit zur Folge.
Unser praktisches Bewusstsein würde sich eher und öfter den sozialen
Interessen hingeben, wenn es sich klar darüber wäre, wie vielfach es
dasselbe schon so wie so tut.
Und die Auflehnung gegen die Gesellschaft ist vielfach deshalb so
ungerecht, weil derjenige, der sie begeht, dabei doch alle Vorteile
behalten will und behält, die er aus der Angehörigkeit an die
Gesellschaft zieht, freilich unzählige Male, ohne sich über den Umfang
der Schuld gegen die Gesellschaft klar zu sein.
Selbst das unbeschränkte Recht am eigenen Erwerb, das aus
logisch-sittlichen Grundsätzen scheinbar selbstverständlich folgt, wird
dadurch begrenzt, dass diejenige persönliche Handlung, welche zum Erwerb
der Sache gehört, nur einen Teil der Umstände bildet, welche ihren
Besitz bedingen.
Tätigkeiten und Verhältnisse Anderer und der Gesellschaft, sowohl
vergangene als gegenwärtige, gehören dazu, um die Sache herzustellen und
die Bedingungen zu schaffen, unter denen sie mein Eigentum werden und
bleiben kann; was ich dann noch dazu tue, ist allerdings die notwendige,
aber nicht die ausschliesslich wirkende Bedingung meines Besitzes.
Nun scheint man freilich sagen zu können: da dieser Anteil, diese
Mitwirkung der Gesellschaft jeden Einzelbesitz affiziert, da er die
gemeinsame Grundlage ist, welche ausnahmslos jedem Besitzenden zu Gute
kommt, so werde kein einzelner Besitz (<170) dadurch berührt; der
Einzelbesitz charakterisiere sich durch das Verhältnis des einen
besitzenden Individuums zum andern resp. zum Objekt und nicht durch ein
für Alle gleiches Verhältnis zu einer gemeinsamen Grundbedingung; die
begriffliche Bestimmung des Privaterwerbes sei eben die, dass der
unbeschränkte Besitz der Sache die Folge der individuellen Tätigkeit
sei.
Dies wäre auch annehmbar, wenn jene Vorbedingung wirklich allem
Privateigentum in gleicher Weise zu Grunde läge; allein dies ist nicht
der Fall, sondern das Verhältnis zwischen der individuellen Tätigkeit
und dem, was die Allgemeinheit daran vorgearbeitet hat und mitwirkt,
gestaltet sich für jeden Fall quantitativ und qualitativ anders.
Dies begründet auch die Verschiedenheit der Besteuerung für
verschiedene Arten des Erwerbs und Besitzes, z. B. die progressive
Einkommensteuer, die Kapitalrentensteuer, die variierende Höhe der
Erbschaftssteuer usw. Mit Recht kann man annehmen, dass der Erwerb eines
kleinen Einkommens eine relativ grössere persönliche Anstrengung kostet
als der eines grossen; unsere ökonomischen Einrichtungen sorgen dafür,
dass das Kapital von einer gewissen Grösse ab sich wie von selbst
vermehrt, ohne durch nennenswerte persönliche Tätigkeit des Besitzers
befruchtet zu werden; er verdankt also den öffentlichen Einrichtungen
relativ mehr als der weniger Besitzende, und es ist deshalb in der
Ordnung, dass die Gesamtheit sich ihren Anteil an seinem Vermögen auch
entsprechend verzinsen lässt.
Ganz ebenso wie in sozialisierten und namentlich industriellen
Verhältnissen der Erwerb und Gebrauch einer Sache, so egoistisch er zu
sein scheint, doch immer eine Reihe sozialer und Verkehrsinteressen zu
fördern pflegt, ebenso war umgekehrt zum Zustandekommen des
Erwerbsobjekts, der Transaktion damit, seiner Ausnutzung usw. eine grosse,
aber in jedem Falle variierende Anzahl sozialer Faktoren nötig.
Dass aber das Bewusstsein über das, was wir der Gesellschaft schulden,
so häufig fehlt, verursacht einen Mangel an Dankbarkeit; es gilt von ihr,
was Calvin von Gott (<171) sagt: weil wir ihn nur unvollständig
kennen, sind wir ihn auch nur unvollkommen zu lieben im Stande.
Die Erkenntnis von dem, was wir der Gesellschaft verdanken, ist
vielleicht in ihrer ganzen gerechtfertigten Fülle der Zukunft vorbehalten
und ihr wird vielleicht auch einst ein ganz anderes soziales Verhalten der
Individuen entspriessen.
Die ganze Unbestimmtheit des Ich-Begriffes zeigt sich an dieser
Unstetigkeit des Verhältnisses, in dem das eigentliche ich an seinen
einzelnen Inhalten beteiligt ist, während man zugleich auf den Grund
gehend findet, dass das Ich gar nichts anderes ist als die Summe dieser
Inhalte.
Was über die Vieldeutigkeit der realen Teile des Ich in ihrem
Verhältnis zu diesem leicht hinwegtäuscht, ist die Gleichheit des
Possessivpronomens, welches für ganz verschiedenartige Beziehungen des
Subjekts zum Objekt angewendet wird.
In ganz anderem Sinn ist ein Haus mein, als ein Freund mein ist, in
anderem Sinn nenne ich meinen Körper mein, als ich ein Recht mein nenne;
fast nirgends darf und kann das Meinsein einer Sache jenes absolute
Schalten mit ihr nach meinem Willen bedeuten, welches logisch aus dem
Begriff des Besitzes zu folgen scheint; überall wirkt zu dem Zustande des
Dinges, in dem und durch den es mein ist, noch eine Anzahl anderer
Faktoren mit und zwar immer in ungleicher Weise; das Mein ist nur eine
Bezeichnung a potiori.
Z. B. war der ländliche Grund und Boden in Preussen vom 15.
Jahrhundert an eigentlich gar nicht als Eigentum irgend jemandes zu
bezeichnen.
Der Markgraf war wohl Herr des Landes im Ganzen, aber keineswegs
Eigentümer des einzelnen Stückes, so weit es nicht unmittelbar Krongut
war.
Der Adel trug das Land zu Lehen und belehnte seinerseits den Bauern
damit, so dass auch von diesen beiden keiner eigentlich Eigentümer war;
und doch sprach offenbar jeder dieser Drei von dem Boden als »mein«.
Es gibt offenbar einen allmählichen Übergang von dem
oberflächlichsten Teilbesitz und einseitigen Recht an einer Sache bis zu
dem vollen Besitz ihrer, bei dem ich sie als mein Eigentum bezeichne.
Wenn ich eine Sache abtrete und mir dabei noch ein gewisses Recht an
ihr vorbehalte, z. B. ein Durchgangsrecht an einem verkauften Grund und
Boden, so bin ich, wenn auch nicht der üblichen juristischen Definition
nach, so doch tatsächlich noch teilweiser Besitzer des Objekts; denn auch
der jetzige und eigentliche Eigentümer kann nicht mehr, als eine Reihe
einzelner Nutzniessungen aus dem Gegenstände ziehen, sein Besitz
desselben besteht nur aus Beziehungen zu ihm, die ich in gleicher Art, nur
in geringerer Anzahl und Umfang besitze.
Jede einzelne Kompetenz der besitzenden Persönlichkeit weist über sie
hinaus, die Umkreislinie, die sie, bestimmt, schneidet alle Gegenstände
ihres Besitzes, ohne einen davon absolut einzuschliessen. Und indem dieser
Gegenstand mein ist, ist er doch nicht nur mein, sondern er ist auch noch
dieser für sich seiende Gegenstand mit bestimmten Eigenschaften, aus
denen ihm Verhältnisse zu anderen Individuen erwachsen.
Und sogar wenn ich von meinem Leib und meiner Seele sage, ich hätte
beides - wo ist denn das Ich, das beides hat? Der Leib kann eine Seele
sein nennen, und die Seele einen Leib; und wenn ich die Seele mit dem Ich
identifiziere, so hat das Ich doch nicht die Seele, sondern ist sie.
Bedeutet das Mein jene Herrschaft des Willens, dem sich der, Gegenstand
konform zu verhalten hat, so ist doch weder der Körper vollkommen mein,
da ich Bewegungen und Leistungen von ihm verlangen kann, die er
verweigert, noch die entsprechend sich verhaltende Seele.
Nur der Wille ist mein, insofern er hier mit dem Ich zusammenfällt.
Ich habe wirklich nur das, was ich bin.
Nicht nur meiner Vorstellung, insofern sie ein bestimmtes Nicht-Ich zum
Inhalt hat, steht mein Ich als das Subjekt, als eine einheitliche
Totalität gegenüber, sondern auch, wenn ich den tiefsten Urgrund der
Persönlichkeit im Gefühl zu erfassen suche, so steht auch er mir wieder
als von mir getrennt gegenüber, wenn ich ihn als mein bezeichne.
Das Ich schwebt gleichsam in der Mitte zwischen dem dunklen Urgrund der
Seele und den einzelnen (<173) Vorstellungen.
Auch wenn ich von meiner Tätigkeit spreche, ist das Ich von der
Tätigkeit abgesondert; und sie erscheint als ein objektiv aus mir
herausgetretenes Gebilde, das nur noch mit einer Nabelschnur mit mir
zusammenhängt.
Wenn bei dem Mein des Besitzes ein an sich fremdes Objekt in die
Sphäre des Ich eintaucht, so hat das Mein der Tätigkeit einen Übergang
aus der Sphäre des Ich in die des objektiven Äusseren zum Inhalt.
In keinem Fall bedeutet das Mein, dass der damit bezeichnete Gegenstand
nun eben dadurch das Fürsichsein seiner Existenz und Qualität verlöre;
vielmehr darin verharrend, gewinnt er nur eine bestimmte und umgrenzte
Beziehung zu mir und ich zu ihm.
Zu den Vorstellungen, die gleichzeitig auf das selbstische Interesse
des Handelnden wie auf eine sittliche Beziehung zu seinem sozialen Kreise
hinweisen, gehört der ethisch sehr wichtige Begriff der Pflicht gegen
sich selbst.
Obgleich schon oft genug auf den Widerspruch aufmerksam gemacht ist,
der in diesem Begriffe liegt, so scheint mir doch die Tiefe des Gefühls,
für das er der Ausdruck ist, und der Umfang der Gebiete, die er
beherrscht, gross genug, um seiner Bedeutung, namentlich in
psychologischer Hinsicht, noch einmal nachzugehen.
Da scheint es denn zunächst klar, dass die Pflichten gegen sich selbst
sekundäre Gebilde sind.
Das Gefühl verpflichtet zu sein, entsteht zweifellos zu allererst aus
dem Zwänge, den ein Einzelner oder eine Gesamtheit auf das Individuum
ausübt.
Wenn die Menschen nicht sozial lebten, wenn nicht eine Macht da wäre,
die den Willen des Einzelnen umböge, und den Dualismus selbstischen und
altruistischen Interesses in ihn pflanzte, so würde es zu einem
Bewusstsein von Pflicht überhaupt nicht kommen.
Dass wir uns gegen uns selbst verpflichten, dass wir das Gefühl haben,
uns selbst eine bestimmte Handlungsweise schuldig zu sein, ist erst eine
Erscheinung (<174) der höheren Kultur.
Wie alles Denken des Menschen zunächst auf die Aussenwelt gerichtet
ist und die Vorgänge des eigenen Innern zu allerletzt zu Gegenständen
seiner Reflexion werden - weshalb wir denn auch für die Bezeichnung jener
immer an Bilder gewiesen bleiben, die der Aussenwelt entnommen sind, weil
in der Zeit der Sprachschöpfung nur diese das Objekt des Bewusstseins
bildete - so hat auch das ethische Bewusstsein zunächst nur die Anderen
zum Inhalt und kommt erst zuletzt dazu, was ihnen gegenüber gilt, auf das
Subjekt selbst zu übertragen.
Und hier ist gleich die Zweifachheit des Sinnes der Pflicht gegen sich
selbst ins Auge zu fassen, die zu manchen Unklarheiten Veranlassung gibt.
Eine Form der Pflicht gegen sich selbst entsteht so, dass die
Allgemeinheit in ihrem Interesse Handlungen von uns verlangt, deren
unmittelbares Objekt wir selbst sind, die Bearbeitung unserer
körperlichen und geistigen Persönlichkeit, die Bewahrung unserer Ehre
usw. Hierauf passt die obige Charakteristik noch nicht; dies braucht noch
kein auf uns selbst zurückgewendetes sittliches, Bewusstsein, keine
gegenüber der eigenen Persönlichkeit eingegangene Pflicht zu sein.
Vielmehr ist es ganz und gar Pflicht gegen Andere, die nur zum
zufälligen Objekt das eigene Ich, des Handelnden hat; wie die
Allgemeinheit von uns verlangt, Anderen gewisse Förderung zu Teil werden
zu lassen, weil der Vorteil des Ganzen es erheischt, so kann sie auch
dasselbe aus eben demselben Gesichtspunkt in Hinsicht auf den Handelnden
selbst verlangen.
Wie sie Aufopferung seines eigenen Wohles von ihm fordert, kann sie je
nach Lage der Umstände auch Erhöhung desselben von ihm fordern.
Diese Verpflichtungen, die unter den Begriff der Pflicht gegen sich
selbst gerechnet zu werden pflegen, unterscheiden sich doch durch das
verpflichtende Moment wesentlich von den tieferen und eigentlichen Formen
der Selbstpflichten, in die sie psychologisch allerdings häufig genug
übergehen.
Während jene nämlich prinzipiell Pflicht gegen Andere sind und nur
inhaltlich, (<175) dem Objekte nach, Pflicht gegen uns selbst, sind
diese dem Inhalt nach Pflicht gegen Andere, werden aber prinzipiell als
Pflicht gegen uns selbst empfunden.
Je mehr wir einerseits die Allgemeinheit in unsere Vorstellung
aufnehmen und uns mit ihr solidarisch verbunden fühlen, je mehr
andrerseits das Gefühl der Persönlichkeit tiefer und weiter wird, desto
weniger bedarf es der Verpflichtung durch äussere Momente, desto mehr
repräsentiert sich die soziale Gruppe in unserem eigenen Bewusstsein und
lässt die Pflicht, die sie uns auferlegt, als solche erscheinen, deren
Erfüllung wir uns selbst schuldig sind.
Wie neben und über den äusseren Lohn und die äussere Strafe Lohn und
Strafe im eigenen Gewissen tritt, so wird auch das verpflichtende Moment
aus dem Äusseren in das Innere hineinprojiziert und das Vergehen
verletzter Pflicht erscheint als eine gegen uns selbst begangene Sünde.
In welchem Masse diese Metempsychose des sittlichen Inhaltes für die
Entwicklung der Menschheit nützlich ist, bedarf kaum der Hervorhebung.
Sie ist eine wesentliche Garantie dafür, dass wir vor gewissen
Handlungen, Versuchungen, Gedanken selbst da sicher sind, wo die
Wahrscheinlichkeit einer unmittelbaren sozialen Wirkung oder Entdeckung
eine sehr geringe ist.
Wir können den Grad sittlicher Kultur an dem Masse bestimmen, in dem
die äusseren Verpflichtungen die psychologische Form einer Pflicht gegen
uns selbst annehmen, so dass wir dem Wert und der Würde unserer eigenen
Person das schuldig zu sein glauben, was ursprünglich nur sozialer Zwang
und dann soziale Verpflichtung war.
Hier haben wir nun wieder eine tiefe Beziehung und Analogie des
sozialen Verhaltens zum religiösen.
Mit wachsender Veredlung des geistigen Lebens wandelt sich die rohe
Vorstellung eines willkürlich befehlenden Gottes, der uns
gegenübersteht, wie der Herr dem Sklaven, in die Idee eines höchsten
geistigen Prinzips, dem wir unmittelbar zugehören.
Die reinere Vorstellung Gottes stellt ihn als den Allumfasser dar, der
die Welt und uns selbst mit seinem Odem durchdringt, (<176) so dass es
ein Abfall von dem Besten in unserem Wesen, von unserer eigentlichsten und
edelsten Substanz wäre, seinem Gebote nicht zu gehorchen.
Diesen Wendepunkt der religiösen Ethik, in dem Gott aus der
Wesensfremdheit uns gegenüber in eine Art Identität mit uns tritt,
bezeichnet die Vorstellung, dass wir aus Liebe zu Gott seine Gebote
erfüllen sollen.
Denn die Liebe ist immer sowohl Ursache wie Folge davon, dass die
Stellung der Isoliertheit aufgegeben ist, dass eine gewisse
Wesensidentität mit dem Geliebten eingetreten ist.
Mit der Idee der Liebe zu Gott ist die Vorstellung entthront, dass wir
ihm um seiner Macht willen gehorchen.
Wir lieben ihn, weil er die Eigenschaften besitzt, die uns in uns
selbst als die edelsten und besten erscheinen.
So stellt sich der Gehorsam Gott gegenüber mehr und mehr als Pflicht
gegen uns selbst heraus; ja es scheint, als ob die ethische
Gottesvorstellung vielfach überhaupt nur ein Übergang zwischen der
sozialen und der Selbstverpflichtung wäre.
Es ist schon eine Verinnerlichung, wenn die Pflichten, deren Erfüllung
die soziale Gruppe äusserlich erzwingt, religiöse Form gewinnen, d. h.
von einem Wesen ausgehend gedacht werden, das der Mensch nach seinem Bilde
geschaffen hat und das immerhin idealen und geistigen Charakter trägt.
Eine ganz eigentümliche Selbsttäuschung findet hier statt.
Während der Mensch im Allgemeinen geneigt ist, seine Leistungen und
Verdienste zu übertreiben; indem er auf seine eigene Rechnung schreibt,
was von der Gunst äusserer Verhältnisse bewirkt wird, werden umgekehrt
unendlich oft Handlungen aus rein sittlichen Motiven vollbracht, von denen
der Handelnde selbst aber glaubt, er täte sie nur, weil Gott sie befohlen
hat.
Den Prozess des eigenen Pflichtbewusstseins hypostasiert er zu der
Stimme eines göttlichen Machthabers, genau wie sonst wohl die inneren
Versuchungen zu Einflüsterungen des Teufels.
Ohne Versucher keine Versuchung, keine sittliche Pflicht ohne Jemanden,
der sie uns auferlegte; und wie man dort die Schuld der Übertretung von
sich (<177) weg auf die Macht des bösen Feindes schob, so sprechen die
frommen Seelen sich selbst alles Verdienst am Guten ab, indem sie nicht
nur den Ursprung des Gesetzes, sondern auch die zu seiner Erfüllung
nötige Kraft von Gott herleiten.
Dies ist schon eine sehr hohe Stufe des Sittlichen, auf der die
Gottesvorstellung nur noch die Form ist, in der dem Individuum seine
eigene Sittlichkeit erscheint.
Keinesfalls darf man der Behauptung der Rigoristen zustimmen:
Sittlichkeit fände da überhaupt nicht statt, wo der Handelnde nicht
seinem eigenen Pflichtbewusstsein, sondern einem göttlichen Befehl zu
gehorchen meinte.
Es liegt darin die psychologische Unkenntnis, durch welche sich rein
abstrakte und absolutistische Standpunkte auszuzeichnen pflegen; es wird
eben nicht die Selbsttäuschung berücksichtigt, infolge deren wir unserem
sittlichsten Handeln oft, durch die Macht angeerbter Vorstellungen
betrogen, viel weniger sittliche Motive unterschieben.
Eine analoge Selbsttäuschung liegt nun vielleicht in dem Begriff der
Pflicht gegen sich selbst.
Wie sich die Verpflichtung, die von der Gesamtheit ausgeht, auf die
Vorstellung eines göttlichen Prinzips projiziert, dem man schuldig zu
sein glaubt, wozu Zwang und sittliches Gefühl uns treiben, so leiten wir
dasselbe von einem Ich her, dem wir handelnd gegenüberstehen, und dem
gegenüber dieses Handeln ebenso an Normen gebunden ist, wie Gott und
anderen Personen gegenüber.
Indessen gibt der folgende Gesichtspunkt dem Begriff der Pflicht gegen
sich selbst vielleicht eine andere Wendung.
Wie wir rein intellektuell das Ich, das Ganze der Persönlichkeit noch
von den einzelnen Vorstellungen unterscheiden, die aus jenem hervorgehen
und sich zu ihm verhalten, wie die Wellen zum Meer: so hebt sich auch die
einzelne Handlung von dem Gesamtcharakter, von dem praktischen Ich ab.
Nun ist aber dieses scheinbar substantielle und mit einem einheitlich
bestimmten Charakter begabte Ich in Wirklichkeit doch nichts anderes als
die Hauptsumme der einzelnen Vorstellungen, die jeweilige Majorität, die
der einzelnen gegenüber (<178) als geschlossene Einheit auftritt.
Diese Trennung des Ich in einen relativ bleibenden und substantiellen,
und einen ephemeren und funktionellen Teil ermöglicht nun auch einen
Begriff der Pflicht gegen sich selbst.
Wie die soziale Gesamtheit von dem einzelnen Mitglied ein Handeln
fordert, das sich in bestimmter Weise zu ihr verhält und in sie
einordnet, so unterliegt auch die einzelne Vorstellung einem Sollen, das
ihr ein bestimmtes Verhältnis zu der Gesamtheit der übrigen, zu dem
Ganzen der Persönlichkeit vorschreibt.
Der Begriff der Würde ist es, der dies vor allem stützt; ihre
Erhaltung erscheint durchaus als Pflicht gegen sich selbst; und sie
bedeutet, dass die einzelne Vorstellung, die theoretische wie die
praktische, ein Mass und eine Richtung haben, die durch den gesamten
Inhalt der Persönlichkeit angegeben und ihm angemessen sind und an deren
Stelle ganz abweichende als würdige gefordert werden, wenn die übrige
Persönlichkeit eine andere ist; die Würde des Bürgers bedeutet
inhaltlich etwas ganz Anderes, als die des Königs, die Würde des Mannes
etwas Anderes als die der Frau etc.
Deshalb ist aber auch der Begriff der Würde der Menschheit ein
unklarer und leerer.
Würde hat ein Wesen nur dann, wenn es sich von anderen unterscheidet,
wenn ein umfassendes Ganzes vorhanden ist, gegen das es sich durch seine
Eigenschaften derart abhebt, dass sich daraufhin ein bestimmtes Verhalten
als das richtige für jede Äusserung dieses Wesens ergibt.
Die Würde der Menschheit überträgt fälschlicher Weise etwas, was
nur für die Teile eines Ganzen vermöge ihres Verhältnisses
untereinander gilt, auf das Ganze.
Sagt man aber, das Verhältnis, auf dem die Würde der Menschheit
beruht, sei das zu unter ihr
stehenden Wesen, so vergisst man, dass dieser auch Punkte betrifft, in
denen man gerade das Gegenteil der Würde erblickt, z. B. das Raffinement,
die Bosheit, die Unsittlichkeit überhaupt.
Es bedarf also noch eines besonderen Kriteriums, um unter den
überhaupt vorhandenen Unterschieden zwischen Menschen und Tieren
diejenigen auszuwählen, deren Ausbildung von (<179) der Würde
gefordert wird.
Aus dem Begriff des Menschen ergeben sich diese keinesfalls.
Und ebenso ist das Ich für sich allein betrachtet eine völlig leere
Form, aus der unmöglich eine Pflicht hervorgehen kann.
Aber die Gesamtheit seiner Inhalte trägt beim Individuum einen
bestimmten Charakter, der für das einzelne Vorstellen und Tun eine
gebieterische Norm mit sich bringt.
Wie die kleinere Gruppe, die als Einheit, als Sozialatom in einer
grösseren einbegriffen ist, sich dieser unterordnen muss, wie weiterhin
das Individuum seiner Gruppe, so muss innerhalb des Individuums die
einzelne Vorstellung sich zum Ganzen seines Wesens verhalten, indem auch
hier jenes eigentümliche Doppelverhältnis stattfindet, das für alles
Ethische die tiefste Voraussetzung und Grundlage bildet: dass der Einzelne
einerseits einem Ganzen zugehört und Teil desselben ist, andrerseits aber
doch selbständig ihm gegenübersteht.
Daraus würde sich eine bedeutsame Verbreiterung des Sollens ergeben;
die Beschaffenheit und die Ziele jeglicher Gesamtheit würden demnach ein
unter die Kategorie des Sollens fallendes Verhalten für das Individuum
normieren, gleichviel ob dieses Individuum schon aus vielerlei Personen
besteht, die nur als Einheit innerhalb eines grösseren Kreises wirken,
oder ob es ein einzelner Mensch innerhalb einer Gruppe, oder ein
Vorstellungskomplex gegenüber der Gesamtheit des Vorstellens, oder eine
einzelne praktische Vorstellung gegenüber einer Vorstellungsgruppe ist.
Wird etwa als materialer Inhalt der Sittlichkeit die Beförderung
fremden Glückes anerkannt, so würde sich dies für jeden Teil des Ich
dem andern gegenüber wiederholen; und wenn bei höherer Kultur die
verschiedenen Triebe und Interessen eine gewisse Selbständigkeit erlangt
haben, so dass Depression und Unbefriedigung in einer Beziehung sehr wohl
mit Freude und Förderung in der andern zusammen bestehen kann, so macht
sich zunächst ein Anspruch entschiedener, dahingehender Verpflichtung
geltend, dass der einzelne Trieb sich nur so weit betätigen darf, als er
die Gesamtheit der anderen fördert (<180) oder wenigstens nicht
schädigt.
Aber auch ohne Rücksicht auf das Gesamtresultat empfinden wir eine der
ethischen verwandte Befriedigung, wenn überhaupt nur eines unserer
Interessen sich dem andern dienstbar gemacht hat, wenn die
Glückseligkeit, die das eine erstrebt, durch Leisten oder Verzichten
eines anderen gefördert wird.
Die selbstverständliche Beschränkung ist hier dieselbe, die auch im
ethischen Verhältnis der Individuen untereinander gilt: dass das Opfer
nicht grösser als der Gewinn sei, und die Folgen zweiter Ordnung die
wegen ihres Altruismus formal sittliche Tat nicht in ein materiell
unsittliches Resultat auslaufen lassen.
Haben wir oben die vollkommene Sittlichkeit als einen Egoismus zu Allen
erkannt, so könnte man nun den vollkommenen Egoismus als eine
Sittlichkeit zu Einem ansehen; die einzelne Handlung oder Vorstellung
wäre dann ebenso gehalten, die Ziele des Ganzen zu fördern, wie der
einzelne Mensch es den Zielen seiner sozialen Gruppe schuldet.
In der Tat lässt sich auch beobachten, wie die Verhältnisse der
einzelnen Strebungen und Vorstellungen zu den grösseren psychischen
Komplexen sich derartig verhalten: das Gefühl des Zwanges, sich nach der
Norm dieser zu gestalten, die Aufopferung, das Widerstreben etc., alles
dieses spiegelt im Individuum die Beziehung seiner Totalität zu dem
Kreise ab, den man als normgebend für sein sittliches Verhalten ansieht.
Auch das Nacheinander der Willensakte, die verschiedenen Epochen des
Lebens, zeigen das gleiche Verhältnis wie ihr Nebeneinander; ja, hier ist
es noch deutlicher, wie ein Teil der Ich-Entwicklung sich in ein
zurücktretendes und verzichtendes Verhältnis, als blosses Mittel, zu
ihrer Gesamtheit zu stellen hat und wie die Rücksichtslosigkeit und
Anmassung der einzelnen Periode, absoluter Selbstzweck zu sein, vom
Standpunkt dieser Gesamtheit aus beurteilt werden muss.
Der Egoist, auf das immanente Verhältnis seiner Willensakte unter
einander angesehen, ist eine sittliche Gemeinschaft im Kleinen, die
sittliche Gemeinschaft ein Egoist im Grossen.
Das ist nicht ein Zirkel der (<181) Definition, wie er sich sonst
leicht in solche Analogien einschleicht, sondern nur der Ausdruck dafür,
dass überall, wo ein Einzelner einer Gesamtheit gegenübersteht, diese
Form zu einer gewissen gleichmässigen Idealbildung drängt; der
gewöhnliche Sinn des Sittlichen, der nur den Einzelmenschen in seinem
Verhältnis zur Gruppe, berücksichtigt, stellte dann nur einen speziellen
Fall eines viel allgemeineren Prinzips dar.
Noch von einer anderen als dieser metaethischen Seite scheint der
Begriff der Pflicht gegen sich selbst einen ganz , direkten, dem Worte
entsprechenden Sinn zu erhalten.
Die, Fähigkeit des Ich, sich gleichsam in verschiedene Parteien zu
spalten, hat die weitere zur Folge, dass wir uns selbst objektiv
gegenübertreten können, so dass wir uns ansehen und Beurteilen, wie wir
dritte Personen ansehen und Beurteilen würden.
Stehen wir uns selbst aber erst einmal in einer Linie mit allen anderen
gegenüber, so scheint zu folgen, dass dieselben Rechte und Pflichten, die
uns mit allen anderen Wesen verbinden, auch uns selber gegenüber gelten
müssten - jedem das Seine, also doch auch mir das Meine.
Gibt es überhaupt ein objektives Moralprinzip, eine Eigenschaft, deren
Maximierung, einen Zustand, dessen allgemeine Verwirklichung unsere
Pflicht ist, so kommt ein Teil der sittlichen Tätigkeit auch uns selbst
zu, die wir doch einen Teil, allen anderen koordiniert, des Ganzen bilden,
dem sie gilt.
Wenn also z. B. allgemeine Glückseligkeit als sittlicher Endzweck
anerkannt wird, so ist für mich als handelndes Wesen die Verwirklichung
des Teiles derselben, der an mir als empfindendem Wesen realisierbar ist,
ebenso Pflicht, wie die der auf Andere kommenden Teile.
Dies könnte man sich gefallen lassen; es wäre zu wünschen, dass die
Ich-Interessen des Menschen sich quantitativ zu seinen gesamten Interessen
verhielten, wie er selbst als bloss vorgestelltes Wesen sich zu der
Gesamtsumme der übrigen Wesen seines Weltbildes verhält.
Täte nicht jeder Einzelne mehr für sich, als seiner objektiven
Bedeutung als Teilchen der Welt zukommt, so würde (<182) die sittliche
Welt wenig mehr zu wünschen übrig lassen.
Trotzdem muss die ideale Forderung doch darüber hinausgehen; denn sei
ein gewisser Zustand der Gesamtheit sittliches Ziel, so gibt es jedenfalls
in diesem Ganzen unzählige Mitglieder, deren Leistung für das Ganze weit
hinter dem zurückbleibt, was nach jenem Prinzip von ihnen zu fordern
wäre; daraus folgt, dass bei der unbedingten sittlichen Notwendigkeit
jenes idealen Zustandes und bei der solidarischen Haftbarkeit, die wir
für die Realisierung eines objektiven sittlichen Endzweckes empfinden,
der sittliche Mensch mehr dafür tun muss als auf sein Teil käme, wenn
alle Anderen das ihrige leisteten.
Es müssen immer so viel Schädigungen des Allgemeinwohles wieder gut
gemacht werden, dass unsere Pflicht, uns selbst etwas Gutes anzutun, eine
Pflicht in partibus infidelium bleibt.
Wie sich alles dies aber auch verhalte: tatsächlich ist die Macht,
welche die soziale Gruppe über den Einzelnen ausübt, so überwältigend,
dass die Pflicht gegen sich selbst immer nur als sachlicher oder
psychologischer Umweg der Pflicht gegen die Gesamtheit erscheint.
Die Betrachtung einiger als Pflicht gegen sich selbst geltender Normen
wird darüber weitere Klarheit geben.
Allen voran steht die Pflicht der Selbsterhaltung.
Wie sehr diese aus dem rein sozialen Interesse an der Existenz der
Individuen zu verstehen ist, liegt auf der Hand.
Aber eben dasselbe Interesse fordert auch die Einschränkung der
Selbsterhaltung, und zwar nicht nur in den Augenblicken öffentlicher
Gefahr, wo der Einzelne sein, Leben in die Schanze schlagen muss, sondern
auch in jeglichem Falle der Aufopferung und sittlichen Hingebung von
Kräften, Interessen, selbstischen Empfindungen.
Zwischen dieser und der Hingabe des ganzen Lebens ist nur ein
gradueller Unterschied, und der Sinn der Selbsterhaltung ist offenbar
nicht der, dass das blosse Leben, diese leere, allen Wert gebenden Inhalt
erst erwartende Form, erhalten werde, sondern dass es erhalten werde, weil
und insoweit es Eigenschaften und Kräfte besitzt, die es mit Bedeutung
(<183) erfüllen.
So wenig der Andere, für den die Sittlichkeit zu sorgen befiehlt, eine
blosse Existenz als Objekt dieser Fürsorge darbietet, sondern eine Reihe
von Eigenschaften, die über Vorhandensein, Art und Grad dieser
Verpflichtung entscheiden, so wenig kann die Erhaltung eines Selbst, eines
Ich, von dem man nur die Existenz aussagen kann, eine Pflicht sein.
Besteht das Ich nur aus der Summe seiner einzelnen, Inhalte, so ist
diese ganze Summe das Objekt der Erhaltung des Selbst und jede Schädigung
und Aufopferung eines Teiles, unseres Ich ist ein partieller Verzicht auf
Selbsterhaltung, die Verpflichtung dazu eine Einschränkung der Pflicht
der Selbsterhaltung.
Die Tatsache, dass solche teilweisen Aufopferungen, gleichzeitig mit
teilweisen Selbsterhaltungen fortwährend von uns gefordert werden,
beweist wieder, wie wenig einheitlich und unteilbar das sittliche Ich ist,
wie wenig in ihm als absolutem und einfachem Wesen ein Moralprinzip zu
suchen ist.
Und nun kommt es darauf an, was für ein Selbst erhalten werden soll
und erst das relative Mass seines Wertes ergibt das Mass der an seine
Erhaltung geknüpften Verpflichtung.
Da dieser Wert aber abhängig ist von dem Endzweck des Sittlichen
überhaupt, so zeigt sich hier auch wieder die Naivität, mit der
sittliche Vorschriften die Hauptsache voraussetzen und den Gesichtspunkt,
der ihrem Inhalt erst die sittliche Bedeutung gibt, gar nicht ins
Bewusstsein heben; woher denn Verpflichtungen, die nur Mittel zu einem
weiteren Zweck und deshalb relativen Charakters sind, wegen des
Unbewusstseins dieser Tatsache den Schein der Absolutheit annehmen - ein
formaler Irrtum, der sich in dem vorliegenden Fall noch inhaltlich an dem
Aberglauben des absoluten Ich stärkt.
Man könnte freilich die Behauptung, dass das Leben seinen Wert erst
aus seinen qualitativen Inhalten empfinge, vielleicht umkehren und als
höchstes Moralprinzip die Erhaltung und Steigerung der Lebenssumme rein
als solcher aussprechen, was mancherlei für sich hätte.
Alle einzelnen (<184) Moralvorschriften lassen sich allenfalls so
deuten, dass ihre Verwirklichung der Lebensmehrung dient, während alles
Böse sich im letzten Grunde als lebenmindernd auslegen lässt.
Und man könnte nicht einwenden, dass es doch nicht darauf ankäme, wie
viel quantitativ, sondern wie qualitativ gelebt wird, dass doch neben der
Existenz überhaupt gefragt werden müsse, welchen Wert diese Existenz
besitze.
Denn dieser Einwurf würde gerade das dogmatisch behaupten, was eben
jetzt in Frage steht; man könnte sich denken, dass an denjenigen
Eigenschaften und Vorgängen, die wir als Wertvolle bezeichnen, der Wert
dies sei, dass sie erfahrungsgemäss der Vermehrung des Lebens überhaupt
dienen.
Dies gilt vor allem für die Lust, die wir vielleicht überhaupt nur
deshalb suchen, weil sie ein Mittel zur Erhaltung und Erhöhung des Lebens
ist; der schnelle Fluss der Vorstellungen in der Freude, das frühe Altern
von Genussmenschen und Phantasten, weil sie in derselben Zeit
unvergleichlich mehr leben als Andere, spricht dafür.
Durch das Mittelglied hindurch, dass der Pessimismus ein verkappter
Eudämonismus ist und nur durch die Schätzung der - freilich versagten -
Lust als höchsten Lebenswertes entsteht, ordnen sich auch die
lebensfeindlichen Moralprinzipien desselben dem hier angegebenen höchsten
Zwecke unter.
Sie wären dann, wie jeder Eudämonismus, durch die psychologisch wohl
begreifliche Umkehrung zustandegekommen, in der die Lust aus einem Mittel
des Lebens zu seinem Zweck geworden ist.
Es wäre ein kindischer Einwurf gegen dies Prinzip, wenn man danach die
unbegrenzte Kinderzeugung unter allen Umständen für sittlich
gerechtfertigt hielte; denn es ist sehr leicht möglich, dass eine grosse
Fülle von Leben an einem Punkte doch im Grossen und Ganzen eine
Herabdrückung des Lebensquantums zur Folge hätte, gerade wie die
Hypertrophie eines Gliedes eine Schädigung und Herabdrückung des Lebens
des ganzen Körpers mit sich bringt.
Man kann auch nicht etwa sagen, nach diesem Prinzip sei es
gleichgültig, welche Art von Leben gefördert würde, und die
Begünstigung (<185) der Mehrung niedrigster Organismen sei ebenso
sittlich wie die des Lebens höchster Organismen; denn höchste Organismen
sind danach eben solche, die eine grössere Intensität und Fülle des
Lebens in sich bergen und anderen ermöglichen; wie sich wenigstens
innerhalb des Menschengeschlechts daraus ergibt, dass niedrige Gruppen
Verhältnismässig viel grösseren Raum brauchen, als kultivierte.
Es wäre dies eine Erweiterung der Überzeugung, nach welcher die
Erhaltung und Mehrung der eigenen Art Moralprinzip ist.
Müssen wir doch auch die sonst so beliebte Vorstellung aufgeben, dass
der Natur nichts am Individuum, aber alles an der Gattung gelegen sei.
Erkennen wir überhaupt eine bestimmte Tendenz der natürlichen
Entwicklung an, die wir der Kürze halber und gleichnissweise Naturzweck
nennen wollen, so muss für diese auch die einzelne Gattung als blosses
Individuum höherer Art dem allgemeinen Lebensprinzip gegenüber
gleichgültig werden.
Zuchtwahl und Anpassung sind fortwährend nur an der Maximalaufgabe
beschäftigt, auf gegebenem Raum ein Maximum von Leben zu ermöglichen;
die Paläontologie zeigt, dass die Natur mit nicht geringerer
Gleichgültigkeit über Gattungen wie über Individuen fortschreitet.
Vor allem muss man sich deshalb hüten, aus dem Anpassungsprinzip die
Steigerung und Lebensmehrung einer bestimmten Art vorauszusagen.
Denn die Anpassung der einen erfolgt sehr oft auf Kosten der andern;
die fortschreitende Anpassung von Schmarotzern, die auf einem viel höher
organisierten Tiere leben, wird in der Verbesserung ihrer Organe zum Zweck
immer gründlicherer Ausnutzung ihres Wirtes bestehen; vielfach wird
deshalb dieser in demselben Verhältnis leiden und verkümmern, in dem die
Anpassung jener fortschreitet.
Man kann also von vornherein höchstens behaupten, dass das
Anpassungsprinzip eine Steigerung der Gesamtlebenssumme herbeiführt, aber
nicht, dass es zur Erhöhung und Erhaltung irgend einer bestimmten Art
führen müsse.
Dass die Lebensmehrung Naturzweck ist, liesse sich auch daraus
entnehmen, dass immer mehr unorganische (<186) Materie in die
organische Formung hineingezogen wird.
Bedenkt man, dass mit der energischen Vollziehung und Steigerung der
Lebensprozesse Lust, mit ihrer Verlangsamung und Minderung Unbehagen
verbünden ist, und dass im Grossen und Ganzen nur die den Endzwecken der
Gattung dienenden Vorgänge am Körper Lustgefühle erwecken, so wird auch
von daher das Leben als solches sich als objektiver Höhe- und Zielpunkt
unserer Entwicklung darstellen.
Wenn uns das Seelenleben so unvergleichlich wertvoll gegenüber jeder
unbeseelten Organisation erscheint, so mag dies daran liegen, dass sich in
ihm die stärkste Verdichtung der Lebensprozesse darstellt; im Gehirn ist
offenbar eine ungeheure Menge von Spannkräften aufgespeichert, was sich
sowohl aus der Kraft ergibt, welche unser Körper, auf Grund einer
Vorstellung von ihm aus innerviert, in so staunenswertem Grade entfaltet,
wie aus der Ermüdung und Abspannung unserer gesamten körperlichen
Energie nach lebhaften seelischen Vorgängen.
Die entgegengesetzten Erscheinungen: dass psychische Alteration
einerseits starke Atomen und Lähmungen des Körpers hervorbringen,
andrerseits aber solche auch gerade beseitigen kann, weisen doch
gleichmässig auf die Fülle der in der Gehirntätigkeit entwickelten
Energie hin.
Wäre aber hiernach auch die blosse formale Tatsache des Lebens
sittlicher Endzweck und alle sittliche Qualität als solche nur ein zu
gewisser Selbständigkeit ausgewachsenes Mittel für jene, so geht auch
daraus noch nicht die Verpflichtung der Selbsterhaltung für den Einzelnen
hervor, weil, wenn wir auch von allen Fragen nach dem Werte des Lebens
absehen, auch seine Quantitätssteigerung im Ganzen durch eine
Verminderung an einer einzelnen Stelle gewinnen könnte.
Fordert das Gebot der Selbsterhaltung, wenn es überhaupt zugegeben
ist, durch die Auflösung des Ich in die Summe seiner Inhalte nicht nur
die Erhaltung des nackten Lebens, sondern alles dessen, was dem Leben
überhaupt qualitative Bestimmung gibt, so hat die Aufhebung des absoluten
(<187) Ich noch eine anders gerichtete Beziehung zu der gleichen
Pflicht.
Als erste und unbedingte Folge derselben pflegt nämlich das Verbot des
Selbstmordes zu gelten.
Machen wir uns aber von dem Aberglauben an den absoluten Charakter und
den absoluten Wert der individuellen Seele frei und erkennen wir, dass,
wie sie ihre Inhalte aus dem Leben in der Gesellschaft zieht, auch ihre
Verpflichtungen nur dieser zu gelten haben: so folgt einerseits allerdings
ein strenges Gebot der Selbsterhaltung als eine für den Bestand der
Gesellschaft erforderliche Norm, andrerseits aber auch die Möglichkeit
von Lagen, in denen der Selbstmord eines Einzelnen von Nutzen für die
Gesamtheit sein kann.
Wenn die unberechenbare Verschiebung und Verwicklung der Wirklichkeit
die unerhörteste und verpönteste Tat dennoch unter Umständen zu einer
sittlichen adeln kann, so ist nicht einzusehen, weshalb diese Möglichkeit
gerade vom Selbstmord ausgeschlossen sein soll.
Übrigens hat unter den verschiedenen Motiven seines Verbotes
wahrscheinlich das Verbot, Andere zu töten, die sittliche
Perhorreszierung des Tötens überhaupt hervorgebracht, die sich dann auch
auf das Töten der eigenen Person erstreckte; wir haben auch sonst schon
gesehen, dass sittliche Allgemeinbegriffe, die zunächst nur durch die
Beziehung zu dem Andern entstanden sind, dann von dieser Wurzel losgelöst
und als für sich bestehende Begriffe mit absoluter begrifflicher Geltung
konstituiert, häufig auch für die Handlungen gegenüber dem eigenen Ich
eine sittliche Vorschrift feststellten, welche ursprünglich für diese
Beziehung gar nicht gilt.
Nun aber kann es sittlich geboten sein, andere Menschen zu töten,
sogar innerhalb des eigenen sozialen Kreises; denn auch das Urteil über
die Todesstrafe wird ein ganz besonderes für denjenigen Standpunkt, der
den Menschen seines absoluten Fürsichseins entkleidet und ihn ganz und
gar nur als Glied einer Gesamtheit begreift.
Da ist denn sein Tod überhaupt nichts Absolutes mehr, sondern nur die
Amputation eines Gliedes, um das Ganze zu retten.
Diese Auflösung des absoluten Ich lässt (<188) auch den Selbstmord
anders erscheinen; auch er ist dann nur ein Punkt in der Kette allmählich
ineinander übergehender Relationen.
Es ist nur der Seelenwahn, der ihm den absoluten Charakter einer von
allen anderen sich generell unterscheidenden Handlung verliehen hat.
Gerade wie es sittlich geboten sein kann, keine Kinder in die Welt zu
setzen, so kann es unter Umständen auch sittlich sein, schon vorhandene
Existenzen zu vertilgen.
Zwischen beidem ist nur ein relativer Unterschied.
Der gewöhnliche Sinn der Frage betrifft indes nicht die seltenen
Fälle, in denen Selbstmord sittlich notwendig sein kann, sondern
bedeutet, ob er unter gewissen Umständen erlaubt ist.
Für den Utilitarismus genügt die Tatsache, dass ein Leben mehr Leid
enthält als es Freuden empfinden oder bereiten kann, zur Rechtfertigung
des Selbstmordes.
Auch kann er prinzipiell sich hiermit nicht so abfinden, dass es
unmöglich wäre, diese Bilance namentlich in Hinsicht auf die Zukunft mit
vollkommener Sicherheit zu ziehen.
Denn die Unsicherheit darüber ist nicht grösser als die jeder andern
seiner Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die die Sittlichkeit oder
Unsittlichkeit einer Tat aus der Aufrechnung ihrer sämtlichen
eudämonistischen Folgen für alle Zukunft erkennen wollen.
Ich meine, dass die ethische Berechtigung des Selbstmordes überhaupt
nicht aus der Leidenssumme des Subjekts zu schöpfen ist, sondern nur aus
dessen absoluter Pflichtlosigkeit gegenüber andern Subjekten.
Wie es zu der Zeit, als Menschen für vogelfrei erklärt wurden, nicht
als Schuld galt, einen solchen Menschen zu töten, weil er eben von allen
Rechten und pflichten der menschlichen Gesellschaft gelöst war, so ist es
auch keine Schuld mehr, wenn jemand sich tötet, an dem das Schicksal
diese Loslösung vollzogen hat.
Denn nur die Pflichten innerhalb der Gesellschaft geben dem Leben
denjenigen ethischen Wert, um dessentwillen es Pflicht ist es zu erhalten,
den es aber als blosse leere Form nicht besitzt.
Darum ist es überhaupt ein falsches Verfahren, wenn man die Grösse
eines Leidensquantums daraufhin untersucht, (<189) ob es den Selbstmord
rechtfertigt.
Gemäss der ganzen Unbarmherzigkeit der Gesellschaft gegen den
Einzelnen, aus der überhaupt der Pflichtbegriff entspringt, rechtfertigt
auch ein Maximum von individuellen Leiden den Selbstmord nicht, wenn er
die Erfüllung irgend welcher Pflichten unterbricht; tut er das nicht, so
genügt schon ein Minimum von Leiden, um ihn zu rechtfertigen, weil er
dann einer Rechtfertigung überhaupt nicht mehr bedarf.
Von einem sozial gleichgültigen Leben ist Fortbestand oder Vernichtung
sittlich irrelevant.
Nur der religiöse Gedankenkreis scheint ein ethisches Moment gegen den
Selbstmord überhaupt beizubringen.
Ist das Leben wirklich ein von Gott uns anvertrautes Gut, so ist es
gewissermassen eine Untreue und Usurpation, seinem Beschluss darüber
vorzugreifen.
Steht dies einmal dogmatisch fest, so ist darüber natürlich nichts
mehr zu sagen; andernfalls aber Folgendes.
Wird die Welt so aufgefasst, wie der religiöse Standpunkt es muss:
dass sie nämlich im Allgemeinen zwar vom Willen Gottes unmittelbar
bestimmt wird, dass indes für einen gewissen Ausschnitt aus dem
Weltsystem dieser Wille nicht unmittelbar Massgebend ist, sondern der
Wille des Menschen eintritt, in dessen Freiheit es liegt, gewisse
Handlungen gemäss dem Wunsch Gottes oder ihm entgegen zu bestimmen: so
liegt auf der Hand, dass es keiner Handlung an und für sich angesehen
werden kann, ob sie dem göttlichen Willen gemass ist oder nicht, sondern
dass es dazu für jede einzelne einer besonderen Offenbarung bedarf.
Denn der göttliche Weltplan ist uns verborgen, und es wäre durchaus
nicht unmöglich, dass der Selbstmord einer gewissen Anzahl von Individuen
durchaus in dessen Tendenz läge.
Warten wir unter allen sonstigen Fällen des Lebens nicht den Beschluss
Gottes ab, sondern tun, was unserer Freiheit möglich ist und richtig
scheint; und haben wir dabei überhaupt die Möglichkeit, dass, was wir
tun, dem Willen Gottes gemäss sei: so liegt kein Grund vor, weshalb wir
gerade bei dem einen, der Bestimmung über unser Leben, den Beschluss
Gottes passiv (<190) abwarten müssten.
Es wurde sogar den Christen der ersten Jahrhunderte die Frage
entgegengehalten, weshalb sie sich nicht alle das Leben nähmen, wenn doch
das Gelangen zu Gott den einzigen Wert des Seins ausmache.
Das religiöse Verbot des Selbstmordes gleicht dem der Ehescheidung auf
den Ausspruch hin: was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht
scheiden.
Woher weiss man, dass nicht etwa in dem gerade vorliegenden Falle die
Zusammenfügung von den Menschen und die Scheidung von Gott ausgeht? Wie
unterscheidet sich dieses Zusammenfügen und Scheiden von den unzähligen
ähnlichen Prozessen im physischen und psychischen Leben, bei denen wir
gar nicht darauf kommen, eine besondere Mitwirkung Gottes für die eine
Seite der Vorgänge in Anspruch zu nehmen? Aus dem blossen Begriffe des
Lebens als einer göttlichen Gabe lässt sich durchaus nicht ableiten,
dass wir es nicht freiwillig enden dürften; man könnte ebenso gut
schliessen, dass, da doch auch unsere Zähne uns von Gott gegeben sind,
wir nicht selbst einen kranken Zahn ausziehen dürften, sondern seinen
Beschluss über sein Geschenk abwarten müssten.
Es geht auch hier der Prozess vor sich, dass Handlungen aus Gründen
der blossen Sittlichkeit gepriesen oder verworfen werden, und nun, weil
man die Sittlichkeit analytisch als den Willen Gottes bezeichnet, als
Gebote oder Verbote Gottes angesehen werden.
Der Pflicht der Selbsterhaltung kann man nun die der Erhaltung der Ehre
entweder koordinieren oder subordiniren.
Die persönliche Ehre zu bewahren, erscheint uns zunächst als Pflicht
gegen uns selbst in dem Mass, dass wir uns berechtigt glauben, alle sonst
Wertvollen Güter, ja das Leben aller Menschen, die sie antasten, dafür
aufzuopfern.
Wir würden nicht glauben, zu so extremen Opfern das Recht zu haben,
wenn es nicht eine Pflicht wäre, die uns beföhle, allen möglichen
anderen Empfindungen entgegen, dieses eine vor allem zu wahren.
Was dagegen zu sprechen scheint, dass auch die Bewahrung der eigenen
Ehre als Pflicht schliesslich (<191) nur eine Pflicht gegen Andere sei,
das ist der etwas offensive Charakter, den das Bewahren der Ehre trägt,
auch wenn es ganz fern von Ehrsucht ist, und in dem es liegt, dass man
einen Menschen, gegen den man sonst vielleicht allerlei Verpflichtungen
hat, kaltblütig über den Haufen schiesst, sobald er unserer Ehre zu nahe
getreten ist - und dies sogar als eine Pflicht empfindet.
Die Ehre weist immer auf einen gewissen Zustand der Isolierung hin; sie
ist es, die mich als eine bestimmt umgrenzte Persönlichkeit hinstellt und
mich verhindert, mich, wie der Sprachgebrauch fein sagt, mit Anderen
gemein zu machen, die mich mit einer Sphäre umgibt, in die niemand
ungestraft eindringen darf.
Dieser Anstrich von Offensive und Isolierung scheint durchaus zu sagen,
dass wir unsere Ehre, ganz anders als die altruistischen Interessen, nur
uns selbst schulden, und ihre Bewahrung Pflicht gegen uns selbst im
eigentlichen Sinn des Wortes ist.
Und doch scheint andrerseits die Analyse des Ehrgefühles zu ergeben,
dass die Bewahrung der Ehre nur da wirklich Pflicht ist, wo wir mit
unserer eigenen Ehre zugleich die einer grösseren Gemeinschaft oder deren
Interessen überhaupt bewahren und verteidigen.
Auf der Hand liegt dies bei der Standesehre; ein Offizier muss seine
Ehre in einer nach Art und Umfang vorgeschriebenen Weise verteidigen, weil
die des ganzen Offizierskorps dabei beteiligt ist; der wissenschaftliche
Forscher darf es nicht dulden, dass seine Ehrlichkeit verdächtigt wird,
weil damit die Wahrheit seiner Forschung von vornherein der Bezweiflung
unterläge und es zu seiner Pflicht gehört, das, was er als Wahrheit
erkennt, auch möglichst zur Anerkennung zu bringen; wir verlangen als
Pflicht von jedem Menschen, dass er eine ihm widerfahrene Beleidigung
abwehrt - denn lässt er sie auf sich sitzen, so erkennt er sie als wahr
an und verringert damit den Wert der Menschheitsgesellschaft, der er als
Teil angehört.
Die Solidarität zunächst engerer Kreise, dann aber der Menschheit
überhaupt bringt die sittliche Forderung mit sich, dass der (<192)
Einzelne denjenigen, die ganze Person betreffenden Wert dessen Ausdruck
die Ehre ist, bewahre und vermehre.
Eine Gesellschaft, in der der Ehrbegriff verschwände, würde damit
ihren sittlichen Verfall bekunden und ihren äusserlichen einleiten.
Die Ehre sichert der Gesellschaft das zweckmässige Verhalten ihrer
Mitglieder in den Fällen, in denen es durch äusserliche Gesetzgebung
nicht erreicht werden kann; der Ehrenkodex ist eine aus
Zweckmässigkeitsgründen geforderte Ergänzung des Kriminalkodex.
Nur wegen des grossen Vorteils, den die Gesellschaft aus der Ehre ihres
einzelnen Mitgliedes zieht, gibt sie ihm das Recht, zur Verteidigung
derselben Dinge zu tun, die sonst moralisch und juristisch verboten sind.
Der Charakter der Isolierung, den die Ehre trägt, spricht insofern
nicht gegen ihren sozialen Charakter, als die Gesellschaft es mit Recht in
ihrem Interesse findet, ihre Mitglieder in der durch den Ehrbegriff
geforderten Absonderung von einander zu halten.
Keineswegs ist dasjenige Gemeinwesen das beste, dessen Teile in
einander verschwimmen, und in dem jeder von jedem alles duldet; vielmehr
muss jeder Teil auch für sich etwas bedeuten und eine allerpersönlichste
Sphäre besitzen, aus der jeder darin Eindringende repelliert wird.
Der ganz eigenartige, mit nichts anderem vergleichbare Charakter der
Ehre stammt aus der in ihr untrennbar und enger als irgendwo
stattfindenden Verschmelzung von Sozialinteresse und Personalinteresse.
Dass der Kodex der Ehre kein fixierter und immer in gleicher Weise
gültiger ist, auch im allgemeinen keine besonderen Organe zu seiner
Exekutive besitzt, wie das alles beim juristischen Kodex der Fall ist -
dies hat zur Folge, dass man zur Ausgleichung von Ehrenhändeln eine so
unvollkommene Form wie das Duell gewählt hat.
Über die blinde Ungerechtigkeit derselben, wenn man sie nicht als ein
Gottesgericht ansieht, andrerseits über ihre relative Zweckmässigkeit,
insofern sie den Rückfall in das Faustrecht verhindert, welches
vielleicht in einem einzelnen Fall der Gerechtigkeit viel mehr entsprechen
(<193) mag, im ganzen aber die Gesellschaft viel mehr schädigt als es
der ungerechte Ausgang mancher Duelle tut -bedarf es keiner Verständigung
mehr.
Hervorgehoben sei nur, dass dem Duell unmöglich der Gedanke zu Grunde
liegen kann, der Beleidiger habe schlechthin ein Unrecht begangen, der
Beleidigte sei schlechthin im Recht; denn dann wäre der Kampf mit
gleichen Waffen doch allzu ungerecht.
Vielmehr muss die Vorstellung die sein, dass das Recht möglicherweise
auch auf Seiten des Beleidigers ist; indem auch dieser zur Waffe greift,
verteidigt er sein Recht zu dem, was er getan hat.
Wenn A den B einen Schurken nennt und B ihn deshalb fordert, so erhält
A mit der Waffe in der Hand diese Behauptung aufrecht.
Eben deshalb wird das Duell auch hinfällig, wenn A revoziert, weil er
damit das Recht als nicht vorhanden erklärt, das er sonst mit der Waffe
verteidigen würde.
Indem die Gesellschaft von dem Beleidigten verlangt, dass er seinen
Beleidiger fordert, gibt sie diesem zu, dass auch er möglicherweise im
Recht ist und kann nur daraufhin den Boden gleichen Kampfes für beide
vorschreiben.
Dieses günstige Vorurteil hegt aber natürlich jeder Stand nur von
seinen eigenen Mitgliedern und daraus erklärt es sich, dass Personen
eines unteren Standes und notorisch unehrenhafte des eigenen nicht
satisfaktionsfähig sind.
Sogar wer die Frau eines Anderen verführt und von diesem gefordert
wird, muss sich noch eine Spur von Recht vindizieren, sonst könnte er,
wenn er nur sonst ein ehrenhafter Mann ist, was sich ja mit dieser Schuld
Oft vereinigt, nicht auf den Gekränkten anlegen.
Er muss mit wie immer dunklem Bewusstsein behaupten, dass seine Liebe
zu der Frau und die ihrige zu ihm, ihm das Recht zu diesem Verhältnis
gebe, und dieses innerliche Recht verteidigt er gegen das legale des
Gatten.
- Es ist übrigens ein sehr unvollkommener Ausdruck, dass man
denjenigen, der Einem eine tödliche Kränkung zugefügt, strafen will,
und zwar selbst mit Gefahr des eigenen Lebens.
Gerade bei den schlimmsten und tiefsten gehenden Fällen handelt es
sich (<194) psychologisch nicht um eine Strafe, sondern um das Gefühl,
dass der Andere, nicht leben dürfe, und dass, so lange er lebt, der Wert
der eigenen Existenz unter Null steht.
Wenn also behufs Abschaffung des Duells eine Verschärfung der
Strafgesetze über Ehrenkränkung, Ehebruch usw. empfohlen wird, so dass
die Anrufung des Strafrichters dem Gekränkten die hinreichende,
Genugtuung gewährte, so mag dies da, wo sozusagen nur die Oberfläche des
Ichgefühls verletzt worden ist, wohl ausreichen; aber nicht für die
Fälle, wo die gesamte Existenz des einen der Gegner durch die des andern
in ihrem Kern und Werte bedroht ist - und zwar gegenseitig.
Wie man das eigene Leben, trotzdem es nur eine Summe einzelner
psychischer Vorgänge ist, schließlich doch als Einheit empfindet und mit
der Existenz überhaupt Vorstellungen und Gefühle verbindet, die von
jedem einzelnen Inhalt abgetrennt und unabhängig sind, so kann man auch
das Leben eines Andern in Liebe und Hass schliesslich unabhängig von
allen besonderen Eigenschaften und Handlungen desselben vorstellen, seine
blosse Existenz kann in einer Weise auf uns wirken, die sich von ihren
besonderen Veranlassungen, den einzelnen Betätigungen des Betreffenden
ganz losgelöst hat.
Wie die Liebe die Existenz des Andern überhaupt als etwas so
Wertvolles empfinden kann, dass man, um sie zu retten, gern das eigene
Leben hingibt; wie die Liebe diese blosse Existenz selbst dann mit voller
Leidenschaft wünscht, wenn Krankheit, Alter oder Unglück alle die
einzelnen Momente vernichtet haben, auf die hin sie einst entstand: so hat
für den Hass die blosse Nichtexistenz des Andern absoluten Wert,
hinreichend, um das eigene Leben dafür aufs Spiel zu setzen.
Liegt nun eine solche Hassempfindung vor, die beiderseitig auf das
Ganze der Persönlichkeit geht, wird durch die Existenz des Andern der
psychologische Zustand geschaffen, der wie bei dem Vorstadium des
Selbstmordes das Ganze der eigenen Existenz annulliert, so ist es ein ganz
vergeblicher Versuch, durch ein soziales Eingreifen, das immer nur auf
Einzelheiten (<195) des Handelns gerichtet sein kann, die Beruhigung
dieses Gefühls erzielen zu wollen.
Hier liegt etwas Absolutes vor, dem mit relativen Mitteln nicht
beizukommen ist; und das Duell ist dann gewissermassen ein gütliches
Übereinkommen zwischen beiden, dass einer von ihnen den Platz räume.
Das sogenannte amerikanische Duell, gleichviel ob es überhaupt in
Wirklichkeit vorkommt oder nicht, ist für einen solchen Fall der völlig
zutreffende Ausgang.
Man muss aus sehr naheliegenden ethischen Gründen, die sich auf die
anderweitigen Verhältnisse der Duellanten beziehen, es durchaus
verurteilen, dass es zu derartigen Empfindungen und dann zu dieser
Konsequenz derselben kommt; aber man soll nicht glauben, dass, wenn einmal
ein absoluter Antagonismus zweier Personen gegeben ist, ein anderer
Ausgang zu vollkommener logischer und psychologischer Lösung des
Konflikts führen kann.
ich knüpfe hieran eine Erörterung dessen, was man bei Frauen die Ehre
im engeren Sinn nennt - ein Sprachgebrauch, ganz dem entsprechend, nach
welchem man das Sexualgebiet als das der Sittlichkeit im engeren Sinne
bezeichnet.
Eine ausserordentlich grosse Anzahl von Motiven kreuzen sich an diesem
für die Ethik höchst wichtigen Punkt.
In welchem Masse die Allgemeinheit in höheren Kulturverhältnissen
daran interessiert ist, dass der Frau die Bewahrung ihrer Ehre als
unbedingte Pflicht erscheine, ist durch den einfachen Hinweis darauf klar,
dass die Familie und die Sicherheit ihrer inneren Verhältnisse bis jetzt
das unentbehrliche Fundament des höheren staatlichen Lebens bildet und
bedarf im übrigen weiter keiner Ausführung.
Der Wert der Keuschheit mag sich auch z. T. daher schreiben, dass die
Frauen, in primitiveren Zuständen die Kinder länger stillen als jetzt,
und dass dies für deren Gedeihen beim Mangel anderer rationeller
Ernährung durchaus erforderlich war.
Erneuter Beischlaf nahm ihnen die Fähigkeit dazu, so dass während der
Stillungszeit dieser selbst bei den wildesten Völkern aufs schärfste
verboten ist.
Dem Keuschheitsinteresse entgegen finden wir auch den Standpunkt
(<196) vertreten, dass die Hingabe der Mädchen eine Art sozialer
Pflicht derselben sei, die die Frau, die in der Ehe mit einem Manne lebt,
gewissermassen unterschlägt; dies dürfe sie aber nur tun, wenn sie jener
Verpflichtung genügt habe, der wir denn auch in der Form der
Kultprostitution und der offiziellen Zügellosigkeit der jungen Mädchen
bei vielen Völkern begegnen.
Wie sehr es die Nützlichkeit ist, die auch hier die sittliche
Qualität zu Wege bringt, kann man in gewissen Bezirken nahe den
Grossstädten sehen, wo die Mädchen geradezu zur Unkeuschheit erzogen
werden und ein nicht verführtes Mädchen beinahe als nicht moralisch
angesehen wird, weil die Mädchen, wenn sie ein Kind haben, als sehr
gesuchte, Ammen nach den Städten gehen, von dort mit vielem Gelde
zurückkommen und so eine unentbehrliche Quelle des Wohlstandes für die
Gegend werden.
Das Gegenstück dazu bilden jene Künstlermodelle, die ihre Keuschheit
streng bewahren, aber nur, um sich nicht durch die Folgen des Gegenteils
für, ihren Beruf untauglich zu machen.
Dass im übrigen die Forderung der weiblichen Tugend vom Egoismus der
Männer ausging, scheint ebenso zweifellos, wie dass überhaupt der Wille
des Stärkeren unzählige Male zur sittlichen, schliesslich auch innerlich
empfundenen Pflicht für den Schwächeren geworden ist.
Es ist behauptet, dass nachdem die Ehe, sei es als Polygamie oder
Monogamie, gebräuchlich geworden, die Eifersucht zur Einprägung der
weiblichen Tugend geführt habe und von der Ehre, die dieser deshalb
erwiesen sei, ihr Wert auch bei unverheirateten Frauen ausgegangen sei.
Es liesse sich indessen noch fragen, ob nicht umgekehrt die Ehe
vielmehr ein Resultat der Eifersucht sei.
Auch was die Jungfrauen betrifft, ist der Ursprung des
Keuschheitsgebotes aus dem Egoismus der Männer wahrscheinlich, insofern
es eben dasselbe Moment als Fürsorge für die Zukunft bedeutet; dies wird
um so wahrscheinlicher in Rücksicht auf die häufige Infibulation bei
Naturvölkern.
Da das Interesse an der Keuschheit der unverheirateten Frauen
(<197)eben deshalb ein Zukunftsinteresse ist gegenüber dem an der
Keuschheit der verheirateten, so ist es verständlich, dass bei manchen
Naturvölkern, deren Geist noch nicht zu weiterem Vordenken entwickelt
ist, das sexuelle Leben der Mädchen gar keiner sittlichen Beurteilung
unterliegt, während das der Frauen auf das Strengste gehütet und
beurteilt wird.
An diesem Punkt, wo die Pflicht gegen die Gesellschaft am striktesten
die Form einer Pflicht gegen sich selbst annimmt, sehen wir den Einzelnen
zu Gunsten der Gesamtheit eine Ungerechtigkeit leiden, die ihren Ausdruck
schon im Doppelsinn des Wortes Ehre findet.
Wir sagen von einem verführten Mädchen, dass sie ihre Ehre, ihre
Unschuld verloren hat; und doch kann eben diese in jeder anderen Hinsicht
die ehrenhafteste, unschuldigste und tugendreichste Person sein.
Die Sprache und die gewöhnliche Denkweise ist zu oberflächlich, zu
sehr beherrscht sie noch der Wahn von der Einheitlichkeit der Seele, um in
Betracht zu ziehen, dass man eine Qualität, die ein Mensch in gewisser
Hinsicht verloren hat, ihm noch nicht überhaupt und in jeder Hinsicht
absprechen darf; mit vollem Recht bestraft es ja das Gesetz als
Beleidigung, wenn man jemanden öffentlich einen Betrüger nennt, selbst
wenn man den Beweis führen kann, dass der Betreffende einmal betrogen
hat; denn die absolute Qualifikation des ganzen Menschen, die in diesem
Wort liegt, ist noch dadurch nicht gerechtfertigt, dass er einmal oder
sogar mehrere Male betrogen hat.
Die Ehre wird in Bezug auf die Frau in einem engeren Sinne genommen,
als ihn das Wort sonst hat; und die Tatsache, dass sie in diesem engeren
Sinn verloren gegangen, führt über die Brücke der Wortgleichheit zu der
Vorstellung, dass sie auch im weiteren und weitesten Sinn verloren sei,
aus dem Verlieren dieser »Unschuld« wird eine »Schuld« gemacht, die
zur Verurteilung der ganzen Persönlichkeit hinreicht.
Hierdurch aber gerade, dass die Gesellschaft ein gefallenes Mädchen
ausstösst und sie oft gegen alle Gerechtigkeit und Billigkeit dem
Verderben (<198) überliefert, dass sie selbst vor so grausamen Mitteln
wie dem Verbot der recherche de la paternité nicht zurückschreckt,
schafft sie jenen heilsamen Schrecken vor der Verführung, der sie in der
Tat oft verhindert und dadurch der Gesellschaft auf Kosten jener einzelnen
Opfer zum grössten Nutzen gereicht.
Dennoch lässt sich ein sehr tiefliegendes Moment auffinden, das jener
Ungerechtigkeit eine innere Berechtigung verschafft.
So vorsichtig man nämlich auch mit den Urteilen über die Frauen im
Plural sein muss, so scheint doch eines unzweifelbar: dass das Wesen der
Frau ein viel einheitlicheres ist als das des Mannes; in jedem ihrer
Gefühle und ihrer Gedanken steckt viel mehr die ganze Person, sie lässt
viel häufiger von einem Punkte aus die Gesamtheit ihres Seelenlebens
aufregen, jeder inneren und äusseren Situation gibt sie sich viel
ungeteilter hin als der Mann, der durch seine grössere Objektivität und
den grösseren Reichtum an verschiedenartigen Interessen im allgemeinen
verhindert ist, sich einem einzelnen Affekt oder Interesse so unbedingt
hinzugeben.
Wie die Frauen als Ganzes angesehen einander ähnlicher sind als die
Männer, was sich schon körperlich dadurch ausdrückt, dass die Messungen
verschiedener Körperteile bei verschiedenen Rassen ergeben haben, dass
die Männer weit mehr von einander verschieden sind als die Frauen: so ist
auch die einzelne Frau in sich ungeschiedener und die Teile ihres Wesens
bilden eine ungebrochenere Einheit.
Aus dieser folgt es allerdings, dass bei der Hingabe in auch nur einer
Beziehung ihr ganzes Wesen in viel höherem Masse beteiligt sein muss, als
es bei dem Manne der Fall ist.
Hieraus erklärt sich zunächst, weshalb man einer Frau den Ehebruch
viel schwerer anrechnet als einem Manne; denn beim Manne führen die
verschiedenen Triebe und Interessen weit mehr getrennte Rechnung, und die
Möglichkeit, dass er trotz einer ausserehelichen, aber rein sinnlichen
Befriedigung dennoch seiner Frau die innerlichste seelische (<199)
Treue bewahre, liegt für ihn wenigstens problematisch näher als bei der
Frau, die sich dem Gattungstypus nach nur ganz oder gar nicht hingeben
kann.
Dass es sich hier nur um graduelle Unterschiede handelt, liegt auf der
Hand.
So vollkommen kann auch beim Manne die Abtrennung der sinnlichen
Funktion von den übrigen Seeleninhalten nicht geschehen, dass nicht die
Schicksale der ersteren irgendwie auch die Beschaffenheiten und
Verhältnisse der letzteren alterierten; und noch um so weniger, als
gerade ein rein sinnlicher Treuebruch nur bei erheblicher Stärke der
Sinnlichkeit vorkommen wird, welche letztere also gerade in solchen
Fällen eine dominierende und mannigfaltige Verflechtung mit den
anderweitigen Interessen der Seele aufweisen dürfte.
Angenommen aber auch, die Differenzierung würde so vollkommen, dass
die sinnlichen Elemente des Wesens gleichsam ein Sonderleben führten und
ihre Modifikationen ohne Einfluss auf die übrige seelische Beschaffenheit
blieben: so würde doch bei dem sinnlichen Treuebruch die Seele als Ganzes
nicht schuldlos bleiben, da jedenfalls jener Teil von ihr korrumpiert
wird.
Dies scheint so selbstverständlich, dass es keiner Erwähnung
brauchte, wenn sich nicht in der Praxis an dies Verhalten eine häufige
Unklarheit knüpfte.
Man hört sittliche Unzulänglichkeiten oft damit entschuldigen, dass
sie »mit der Hauptsache nichts zu tun hätten«; das Bewusstsein, im
Grossen und Ganzen und der durchgehenden Tendenz nach sittlich zu sein,
hebt uns leicht über das Bedenkliche eines einzelnen Tuns hinweg,
gleichsam als stände dies ausserhalb der zentralen Beschaffenheit der
Seele, auf die es eigentlich und allein ankommt.
Prinzipiell gewandt weist dies auf das absolute Ich zurück, das eine
Sonderexistenz der einzelnen Vorstellung gegenüber besässe.
Wenn auch nach dieser Denkweise unsre Vorstellungen schliesslich aus
der substantiellen Seele hervorgehen, so besitzt diese doch eine Qualität
für sich, die von der einzelnen Handlung so wenig bestimmt wird, wie etwa
die Qualität Gottes von dem Tun der Menschen, die doch auch aus ihm
hervorgehen und von (<200) ihm getragen werden.
So wird manche an sich unmoralische Tat als nicht recht zurechenbar
oder als sittlich gleichgültig empfunden, weil die Seele als Ganzes sich
von der Färbung frei weiss, die jene charakterisiert, und weil nur eine
Seele als Ganzes, nur ein metaphysisch absolutes Ich das Verantwortliche,
weil allein Freie, in uns sein kann.
Dass die Majorität der Seeleninhalte und ihr Charakter, der einzelnen
psychischen Äusserung gegenüber, als das absolute Ich konstatiert und so
ein quantitativer Unterschied zu einem generellen gemacht ist, spiegelt
sich in dem Leichtsinn, mit dem eine isolierte Schuld getragen oder
vielmehr abgeworfen wird, deren Verbindung mit dem Charakter des übrigen
Ich nicht durchsichtig ist.
Hier liegt einmal ein Zusammenhang des theoretischen Fortschritts mit
dem praktisch-sittlichen auf der Hand.
Die Erkenntnis, dass die Seele nichts ausser den einzelnen psychischen
Äusserungen ist, dass sie in der Summe und dem Zusammenhänge dieser
besteht, bietet eine genaue Analogie zu dem Bewusstsein, der sittliche
Charakter könne nicht ausserhalb der einzelnen Handlungen derart
bestehen, dass eine solche nicht verantwortbar sei, weil ihre
Eigenschaften unserem Wesen gegenüber isoliert seien und dieses in der
Hauptsache trotz jener intakt bleibe.
Gewiss gehen im Geiste Differenzirungsprozesse vor sich, welche seinen
einzelnen Gebieten eine relative Unabhängigkeit von einander geben;
allein dies bedeutet doch nur, dass diese Gebiete einander koordiniert
sind.
Gerade weil nicht ein einheitliches Wesen in uns ist, das die
Verantwortlichkeit für Alles trüge, haftet eine Verantwortlichkeit an
jedem Gebiete für sich und kann nicht von, dem einen abgeschoben werden,
weil ein andres sich davon frei weiss, wenn auch dieses letztere ein
zentraleres und bedeutsameres ist.
Die Schuld kann durch solche Differenzierung verringert, aber nie
aufgehoben werden.
In dem vorliegenden Fall gilt jedenfalls die Frau, als das, weniger
differenzierte Wesen, als zu einheitlich, um das bloss Sinnliche von den
übrigen Seeleninhalten scharf sondern zu können, (<201) und so nimmt
man an, dass sie auch in jeglicher tieferen Hinsicht die Treue dem Manne
gebrochen habe, dem sie die geschlechtliche Treue gebrochen hat.
Mit Bezug auf die Häufigkeit des Ehebruchs in der Renaissancezeit ist
hervorgehoben worden, wie die volle individuelle Entwicklung der Frau, die
sie mit dem Manne auf gleiche Stufe stellte, damals entschieden auf ihn
hingewirkt habe.
Er erscheine namentlich dann gleichsam berechtigt, wenn Untreue des
Mannes hinzukommt.
Das individuell entwickelte Weib empfinde eine solche bei Weitem nicht
bloss als einen Schmerz, sondern als Hohn und Demütigung, und nun übe
sie oft mit ziemlich kaltem Bewusstsein die Rache, welche der Gemahl
verdient hat.
Wo also die Frau eine vielseitigere Entwicklung geniesst und sich damit
dem männlichen Typus mehr nähert, da ist der Ehebruch nicht so
schuldvoll, weil er nicht die ganze Persönlichkeit betrifft.
Aus diesem Zusammenhänge erklärt es sich, dass die Frau, deren
Halbsklaverei in Korrelation mit dem ehelichen Verhältnis steht, überall
da, wo sie sich zur Forderung grösserer Rechte erhebt, mit der Forderung
der freien Liebe beginnt; so war es zur Zeit der griechischen Hetären, so
im Frankreich des vorigen Jahrhunderts, so geschah es durch den Mund der
Georges Sand, so im russischen Nihilismus.
Eines der stärksten Beispiele für diese Zerteilung der
Persönlichkeit, bei der »die Linke nicht weiss was die Rechte tut« und
das ethische Schicksal des Ganzen völlig von dem des Teiles gesondert
erscheint, finde ich bei Boccaccio (Dekam. giorn. VI, nov. VII ): eine
Frau, von ihrem Gatten wegen Ehebruchs gerichtlich angeklagt, fragt
denselben in der Verhandlung, ob sie sich ihm je entzogen und ihr
Verhältnis mit ihrem Liebhaber je ihre eheliche Pflichterfüllung
vermindert oder verkümmert hätte.
Und wie er dies verneinen muss, fährt sie fort: Adunque domando io,
messer podestà, se egli ha sempre di me preso quello che gli è bisognato
e piaciuto, io che doveva fare o debbo di quel che gli avanza? debbolo io
gettare ai cani? non é egli molto meglio servirne un gentile (<202)
uomo che Più che sé m'ama che lasciarlo perdere o guastare? -worauf sie
vom versammelten Volk freigesprochen wird.
Hier ist der Mangel jener Einheitlichkeit des Wesens, die mit der
sexuellen Hingabe an Einen ihm auch die ganze und volle Persönlichkeit
gibt und die daraus folgende ethische Entlastung scharf ausgesprochen -
eine Entlastung, die, für ein roheres Bewusstsein eine vollständige,
für ein feineres wenigstens jene Lokalisierung der Schuld auf das
periphere Gebiet ausspricht; die aus der Differenzierung der
Seelenenergien hervorgeht.
Nun aber wird diese Differenzierung im Ganzen den Frauen nicht
zugesprochen; man nimmt an, dass die Hingabe auch eines Mädchens
ausserhalb der Ehe keine partielle ist, sondern die absolute von Geist und
Körper, Sein und Haben anzeigt.
Was hieran in der Tat die persönliche Ehre im weitesten Sinne
herunterzusetzen geeignet ist, das ist, dass sie dieses Ganze ohne ein
entsprechendes Äquivalent fortgibt; denn ihr Verführer denkt in der
Regel gar nicht daran, ihr entsprechend seine ganze Persönlichkeit
hinzugeben, wie es in den Worten Gretchens angedeutet wird: »Denkt Ihr an
mich ein Augenblicklichen nur, Ich werde Zeit genug an Euch zu denken
haben«.
Wer sein Ganzes hingibt, um von dem Andern nur ein Teilchen seines Ich
zu erhalten, der zeigt, dass seine Persönlichkeit ihm keinen hohen Wert
hat und verzichtet damit selbst auf die volle Ehre, die den Wert eines
Menschen dem des andern gleichstellt.
Man nimmt deshalb im allgemeinen mit Recht an, dass diese Hingabe nur
in der Ehe die persönliche Ehre nicht herabsetzt, weil sie in dieser in d
Tat eine beiderseitige ist, so dass die Frau für das Ganze ihrer Person
auch das Ganze d.h. die lebenslängliche Treue und Fürsorge des Mannes
erhält; völlig gleich steht die Rechnung vielleicht auch hier nicht,
weil der Mann wegen seiner nach mehreren Seiten zugleich gerichteten
Interessen – mindestens doch neben den Familien- noch die
Berufsinteressen - sich der Frau nicht so absolut geben kann wie sie ihm.
(203) Indessen für die gewissenhafteste ethische Analyse ist die Sache
hiermit noch nicht abgetan.
Ein so grosser Wert des Lebens auch die Ehre sei, so ist sie doch nicht
der einzige, und man kann auch keineswegs sagen, dass sie unbedingt der
höchste ist; gerade weil sie, so sehr sie auch ursprünglich aus dem
Interesse der Gesamtheit geschöpft ist, doch schliesslich mit dem eigenen
Interesse völlig verwächst, so wird die Sittlichkeit ein Überwinden
derselben im Dienste höherer Interessen manchmal fordern.
Es sind uns in Geschichte und Dichtung genug Fälle überliefert, wo
Frauen ihre Ehre hingegeben haben, um mit diesem Preis die Rettung ihrer
Angehörigen oder ihres Vaterlandes zu erkaufen: es kann also hier ein
sittliches Gebot geradezu fordern, die persönliche Ehre aufzugeben, die
demnach kein absolutes Gut ist, sondern auch nur ein relatives, in die
Abwägung gegen andere Güter eintretendes; die Ausnahmestellung, die sie
in der Reihe der sittlichen Werte als etwas ganz Unvergleichbares
einzunehmen scheint, verdankt sie nur der eigentümlichen Mischung von
Interesse der Gesamtheit und Eigeninteresse, die ihren psychologischen
Charakter bildet und sie schlechthin als die Pflicht gegen uns selbst
hinstellt; und vor allem dem Umstand, dass sie zwar als ein
Eigeninteresse, aber doch als ein ideales erscheint; sie ist von allem
Eigennutz entfernt, ein reines Sittlichkeitsinteresse und doch mit dem
Allerpersönlichsten solidarisch.
Wenden wir dies auf den obigen Fall an, so muss ich sagen: ich kann
eine eigentliche Herabwürdigung der sittlichen Persönlichkeit nicht
darin finden, wenn ein Mädchen sich einem Manne in solcher Demut hingibt,
dass sie gar keine adäquate Erwiderung verlangt; dies war es allerdings,
worin wir die Herabsetzung Ihrer Ehre erblickt hatten, allein sie erkennt
hier die Idee der Liebe, der sich selbst aufopfernden Hingabe als das
Höhere an.
In dem vorhin angeführten Ausspruch Gretchens liegt symbolisch das
Bewusstsein, dass bei dem unendlich höheren Werte und Bedeutung, den die
Existenz eines Mannes wie Faust der ihrigen kleinen,(204) bescheidenen
gegenüber besitzt, es nur angemessen ist, wenn sie ihr ganzes Leben gegen
einen Teil des seinigen in die Waagschale wirft.
Man hört, dass die Mädchen, die sich verführen lassen, sich vielfach
bewusst sind, dem Mann ein Opfer zu bringen, von dem sie selbst nichts
haben.
Liegt der Fall ganz rein so, so mag man diese Hingabe der Ehre durchaus
falsch und unverhältnismässig finden - man kann sie nicht eigentlich
unsittlich nennen, besonders wenn wir bedenken, dass für ein Mädchen
sich in dem geliebten Mann das verkörpert, was den Mann zu den höchsten
objektiven und idealen Strebungen treibt, und dass das Aufgeben der
persönlichen Ehre um dieser willen oft das Zeichen einer erhöhten und
nicht einer erniedrigten Sittlichkeit und Selbstlosigkeit ist.
Frauen und grosse Massen pflegen sich nur durch eine Person hindurch
für Unpersönliches zu begeistern - wie ihnen auch die Idee des
Patriotismus häufig genug zu der Person des Herrschers, die- der Religion
zu der des Priesters kristallisiert.
Die Frage der weiblichen Ehre hat so viele individuelle und soziale
Beziehungen - derart, dass gerade der allertiefste Grund der
Persönlichkeit und das allerbreiteste Interesse der Allgemeinheit dabei
ins Spiel kommt - dass das ethische Urteil über ihren Verlust den
zahlreichen Momenten für dessen Verurteilung zahlreiche zu seiner
Entschuldigung gegenüberstellen kann.
In dem ganzen Bereich individueller Sittlichkeit gibt es vielleicht
kein Problem, bei dem sich die Leichtigkeit, mit der die Masse und die
dogmatische Sittenlehre urteilt, so weit von der Schwierigkeit abhebt, die
eine tieferdringende und vorurteilslose Analyse darin findet.
Es kommt eben auch hier darauf an, uns von der Herrschaft allgemeiner
und deshalb oberflächlicher Begriffe zu befreien und auf die letzten
Elemente der einzelnen Vorkommnisse
zurückzugehen, gerade wie man in der Wissenschaft des Körperlichen
nur durch Zurückgehen auf die letzten einfachen Teile zu einer wahrhaften
Erkenntnis kommt.
Und gerade wo so viele (<205) Urteilselemente mitwirken, wird die
Verschiedenheit ihrer Stärke die einzelnen Fälle einander ganz
unähnlich machen.
Es bleibt freilich eine Schwierigkeit, wie in allen Fällen, die man
nicht nach Prinzipien, sondern von Fall zu Fall meint entscheiden zu
sollen.
Jede Beurteilung, die nicht bloss eine subjektive Aussage über
Gefallen und Missfallen sein will, sondern den Anspruch objektiver
Begründetheit erhebt, kann dies doch nur so, dass ein allgemeiner Satz,
eine allgemeine Urteilsnorm vorausgesetzt wird, deren Bedingungen an dem
einzelnen Fall aufgezeigt und damit dessen ethische Qualifikation erwiesen
wird.
So sehr man sich auch dagegen wehren mag, nach Prinzipien zu urteilen
und statt dessen von Fall zu Fall urteilen will, so ist dies doch dem
Begriff des Urteils zufolge eine Selbsttäuschung.
Es ist die gleiche metaphysische Schwierigkeit, wie die Auflösung der
Substanzen in Kräfte und Bewegungen sie unserm Denken darbietet.
Man mag diese noch so weit treiben, noch so viel scheinbar Festes in
blosse Funktion auflösen, so mündet dieser Prozess doch irgendwo an
einer wie weit auch immer zurückliegenden Substanz, die die Funktion
trägt; er bewirkt nur, dass der Fall nicht in Bausch und Bogen, in der
ganzen Komplikation seiner Erscheinung unter ein Prinzip gebracht wird.
Allein die Individualität des so gefällten Urteils wird doch nur
durch eine Kreuzung mannigfaltiger Prinzipien zustande gebracht, in deren
Schnittpunkt der fragliche Fall steht, gerade wie die Individualität
eines Gegenstandes seinem Allgemeinbegriff gegenüber darin besteht, dass
er noch an anderen Allgemeinbegriffen Teil hat und seine Einzigkeit in der
Vereinigung dieser besitzt.
Das Urteilen von Fall zu Fall bedeutet also nur, dass wir jeden Fall in
seine verschiedenen möglichst elementaren Faktoren zerlegen und aus den
verschiedenen prinzipiellen Beurteilungen, die jeder derselben findet, das
Gesamturteil zusammensetzen; es verhindert nur, dass ein unterhalb der
höchsten Prinzipien gelegenes Prinzip für Fälle geschaffen werde, denen
die Zusammensetzung ihrer Elemente eine äussere (<206) morphologische
Gleichheit verliehen hat; es ist nur ein Urteilen nach richtigeren und
angemesseneren Prinzipien, aber nicht ohne Prinzipien.
In der theoretischen Erklärung der Dinge lassen wir uns die
angedeutete Analogie hierzu ohne Weiteres gefallen; wie absonderlich und
einzigartig auch ein Geschehnis sei, so sind wir doch ihm gegenüber
völlig befriedigt, wenn wir die vielfachen, einander modifizieren
Naturkräfte und Gesetze erkannt haben, die sein Zustandekommen bewirkt
haben; es braucht kein dunkler Rest mehr zu bleiben, sondern für jede
Abweichung von derjenigen Richtung, die es einem Naturgesetz gemäss
einschlagen müsste, lässt sich ein anderes finden, dem es in diesem
Augenblick die Bedingungen der Anwendung bot und das die Wirkung jenes zu
einer Resultante umbog.
Alles Individuellste wird so als blosse Verflechtung allgemeinster
Gesichtspunkte erkannt, in denen es völlig aufgeht und die unsere
theoretische Frage völlig beantworten.
Die genaue Analogie, die dies in der Beurteilung innerlicher Vorgänge
zu finden scheint, gewährt doch unserem Gefühl nicht die gleiche
Befriedigung.
So sehr wir eine oberflächliche Prinzipienmässigkeit fliehen und
jedes Element unseres Handelns herauslösen und auf ein besonderes letztes
Prinzip zurückführen mögen, so ist eben nicht zu vermeiden, dass
schliesslich allgemeine Prinzipien, in wie besonderer Komplikation immer,
den Ausschlag der Beurteilung geben.
Das Individuelle wird also doch als Fall allgemeiner Normen betrachtet
und dagegen sträubt sich eben ein stolzeres und sehr persönliches
Empfinden; es mag nicht als Richter über sich ein allgemeines Gesetz
anerkennen, das ihm doch immer als etwas Fremdes gegenübersteht.
Das Verlangen, nur von seinen Pairs beurteilt zu werden, verengt sich
hier zu dem Gefühl, dass die Tat überhaupt nicht ausserhalb ihrer selbst
den Massstab ihres Wertes finde, dass keine Zusammensetzung allgemeiner
Prinzipien gerade das Eigenartige und Charakteristische an ihr treffe.
Solche Prinzipien erscheinen dann als eine Gesetzgebung, zu der die
individuelle (<207) Persönlichkeit nicht mitgewirkt hat, bei der sie
nicht befragt worden ist, und die sie deshalb nicht als für sich
verbindlich anerkennt - nicht ihres speziellen Inhaltes wegen, sondern
weil es ein Unpersönliches ist, das sich zum Massstab des Persönlichen
machen will.
Die begriffliche Konsequenz, dass, wenn überhaupt beurteilt wird, doch
ein Allgemeines da sein muss, das für das Einzelne die Norm bildet, wird
von dem, subjektiven Gefühl oft genug einfach verneint.
Je mehr das, Gefühl der Persönlichkeit und ihres Wertes sich hebt,
desto, ablehnender verhält sie sich nach zwei scheinbar entgegengesetzten
Seiten: sie sträubt sich dagegen, nach ihren einzelnen Inhalten bewertet
zu werden, empfindet sich als eine umfassende Einheit, deren Bedeutung
über die Einzelheit ihrer Gedanken oder Strebungen erhaben sei, und
andrerseits wehrt sie das über ihr gelegene Allgemeine als Wertungsgrund
ab, empfindet sich als absolute Individualität, die mit nichts anderem zu
vergleichen und deshalb nicht unter einen allgemeinen Begriff zu bringen
ist, dessen Wesen ja in der gleichmässigen Gleichgültigkeit für vieles
besteht.
Sie nimmt für das subjektive Empfinden eine Stellung ein, die jenseits
des Einzelnen wie jenseits des Allgemeinen steht.
Wenn wir hier keinem Mystizismus Raum geben wollen, zu dem freilich der
schwierige Begriff der Individualität besonders leicht verführt, sondern
den Fall nach den gewöhnlichen psychologischen Prinzipien beurteilen, so
ist offenbar für diese beiden Erscheinungen der Grund derselbe: dass
nämlich die Fülle der einzelnen in Betracht kommenden Momente eine
gegenseitige Verdunklung derselben für das Bewusstsein bewirkt und dass
sich für dasselbe als absolute und unvergleichbare Einheit darstellt, was
einerseits aus unzählig vielen und entgegengesetzten Elementen besteht,
und andrerseits ebendeshalb an unzählig viele und entgegengesetzte
allgemeine Normen und Prinzipien appelliert.
Was aber so für das Ganze der Persönlichkeit gilt, das überträgt
sich mit den nötigen Einschränkungen auf gewisse Kreise und Teile ihrer.
Auch (<208) die einzelne Tat geht einerseits aus einer solchen
Fülle von Motiven und historischen Bedingungen hervor, erzeugt
andrerseits eine solche Mannigfaltigkeit von Folgen und an diese
geknüpfter moralischer Urteilsgründe, dass auch sie den Charakter
völliger Individualität trägt und jede Beurteilung nach einem
feststehenden Prinzip als ungerecht und unzutreffend von sich abweist.
Und wenn die absolute Ablehnung aller Prinzipien der Beurteilung auch
logisch widersprechend ist, so ist doch wenigstens jene relative im Recht,
welche verlangt: jede Handlung müsse in ihre letzten einfachen Elemente
zurückverfolgt und aus dem Sonderurteil über jedes derselben das
Gesamturteil gefunden werden.
Nicht aber dürfe die Tat in der Kompliziertheit ihrer Erscheinung ein
solches, bereits fertiges, vorfinden, da eben dasselbe Tatphänomen aus
dem Zusammentreffen der allerverschiedensten einfachen Strebungen
hervorgegangen sein kann.
ich kehre von diesem Exkurs noch einmal zu dem Problem der weiblichen
Ehre zurück, auf das er allenthalben Anwendung findet, und erwähne nur
noch den Fall, der der allgemeinen Empfindung nach am wenigsten Raum für
eine Kasuistik gibt: die Hingabe der weiblichen Ehre für Geld.
Die Gründe für die Niedrigkeit und Widrigkeit, die der Prostitution
anhaftet, sind sehr mannigfaltiger Natur.
Zunächst muss dabei das Gefühl einer völligen
Unverhältnismässigkeit zwischen Ware und Preis wirken.
Das Geld ist das unpersönlichste, qualitätloseste Ding im ganzen
Bereich unserer praktischen Interessen; indem es das Äquivalent für die
allerverschiedensten und entgegengesetztesten Dinge ist, verliert es
selbst jeden spezifischen Charakter; es ist ein Durchgangspunkt, der
keinem wie immer beschaffenen Werte den Durchgang verweigern und deshalb
keine eigene Individualität besitzen darf, und, im Gegensatz zum
Sachbesitz, nicht einmal die Möglichkeit einer persönlichen Beziehung zu
den Individuen aufweist, von denen es kommt und zu denen es geht.
Angesichts dieses Wesens des Geldes ist es das denkbar unangemessenste
(<209) Äquivalent für die Hingabe eines Weibes, die gerade das
Persönlichste ist, was sich denken läßt.
Unter kultivierten und differenzierten Menschen ist die Liebe zwischen
Mann und Weib das individuellste, exklusivste Verhältnis, das sie
überhaupt eingehen können, und selbst auf der Karikatur der Liebe, der
Hingabe an den ersten Besten, haftet dieser Charakter noch hinreichend, um
die völlige Disharmonie zwischen Leistung und Gegenleistung, Ursache und
Erfolg, fühlen zu lassen.
Die Herabsetzung der weiblichen Ehre, die wir , oben in der Mehrzahl
der Verführungsfälle erkennen konnten - dass das Mädchen ihr Alles
opfert, während der Verführer nur ein Teilchen seiner Persönlichkeit
gibt - wird in der Prostitution potenziert: die Frau gibt das
Persönlichste, was jemand geben kann, der Mann das Unpersönlichste, was
jemand geben kann; dieser das in höherem Sinne Wertloseste, jene das
Wertvollste; eben dadurch setzt sie dieses auf die Rangstufe jenes herab.
Vielleicht trägt diese in beiden Fällen stattfindende
Unverhältnismässigkeit von Leistung und Gegenleistung dazu bei, dass die
öffentliche Meinung so wenig geneigt ist, die Grenze zwischen der Hingabe
aus Liebe und der Prostitution anzuerkennen.
Es ist sogar bei den Naturvölkern bemerkt worden, dass die Frauen die
niedrigste Stellung da einnehmen, wo sie gekauft werden, z. B. bei den
Kaffern, bei manchen Indianern im alten Yukatan, in Ostafrika etc. und
dass eine etwas bessere Behandlung und eine etwas höhere Wertung der
Frauen dort stattfindet, wo sie statt durch bestimmte Bezahlung durch
persönliche Dienstleistungen des , Werbers für die Eltern der Braut
erworben werden.
Andrerseits aber ist es erklärlich, dass gerade in unkultivierteren
Zuständen die Prostitution eine mildere Beurteilung findet und verdient;
denn in ihnen ist einerseits die Persönlichkeit noch, nicht mit solcher
Entschiedenheit aus dem allgemeinen Gattungstypus herausdifferenziert,
andrerseits hat das Geld noch nicht den farblosen Charakter angenommen,
wie in hohen Kulturen, wo die Tatsache seiner unendlich viel grösseren
Verbreitung und (<210) Verwertung es als das absolut Indifferente über
alle individuellen Werte gestellt hat.
In roheren Verhältnissen erscheint deshalb die sexuelle Hingabe noch
nicht als etwas so Persönliches, das Geld noch nicht als etwas so
Unpersönliches, und ihre Äquivalenz wird dadurch von beiden Seiten her
etwas angemessener.
Eine weitere Irrationalität kommt hinzu, um das widerstrebende Gefühl
der Prostitution gegenüber zu begründen.
Das durchgehende Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist bei uns
dies, dass der Mann der werbende, die Frau der auswählende Teil ist, dass
jener sucht, diese sich suchen lässt.
Man kann zwar nicht behaupten, dass dieses Verhältnis das allein
naturgemässe ist, denn es finden sich einige Tierspezies -eine indische
Wachtel, mehrere Straussarten und englische Schmetterlinge - die die
Rollen bei der Bewerbung vertauscht haben, sei es, weil eine überwiegende
Anzahl von Weibchen geboren sind, sei es, weil die Männchen etwas von
ihrer Begierde verloren haben, so dass nun eine Rivalität unter den
Weibchen um die Männchen eingetreten ist.
So richtig deshalb auch die häufig ausgesprochene Vorstellung sein
mag, dass wenn die Männer einmal einen allgemeinen Liebesstreik ins Werk
setzten, nach kurzer Zeit die Frauen nachgeben und ihnen so nachlaufen
würden, wie jene jetzt diesen, so empfinden wir doch vorläufig das
jetzige Verhältnis als das einzig angemessene und zweckmässige und so
empfinden wir es selbst da und ganz besonders da, wo die
Versorgungsschwierigkeit für die Mädchen nur noch den notdürftigen
Schein dieses Verhältnisses aufrechterhalten kann.
Nun erscheint uns das Abnorme als solches widerwärtig, vielfach direkt
ekelhaft - z. B. Missgeburten, wie ein Mensch mit sechs Fingern, werden
den meisten Menschen das Gefühl des Ekels erregen -und zwar insbesondere,
wenn die Norm, von der es abweicht, durch viele Generationen hindurch als
die sozial-zweckmässige gegolten hat.
Die Prostitution ist eine derartige Umkehrung der eben genannten Norm
für das (<211) Verhältnis der Geschlechter.
Denn überall ist im Geldverkehr derjenige der Suchende, der die Ware
bietet, derjenige der Gesuchte und Auswählende, der das Geld gibt.
Aus dem genau entsprechenden Grunde ist uns ein koketter Mann widrig:
weil die Koketterie, als ein zwischen Versagen und Gewähren schwebendes
Verhalten, nur demjenigen zukommt, in dessen Hand Gewähren und Versagen
liegt, d. h. in unsrer jetzigen sozialen Verfassung den Frauen; die
Koketterie des Mannes verkehrt ebenso wie die Prostitution der Frauen
dasjenige Verhältnis der Geschlechter in sein Gegenteil, das uns bis
jetzt als das allein richtige erscheint, und darum haben beide den
Charakter des Abnormen und Widerwärtigen.
Die Verachtung, die Gesellschaft auf solche Gründe hin den
Prostituierten zeigt, führt zu dem tragischen Zirkel, aus dem sich der
aus der Gesellschaft Ausgewiesene überhaupt kaum befreien kann: weil er
unsittlich ist, wird er ausgestossen und weil er ausgestossen ist, wird er
immer unsittlicher.
Dass die böse Tat fortzeugend Böses gebiert, hat in Hinsicht auf das
Subjekt diese soziale Vermittlung, und die Verachtung der Gesellschaft
macht das Individuum, das von ihr getroffen wird, mehr und mehr gegen die
von der Gesellschaft geprägten Normen gleichgültig, ja, setzt es oft in
einen bewussten trotzigen Gegensatz zu ihnen; der Unsittliche findet in
dieser Opposition ebenso einen Halt gegen innere Selbstvernichtung, wie
äusserlich oft nur noch auf verbotenen Wegen die Möglichkeit der
Lebensfristung, zu der ihm die Gesellschaft alle andern verlegt hat,
nachdem sie ihn einmal auf einem falschen betroffen hat.
Die eigentlich sozialen, nicht kriminalrechtlichen Strafen - die also
mehr von der Gesellschaft als Ganzem als von einem einzelnen Organ
derselben auferlegt werden - haben eine bessernde, versittlichende Wirkung
nur als Abschreckungsmittel vor begangener Tat; das Individuum selbst
aber, an dem sie vollzogen sind, pflegen sie nicht zu bessern, weil die
Besserung in der Regel nicht die äussere restitutio in integrum
herbeiführt und also äusserlich (<212) genommen zwecklos ist.
An dem Ausgestossenen bleibt die Ächtung haften, und sei er später
noch so sittlich, da dies sich nicht so sicher und sichtbar erweist, wie
die unsittliche Tat.
Die kriminelle Strafe kann auch den Betroffenen einfach dadurch
bessern, dass er bei künftigem Wohlverhalten ihre Wiederholung vermeidet,
während die gesellschaftliche Ächtung auf Lebenszeit zu gelten pflegt
und die Besserung sozusagen hoffnungslos ist.
Bei der Prostitution ist diese Wechselwirkung zwischen Unsittlichkeit
und gesellschaftlicher Reaktion besonders stark.
Die Prostituierten haben eine ausserordentlich ungünstige
Kriminalstatistik und ihr sittliches Bewusstsein pflegt in jeder Hinsicht
das denkbar niedrigste und abgestumpfteste zu sein.
Es scheint mir, dass diese moralische Verderbnis der Prostituierten
wenigstens zum Teil die Folge der Behandlung ist, die die Gesellschaft auf
Grund ihrer primären Unsittlichkeit ihnen zu Teil werden lässt und die
es ihnen so gut wie unmöglich macht, zu einem ehrenhaften Lebensberuf
zurückzukehren.
Dies ist wohl auch der Grund der Erfahrung, dass man den Kampf gegen
die Prostitution höchstens durch Prophylaxis, durch Fürsorge für die
Gefährdeten, aber nicht durch Hebung schon Prostituierter mit Erfolg
führen kann.
Für den prinzipiellen Zweck, um den es sich hier handelt, genügt
diese Andeutung, um zu zeigen, dass die Schichtung der beschuldigenden und
der entlastenden Momente noch bis zu dieser tiefsten Stufe des
Ehrverlustes hinabreicht. Georg Simmel: Einleitung
in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe
Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93
Vorworte
Band 1:
1.
Kapitel: Das Sollen
2.
Kapitel: Egoismus und Altruismus
3.
Kapitel: Sittliches Verdienst und sittliche Schuld
4.
Kapitel: Die Glückseligkeit
Band 2:
5.
Kapitel: Der kategorische Imperativ
6.
Kapitel: Die Freiheit
7.
Kapitel: Einheit und Widerstreit der Zwecke
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