Sociology in Switzerland
Prof. Dr. Geser

Politik und Parteien im Wandel (Homepage)

Politik und Parteien im Wandel

 

Online Publikationen


Sind Gemeindeangelegenheiten "politisch"?

 

Hans Geser

 

Zürich, April 2003

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Kommunale Entscheidungsangelegenheiten werden von den lokalen Parteien überwiegend (und im Zeitraum 1989 bis 2002 zunehmend) als "unpolitisch" charakterisiert. Im Besonderen gilt dies für Parteien, die in kleineren Gemeinden angesiedelt sind, keiner überlokalen Parteiorganisation angehören und über eine Mehrheit der Wählerstimmen verfügen. Eine eher "politische" Auffassung von Kommunalpolitik v ertreten hingegen minoritäre Linksparteien: vor allem wenn sie über eine gebildetere Anhängerschaft verfügen und dem Programm der Kantonalpartei eine relativ hohe Bedeutung zumessen.


 

Inhaltverzeichnis

 

1. Warum die Frage berechtigt ist

2. Methodologie und Datenbasis

3. Empirische Ergebnisse

3.1 Der kommunale Politisierungsgrad ist niedrig und hat sich in den letzten dreizehn Jahren noch weiter verringert
3.2 Die deutsche Schweiz hat sich der Romandie angenähert, wo schon vorher weniger kommunale Politisierung bestand
3.3 In grösseren Gemeinden besteht ein höherer Grad an Politisierung
3.4 Für Mehrheitsparteien sind Gemeindeangelegenheiten besonders unpolitisch
3.5 Überlokal eingebundene Parteien perzipieren höhere Grade kommunaler Politisierung
3.6 Höhere Bildungsniveaus begünstigen hohe Politisierung

4. Schlussfolgerungen

Literatur


1. Warum die Frage berechtigt ist

Alle staatlichen Behörden und Verwaltungsorgane sind dauernd mit Entscheidungen befasst, die "kollektiv verbindlich" sind in dem Sinne, dass wir alle in der einen oder andern Weise unfreiwillig davon mitbetroffen sind und unser Verhalten darauf einstellen müssen. Viele dieser Festlegungen gelten konsensual als "unpolitisch", zum Beispiel:

1) Juristische Entscheidungen, wie sie z. B. von Gerichten oder Verwaltungsämtern aufgrund vorgängig fixierter Regeln (Gesetze, Verordnungen und Weisungen) getroffen werden;

2) Technisch-ökonomische Entscheidungen, (z. B. Beschaffungsfragen im Krankenhaus oder konkrete Ausführungsprobleme beim Bau von Strassen, Wasserleitungen u.a.), die darauf ausgerichtet sind, vorgängig fixierte Ziele mit einem optimalen Einsatz von Mitteln zu realisieren;

3) Organisatorische Entscheidungen (z. B. in Schulen, Kliniken oder Gefängnissen), bei denen es darum geht, eine mit den Zwecken der Institution einerseits und den Bedürfnissen individueller Leistungsadressaten vereinbare ("vernünftige") soziale Ordnung aufrechtzuerhalten.

Fragen dieser Art sind normalerweise nicht nur der Volksabstimmung, sondern auch der Beratung in Parlamenten und anderen politischen Gremien sowie der Diskussion in den öffentlichen Medien normalerweise völlig entzogen. Denn es herrscht die allgemeine Meinung, dass es für solche Probleme allgemein anerkannte optimale Lösungen gibt, die mit - ebenfalls konsensual anerkannten - objektiven Kenntnissen und Verfahrensweisen erreichbar sind: so dass es zwingend (oder wenigstens wünschbar) erscheint, sie nicht dem unbedarften Laienpublikum, sondern dem engeren Kreis dafür zuständiger Fachpersonen (Juristen, Ingenieure u.a.) zu überlassen.

Ex negativo sind dann all jene Entscheidungen "politisch", bei denen es keinen solchen Konsens über eindeutig als optimal identifizierbare Lösungsformen und Lösungswege gibt: Fragen, die dem Streit konfliktiver Interessen, Werten und Normen ausgesetzt sind und deshalb dem Spiel der öffentlichen Meinungsbildung und politischen Machtkräfte ausgeliefert werden müssen, an dem sich - da jedermann als fähig angesehen wird, Interessen und Werte zu haben - alle Bürger mitbeteiligen können. Oft genug werden ursprünglich unpolitische Fragen - zum Beispiel durch soziale Bewegungsgruppen - "politisiert": z. B., wenn in der Energieversorgung subjektive Risikoaspekte (z. B. bei der Kernkraft) überhandnehmen, wenn an Universitäten aus Spargründen der Numerus Clausus ansteht, wenn der Zugang zu spitzenmedizinischen Behandlungen "rationiert" werden muss, oder wenn die mit der Bepflanzung von Autobahnrändern befassten Gartenbauämter sich plötzlich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, sie würden exotischen Gewächsen gegenüber einheimischen Pflanzen den Vorzug geben.


Grundlegend ist aber die systemtheoretische Einsicht, dass zu jedem Zeitpunkt nur ein ganz kleiner Ausschnitt des gesamten staatlichen Entscheidungshandelns der Politisierung unterliegen kann: weil sowohl die politischen Entscheidungsgremien wie auch die Medienöffentlichkeit nur über eine sehr begrenzte Aufmerksamkeitsspanne und "Thematisierungskapazität" verfügen (vgl. Luhmann.1979). Je mehr sich das Gesamtvolumen öffentlicher Tätigkeit ausweitet, desto selektiver wird dieser Ausschnitt, und desto mehr Macht wächst jenen Instanzen zu, die durch "Agenda-Setting" darüber bestimmen, welche Fragen zu welchem Zeitpunkt im Scheinwerferlicht politischer Problematisierung stehen (bzw. davon ausgeschlossen werden) (McCombs/Shaw 1972; Qualter 1989).

Vor allem im kommunalen Raum ist es keineswegs selbstverständlich, dass die anstehenden Entscheidungsfragen als "politisch" oder gar "hochpolitisch" gelten.

In den USA beispielsweise hat das "reform movement" seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Auffassung propagiert, dass es selbst für Städte nur eine einzige "richtige" Auffassung vom Gemeinwohl gebe: so dass es optimaler sei, das Bürgermeisteramt einem technokratisch-unparteilichen "City Manager" als dem Wahlstreit politischer Parteien zu überlassen (Banfield/Wilson 1965: 138ff.). Ebenso werden Gemeinden vor allem in der einschlägigen Fachliteratur der 50er und frühen 60er-Jahre als depolitisierte Räume portraitiert, in denen der Parteienstreit keinen Platz hat, weil er einerseits das friedliche Einvernehmen der Siedlungsnachbarn stören würde, andererseits aber auch überflüssig ist, weil es für alle relevanten Probleme überparteiliche "common sense"-Lösungen gibt (vgl. z. B. Wurzbacher/Pflaum 1954; Vidich/Bensman 1968).

Ein Grund dafür bestand wohl darin, dass es in jenen Nachkriegsjahren primär um den Ausbau der basalen Infrastruktur (Strassen, Elektrizität, Schulhäuser, Entsorgung u.a.) ging, sowie um die Implementierung grundlegender wohlfahrtsstaatlicher Institutionen (Bildung, Sozialhilfe u.a.) ging: also, um Aktivitäten, die ideologisch unstrittig waren und durch den Vorrang technisch-administrativer Rationalität gekennzeichnet waren. Dementsprechend sind auch in Ländern, in denen auf nationaler Ebene das (angelsächsische) Modell der konfliktorientierten "Konkurrenzdemokratie" dominiert, auf kommunaler Ebene manch "unpolitische" Formen der Proporz- und Konkordanzdemokratie erhalten geblieben: [1] Wie Arzberger 1980 - wohl auch unter dem Eindruck von vielerlei Bürgerinitiativen und anderen unkonventionellen kollektiven Aktivitäten - feststellt, hat sich oberhalb einer gewissen Sättigungsgrenze dann der Schwerpunkt des öffentlichen Handelns immer mehr auf zusätzliche, bisher noch nicht explorierte Bereiche verschoben, in denen - vor allem auch angesichts einer zunehmend heterogenen Bevölkerung - immer weniger ein übergreifender Konsens vorausgesetzt werden konnte:

“….immer mehr gesamtgesellschaftliche Zielsetzungen wachsen auch in den kommunalen Bereich hinein, ehemals politisch nahezu neutrale Sektoren wie Städtebau, Raumordnung, öffentlicher Nahverkehr oder Jugend, Alten- und Freizeiteinrichtungen sind im Zuge der zunehmenden Agglomeration und der wachsenden Abhängigkeit des individuellen Lebensstandards von öffentlichen Vorleistungen von höchster kommunalpolitischer Brisanz geworden." (Arzberger 1980: 15).

Die "Neuen Sozialen Bewegungen" der späten 60er und 70er-Jahre haben dann viel dazu beigetragen, den Raum des politisch Strittigen auf neue Sphären auszuweiten. Vor allem hat die Umweltbewegung dazu beigetragen, in Fragen des Strassenbaus, des Landschaftsschutzes, des öffentlichen Verkehrs und der Abfallentsorgung ideologisch motivierte Konflikte zu entzünden - so wie die feministische Bewegung dafür besorgt war, die Untervertretung der Frauen zu einem allgegenwärtigen Politikum zu machen.

Die politisch-administrative Organisation der Schweizer Gemeinden scheint auf der Prämisse zu beruhen, dass kommunale Angelegenheiten jeglicher Art primär "politische" Entscheidungen erfordern: so dass es angezeigt ist, sie nicht professionellen Berufsbeamten, sondern den Stimmbürgern und deren - fast durchwegs ehrenamtlich tätigen - Laienrepräsentanten in der Exekutive und den Spezialkommissionen zu überlassen.

Dies gilt vor allem für den deutschen Sprachraum, wo selbst untergeordnete Ausführungsentscheidungen (z. B. in der Schul- oder Sozialverwaltung) meist derartigen Milizgremien überlassen bleiben - so dass sich selbst sehr kleine Gemeinden nicht zur Fusion mit grösseren genötigt fühlen, weil sie im Mangel an Professionalität keine Nachteile sehen. Vielerorts wird sogar der Gemeindeschreiber als eine politische Position betrachtet, deren Rekrutierung dem Parteienstreit (anstatt einer Selektion nach professionellen Kriterien) unterliegt. In der Romandie werden demgegenüber sowohl die externe politische Autonomie wie die interne Demokratie der Gemeinde etwas weniger stark betont. Die legislativen Funktionen werden meist nicht von der Einwohnerversammlung, sondern einem kleineren "Conseil" wahrgenommen, und viele Vollzugsaufgaben werden von der Berufsadministration wahrgenommen, so dass der Weg frei ist, sie in der leistungsfähigeren Kantonalverwaltung zu zentralisieren.

Im Folgenden wird empirische Unterstützung für die Hypothesen angeboten,

1) dass sich der Politisierungsgrad kommunaler Angelegenheiten in den 90er-Jahren wieder verringert hat, nachdem er unter dem Einfluss von Bürgerinitiativen und Sozialbewegungen eine Zeitlang zugenommen hatte;

2) dass dieser Politisierungsgrad von zahlreichen Variablen mitbeeinflusst wird: einerseits von kontextuellen Determinanten (vor allem die Bevölkerungsgrösse); andererseits von endogenen Faktoren des politischen Systems, (unter denen sich in der vorliegenden Untersuchung ausschliesslich Merkmale der politischen Parteien Berücksichtigung finden).


2. Methodologie und Datenbasis

Im Herbst 1989 und im Herbst 2002 wurden am Soziologischen Institut der Universität Zürich zwei praktisch identische empirische Untersuchungen durchgeführt, in die alle (ca. 5000) Ortsparteien in den Gemeinden der Schweiz einbezogen worden sind. Allen Präsidentinnen und Präsidenten dieser lokalen Gruppierungen wurde ein umfangreicher Fragebogen zugeschickt, in dem sie aufgefordert wurden, über die Anhängerbasis und Organisationsstruktur, die ideologischen und sachpolitischen Positionen, die inneren Prozesse und die externen politischen Aktivitäten der Partei detaillierte Auskünfte zu geben. Bei beiden Surveys wurden jeweils rund 2600 Fragebogen ausgefüllt zurückgesandt (d. h. rund 50%).

Bei rund 80% dieser Gruppierungen handelt es sich um die Lokalsektionen der vier landesweit tätigen grossen Bundesratsparteien (FDP, CVP, SVP und SP); bei weiteren 8% um die örtlichen Filialen kleinerer Parteien, und bei den restlichen 12% um autonome lokale Gruppierungen ohne Einbindung in kantonale oder nationale Organisationen.

Um die Einstellung der Partei (nicht ihres Präsidenten) zum Politisierungsgrad kommunaler Entscheidungsthemen zu bestimmen, wurden die Informanten gebeten, die innerhalb ihrer Gruppierung herrschende Mehrheitsmeinung zu folgender Frage bekanntzugeben:

"Oft wird behauptet, dass es sich bei Gemeindeangelegenheiten in der Regel um unpolitische Fragen handelt, bei denen es darum geht, sachgerechte Lösungen zu finden. Würde in Ihrer Ortspartei dieser Ansicht zugestimmt?"

Es ist evident, dass dieser von der Lokalpartei (bzw. ihrem Präsidenten) subjektiv wahrgenommene Grad kommunaler Politisierung eher ein Merkmal der Partei als eine Eigenschaft der Gemeinde darstellt und dass ein sehr viel breiteres Spektrum von Variablen (z. B. über die Häufigkeit öffentlicher politischer Auseinandersetzungen) einbezogen werden müsste, um das Politisierungsniveau "objektiv" zu bestimmen. Andererseits gilt auch in diesem Falle das Thomas-Theorem, wonach sich subjektive Deutungen ungeachtet ihres "objektiven Wahrheitsgehalts" die soziologische Realität mitkonstituieren: indem die kommunale Öffentlichkeit tatsächlich politischer wird, wenn lokale Parteien ihr Handeln von der Auffassung leiten lassen, dass anstehende Entscheidungsfragen wert- und interessenstrittig seien.


3. Empirische Ergebnisse

3.1 Generell ist der kommunale Politisierungsgrad niedrig und er hat sich in den letzten dreizehn Jahren noch weiter verringert

Zu beiden Zeitpunkten wurde die Kategorie "eher ja" weitaus am häufigsten und die benachbarte gemässigte Gegenposition "eher nein" am zweithäufigsten gewählt, während die beiden Extrempositionen am wenigsten Zuspruch fanden (Tab. 1).

 

 

Tabelle 1: Häufigkeitsverteilung der Antworten auf die Frage, ob kommunale Angelegenheiten "unpolitisch" seien: 1989 und 2002.

 

Sind kommunale Fragen unpolitisch?

1989

2002

%-Satz

(N )

%-Satz

(N )

ja, voll und ganz

13.7

(349)

16.2

(389)

eher ja

47.2

(1203)

50.3

(1174)

eher nicht

24.6

(628)

20.8

(487)

nein, gar nicht

14.4

(369)

12.2

(286)

Total

100

(2548)

100

(2336)

 

 

Diese für "politische Parteien" überraschende Neigung, den kommunalen Angelegenheiten eine politische Qualität abzusprechen, hat während der 90er-Jahre offensichtlich noch vermehrte Unterstützung gefunden: ein erster Hinweis auf die rückläufige Bedeutung jener sozialen Bewegungen, die seit den späten 60er-Jahren (vor allem im ökologischen Sektor) temporär zu einer politischen Problematisierung vieler lokaler Entscheidungsbereiche beigetragen haben.

 

 

3.2 Die deutsche Schweiz hat sich der Romandie angenähert, wo schon vorher eine geringere kommunale Politisierung bestand

Im deutschen Sprachraum sind Gemeinden schon in dem Sinne "politischer" als ihrer Autonomie gegenüber der kantonalen Ebene traditionell ein höheres Gewicht eingeräumt wird als in der Romandie, wo den Kommunen eher die Aufgabe zukommt, als subordinierte Verwaltungseinheiten des Kantons zu fungieren. Hinzu kommt, dass - wie oben erwähnt - auch die kommunale Binnenorganisation stärker auf ein hohes Politisierungsniveau ausgerichtet ist: weil es sonst nicht rational wäre, so viele Beratungs- und Entscheidungskompetenzen der Einwohnerversammlung und milizartigen Laiengremien (Gemeinderat, Spezialkommissionen u.a.) statt professionalisierten Verwaltungsorganen zu überlassen.

Vor allem hat die ausgeprägte direkte Demokratie zur Folge, dass Lokalparteien sehr viel stärker (z. B. regelmässig vor Einwohnerversammlungen oder Urnenabstimmungen) mit sachpolitischen Fragen befasst sind als in der Westschweiz, wo der Vorrang repräsentativer Gremien zu einer Gewichtsverschiebung auf personalpolitische Aspekte führt.

Erwartungsgemäss zeigen die Ergebnisse, dass nach Westen hin ein deutliches Politisierungsgefälle besteht, das aber - was im geringeren Chi-2 und Phi-Wert sichtbar wird  im Messzeitraum etwas geringer geworden ist (Tab. 2). 

Diese Annäherung ist primär auf einen leicht gegenläufigen Wandel im französischen Landesteil zurückzuführen, wo die Kategorie "völlig unpolitisch" 2002 etwas weniger, die Antwort "sehr politisch" hingegen leicht stärkeren Zuspruch findet.

 

 

Tabelle 2: Häufigkeitsverteilung der Antworten auf die Frage, ob kommunale Angelegenheiten "unpolitisch" seien: 1989 und 2002. (Prozentzahlen)

 

Sind kommunale Fragen unpolitisch?

1989

2002

Deutsch

Franz.

Deutsch

Franz.

ja. voll und ganz

11.7

27.0

14.7

23.2

eher ja

48.1

46.6

50.2

52.8

eher nicht

23.9

18.3

21.7

14.2

nein, gar nicht

16.3

8.1

13.4

9.8

(N =)

(1973)

(322)

(1763)

(358)

Chi-2 (sign.)

63.068 (.000)

24.857 (.000)

Phi (sign.)

.166 (.000)

.108 (.000)

 

 

3.3 In grösseren Gemeinden besteht ein höherer Grad an Politisierung

Aus vielerlei Gründen muss damit gerechnet werden, dass sich nur in grösseren Gemeinden (evtl. nur in wenigen Grossstädten) eine durch permanente Auseinandersetzungen geprägte politische Öffentlichkeit entfaltet, während in kleineren Kommunen "politikfeindliche" Mentalitäten und Strukturen vorherrschen, die dazu führen, dass einerseits ein höheres Konsensniveau aufrechterhalten werden kann und andererseits bestehender Dissens gar nicht oder nur in nichtöffentlichen Zirkeln artikuliert und ausgetragen wird.

Eine erste, vor allem in Fallstudien über rurale Gemeinden häufig erwähnte Argumentation besagt, dass hier noch eine "kommunalistische" Form sozialer Integration vorherrscht, in der politische Konflikte nicht tragbar sind, weil sie geeignet wären, das gute soziale Einvernehmen zwischen Angehörigen verschiedener Parteien zu zerstören, die einander im kleinräumigen Kontext ja andauernd wiederbegegnen (vgl. z. B. Vidich/Bensman 1968; Wurzbacher/Pflaum 1954). Daran schliesst sich die auf Georg Simmel zurückgehende Argumentation an, dass Konflikt in kleineren Gemeinden mit grosser Wahrscheinlichkeit das gesamte Sozialsystem ergreift, so dass unbeteiligte neutrale Dritte fehlen, die moderierend eingreifen könnten (vgl. z. B. Black 1974).

Zweitens ist allein das "statistische Gesetz der grossen Zahlen" ein hinreichender Grund für die Annahme, dass innerhalb grösserer Bevölkerungen ein breiteres Spektrum von Meinungen (auch extremer Art) besteht: mit der Folge, dass über immer zahlreichere Entscheidungsfragen nicht mehr mit einem Konsens gerechnet werden kann. Des weiteren wird es immer wahrscheinlicher, dass sich auch für relativ seltene (z. B. extremistische) Standpunkte genügend Gleichgesinnte zusammenfinden, um eine stabile Gruppierung zu gründen, die eine regelmässige politische Aktivität entfaltetet und damit dafür sorgt, dass diese Positionen als kollektive Standpunkte (statt bloss idiosynkratische subjektive Meinungen) im politischen System wirksam vertreten werden.

Drittens nimmt mit der Gemeindegrösse zwangsläufig die Streubreite von Ereignissen und Problemsituationen zu, auf die Politik und Verwaltung reagieren müssen, und genau so verbreitert sich der Raum alternativer Möglichkeiten, welcher den Gemeindeorganen zur Verfügung steht, um ihre finanziellen, personellen und organisatorischen Mittel für verschiedene Zwecke einzusetzen. Vor allem steigt der relative Anteil "freiwilliger" (d. h. nicht vom Kantons- und Bundesgesetz vorgeschriebener) Aufgaben, über die innerhalb der Gemeinde selbst autonom entschieden werden muss (öffentliche Verkehrsbetriebe, Bibliotheken, Museen, Spezialschulen, Kliniken, Heimanstalten usw.) Folge: es wird wahrscheinlich, dass zumindest einige dieser Aktivitäten politisch umstritten sind.

Und viertens ist evident, dass meist nur in Städten hinreichend leistungsfähige und attraktive Medien (vor allem Zeitungen, evtl. auch lokale Radio- und TV-Stationen) bestehen, die regelmässig kommunale Politikinhalte kommunizieren und allein schon aus Marketinggründen (Konflikte sind immer interessant!) nicht umhin können, den lokalen Politisierungsprozess selbst dort zu forcieren, wo er sich nicht von selbst aus dem Spiel der dafür zuständigen Instanzen (Parteien, Verbände u.a.) ergibt.

Angesichts dieser Vielfalt einander ergänzender Kräfte erstaunt es nicht, dass der perzipierte kommunale Politisierungsgrad zu beiden Zeitpunkten sehr eng mit der Gemeindegrösse kovariert. Er steigt mit wachsender Einwohnerzahl monoton an, um nur in Grossstädten über 100 000 Einwohnern leicht abzuflachen (Figur 1).

 

 

 

*Durchschnittlicher Wert auf der vierwertigen Skala: 2 = sehr politisch; 1= eher politisch; -1 = eher unpolitisch -2 = sehr unpolitisch.

 

Ganz offensichtlich hat sich der oben konstatierte Prozess kommunaler Entpolitisierung völlig auf kleinere und mittelgrosse Gemeinden (bis 10 000 Ew.) begrenzt, die 2002 alle etwas negativere Werte als zu Beginn der Messperiode zeigen. Die im urbanen Raum angesiedelten Parteien haben demgegenüber keinerlei Wandlungen vollzogen: eine eindrückliche Unterstützung auf die Vermutung, dass in Städten die systemische Komplexitäten für ein „objektiv“ hohes, (d. h. von den Parteien nicht durch endogene Variablen modifizierbares) Politisierungsniveau sorgen.

 

3.4 Für Mehrheitsparteien sind Gemeindeangelegenheiten besonders unpolitisch

Wenn rundherum alle meine eigenen Meinungen teilen, habe ich wenig Grund, sie für politische, d. h. umstrittene und von subjektiven Interessen abhängige, Standpunkte zu halten. Viel eher werde ich darin schlechthin "vernünftige" Ansichten sehen, zu denen jeder zwingend gelangt, wenn er sich bloss kundig macht und über hinreichend "gesunden Menschenverstand" verfügt.

Wenn ich umgekehrt überall auf Widerspruch stosse, habe ich - von paranoischen Reaktionen abgesehen- nur die Wahl, mich entweder in Selbstkorrektur den anderen anzuschliessen, oder aber: meine Meinung als eine unter mehreren möglichen Positionen zu interpretieren. Dann aber kann ich in ihr nicht mehr "die" eine vernünftige (sei es: logisch richtige, technisch optimale oder juristisch korrekte) Ansicht sehen, sondern muss zugeben, dass es je nach Werthaltungen, kulturellen Traditionen oder ökonomischen Interessen gegensätzliche - aber gleichermassen legitime - Standpunkte gibt.

Die erste Situation trifft im Kontext der Schweiz eher für Parteien bürgerlichen Zuschnitts zu, die auch dann, wenn sie selber wenig Stimmenprozente haben, sich leicht mit anderen rechts der Mitte befindlichen Gruppierungen zu einem majoritären "Bürgerblock" zusammenfinden können. Umgekehrt vertreten linke und grüne Parteien notorisch Minderheitspositionen und sehen ihre Rolle primär darin, diese Mehrheit durch Artikulation oppositioneller Standpunkte zu politischen Auseinandersetzungen zu zwingen. So erstaunt es nicht, dass alle rechts der Mitte angesiedelten Parteien (FDP, CVP, SVP und LPS) die Gemeinde durchaus unpolitisch sehen, während vor allem die Grünen (und in beträchtlich geringerem Umfang die SP) eine politischere Einstellung aufrechterhalten. Allerdings hat sich genau bei diesen beiden Parteien der Durchschnittswert am stärksten in die negative Richtung verändert: ein Hinweis auf einen erlahmenden kommunalen Politikeifer der Linken, der vor allem mit der Deaktualisierung ökologischer Politikthemen zusammenhängen mag (Tab. 3).

 

 

Tabelle 3: Kommunaler Politisierungsgrad*: nach Parteizugehörigkeit der Ortssektionen

 

Partei:

FDP

CVP

SVP

SP

EVP

GP

LPS

1989

-.43

-.50

-.39

+.36

.00

+1.02

-.84

2002

-.60

-.64

-.39

-.02

-.25

+.69

-.52

 

*Durchschnittlicher Wert auf der vierwertigen Skala: 2 = sehr politisch; 1= eher politisch; -1 = eher unpolitisch -2 = sehr unpolitisch.

 

 

Des weiteren führt die obige Überlegung zur Vermutung, dass marginale Kleinparteien (mit wenig Wählern und entsprechend wenigen Mandaten) ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit am stärksten dazu neigen, kommunale Angelegenheiten für "politisch" zu halten, während Parteien mit überwältigender Mehrheit umgekehrt am ehesten zu einer depolitisierten Auffassung tendieren. Diese Tendenz dürfte sich allerdings eher auf kleinere Gemeinden beschränken weil in den Städten selbst majoritäre Exekutivparteien einem komplexen Kräftefeld organisierter Gruppen gegenüberstehen, die sich an der "Politisierung" vieler Fragen aktiv mitbeteiligen.

Weniger klar ist hingegen, welche Auffassungen Gruppierungen mittlerer Stärke vertreten. Auf der einen Seite ist es wahrscheinlich, dass sie zumindest in einigen Sachfragen weitverbreitete Mehrheitsmeinungen vertreten - und damit wenigstens dort kaum politische Konflikte sehen; auf der anderen Seite werden sie stärker als die oft monothematischen kleinen Aussenseiterparteien genötigt sein, sich einem breiten Spektrum verschiedener Entscheidungsfragen zu stellen, unter denen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch politisch kontroverse Themen befinden.

 

 

 

Tabelle 4: Kommunaler Politisierungsgrad* aus der Sicht der Lokalparteien: nach Sitzanteil in der Gemeindeexekutive: 1989 und 2002

 

Prozent der  Sitze

Einwohnerzahl

bis 500

501 - 2000

2001 - 5000

5001 - 10000

über 10001

'89

'02

'89

'02

'89

'02

'89

'02

'89

'02

0

-.23

-.57

-.02

-.38

+.56

-.10

+.34

-.21

+.53

+.40

1 - 15

.00

.00

-.55

-.43

-.20

-.58

+.33

-.61

+.27

+.32

16 - 30

-.09

-.92

-.42

-.64

-.18

-.58

+.14

+.02

+.32

+.48

31 - 50

-.67

-1.12

-.50

-.82

-.41

-.60

+.02

+.12

+.27

+.62

51 - 75

-.83

-.83

-.53

-.98

-.61

-1.06

+.20

-.10

+.08

+.25

über 75

-.84

-.88

-.70

-.72

-.74

-.55

-.45

.00

+.20

-.33

ETA

.21

.21

.13

.16

.25

.20

.16

(.21)

.15

.15

 

*Durchschnittlicher Wert auf der vierwertigen Skala: 2 = sehr politisch; 1= eher politisch; -1 = eher unpolitisch -2 = sehr unpolitisch.

 

Wie Tabelle 4 zeigt, werden unsere Hypothesen weitgehend bestätigt. Zu beiden Zeitpunkten sind es in Gemeinden jeglicher Grösse die Parteien mit über 50% Sitzanteil in der Exekutive, die durchschnittlich den geringsten Politisierungsgrad perzipieren. Die einzige Ausnahme bilden Gemeinden zwischen 5 und 10000 Einwohner, wo 2002 die minoritären Gruppierungen mit 1 bis 15% Sitzanteil am wenigsten geneigt waren, lokalen Entscheidungen eine politische Dimension zu attestieren. Umgekehrt finden sich die höchsten Politisierungs-grade in acht von zehn Kolonnen bei den Parteien, die momentan höchstens 30% der Exekutivmandate einnehmen. Nur in den städtischen Gemeinden (und etwas schwächer auch in mittelgrossen Gemeinden über 5000 Ew.) scheint sich der Schwerpunkt neuerdings zu den mittelstarken Parteien (mit 31 bis 50% Sitzanteil) verschoben zu haben: so dass genau die Kurvilinearität entsteht, die aufgrund der ambivalenten Zwischenposition dieser mittleren Gruppierungen (vgl. oben) postuliert werden kann. Ausschliesslich in den Städten scheint es heute noch hochpolitische Randgruppierungen zu geben, die völlig ausserhalb des formalen Exekutivapparats agieren - während solche Parteien Ende der 80er-Jahre auch noch in mittelgrosssen Gemeinden (über 2000 Ew.) verbreitet waren.

$

 

3.5 Überlokal eingebundene Parteien perzipieren höhere Grade kommunaler Politisierung

Oft sind es die Parteien auf Kantons- und Bundesebene, die durch ihre Ideologien und Programme die Gemeinden von aussen her politisieren. So können sie ihre Ortsektionen motivieren, im Interesse allgemeinerer Gerechtigkeitsnormen für höhere kommunale Sozialhilfebeiträge einzustehen, im Lichte der allgemeinen Umweltpolitik für eine straffere Durchsetzung von Heizungskontrollmassnahmen zu sorgen, oder im Sinne der Gleichstellung der Geschlechter für eine bessere Vertretung der Frauen in den kommunalen Behördegremien einzutreten. Demgegenüber fehlen den rein lokalen Ortsvereinen und Wählervereinigungen oft die eigenen intellektuellen, personellen und organisatorischen Mittel, die für die Kultivierung eines politischen Bewusstseins und einer politischen Diskussionskultur notwendig sind, und es fehlt ihnen der Anlass, um binnenkommunale Angelegenheiten im Lichte umfassenderer politischer Zielsetzungen zu interpretieren.

In der Schweiz ist allerdings nicht damit zu rechnen dass die überlokalen Parteien eine starke kommunalpolitische Aktivierung entfalten würden: denn fast durchwegs sind sie selber zu schwach, um den Lokalparteien durch eigene kommunalpolitische Konzepte und Programme Führung anzubieten, und die Traditionen des Föderalismus sind vor allem im deutschen Sprachraum zu stark, als dass sich die Lokalsektionen solchen Steuerungen bereitwillig öffnen würden.

Dennoch ist zu vermuten, dass auch in der Schweiz Lokalparteien tendenziell Gemeindeangelegenheiten eher als "politisch" wahrnehmen, wenn sie

 

1) in formal-organisatorischer Hinsicht überhaupt einer überlokalen Partei (auf Kantons- oder Bundesebene) angehören, als wenn sie - als rein lokale Gruppen - keine derartige Einbindung besitzen;

2) in ideeller Hinsicht sich auch an dieser überlokalen Ebene orientieren: indem sie z. B. den Programmen ihrer Mutterpartei in ihrer konkreten kommunalen Arbeit ein hohes Gewicht beimessen.

 

Wiederum ist zu erwarten, dass die Gemeindegrösse derartige Zusammenhänge als intervenierende Variable modifiziert. So darf in grossen städtischen Gemeinden insofern mit höheren Korrelationen gerechnet werden, als es dort eher lokale Anhänger gibt, die sich auch an kantonalen Parteiaktivitäten mitbeteiligen. Ebenso ist es wahrscheinlicher, das überlokale Parteien eine auf städtische Gemeinden bezogene Programmatik ausformulieren, als dass sie die Probleme kleiner Gemeinden zu ihrem Thema machen würden. Umgekehrt muss vor allem in den grossen Städten mit Parteien gerechnet werden, die genügend aktiv und professionell sind, um auch unabhängig von kantonalen Programmen und Weisungen eine eigenständige kommunale Politisierung zu betreiben, Was die positiven Wirkungen der formalorganisatorischen Einbindung auf die Politisierung betrifft, so scheinen diese sich weitgehend auf die in grösseren (vor allem städtischen) Gemeinden operierenden Lokalparteien zu beschränken, während bei den Kleinstgemeinden 2002 sogar die umgekehrte Konstellation vorzufinden war. (Figur 2).

 

 

 

*Durchschnittlicher Wert auf der vierwertigen Skala: 2 = sehr politisch; 1= eher politisch; -1 = eher unpolitisch -2 = sehr unpolitisch.

 

Diese relativ geringen Korrelationen sind dadurch bedingt, dass die Sektionen der Kantonsparteien in sehr unterschiedlichem Masse politisiert sind, da es ihnen weitgehend selbst überlassen ist, inwiefern sie sich in ihren kommunalen Aktivitäten am überlokalen Parteiprogramm orientieren.

Aus Tabelle 5 geht hervor, dass Lokalparteien, die solchen Programmen geringe Relevanz beimessen, tendenziell sowohl in Kleingemeinden wie in den Städten eine tendenziell unpolitischere Haltung kultivieren. In Kommunen mittlerer Grösse (zwischen 5 und 10 000 Ew.) sind hingegen leicht gegenläufige Zusammenhänge zu konstatieren, und bei den Städten herrscht 2002 eine kurvilineare Beziehung vor: in dem Sinne, dass völlige Ignoranz überlokaler Programmatik mit relativ hoher Politisierung einhergehen kann. Hierin widerspiegelt sich wohl die Kapazität dieser städtischen Parteien, eine autonome, rein kommunalpolitisch ausgerichtete Politisierung zu betreiben, die sich nicht an überlokalen Quellen inspiriert. Im Rückblick auf 3.4 ist allerdings anzunehmen, dass überlokale Einbindungen und Identifikationen vor allem im Falle Linksparteien politisierend wirken, weil diese aufgrund ihrer gesamtgesellschaftlichen Minoritäts- und Oppositionsrolle auf den strittigen Charakter aller möglichen Issues insistieren.

 

 

Tabelle 5: Kommunaler Politisierungsgrad und Einfluss des kantonalen Parteiprogramms auf die Ortspartei: nach Gemeindegrösse.

 

Einfluss des kantonalen
Parteiprogramms

Einwohnerzahl

bis 500

501 - 2000

2001 - 5000

5001 - 10000

über 10001

'89

'02

'89

'02

'89

'02

'89

'02

'89

'02

sehr stark

-.28

***

-.51

-.71

+.27

-.24

-.04

-.17

+.58

+.76

stark

-.36

-.76

-.25

-.44

-.27

-.49

+.34

-.01

+.48

+.36

mässig

-.73

-.96

-.48

-.76

-.25

-.54

+.13

-.34

+.29

+.25

gering

-.98

-.95

-.92

-.70

-.64

-.85

+.12

+.22

-.05

+.59

ETA

.20

.17

.18

.13

.15

.10

.09

.14

.11

.10

 

 

Tabelle 6: Partielle Korrelation zwischen kommunalem Politisierungsgrad und dem Einfluss des überlokalen Parteiprogramms (bei Kontrolle der Bevölkerungsgrösse): nach politischer Partei.

 

Politisierungsgrad / Einfluss
des Parteiprogramms
(Einwohnerzahl kontrolliert)

 

Partei

FDP

CVP

SVP

SP

'89

'02

'89

'02

'89

'02

'89

'02

Partieller Korrelationskoeffizient

.11

.04

.11

.04

.04

.06

.15

.11

Signifikanz

.006

.322

.017

.422

.578

.282

.000

.017

(N = )

(597)

(503)

(507)

(378)

(255)

(318)

(527)

449)

 

 

Tatsächlich sind es vor allem die SP-Parteien bei denen bei Kontrolle der Bevölkerungsgrösse noch ein signifikanter statistischer Erklärungsbeitrag des überlokalen Parteiprogramms verbleibt. Zwar hat sich dieser Einfluss innerhalb des Befragungsintervalls ebenfalls abgeschwächt - aber nicht so drastisch wie bei der FDP und der CVP, wo 2002 überhaupt keine statistischen Zusammenhänge mehr sichtbar sind (Tab. 6).

 

3.6 Höhere Bildungsniveaus begünstigen hohe Politisierung

Wie aus einer umfangreichen Forschungsliteratur deutlich wird, wächst mit steigendem Bildungsniveau aus verschiedenen Gründen die Wahrscheinlichkeit, dass öffentliche Entscheidungsfragen als "politisch" wahrgenommen werden.

So fördert ein höherer Bildungsgrad die "kognitive Mobilisierung": in dem Sinne, dass die sozio-politischen Vorgänge und Entwicklungen ebenso wie auch die verfügbaren politischen Aktionsmöglichkeiten subjektiv wahrgenommen werden und dass Individuen in die Lage versetzt werden, sich Alternativen zum Status quo vorzustellen, d. h. ein "Kontingenzbewusstsein" auszubilden wie es die Voraussetzung für jedes auf Veränderung ausgerichtetes politisches Handeln bildet (vgl. Inglehart 1977; 1990). Zudem steigt auch die Fähigkeit zur "vertikalen Verlinkung" politischer Denk- und Handlungsebenen: zum Beispiel in dem Sinne, dass spezifische Issues nicht isoliert, sondern unter dem Gesichtspunkt überlokaler Parteiideologie und -programmatik wahrgenommen werden (Converse 1964; Achen 1975).

Im Kontext der vorliegenden Untersuchung sind zwei Bildungseffekte zu unterscheiden:

1) Ein höheres Bildungsniveau innerhalb der gesamten Gemeindebevölkerung fördert eine "politischere" intrakommunale Öffentlichkeit, die auch die Parteien dazu nötigt, sich in vielfältiger Weise an offenen Auseinandersetzungen zu beteiligen.

2) Selbst in wenig politisierten Gemeinden werden Parteien mit vielen gut ausgebildeten Anhängern einen höheren Politisierungsgrad wahrnehmen: weil sie mehr alternative Entscheidungsoptionen sehen und stärker dazu tendieren, konkrete kommunale Entscheidungssituationen im Licht überlokaler Politik und Ideologie zu interpretieren.

 

 

Tabelle 7: Partielle Korrelation zwischen dem kommunalen Politisierungsgrad und dem Prozentanteil höherer Berufe* unter den Parteiaktiven, bei Kontrolle der Bevölkerungsgrösse und dem Anteil höherer Berufe an den Erwerbstätigen in der Gemeinde.

 

 

Politisierungsgrad / %-Anteil höhere Berufe unter den
Erwerbstätigen der Gemeinde

1989

2002

Kontrollvariablen:

 - Einwohnerzahl

+.059

+.067

p= .003

p=.001

(N = 2542)

(N = 2288)

Kontrollvariablen:

- Einwohnerzahl

- Anteil Akademiker unter den Parteiaktiven

+.056

+.062

p=.011

p=.032

(N = 2058)

(N = 1222)

 

*Manager, obere Kader, akademische Berufe und intermediäre Berufe

 

 

Tabelle 8: Partielle Korrelation zwischen dem kommunalen Politisierungsgrad und dem Prozentanteil Akademiker unter den Parteiaktiven, bei Kontrolle der Bevölkerungsgrösse und dem Anteil höherer Berufe an den Erwerbstätigen in der Gemeinde.

 

 

Politisierungsgrad / %-Anteil Akademiker unter den

Parteiaktiven

1989

2002

Kontrollvariablen: 
- Einwohnerzahl

+.110

+.163

p= .000

p=.001

(N = 2059)

(N = 1225)

Kontrollvariablen: 
- Einwohnerzahl 
- Anteil höherer Berufe an allen Erwerbstätigen

+.087

+.136

p=.000

p=.000

(N = 2058)

(N = 1222)

 

 

Aus den Tabellen 7 und 8 wird ersichtlich, dass beide Variablen einen eigenständigen positiven Effekt auf den perzipierten kommunalen Politisierungsgrad ausüben, der zum grossen Teil erhalten bleibt, wenn man die jeweils andere Variable kontrolliert.

4. Schlussfolgerungen

Obwohl sie im zentralsten Sinne der politischen Sphäre angehören, ihre Raison d'être aus der Konkurrenz um politische Ämter beziehen und andauernd zu zweifelsfrei "politischen" Entscheidungsfragen Stellung beziehen, herrscht innerhalb der lokalen Parteigruppierungen paradoxerweise mehrheitlich die Meinung, dass kommunale Angelegenheiten "eher unpolitisch" seien.

Verständlicherweise ist diese Auffassung am stärksten in den kleineren Gemeinden verbreitet, die aufgrund ihrer geringen Ressourcen und Einflussmöglichkeiten über wenig Handlungsalternativen verfügen und in ihrer öffentlichen Tätigkeit weitgehend davon absorbiert sind, unumstrittene Grundversorgungsbedürfnisse zu erfüllen und von überlokalen Autoritäten zugewiesene gesetzliche Aufgaben zu erfüllen. Nur in kleineren und mittleren Gemeinden hat sich diese Depolitisierung während der 90er-Jahre noch signifikant verstärkt, während in den Städten ein konstantes höheres Niveau der Politisierung erhalten geblieben ist.

Erwartungsgemäss sind es die minoritären Parteien (vor allem linker und grüner Prägung), die kommunalen Fragen am ehesten politische Qualität zuschreiben. Vielfach repräsentieren deren Anhänger wohl noch die alternden Überreste jener sozialen Bewegungen und Bürgerinitiativen, die in den 70er und 80er-Jahren vor allem im Umweltbereich, aber auch in sozialen und kulturellen Fragen zu einer lebendigeren kommunalen Politikarena beigetragen haben. Nachdem dieser Impetus weitgehend verflogen ist, scheinen zumindest nichtstädtische Gemeinden wieder verstärkt zu jenem eher technokratischen und juristischen Verständnis kommunaler Angelegenheiten zurückzukehren, das für die 50er und frühen 1960er-Jahre kennzeichnend war.

Diese Tendenzen werden nur zum Teil dadurch abgemildert, dass Lokalparteien sich heute etwas mehr als früher an Programmen und Weisungen ihrer überlokalen Mutterpartei orientieren, und dass innerhalb der kommunalen Bevölkerung (wie auch der eigenen Anhängerschaft) immer mehr Höhergebildete zu finden sind, die anerkannterweise zu einer politischeren Sichtweise neigen.

Literatur

Arzberger, Karl (1980) Bürger und Eliten in der Kommunalpolitik, Kohlhammer, Stuttgart.

Achen, C.H. (1975) Mass Political Attitudes and the Survey Response. (American Political Science Review, 69, S. 1218-1231.)

Banfield, E. C. / Wilson J. Q. (1965) City Politics. Harvard University Press, Cambridge mass.

Black, G. S. (1974) Conflict in the Community: A Theory of the Effects of Community Size. (American Political Science Review, 68, S. 1245-1261).

Converse, P. E. (1964) The Nature of Belief Systems in Mass Publics. In Ideology and Discontent, Apter, David (ed.), New York: The Free Press, S. 206-261.

Geser, Hans (1998) Demokratie oder Effizienz? Regeltreue oder Bürgernähe? Zürich. , http://socio.ch/gem/001d.htm

Geser, Hans (1997) Zwischen Aufgabenzuwachs und Autonomieverlust: Neue Selbstbehauptungsstrategien der Gemeinden im Zeitalter "vertikaler Politikverflechtung", Zürich.

Holler, W. (1981) Strukturprobleme der Kommunalverwaltung. (In: Thränhardt, D. / Uppendahl H. (Hrsg.) Alternativen lokaler Demokratie. Hain Verlag, Königstein Ts. S. 113-136).

Inglehart, Ronald (1990) Values, Ideology, and Cognitive Mobilization in New Social Movements. (In: Dalton, Russell J. / Kuechler, Manfred (eds.), Challenging the Political Order, New Social and Political Movements in Western Democracies, Polity Press, Cambridge, S. 43-66.)

Inglehart, Ronald (1977)The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles among Western Public. (Princeton: Princeton University Press, chapter 11)

Luhmann, Niklas (1979) Oeffentliche Meinung. (in: Langenbucher, Wolfgang R. (ed.) Politik und Kommunikation. München/Zürich; S. 29-61).

McCombs, M. / Shaw, D. L. (1972) The agenda-setting function of mass media. (Public Opinion Quarterly, 36, S. 176-187.)

Qualter, T. H. (1989). The role of the mass media in limiting the public agenda. In M. Margolis / G. A. Mauser (Eds), Manipulating public opinion: Essays on public opinion as a dependent variable. Pacific Grove, CA: Brooks/Cole, (S. 139-152).

Vidich, A. J. / Bensman J. (1968) Small Town in Mass Society, University of Princeton Press, Princeton.

Wurzbacher, Gerhard / Pflaum Renate (1954) Das Dorf im Spannungsfeld industrieller Entwicklung. Stuttgart.


Fussnoten

[1] in Deutschland beispielsweise "grosse Koalititionen" zwischen der CDU und des SPD (vgl. Holler 1981).