Sociology
in Switzerland Online Publikationen |
|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Der
konfessionelle Faktor in der Gemeindepolitik Eine
diachrone Analyse lokaler Parteien Februar
2007 1. Der
„konfessionelle Faktor“ in der sozio-politischen Theoriebildung 2. Katholischer
Kommunalismus und protestantischer Individualismus 3. Konfessionelle
Kulturen in der Schweiz 4. Fragestellung,
Methodik und Datenbasis der Untersuchung
1.
Der „konfessionelle Faktor“ in der sozio-politischen Theoriebildung Nachdem die soziologische Theoriebildung
seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch soziostrukturelle und politisch-ökonomische
Ansätze dominiert war, sind in den letzten 40 Jahren kulturelle Faktoren
etwas stärker in den Vordergrund getreten, so dass Castels' Feststellung, "Religion is an unfashionable
variable" (Castles 1994: 6), nicht mehr ganz zutreffend erscheint. In
der neueren empirischen Forschung hat vor allem Gerhard Lenski (1963) mit
seiner einflussreichen Pionierstudie "The religious factor" zum
Bewusstsein darüber beigetragen, in welchem Umfange religiöse Einflüsse
zumindest in der informellen Form "konfessioneller Mentalitäten"
innerhalb der modernen Gesellschaft nach wie vor wirksam bleiben. Während der
direkte formelle Einfluss von Kirchen und religiösen Verbänden sich auf
relativ wenige gesellschaftliche Bereiche beschränkt und im Zuge unbestreitbarer
Säkularisierungstendenzen eher erodiert, sind diese informelleren Wirkungen
in allen sozialen Handlungsfeldern (d.h. in Wirtschaft, Politik, Familie,
Bildung, Wissenschaft) spürbar und kommen in ihrer Determinationskraft dem
Einfluss struktureller Statusmerkmale ungefähr gleich: Angesichts dieser
Breite verschiedener Einflüsse erscheint die Schlussfolgerung plausibel, dass
sie zumindest teilweise nicht auf bewussten „Lehrmeinungen“ oder religiösen
Lebenspraktiken, sondern auf tieferliegenden sozialisatorischen Prägungen und
traditionellen Habitualisierungen beruhen, die selbst bei Individuen, die
nicht mehr gläubig und kirchlich gebunden sind, ihre Wirksamkeit behalten
(Lenski 1963). Noch expliziter als Lenski fokussiert
Gerhard Schmidtchen sein Augenmerk ganz darauf, „wieweit menschliches Handeln
überhaupt, ohne dass es unter solchen Kategorien bewusst wird, auf religiösen
Vorentscheidungen beruht, die zu ganz bestimmten und manchmal ungewollten
Entscheidungen führen“ (Schmidtchen 1973: 347). Sein
Interesse gilt also praktisch ausschliesslich den konfessionellen
Habitualisierungen, die zwar in einer früher einmal sehr explizit betriebenen
„Kirchenzucht“ und bewusst gelebten religiösen Lebenspraxis ihren
historischen Ursprung haben, heute aber unabhängig von derartigen Stütz- und
Reproduktionsmechanismen persistieren. So postuliert Schmidtchen die Existenz
„halbbewusster“ konfessioneller Einstellungen und Verhaltensprägungen, die
aus schierer Trägheit ihre Wirksamkeit weiterentfalten, wenn nicht ein besonderer
Aufwand betrieben wird, um sie explizit zu formulieren und im Rahmen äusserst
bewusst vollzogener „Bekehrungsvorgänge“ intentional zu modifizieren
(Schmidtchen 1973: 89). Vergemeinschaftungen auf
religiös-konfessioneller Basis bieten eine ideale Grundlage für die
Sedimentierung traditionell verfestigter Mentalitäten und Habitualisierungen,
die selbst beim Verschwinden manifester Religiosität noch lange wirksam
bleiben. So spricht z. B. vieles dafür, dass die in Württemberg noch heute
vorfindliche Arbeitsethik und Sparmoral zwar pietistische Ursprünge hat,
heute aber keiner religiösen Stütze mehr bedarf, oder dass die Katholiken
Deutschlands ihre Loyalität zur CDU (und korrelative Distanz gegen die SPD)
ungeachtet ihrer sinkenden Kirchenbindung aufrechterhalten (vgl. Schmitt
1984). Mit andern Worten: nicht als theologische
Glaubenssysteme oder als kirchlich verfasste Institutionen, sondern als
System alltäglicher Lebenspraxis werden Katholizismus und Protestantismus als
Explanantien individueller Verhaltensdispositionen relevant. Im
Einklang damit hat Ronald Inglehart darauf hingewiesen, dass der heute in
vielen westlichen Ländern beobachtbare Niedergang des „class voting“ dazu
führen kann, dass religiöse Trennlinien zumindest relativ wieder klarer in Erscheinung
treten können. Allerdings deuten seine empirischen Befunde - wie diejenigen
zahlreicher anderer Autoren - darauf hin, dass nicht so sehr die
konfessionelle Zugehörigkeit, sondern die Intensität der religiös-kirchlichen
Bindung die zentrale Variable darstellt, die sowohl die Wahl einer
politischen Partei wie die Einstellung zu verschiedenen (insbesondere:
„postmateralistischen“) Sachfragen (z. B. die Abtreibungsfrage) determiniert
(vgl. Inglehart 1989: passim). Auf überindividueller Ebene können dauerhaft
bestehende Vereinigungen konfessionelle Mentalitäten, Normkulturen und
Organisationsstrukturen traditionell verfestigen und dadurch auch dann noch
politisch zur Geltung bringen, wenn sie keine religiös motivierten
Zielsetzungen mehr verfolgen. So haben sich in manchen europäischen Ländern
zur Zeit des „Kulturkampfs“ im ausgehenden 19 Jahrhundert konfessionell
bestimmte Parteiensysteme gebildet, die auch heute noch - nachdem derartige
Konflikte seit Jahrzehnten irrelevant geworden sind - unverändert persistieren
(vgl. z.B. Lipset / Rokkan 1985; Lijphart 1979). Vieles spricht dafür, dass konfessionell
geprägte Werthaltungen und Verhaltensweisen auf individueller Ebene wie auch
konfessionell mitgeformte Norm- und Organisationsstrukturen auf kollektiver Ebene
in der Politik bessere Entfaltungschancen als in der Wirtschaft finden. Für die Wirtschaft mag zumindest teilweise
Weber's Auffassung gelten, dass die objektiven Bedingungen der
Marktkonkurrenz und Produktionseffizienz völlig heute unabhängig von religiösen
Prägungen dieselben Einstellungen und Verhaltensweisen erzwingen. (Weber
1978: 20; 203). In der Politik kann sicherlich nicht von
einer vergleichbaren Determinationskraft objektiver Bedingungen gesprochen
werden. Es gibt beispielsweise keine dem Zwang zur Arbeit vergleichbare
Triebkraft, die jeden Bürger am Abstimmungssonntag zur Wahlurne treibt; und
gewählte Politiker stehen - da sie einen „Monopolbetrieb“ leiten - nicht wie
marktabhängige Unternehmer unter dem Zwang, öffentliche Leistungen möglichst
kostengünstig und „konkurrenzfähig“ zu produzieren. Stattdessen kommt ihnen
die Aufgabe zu, Kriterien der Effizienz in selbstgewählter Weise mit
vielerlei anderen Wertmassstäben (der Rechtmässigkeit, der Bürgernähe, der
demokratischen Mitsprache u. a.) zu verbinden. Mit andern Worten: in der politischen
Sphäre gibt es auf allen Ebenen vielerlei Spielräume für wertorientiertes
Handeln, in die auch religiös bedingte Prägungen mit einfliessen können - ja
vielleicht sogar müssen, weil es darum geht, über grundlegendste
Werteprioritäten (z. B. Gleichheit vs. Freiheit oder Wohlstand vs.
Sicherheit) Entscheidungen zu treffen, die nicht ohne Rekurs auf ultimative
normative Prämissen getroffen werden können. So kommt Schmidtchen im Zuge seiner
umfassend angelegten Vergleichsanalyse deutscher Katholiken und Protestanten
signifikanterweise zum Schluss: „In kaum einem anderen Lebensbereich
unterscheiden sich Protestanten und Katholiken so sehr wie in ihrer
politischen Vorstellungswelt und ihrem politischen Handeln.“ (Schmidtchen
1973: 210). 2.
Katholischer Kommunalismus und protestantischer Individualismus Die breit angelegte komparative
Untersuchung von Andrew Greeley kann als einer der bisher ambitioniertesten und
erfolgreichsten Versuche betrachtet werden, die unterschiedlichen
sozio-politischen Auswirkungen des Katholizismus und Protestantismus in
deduktiver Weise aus ihren theologischen Kernpositionen zu erschliessen. In
expliziter Anlehnung an den Jesuiten David Tracy (1982) sieht Greeley die
fundierende die differentia specifica der beiden Konfessionen in der
unterschiedlichen Auffassung von Gott und seiner Beziehung zur Welt: Im katholischen
Milieu wird von einem der Welt immanenten Gott ausgegangen, der sich in
der ganzen Schöpfung offenbart; im protestantischen Kontext wird ein in Bezug
auf die Welt transzendenter Gott konzipiert, der sich dem Menschen
ausschliesslich über das biblische Wort mitteilt: (Greeley 1989: 486). Von
einer primordialen Harmonie zwischen dem Individuum und der sozialen Welt
ausgehend, tendiert der Katholizismus zu einem Kommunalismus, bei dem
soziale, gesellschaftsbezogene und gar politische Handlungsweisen zum
integrierenden Bestandteil der religiösen Lebenspraxis gehören. Der Protestantismus betont demgegenüber
eher die antagonistischen Beziehungen im Verhältnis des Einzelnen zur
Gesellschaft, und gelangt dadurch zu einem Individualismus, der von den
Gläubigen eine auf keine äusseren Zwänge Rücksicht nehmende innerliche
Gesinnungstreue fordert.
Im Rahmen ihrer gemeinschaftsbezogenen
Weltanschauung legen Katholiken grösseres Gewicht auf gute soziale
Beziehungen (z.B. innerhalb der Familie und Verwandtschaft) und unterstützen
deshalb vor allem jene Werte und Normen, die (wie z.B. Loyalität,
Solidarität, Gehorsam, Geduld) der sozialen Integration des Individuums
förderlich sind. Umgekehrt richtet sich die Wertschätzung der Protestanten
primär auf das Individuum und auf all jene Tugenden, die (wie z.B. Fleiss,
Eigeninitiative, Sparsamkeit, persönliche Integrität) darauf gerichtet sind,
die persönliche Autonomie jedes Einzelnen zu stärken und ihn und aus kollektiver
Sozialkontrolle zu befreien. (Greeley 1989: 493). Greeley's Befunde deuten darauf hin, dass
solche konfessionelle Unterschiede keiner Abschwächung im Zuge des
intergenerationellen Wandels unterliegen und auch bei Angehörigen höherer
Bildungsniveaus ungebrochen weiter bestehen. (Greeley 1989: 501). Vor allem
widersprechen sie der seit Max Weber weit verbreiteten soziologischen These,
wonach eine kommunalistische Ethik in der modernen Gesellschaft keine
Ueberlebenschancen habe, weil sie mit den kompetitiv-individualistischen
Verhaltenszwängen der modernen kapitalistischen Wirtschaft unvereinbar sei. In diesem Zusammenhang sind nach
Schmidtchen die empirischen Befunde zu deuten, dass Katholiken häufiger an
übergeordnete Werte glauben, für die es sich lohne, alle individuellen
Interessen in den Hintergrund zu stellen (Schmidtchen 1973: 175). Daraus
resultiert einerseits eine Stärkung familiärer Mikrobeziehungen; andererseits
entstehen aber auch umfassendere soziale Integrationswirkungen, die in einer verstärkten
Partizipation in der Öffentlichkeit sowie in mesosoziologischen Kontexten
ihren Ausdruck finden, Zumindest die Männer pflegen häufiger ausserhäusliche
Geselligkeit (Schmidtchen 1973: 187); und generell stellt man bei Katholiken
eine höhere Neigung fest, sich mit Bekannten nicht in der eigenen Wohnung,
sondern in öffentlichen Lokalitäten zu treffen (Schmidtchen 1973: 185).
Schliesslich fällt auch auf, dass Katholiken - beiderlei Geschlechts -
stärker als die Protestanten am Vereinsleben partizipieren (Schmidtchen 1973:
176). So hat sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein
Katholizismus herausgebildet, der sich einerseits durch den hohen
Bürokratisierungsgrad der Amtskirche und andererseits durch die
Mannigfaltigkeit kirchennaher Vereinigungen vom notorisch „strukturschwachen“
Protestantismus in wachsendem Ausmass unterschied. In Übereinstimmung mit
ihrer individualistischen Orientierung bevorzugen Protestanten eine eher
plebiszitäre Demokratie mit einer „responsiven“ Regierung, die sich den
Forderungen des Volkes gegenüber offen verhält. Katholiken hingegen votieren
eher für eine Regierung, die als „Treuhänderin des Gemeinwohls“ in der
Verantwortung für das Ganze ihre Politik durchsetzt, ohne auf plebiszitäre
Mehrheitsverhältnisse Rücksicht zu nehmen. (Schmidtchen 1973: 215) Hier
konvergieren Schmidtchens Ergebnisse mit den komparativen Befunden Guy
Swansons, der bei einem Vergleich zwischen den politischen Systemen
katholischer und protestantischer Länder Westeuropas analoge Unterschiede
feststellen konnte (Swanson 1967; 1973). So stellt sich die Frage, ob im dichten
Sozialisationsmedium der katholischen Subgesellschaft nicht vielleicht
mancherlei Denk- und Verhaltensweisen entstanden (bzw. erhalten geblieben)
sind, die in der Form traditioneller Habitualisierungen noch lange nach dem
Zerfall des katholischen Vereinswesens weiter bestehen und - auf
kommunitär-familiärer Ebene - vielleicht ohne manifestes Bewusstsein und
explizite Absicht weitervermittelt werden. Ebenso fragt es sich, ob solch
homogene katholische Prägungen auf protestantischer Seite überhaupt eine
Parallele haben, oder ob vielleicht gar keine „protestantische politische
Kultur“ gibt, die im Wechsel säkularer Ideologieströmungen irgendeine
Beharrungstendenz zeigen würde. 3.
Konfessionelle Kulturen in der Schweiz Im Raum der Schweizerischen
Eidgenossenschaft haben seit Beginn der Reformation Entwicklungen eingesetzt,
die der Herausbildung konfessionell geprägter Subkulturen einerseits und
ihrer engen Verflechtung mit der politischen Sphäre andererseits überaus
günstig waren. Im Vergleich zum Protestantismus Luthers hat Huldrych Zwingli
mit seinen reformatorischen Bestrebungen einen viel radikaleren Bruch mit
traditionell-katholischen Glaubens-, Kult- und Lebenspraktiken vollzogen.
Dementsprechend war er auch auf eine enge Kooperation mit den ausführenden
Staatsorganen angewiesen, um ihnen zum Durchbruch zu verhelfen. Dieser
Radikalismus hatte die doppelte Folge, dass eine verschärfte Frontstellung zu
den katholisch gebliebenen Orten entstand, und dass sich diese religiösen
Divergenzen unmittelbar in Konflikte auf politisch-militärischer Ebene
übersetzten. So hat sich die alte Eidgenossenschaft in kürzester Zeit in zwei
klar getrennte konfessionelle Lager aufgespaltet, die in den beiden Kappeler
Kriegen (1529 und 1531) ungefähr gleichgewichtig aufeinander stiessen. Unter
dem Schutz des Zweiten Kappeler Landfriedens (der die Koexistenz beider
Konfessionen festschrieb) hat sich eine klare territoriale Trennung
katholischer und protestantischer Kantonsgebiete vollzogen, die günstige
Bedingungen für eine innere Homogenisierung der konfessionellen Verhältnisse
bot. Auf katholischer Seite hat sich diese
Konsolidierung unter dem Einfluss der vom Tridentinum in Kraft gesetzten
Kirchenreformen vollzogen, die bis ins 17. Jahrhundert hinein eine wachsende
(vom blühenden Kirchenbau der Barockzeit unterstützte) Wirksamkeit erfuhren.
In den protestantischen Gebieten haben mit Unterstützung autoritärer
staatskirchlicher Reglementierungen erfolgreiche endogene Vereinheitlichungen
stattgefunden, die in gemeinsamen reformierten Bekenntnissen ihren Ausdruck fanden
(vgl. Geser/Troxler 1994: 8). [1] So haben sich -
auf der ursprünglichen Basis divergierender theologischer Lehrmeinungen -
zwei voneinander immer schärfer divergierende konfessionelle Kulturen ausgebildet,
die sich als prägend für die Weltanschauung, Mentalität und Lebenspraxis der
betreffenden Bevölkerungsteile erwiesen:
Die kriegerischen konfessionellen
Auseinandersetzungen haben in der Schweiz länger als in allen andern
europäischen Ländern gedauert und erst mit dem Sieg der Protestanten im 2.
Villmergenkrieg (1712) ihr Ende gefunden. Dadurch sind die Katholiken in jene
minoritäre und subordinierte politische Position gedrängt worden, die bis ins
19. Jahrhundert hinein unverändert andauerte und es ihnen dann verwehrt hat,
bei der Konstituierung des Schweizerischen Bundesstaates (1848) eine
bestimmende Rolle zu spielen. Im 18. Jahrhundert haben sich die
konfessionellen Spaltungen zeitweise abgeschwächt, weil quer dazu verlaufende
binnenkonfessionelle Differenzierungen (zwischen Traditionalisten und
fortschrittlichen Aufklärern) an Bedeutung gewannen und ökumenische Ideen
erstmals eine gewisse Verbreitung erfuhren (vgl. Pfister 1984: 42). Im
restaurativen 19. Jahrhundert hingegen haben Spannungen zwischen den
Konfessionen erneut an Virulenz gewonnen und - da konfessionelle Grenzen
weitgehend mit Kantonsgrenzen koinzidierten - im Jahre 1847 zu einem
Territorialkonflikt (Sonderbundskrieg) geführt, der die Entstehung des
Schweizerischen Bundesstaates fast verhindert hätte. In der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts hat sich der Schweizerische Katholizismus dann in
umfassender und vielseitiger Weise organisiert. Die konstitutive
Ausgangsbasis dafür bestand darin, dass die Schweizer Katholiken - ähnlich
wie in Deutschland und Holland .- im neugegründeten Nationalstaat einerseits
eine quantitativ sehr beachtliche - und innerhalb bestimmter Territorien
völlig dominierende - Bevölkerungsminorität darstellten, andererseits aber
sowohl in Staat und Verwaltung wie auch innerhalb der aufstrebenden
industriellen Wirtschaft in einer eher marginalen Position verblieben (vgl.
Martin 1978: 49ff; 168ff.). In dieser Situation haben sie - ganz analog
wie in den beiden andern genannten Staaten - mit einer „defensiven
Kollektivierung“ reagiert, deren Ziel darin bestand, die katholischen Institutionen,
Werte, Normen und Lebenspraktiken gegenüber dem drohenden Übergewicht des
Protestantismus (und dem mit ihm verknüpften Liberalismus und „Modernismus“)
in Schutz zu nehmen und sowohl innerhalb ihrer Stammlande wie auch in der
feindseligen Diaspora möglichst integral zu bewahren:
Die Kirche selbst hat in diesem Prozess die
Rolle einer institutionellen Mobilisationsagentur übernommen mit dem Ziel,
eine breit abgestützte „katholische Volkskultur“ zu schaffen, die auf
assoziativer Ebene (durch freiwillige Vereinigungen) sowie auf kommunitärer
Ebene (z.B. durch intrafamiliäre Frömmigkeitspraktiken) getragen wurde.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist es der
katholischen Kirche mit Unterstützung moderner Pressemedien immer besser
gelungen, die ursprünglich disparaten regionalen Volkskulturen bis in die
ruralsten Räume hinein mit einer standardisierten „katholischen Volkskultur“
zu durchdringen und dabei - zum ersten Mal in ihrer fast 200jährigen
Geschichte - auch sehr niedrige soziale Schichten stabil an sich zu binden
(Altermatt 1989:83.) [2] Korrelativ dazu
haben auch die katholischen Parteiorganisationen ihre Bindungen zur Kirche
einerseits und zu ihren traditionellen Stammwählerschaften gelockert und
sehen sich seither ähnlich wie die anderen Parteien gezwungen, aus eigener
Kraft für die Gewinnung von Anhängern und für die Erarbeitung konsensfähiger
Standpunkte zu sorgen. [3] Parallel dazu hat auch
auf den informell-kommunitären Ebenen religiöser Tradierung und Sozialisation
ein Erosionsprozess eingesetzt, der es fraglich erscheinen lässt, ob
konfessionelle Prägemuster - sowohl auf dogmatischer wie auf
lebenspraktischer Ebene - selbst bei eifrigen Kirchgänger noch Relevanz
besitzen:
Umso erstaunlicher ist deshalb der
empirisch gut gesicherte Befund, dass gerade in der politischen Sphäre
zumindest auf der Ebene traditioneller Habitualisierungen (noch) zahlreiche
konfessionelle Kultur- und Verhaltensprägungen vorzufinden sind. So erscheint
die Schweiz im der vergleichenden Studie von Arend Lijphart als ein Land, in
der das Wahlverhalten der Bevölkerung noch besonders starken konfessionellen
Bindungen (mehr als beispielsweise in Belgien oder Kanada) unterliegt (vgl.
Lijphart 1979). Henry Kerr sieht die Ursache dieses selben Befundes darin,
dass die relativ geringe Bedeutung sozialer Klassenkonflikte (die sich schon
seit jeher in einer geringen Ausprägung des „class voting“ niederschlug) das
Ueberleben kulturell bedingter „Cleavages“ erleichtert habe (Kerr
1987:150ff.). Bezeichnenderweise ist es der Konservativ-katholischen
Volkspartei bis heute nicht gelungen, mehr als 10% ihrer Anhängerschaft aus
protestantischen Bevölkerungssegmenten zu rekrutieren, obwohl sie sich in
ihrer Reform von 1971 (die mit ihrer Umbenennung zur
„Christlichdemokratischen Volkspartei“ einherging) explizit zum Ziel gesetzt
hat, ähnlich wie die deutsche CDU zu einer Sammelpartei aller „Christen“ zu
werden. Noch erstaunlicher ist der Befund, dass Schweizerische Volkspartei
umgekehrt ca. 80% protestantische Anhänger besitzt, obwohl sie überhaupt
keine expliziten religiösen und konfessionellen Positionen artikuliert. In seiner neueren Untersuchung über die
religiöse Determination des Wahl- und Abstimmungsverhaltens gelangt Peter
Voll zum Ergebnis, dass konfessionsspezifische Parteiloyalitäten in der
jüngeren Generation zwar schwächer geworden, aber zumindest bei den aktiven
Kirchgängern immer noch deutlich spürbar sind. (vgl. Voll 1991). Da die
Korrelationen bei den Nicht-Kirchgängern sehr viel geringer sind, folgt
daraus, dass Parteiloyalitäten als Korrelate einer bewussten katholischen
Religionspraxis verstanden werden müssen, und nicht etwa - wie bei Schmitts
Befunden in Deutschland (vgl. Schmitt 1984) - um traditionelle
Habitualisierungen, die auch noch beim Verschwinden subjektiver
Kirchenbindung persistieren. Für die „Traditionshypothese“ spricht umgekehrt
allerdings, dass sich nur die religiös passiven, nicht aber die
praktizierenden Katholiken und Protestanten in ihrer Zustimmungsrate zur
Initiativabstimmung „Recht auf Leben“ (1977) unterschieden haben, und dass
deutliche konfessionelle Unterschiede ausgerechnet bei einer
finanzpolitischen Vorlage (über die Beteiligung der Kantone an der
Stempelsteuer) sichtbar werden, bei der keinerlei Verknüpfungen mit
religiösen Denk- und Glaubensweisen erkennbar sind (Voll 1991). So sieht sich
Voll zur - für ihn selbst überraschenden - Schlussfolgerung gezwungen,
„dass grundlegende politische Orientierungen (konfessioneller Natur d. V.) so
langlebig sind, dass sie ihre strukturellen Voraussetzungen überleben“ (Voll
1991: 404). 4.
Fragestellung, Methodik und Datenbasis der Untersuchung 4.1
Fragestellung Seit den 80er-Jahren werden am
Soziologischen Institut der Universität langfristige komparative Forschungen über
die Entwicklung der kommunalen Politik und Verwaltung durchgeführt, die sich
auf die Gesamtheit der Schweizer Gemeinden (bzw. Lokalparteien) in allen drei
Sprachregionen erstrecken. Im Rahmen der empirischen Analysen hat sich
überraschenderweise wiederholt gezeigt, dass von der konfessionellen
Zusammensetzung der Bevölkerung vielfältige Wirkungen ausgehen, die die
Determinationskraft struktureller (z. B. schichtmässiger) variablen oft sogar
übertreffen. In Übereinstimmung mit den obigen
Argumentationen lässt sich zum Beispiel feststellen, dass in katholischen
Milieus eine eher „kommunalistische“ politische Kultur vorherrscht, die in
einer geringeren Linksrechtspolarisierung sowie in einer generell höheren
Akzeptanz sozial-gemeinschaftsbezogener politischer Einstellungen Ausdruck
findet. (Geser 1997). Entgegen der Säkularisierungsthese hat sich überdies
gezeigt, dass solch konfessionelle Divergenzen in ökonomisch moderneren
Kontexten ebenso deutlich wie in traditionell-ländlichen Gebieten
hervortreten (Geser 1997), und dass sie im Zeitablauf nur einer geringfügigen
Abschwächung unterliegen (Geser 2004b). In einer weiteren unveröffentlichten
Arbeit, die 1994 am Deutschen Soziologenkongress in Bielefeld vorgestellt
wurde, konnte gezeigt werden, dass in katholischen Gemeinden eine stärker
formalisierte und organisierte Struktur der Kommunalpolitik vorherrscht, die
sich in einer stärkeren politischen Aktivität von Parteien und Vereinen
(anstatt Einzelpersonen) und in einem stärkeren Machtgefälle zwischen Führungsgremien
und Bevölkerungsbasis manifestiert (Geser/Troxler 1994). In
enger Anknüpfung an diese zweite Arbeit soll im Folgenden untersucht werden,
inwiefern konfessionelle Faktoren auch heute noch die Ausgestaltung und der
Stellung des lokalen Parteiensystems in der Gemeinde bestimmen. Im Einzelnen
wird vermutet, dass im katholischen Milieu zumindest noch Residuen jener
inklusiven „Subgesellschaft“ vorzufinden sind, die im 20. Jahrhundert mit der
Kultivierung einer kommunalistischen Solidaritätskultur und einem umfassenden
Einbezug aller Bevölkerungssegmente in formalisierte freiwillige
Vereinigungen einhergegangen ist. Solche Residuen müssten sich darin zeigen,
dass in katholischen Gemeinden formalisierte lokale Parteien häufiger
vorkommen, über eine breitere Mitgliederbasis verfügen, eine stärkere
Aktivität entfalten und in der Kommunalpolitik eine bedeutsame Rolle spielen
als in protestantischen Bereichen, wo eine individualistische Kultur
politische Kollektivierungsprozesse behindert. 4.2 Methodik und Datenbasis Die nachfolgenden empirischen Ergebnisse
beruhen einerseits auf bundesweiten Zensusdaten aus den Jahren 1990 und 2000,
die sich auf die Grösse, Sozialstruktur und Konfessionalität der
Gemeindebevölkerungen beziehen; und andererseits auf vier landesweite
schriftliche Umfragen, die im Zeitraum zwischen 1989 und 2004 durchgeführt
worden sind. Zwei dieser Surveys (1989 und 2004) haben
sich an die zentralen Chefbeamten („Gemeindeschreiber“) aller ca. 3000
Schweizer Gemeinden gerichtet und hatten den Zweck, Basisinformationen über
die politisch-administrative Gemeindeorganisation, das lokale Parteiensystem
sowie kommunalpolitische Aktivitäten und Einflussverhältnisse verschiedener
Akteure zu gewinnen. In der ersten Befragung haben sich 81.6%, in der zweiten
immerhin noch ca. 70% aller angefragten Gemeinden mitbeteiligt. Des
Weiteren wurden im Herbst 1989 und im Herbst 2002 zwei schriftliche Umfragen durchgeführt,
in die alle (ca. 6000) lokalen Parteisektionen in den Gemeinden der Schweiz
einbezogen worden sind. Als Informanten wurden die Präsidenten dieser
Gruppierungen aufgefordert, über die Mitglieder, die Binnenorganisation, die
externen Aktivitäten sowie über die ideologischen und sachpolitischen
Positionen ihrer Partei in standardisierter Weise Auskunft zu geben. In der
ersten Parteienumfrage (1989) sind 2594 auswertbare Fragebogen zurückgesandt
worden, in der zweiten Befragung 2545. In beiden Fällen hat sich also knapp
die Hälfte aller angefragten Gruppierungen an der Umfrage beteiligt. Aufgrund
verschiedener multidimensionaler Tests wurde ermittelt, dass die erhaltenen
Stichproben hinsichtlich der meisten relevanten Variablen (Parteizugehörigkeit,
Landesteil, Gemeindegrösse u. a.) der Zusammensetzung des Universums
entspricht - so dass einer Extrapolation der Ergebnisse auf das gesamte
Schweizerische Lokalparteiensystem keine Hindernisse entgegenstehen. Sowohl
bei den Gemeinde- wie bei den Parteienbefragungen wurden zu beiden
Erhebungszeitpunkten praktisch identische Befragungsinstrumente gewählt, so
dass die Möglichkeit entsteht, Wandlungsprozesse seit Ende der 80er-Jahre
präzis zu identifizieren. Im vorliegenden Fall geht es vor allem um die Überprüfung
der „Säkularisierungsthese“, gemäss der es sich bei allfälligen
konfessionellen Divergenzen um historische Residuen handelt, die im Zuge
rückläufiger religiöser Identifikationen und Alltagspraktiken einer
kontinuierlichen Abschwächung unterliegen. 4.3 Die unabhängigen Variablen Durch Einbezug der gemeindespezifischen
Zensusdaten aus den nationalen Volkszählungen von 1990 und 2000 wurden die
demographische und sozio-ökonomische Struktur des kommunalen Umfeldes sowie
die konfessionelle Zusammensetzung der lokalen Bevölkerung bestimmt. Die konfessionelle
Kultur der Gemeinde wurde operationalisiert durch die Prozentanteile der
gesamten Bevölkerung, die entweder der römisch-katholischen oder der
(offiziellen) protestantischen Kirche angehören. Nicht erfasst wurde dadurch
das Residuum von Konfessionslosen sowie von Angehörigen anderer religiöser
Gemeinschaften, das sich im Untersuchungszeitraum immerhin von ca. 14% auf
ca. 25% erhöhte. [4] Aus der
Häufigkeitsverteilung der Lokalparteien wird ersichtlich, dass 1989 je ca.
30% von ihnen in überwiegend katholischen und dominant protestantischen
Gemeinden beheimatet waren, die restlichen 40% in Gemeinden mit konfessionell
gemischter Bevölkerung. Zum zweiten Erhebungszeitpunkt hat sich das
Schwergewicht erstaunlicherweise eindeutig auf die homogen katholischen
Gemeinden (38.3) verschoben, während nur noch gut 20% der Gruppierungen ein
überwiegend protestantisches Umfeld besitzen.
Darin widerspiegelt sich wahrscheinlich die - bereits seit langem
feststellbare - Regularität, dass traditionell protestantische Regionen (z.
B. Genf, Basel, Zürich, Bern) aufgrund ihrer überdurchschnittlichen
Wirtschaftskraft in hoher Zahl Immigranten aus katholischen Gegenden
anziehen, während Protestanten seltener Grund finden, in katholische
Landesteile zu ziehen. Im konstanten Anteil konfessionell gemischter
Gemeinden (39.7 bzw. 38.6%) reflektiert sich noch deutlicher als erwartet die
oben erwähnte Tatsache, dass die generell schwache Binnenmigration in der
Schweiz auch in den letzten Jahren offensichtlich vielerorts dazu beigetragen
hat, die traditionelle konfessionelle Homogenität der Schweizer Regionen und
Gemeinden zu konservieren. Tabelle 1: Häufigkeitsverteilung der katholischen
und protestantischen Gemeinden 1989 und 2002
Wer unmodern genug ist, um die religiöse
Konfession als Kausalvariable ins Zentrum zu stellen, muss sich natürlich
immer die Kritik gefallen lassen, dass es sich bei allfällig gefundenen Kovarianzen
bloss um Scheinkorrelationen handle, hinter denen sich „in Wirklichkeit“ ganz
andere Determinanten verbergen. Im Falle der Schweiz ist diese Gefahr von
Artefakten deshalb relativ gering, weil die konfessionelle Spaltung zu jenen
"cross cleavages" gehört, die nur relativ geringfügig mit andern
dominanten Spaltungslinien (z. B. nach Sprachregion, Schichtlage usw.)
korrelieren. Dennoch müssen mindestens drei Faktoren
näher ins Auge gefasst haben, die einerseits als alternative Determinanten
unserer abhängigen Variablen in frage kommen und andererseits mit der
Konfessionalität der Bevölkerung wenigstens moderat interkorrelieren:
Tabelle 2: Sprachregionale Verteilung,
Bevölkerungsgrösse und Bildungs-Niveau katholischer und protestantischer
Gemeinden (Werte aus 2000)
* über den
Abschluss einer Berufslehre hinaus So erscheint es sinnvoll, in jedem Fall
mittels multivariater Testverfahren zu überprüfen, ob der statistische
Erklärungsbeitrag des Konfessionsfaktors bei Kontrolle dieser drei
alternativen Prädiktoren erhalten bleibt, abgeschwächt wird oder vollständig
verschwindet. Angesichts der drastischen Besonderheiten
der konfessionell gemischten Gemeinden erscheint es sinnvoll, die komparative
Analyse auf eine Kontrastierung dominant protestantischer und dominant
katholischer Gemeinden zu beschränken - mit dem Nachteil allerdings, dass die
Ergebnisse nur für kleinere Gemeinden (in denen konfessionell homogene
Verhältnis bestehen) Geltung haben. 5.
Empirische Ergebnisse 5.1 Zahl
lokaler Parteien In einem ersten Analyseschritt soll geprüft
werden, inwiefern sich Gemeinden mit katholischer und protestantischer Bevölkerung
bezüglich der Ausdifferenzierung ihres intrakommunalen Parteiensystems
voneinander unterscheiden. Als „Parteien“ gelten dabei alle dauerhaften und
formal organisierten Gruppierungen, die als „Sektionen“ einer Kantons-
und/oder Bundespartei angehören, oder die sich (wie z. B. Ortsvereine oder
„freie Wähler“) als rein lokale Vereinigungen eigene Kandidaten für kommunale
Ämter nominieren. Wie aus der multivariaten
Regressionsanalyse der Tabelle 3b hervorgeht, trägt der Anteil der Katholiken
sowohl 1989 wie 2002 stark positiv zur Zahl der Ortsparteien bei, Während der
Einfluss der Gemeindegrösse erheblich zugenommen hat und die Bedeutung des
Bildungsniveaus fast insignifikant geworden ist, hat sich diese vom
religiösen Milieu ausgehende Kausalwirkung ungefähr auf demselben Niveau
gehalten. Erwartungsgemäss wirkt sich der konfessionelle Faktor am stärksten
auf die Kleinstgemeinden (mit weniger als 500 Einwohnern) aus, wo im homogen
katholischen Raum die Wahrscheinlichkeit fast dreimal so hoch ist, dass
überhaupt irgendeine Lokalpartei (natürlich meist die CVP) besteht. Analog
dazu weisen katholische Kommunen mit 500 bis 1000 Einwohnern durchschnittlich
zwei Parteien auf, während in protestantischen Gemeinden gleicher Grösse
meist nur eine Gruppierung besteht. Oberhalb dieser Grössenschwelle werden
die Unterschiede undeutlicher, und kehren sich zum Teil (vor allem 1989)
sogar ins Gegenteil um. (Tab. 3a) Diese Ergebnisse bestätigen die Vermutung,
dass in katholischen Milieus selbst in sehr kleinformatigen Verhältnissen
eine relativ hohe Neigung zur Bildung formalisierter politischer
Gruppierungen besteht. Mit wachsender Grösse werden konfessionelle Einflüsse
zurückgedrängt, weil die überlokalen Parteien hier ein flächendeckendes Netz
von Sektionen unterhalten und weil es aus endogenen Sachzwängen unmöglich
wird, eine auf rein informelle Gruppierungen abgestützte Lokalpolitik zu
betreiben. Tabelle 3a: Durchschnittliche Zahl
organisierter Lokalparteien in den Gemeinden: nach Anteil der Katholiken an
der Gesamtbevölkerung und Gemeindegrösse (1989 und 2002)
Tabelle 3b: Determinanten der Zahl
kommunaler Lokalparteien 1989 und 2002 (Multivariate Regressionen; standardisierte
BETA-Koeffizienten)
* p <
.05 ** p <
.01 *** p < .001 5.2 Aktive Mitgliederschaft Aus einer höheren Zahl von Lokalparteien kann
man nicht zweifelsfrei auf einen höheren Umfang der parteipolitisch aktiven
Bevölkerung schliessen: denn es könnte sein, dass sich dieselbe Zahl an
Aktiven einfach auf eine grössere Zahl verschiedener Gruppierungen verteilt. Tatsächlich
geht aber aus den Tabellen 4a und 4b hervor, dass die Parteien dominant
katholischer Gemeinden im Durchschnitt keineswegs auf eine schmalere, sondern
im Gegenteil auf eine breitere Basis regelmässig aktiven Anhängern
zurückgreifen können: d. h. auf Mitglieder, die zuverlässig an Versammlungen
teilnehmen und für ein Amt oder irgendeine andere Form der Mitarbeit zur
Verfügung stehen. Während dieser konfessionelle Einfluss 1989
demjenigen der Bevölkerungsgrösse (!) gleichgekommen ist, hat er sich 2002
erheblich abgeschwächt, ohne allerdings seine hohe statistische Signifikanz
zu verlieren. Tabelle 4a: Durchschnittliche Zahl aktiver
Mitglieder in den Lokalparteien: nach Anteil der Katholiken an der
Gesamtbevölkerung und Gemeindegrösse (1989 und 2002)
Tabelle 4b: Determinanten der Zahl aktiver
Parteimitglieder 1989 und 2002 (Multivariate Regressionen; standardisierte
BETA-Koeffizienten)
* p
< .05 ** p
< .01 *** p <
.001 Beim Vergleich verschiedener Grössenklassen
(Tab. 4a) wird überraschenderweise deutlich, dass dieser konfessionelle Einfluss
auf die politische Mobilisierung der Bevölkerung keineswegs bei den kleinen,
sondern bei den mittelgrossen Gemeinden am deutlichsten hervortritt und
selbst bei grösseren keineswegs verschwindet. Der
Hauptgrund dafür liegt darin, dass in den protestantischen Gemeinden die
Aktivenzahl neuerdings praktisch unabhängig von der Bevölkerungsgrösse auf
einem sehr niedrigen Niveau stagniert - was dazu geführt hat, dass die
Parteien katholischer Städte heute auf mehr als doppelt so viele Aktivisten
zurückgreifen können. Mit andern Worten: nur katholischen
Gemeinden scheint es zu gelingen, die Grösse ihrer Parteien ungefähr
proportional zur Gemeindegrösse anwachsen zu lassen, während sich im
protestantischen Milieu die Frage stellt, ob städtische Bevölkerungen
politisch besonders passiv sind, oder ob sie sich eher ausserhalb des
konventionellen Parteiensystems (z. B. in monothematischen Bürger- und
Bewegungsgruppen) kommunalpolitisch engagieren. Andererseits
ist evident, dass auch die katholischen Regionen vom generellen
Erosionsprozess der Parteianhängerschaften erfasst worden sind, der in den
letzten 15 Jahren für Gemeinden aller Grössenklassen und alle politischen
Parteien in allen drei Sprachregionen kennzeichnend war (vgl. Ladner / Meuli
2005; Geser 2003). Wenn man von den Städten absieht, hat sich dieser Abbau in
katholischen Gegenden sogar stärker als in protestantischen Milieus vollzogen
- mit der Folge, dass sich beispielsweise die Parteien kleinster Gemeinden
(mit weniger als 1000 Einwohnern) kaum mehr voneinander unterscheiden.
Immerhin ist auch hier die Gesamtzahl aktiver Bürger(innen) höher, weil im
durchschnitt zahlreichere Parteigruppierungen bestehen. 5.3 Die Inklusion der Jungen Der Rückgang kommunaler Parteianhängerschaften
ist momentan vor allem durch den drastisch verringerten Zufluss junger
Nachwuchsmitglieder bedingt (Geser 2003). Es
stellt sich die Frage, ob katholische und protestantische Gemeinden in
gleichem Masse von dieser Abwendung jüngerer Alterskohorten betroffen sind,
oder ob noch Überreste jener in den 50er und 60er Jahren des letzten
Jahrhunderts blühenden katholischen „Subgesellschaft" (Altermatt) zu
spüren sind, in denen ein sehr inklusives System von Vereinen aufgebaut wurde
mit dem Zweck, selbst Kinder und Jugendliche in formale Rollenstrukturen und
öffentlichkeitsbezogene Tätigkeiten einzubinden. Tatsächlich
zeigt es sich, dass Lokalparteien im katholischen Milieu nach wie vor besser
als in protestantischen Regionen in der Lage sind, die jüngere Generation für
den Beitritt und die aktive Mitarbeit zu mobilisieren. Allerdings hat sich
dieser Kausaleinfluss im Untersuchungsintervall zwischen 1989 und 2002 stark
verringert - was darauf hindeuten könnte, dass die noch aus der Periode der Subgesellschaft
stammenden Mentalitätsstrukturen und Verhaltensdispositionen heute langsam
erodieren. Völlig unerkennbar sind solche Einflüsse in den Städten, wo heute
umgekehrt das protestantische Milieu offensichtlich etwas günstigere
Bedingungen für die politische Inklusion nachwachsender Altersgruppen bietet.
(Tab. 5a/5b). Tabelle 5a: Durchschnittlicher
Prozentanteil junger aktiver Mitglieder (unter 30) in den Lokalparteien: nach
Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung und Gemeindegrösse (1989 und
2002)
Tabelle 5b: Determinanten des Prozentanteils
junger aktiver Mitglieder in den Lokalparteien 1989 und 2002 (Multivariate
Regressionen; standardisierte BETA-Koeffizienten)
*
p < .05 ** p
< .01 *** p <
.001
Seit der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts haben im katholischen Kolpingvereine, Frauenvereine und
gewerkschaftliche Gruppierungen dazu beigetragen, auch relativ niedrige
soziale Schichten ins kommunale Gemeinschaftsleben zu integrieren. Im Gefolge
der päpstlichen Enzyklika „Rerum Novarum“ (1881) hat die Kirche vielfältige
Bestrebungen unterstützt, vor allem auch die Arbeiterschaft in katholisch
fundierte Verbandsstrukturen einzubinden, und innerhalb der katholischen
Parteien wurden christlichsoziale Flügel oder gar Unterparteien gegründet, um
den Interessen der Arbeitnehmerschichten Rechnung zu tragen. So
stellt sich die Frage, ob die breiteren aktiven Anhängerschaften katholischer
Ortsparteien vielleicht auch heute noch darauf zurückzuführen sind, dass es
besser als in protestantischen Regionen gelingt, diese niedrigeren
Sozialschichten anzusprechen und erfolgreich zu mobilisieren. Aus Tabelle 6b geht hervor, dass zwar
erwartungsgemäss die Schichtlage der örtlichen Bevölkerung über die
Klassenzusammensetzung der Parteiaktiven entscheidet, dass unabhängig davon
aber auch der Katholikenanteil dazu einen statistisch signifikanten Beitrag
leistet. Sowohl 1989 wie 2002 ist der Anteil von
Arbeitern und unteren Angestellten vor allem den Parteien kleiner und
mittelgrosser Gemeinden erheblich höher, wenn sich über 75% der Einwohner zur
römisch-katholischen Konfession bekennen - und selbst in den Städten ist ein
in dieselbe Richtung weisender Unterschied spürbar, der sich im Zeitraum zwischen
beiden Erhebungen sogar noch etwas verstärkt (Tab. 6a). Tabelle 6a: Durchschnittlicher
Prozentanteil von Arbeitern und unteren Angestellten unter den aktiven
Mitgliedern der Lokalparteien: nach Anteil der Katholiken an der
Gesamtbevölkerung und Gemeindegrösse (1989 und 2002)
Tabelle 6b: Determinanten des Prozentanteils
von Arbeitern und unteren Angestellten unter den aktiven Mitgliedern der
Lokalparteien 1989 und 2002 (Multivariate Regressionen; standardisierte
BETA-Koeffizienten)
* p <
.05 ** p <
.01 *** p < .001 5.5 Sitzungs- und Versammlungsaktivitäten Angesichts der höheren Zahl engagierter
Mitglieder liegt es nahe, dass die Lokalparteien katholischer Gemeinden nach
innen und aussen eine intensivere Tätigkeit aufrechterhalten und beispielsweise
auch eine regere Sitzungs- und Versammlungsaktivität aufrechterhalten. Diese
Vermutung bestätigt sich teilweise, wenn man den Blick auf die Aktivitäten an
der Führungsspitze richtet, die sich in der Häufigkeit von Vorstandssitzungen
manifestieren. Zumindest bei den mittelgrossen Gemeinden (zwischen 1000 und
5000 Einw.) werden im katholischen Raum pro Jahr durchschnittlich ein bis
zwei Sitzungen mehr als in protestantischen Gegenden abgehalten - wobei die
Divergenzen im Untersuchungsintervall sogar etwas zugenommen haben (Tab. 7a). Tabelle 7a: Durchschnittliche Zahl
jährlicher Vorstandssitzungen der Lokalparteien: nach Anteil der Katholiken
an der Gesamtbevölkerung und Gemeindegrösse (1989 und 2004)
Tabelle 7b: Determinanten der durchschnittlichen
Zahl jährlicher Vorstandssitzungen der Lokalparteien 1989 und 2002
(Multivariate Regressionen; standardisierte BETA-Koeffizienten)
*
p < .05 ** p
< .01 *** p <
.001 Dies ist darauf zurückzuführen, dass die
generelle Reduktion der Sitzungstätigkeit, die bei Lokalparteien festgestellt
werden kann (vgl. Geser 2004a), im protestantischen Bereich besonders
drastische Ausmasse angenommen hat. In der multivariaten Regressionsanalyse
bleibt allerdings nur für das Jahr 2002 ein bescheidener Erklärungsbeitrag
der Konfession erhalten, wenn man Grösse, Bildungsniveau und Sprachregion
statistisch kontrolliert (Tab. 7b). Völlig gegensätzlich stellt sich die
Situation auf der Ebene allgemeinen Parteiversammlungen dar, die in
protestantischen Gemeinden aller Grössenklassen erheblich häufiger einberufen
werden (Tab. 8a). Wenn man von den kleinsten Gemeinden absieht, haben sich
diese konfessionellen Divergenzen im Untersuchungsintervall uebe¬rall etwas
verringert was auch im geringeren BETA-Koeffizienten der multiva¬riaten
Regressionsgleichung zum Ausdruck kommt (Tab. 8b). Tabelle 8a: Durchschnittliche Zahl jährlicher
Parteiversammlungen der Lokalparteien: nach Anteil der Katholiken an der
Gesamtbevölkerung und Gemeindegrösse (1989 und 2002)
Tabelle 8b: Determinanten der
durchschnittlichen Zahl jährlicher Parteiversammlungen 1989 und 2002
(Multivariate Regressionen; standardisierte BETA-Koeffizienten)
*
p < .05 ** p
< .01 *** p <
.001 Man kann also den Schluss ziehen, dass sich
der Schwerpunkt parteiinterner Kommunikation und Interaktion in
protestantischen Parteien eher auf der Ebene der Mitgliederversammlung, bei
katholischen Gruppierungen hingegen eher auf der Ebene der Führungsgremien
befindet. Dies entspricht der generelleren Hypothese,
dass in den individualistisch geprägten protestantischen Milieus eher
direktdemokratische Strukturen vorherrschen, während das kommunalistische
katholische Umfeld eher „oligarchische“ Strukturen begünstigt (die teilweise
vielleicht auch den autokratischen Strukturen der Kirche nachempfunden sind). 5.6 Kollektives Exekutivgremium
(Geschäftsleitung) Die stärkere Betonung der Führungsebene wird
auch darin sichtbar, dass Parteien katholischer Gemeinden signifikant
häufiger ein kollektives Exekutivorgan (Geschäftsleitung) ausgebildet haben,
während sie sich im protestantischen Milieu fast durchwegs mit einer
Einzelperson (Parteipräsident) begnügen (Tab. 9a). Sicher ist dies nur zum
Teil durch die höhere Nachfrage nach Führungsleistungen bedingt, wie sie sich
aus der stärkeren Aktivität und Einflussposition der Ortspartei in der
Kommunalpolitik (vgl. 4.8) ergibt. Vielmehr wird auch das höhere Angebot an
amtsbereiten Mitgliedern massgebend sein, das sich aus der breiteren Basis
der aktiven Anhängerschaften ergibt. Diese angebotsseitigen Faktoren sind wohl
auch der Hauptgrund, warum im Zuge erodierender Mitgliederbestände viele
Parteien ihr Geschäftsleitungsgremium zwischen 1989 und 2002 beseitigt haben.
Da sich diese Entwicklung aber in beiden konfessionellen Milieus in ungefähr
gleichem Umfang vollzogen hat, haben sich die Divergenzen nur unwesentlich
vermindert. Nur in den katholischen Städten hat entgegen der allgemeinen
Tendenz ein Ausbau der Führungsorganisation stattgefunden - ein Trend, der
aufgrund der geringen Fallzahl aber die Signifikanzschwelle nicht
überschreitet. In der multivariaten Analyse wird
allerdings deutlich, dass der eigenständige Erklärungsbeitrag der Konfession
1989 stark abgeschwächt wird (und 2002 sogar insignifikant wird), wenn man
die übrigen Kontextvariablen kontrolliert. (Tab. 9b). Tabelle 9a: Prozentsatz der Lokalparteien
mit einem Geschäftsleitungsgremium: nach Anteil der Katholiken an der
Gesamtbevölkerung und Gemeindegrösse (1989 und 2002)
Verantwortlich dafür ist vor allem die
Tatsache, dass die protestantischen Gemeinden relativ häufiger dem deutschen
Sprachraum angehören, wo die direktdemokratischen Traditionen stärker als in
der Romandie und im Tessin bewirken, dass die Führungsstrukturen nur minimal
ausgebildet werden. Tabelle 9b: Determinanten der Existenz
eines Geschäftsleitungsgremium 1989 und 2002 (Multivariate logistische
Regressionen).
5.7 Eigenes Parteiprogramm Bei den Ortsparteien handelt es sich meist
um unselbständige Sektionen kantonaler Parteien, die an das Parteiprogramm ihrer
überlokalen Mutterorganisation gebunden sind. Als Akteure in der
Kommunalpolitik verfügen sie andererseits aber dennoch über einen
selbständigen Handlungsspielraum, der häufig auch in einem eigenen, auf die
Belange ihres Gemeindekontexts ausgerichteten Parteiprogramms Ausdruck
findet. Die Existenz eines solchen Programms verweist auf die doppelte
Fähigkeit einer Partei, eine intellektuell-konzeptuelle Leistung zu erbringen
und ihr politisches Handeln konsistent an selbst definierte Zielsetzungen und
Richtlinien zu binden. Es kann vermutet werden, dass Parteien im
katholischen Milieu häufiger eigene Parteiprogramme formulieren, weil im
Vergleich zur individualistischen Kultur des Protestantismus höhere Konsenschancen
dafür bestehen, und weil die Kirche mit ihren Soziallehren günstige
Rahmenbedingungen dafür bietet. Wie die Ergebnisse zeigen, trifft diese
Hypothese nur teilweise zu. Zumindest 1989 sind die konfessionellen
Unterschiede in den Gemeinden fast aller Grössenklassen deutlich und
statistisch signifikant, während 2002 nur noch in Kleingemeinden zwischen 500
und 2000 Einwohnern klare Divergenzen konstatierbar sind, (Tab. 10a). In
Übereinstimmung damit wird der Erklärungsbeitrag des konfessionellen Faktors
2002 insignifikant, während sich umgekehrt die vom Bildungsniveau der
Bevölkerung ausgehende Kausalwirkung verstärkt (Tab. 10b). Die
Ursache dieser wachsenden Konvergenz liegt eindeutig in den grösseren
Gemeinden, wo Parteiprogramme im protestantischen Raum an Verbreitung
gewonnen haben, während sie in katholischen Regionen umgekehrt etwas weniger
häufig geworden sind (Tab. 10a). Tabelle 10a: Prozentsatz der Lokalparteien
mit einem eigenen Parteiprogramm: nach Anteil der Katholiken an der
Gesamtbevölkerung und Gemeindegrösse (1989 und 2002)
Tabelle 10b: Prozentsatz der Lokalparteien mit
einem eigenen Parteiprogramm 1989 und 2002 (Multivariate logistische
Regressionen)
5.8 Kommunalpolitischer Einfluss Zum Abschluss dieser Analyse stellt sich
die Frage, ob katholische Ortsparteien aufgrund ihrer grösseren
Anhängerschaft, ihres höheren Aktivitätsniveau und ihrer differenzierteren Organisationsstruktur
auch ein stärkeres Gewicht innerhalb der Kommunalpolitik besitzen. In
formeller Hinsicht bemisst sich die Bedeutung politischer Parteien vor allem
im Ausmass, in dem sie Besetzung der politischen Ämter kontrollieren. Anders
als auf Kantons- und Bundesebene ist es auf kommunalem Niveau keineswegs
selbstverständlich, dass diese Führungspositionen durch Parteirepräsentanten
besetzt sind, weil - vor allem in Kleingemeinden - oft keine Lokalsektionen
bestehen, oder weil die Personalknappheit dazu zwingt, Kandidaten ausserhalb
der Parteianhängerschaften zu rekrutieren. Logischerweise
ist damit zu rechnen, dass in kleinen katholischen Gemeinden weniger
Exekutivsitze mit Parteilosen besetzt sind, weil die Lokalparteien dank ihrer
breiteren Präsenz und grösseren Anhängerbasis häufiger in der Lage sind, sie
mit eigenen Mitgliedern zu besetzen. Tatsächlich sind die konfessionell
bedingten Unterschiede in kleineren Kommunen (bis 2000 Einwohnern) zu beiden
Untersuchungszeitpunkten sehr ausgeprägt und statistisch signifikant - nicht
aber in den grösseren Gemeinden, wo die Rekrutierung durchwegs einer fast
vollständigen Parteienkontrolle unterliegt (Tab. 11a). Die
multivariate Regressionsanalyse bestätigt den Eindruck, dass von der
konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung ein - von der Gemeindegrösse
und der Sprachregion unabhängiger - starker Kausaleinfluss ausgeht, der
innerhalb des Untersuchungsintervalls keineswegs an Stärke verlor (Tab. 11b).
Tabelle 11a: Durchschnittlicher
Prozentanteil Parteiloser in der Gemeindeexekutive: nach Anteil der
Katholiken an der Gesamtbevölkerung und Gemeindegrösse (1989 und 2002)
Tabelle 11b: Durchschnittlicher
Prozentanteil Parteiloser in der Gemeindeexekutive 1989 und 2002
(Multivariate Regressionen; standardisierte BETA-Koeffizienten)
* p <
.05 ** p <
.01 *** p < .001 Ein zweiter Indikator ergibt sich aus der
Beurteilung der Gemeindeschreiber, die sowohl 1989 wie 2002 aufgefordert
worden sind, den kommunalpolitischen Einfluss der Ortsparteien auf die
Gemeindepolitik auf einer Skala von 1 bis 7 zu quantifizieren. Erwartungsgemäss
zeigt sich zumindest in kleineren Gemeinden, dass die Kommunalpolitik in
katholischen Gegenden stärker durch die Lokalparteien dominiert wird - eine
Regularität, die sich 2002 allerdings etwas abgeschwächt hat (Tab. 10b) und
neuerdings nur noch für Kleinstgemeinden (bis zu 1000 Ew.) gilt (Figur 1). Auffällig
ist, wie dramatisch der Parteieneinfluss im katholischen Milieu im
Untersuchungszeitraum abgenommen hat, während er in protestantischen
Gemeinden - trotz des oben konstatierten Rückgangs der Mitgliederbasis und
Parteiaktivitäten - auf fast demselben Niveau verblieb.
Tabelle 12: Durchschnittlicher Einfluss der
Lokalparteien auf die Kommunalpolitik 1989 und 2002 (Multivariate
Regressionen; standardisierte BETA-Koeffizienten)
* p <
.05 ** p <
.01 *** p < .001 6.
Schlussfolgerungen Angesichts der Rückläufigkeit religiöser
Glaubensweisen und Lebenspraktiken, des schwindenden Einflusses der Kirchen
und des völligen Fehlens manifester konfessioneller Konflikte erscheint es
hoffnungslos unzeitgemäss, die Konfession ins Zentrum einer soziologischen
oder politologischen Analyse zu setzen. So tiefgreifend die durch die Reformation
erzeugten religiösen Spaltungen die Geschichte der Schweiz geprägt haben,
noch im 20. Jahrhundert in einer vitalen „katholischen Subgesellschaft“
Ausdruck gefunden haben und bis heute noch zum Teil unsere Parteienlandschaft
(CVP vs. EVP) bestimmen, so wenig scheint heute die Annahme plausibel, dass
konfessionelle Divergenzen die politischen Kulturen, Organisationsformen und
Prozesse in der Schweiz nach wie vor wesentlich determinieren. Allerhöchstens
könnte man sich auf traditionsresistente ländliche Regionen beschränkte
Überreste konfessioneller Kulturen vorstellen, die aber auch dort im Zuge
fortschreitender Säkularisierung erodieren. Die vorliegenden Ergebnisse legen aber den
Schluss nahe, dass es zumindest auf der kommunalpolitischen Ebene noch
signifikante konfessionelle Divergenzen gibt, die mit der Basishypothese,
dass im katholischen Milieu eine eher „kommunalistische“ und im
protestantischen Bereich eine eher „individualistische“ politische Kultur
vorherrsche, in Übereinstimmung stehen. So lässt sich zeigen, dass Gemeinden mit
überwiegend katholischer Bevölkerung zahlreichere und mitgliederstärkere Lokalparteien
besitzen, die in breiterem Umfang auch jüngere Alterskohorten und Angehörige
niedrigerer Sozialschichten integrieren, auf der Führungsebene eine höhere
Aktivität und eine komplexere Organisation ausbilden und in der
Gemeindepolitik eine stärkeren Einfluss (vor allem auch auf die Besetzung
kommunaler Exekutivämter) entfalten. Ebenso bestätigt sich die Vermutung,
dass Protestanten eher direktdemokratischen Prozessen den Vorzug geben, die
mit zahlreichen jährlichen Parteiversammlungen einhergehen, während
Katholiken einer eher „oligarchischen“ Organisation zuneigen, indem sie den
Aktivitätsschwerpunkt auf die Ebene der Führungsgremien verlagern. Die Frage, ob sich hinter solchen
Kovarianzen eine „echte“ Kausalität verbirgt, muss letztlich unentschieden
bleiben, obwohl aus den multivartiaten Analysen ersichtlich ist, dass der
Erklärungsbeitrag des konfessionellen Faktors in den meisten Fällen erhalten
bleibt, wenn man konkurrierende Einflussfaktoren (Bevölkerungsgrösse,
Bildungsniveau und Sprachregion) kontrolliert. Andererseits
wird ebenso deutlich, dass nur kleinere (bis maximal 5000 Einwohnern)
Gemeinden einer konfessionellen Prägung unterliegen: mit der Folge, dass
bereits äusserst kleine katholische Gemeinden häufig eine Parteiorganisation
aufweisen, die im protestantischen Raum erst bei grösseren erreicht wird (die
allein aus strukturellen Zwängen genötigt sind, unabhängig von kulturellen
Einflüssen eine komplexere Organisation auszubilden). Die Vermutung, es könnte sich um
erodierende Residuen aus vergangenen (stärker konfessionell geprägten)
historischen Epochen handeln, kann nicht bestätigt werden, weil die meisten
Kovarianzen im Untersuchungsintervall zwischen 1989 und 2002 (bzw. 2004)
keine Abschwächung erfahren haben. Dieser überraschende Befund entspricht
eher der (auf Max Weber zurückgehenden und z. B. von Schmidtchen vertretenen)
Hypothese, dass sich in Jahrhunderten kirchlichen Einflusses konfessionell
geprägte „Mentalitäten“ ausgebildet hätten, die auch beim Verlust ihrer
genetischen Entstehungsbasis - d. h. in einem völlig säkularisierten Kontext-
weiterhin überleben. Diese Interpretation konvergiert auch mit den
Ergebnissen einer früheren Untersuchung, in der ähnlich persistente
konfessionelle Einflüsse auf die ideologischen und sachpolitischen
Einstellungen der Kommunalparteien nachgewiesen werden konnten (Geser 2004a). Altermatt, Urs 1989 Katholizismus und Moderne. Zürich: Benziger. Castles, F. G. 1994
On Religion and Public Policy: Does Catholicism make
a Difference? European Journal of Political Research, 25, 19-40. Geser Hans / Troxler Pia 1994 Does
Catholicism Perpetuate an Authoritarian Political Culture? Paper presented at
the XIIIth World Congress of Sociology, July 18th
to 23th, Bielefeld, Germany 1994. Geser Hans 1997 The
Persistence of Confessional Political Cultures in Switzerland: Some Puzzling
Evidence from Local Parties (Schweizerische Zeitschrift für Politische Wissenschaft Vol. 3,
Issue 2, 1997: 1-30). Geser,
Hans 2003 Die erodierende Mitgliederbasis der Schweizer Lokalparteien Zürich, http://geser.net/par/ges_02.pdf Geser,
Hans 2004a Gibt es in der Schweiz noch konfessionelle Kulturen? Zürich. http://www.socio.ch/par/ges_10.pdf Geser,
Hans 2004b Der Krebsgang parteiinterner Sitzungs- und
Versammlungsaktivitäten, Zürich. http://socio.ch/par/ges_09.pdf Greeley, Andrew
1989 Protestant and Catholic: Is The Analogical Imagination Extinct? American Sociological Review, 54: 485-502. Gruner, Erich 1977 Die Parteien in der Schweiz. Bern,
Francke. Im Hof, Ulrich 1991 Mythos Schweiz - Nation -
Geschichte 1291-1991. Zürich: Verlag NZZ. Inglehart, R. 1989 Kultureller Umbruch. Wertwandel in der
westlichen Welt. New
York/Frankfurt: Campus. Kerr, Henry H. 1987
The Swiss Party System: Steadfast and Changing (in: Daalder
Hans (ed.) Party Systems in Denmark, Austria, Switzerland, the Netherlands
and Belgium. London: Francis & Pinter, pp.109-191). Ladner Andreas / Meuli Urs
2005 Erosionstendenzen an der Parteibasis, Zürich, http://www.socio.ch/par/ladmeu.pdf Lenski, Gerhard 1963 The Religious
Factor. New York, Anchor. Lijphart, Arend 1979 Religious vs. Linguistic vs. Class Voting: The
"Crucial Experiment" of Comparing Belgium, Canada, South Africa and
Switzerland. American Political Science Review 73: pp. 442-458). Lipset, Seymour M. / Rokkan, Stein 1985 Cleavage Structures, Party Systems,
and Voter Alignments. In S. M. Lipset (Eds.):
Consensus and Conflict. Essays in Political Sociology. Pp. 113-185. New
Brunswick: Transaction Books. Martin, David 1978
A General Theory of Secularization. London: Gregg Revivals. Schmidtchen, Gerhard 1973 Protestanten und Katholiken.
München/Berlin, Francke. Schmitt, Karl 1984 Inwieweit bestimmt auch heute noch
die Konfession das Wahlverhalten (in: Wehling, Hans Georg (Hrsg.) Konfession
- eine Nebensache? Stuttgart: Kohlhammer, pp. 21-57). Stadler, Peter 1984 Der Kulturkampf in der Schweiz.
Eidgenossenschaft und katholische Kirche im europäischen Umkreis 1848-1888. Frauenfeld: Huber. Swanson, Guy E.
1967 Religion and Regime, Ann Arbor: University of Michigan Press. Swanson, Guy E. 1973 Protestantismus und
Herrschaftssystem, in: Seyfarth, Constans, Sprondel, Walter M.,
Hg., Seminar: Religion und gesellschaftliche Entwicklung, Frankfurt am Main:
Suhrkamp. Tracy, David 1982
The Analogical Imagination. New York: Seabury. Voll, Peter 1991 Konfession und Politik in der Schweiz.
Zum 'konfessionellen Faktor' bei der Entwicklung stabiler Parteisympathien
und bei den Eidg. Volksabstimmungen vom 9. Juni
1985. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie Vol. 17, Heft 2, pp. 375-406. Weber, Max 1978 (7. Auflage) Die protestantische Ethik
und der Geist des Kapitalismus (in: derselbe, Gesammelte Aufsätze zur
Religionssoziologie, Band 1, Tübingen: Mohr, pp.17-206).
Fussnoten [1] Konstitutive Etappen in diesem Einigungsprozess
bildete einerseits die „Helvetische Konfession" Bullingers
aus dem Jahre 1566, in der Zürich und Genf zu einer gemeinsamen Plattform zusammenfanden,
sowie die „evangelische Tagsatzung" innerhalb der die reformierten
eidgenössischen Orte mittels eigener Anstrengung eine Einigung anstrebten,
wie sie auf katholischer Seite bereits durch die gemeinsame Zugehörigkeit zur
globalen, tridentinisch reformierten Amtskirche
gegeben war. (vgl. Troxler 1994: 13) [2] Natürlich war es vom Standpunkt der Kirche aus
besonders wichtig, die Arbeiterschaft an sich zu binden und damit gegenüber
dem Zugriff der „gottlosen Sozialdemokratie" zu immunisieren. Solche
Bestrebungen konnten sich dogmatisch vor allem die Enzyklika „Rerum Novarum" (1891) abstützen, in der Leo XII ein
katholisches Alternativprogramm zur Lösung der „sozialen Frage"
entworfen hat. Ebenso ging es ihr darum, durch Mobilisierung konservativ-ruraler Bevölkerungssegmente ein Ge-gengewicht zum bedrohlichen Liberalismus und Säkularisismus der städtischen Regionen zu erzeugen
(Altermatt 1989: 54). [3] Wie sich an ihren immer schlechteren Wahlergebnissen
einerseits und ihrer Mühe zur klaren sach-politischen Profilierung
andererseits ablesen lässt, hat die CVP bis dato (1996) bisher keine geeigne-ten Wege zur Lösung dieser beiden Probleme
gefunden. [4] vgl. BfS:
Wohnbevölkerung nach Religion und Konfession.
http://www.statistik.admin.ch/stat_ch/ber00/vz/cc/dvz-cc-rel-01.htm |