Georg Simmel: Der Konflikt der Kultur
- ein Vortrag
ex: Duncker & Humblot München und Leipzig: 1918, 48 S.
Hugo und Agathe Liepmann in Freundschaft zugeeignet
Sobald das Leben über das
bloß Animalische hinaus zur Stufe des Geistes vorgeschritten ist und der
Geist seinerseits zur Stufe der Kultur, wird in ihm ein innerer Gegensatz
offenbar, dessen Entwicklung, Austrag, Neuentstehung den ganzen Weg der
Kultur ausmacht.
Offenbar nämlich sprechen
wir von Kultur, wenn die schöpferische Bewegung des Lebens gewisse
Gebilde hervorgebracht hat, an denen sie ihre Äußerung, die Formen ihrer
Verwirklichung findet, und die ihrerseits die Flutungen des nachkommenden
Lebens in sich aufnehmen und ihnen Inhalt und Form, Spielraum und Ordnung
geben: so die sozialen Verfassungen und die Kunstwerke, die Religionen und
die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Techniken und die bürgerlichen
Gesetze und unzähliges andere.
Aber diese Erzeugnisse von
Lebensprozessen haben das Eigentümliche, daß sie im Augenblick ihres
Entstehens schon einen eigenen festen Bestand haben, der mit dem ruhelosen
Rhythmus des Lebens selbst, seinem Auf- und Niedergang, seiner steten
Erneuerung, seinen unaufhörlichen Spaltungen und Wiedervereinigungen
nichts mehr zu tun hat.
Sie sind Gehäuse des schöpferischen
Lebens, das sie aber wieder verläßt, und des nachströmenden, das aber
schließlich in ihnen nicht mehr unterkommt.
Sie zeigen eine eigene
Logik und Gesetzlichkeit, einen eigenen Sinn und Widerstandskraft, in
einer gewissen Abgelöstheit und Selbständigkeit gegenüber der
seelischen Dynamik, die sie schuf; im Augenblick dieses Schaffens
entsprechen sie vielleicht dem Leben, aber im Maße seiner
Weiterentfaltung pflegen sie in starre Fremdheit, )a Gegensätzlichkeit zu
ihm zu geraten.
Hier nun liegt der letzte
Grund davon, daß die Kultur eine Geschichtehat.
Wenn das geistgewordene
Leben fortwährend solche Gebilde schafft, die eine Geschlossenheit in
sich selbst und einen Anspruch auf Dauer, ja auf Zeitlosigkeit tragen, so
mag man sie als die Formen bezeichnen, in die dieses Leben sich
kleidet, als die notwendige Art, ohne die es nicht in die Erscheinung
treten, ohne die es nicht geistiges Leben sein kann.
Es selbst aber strömt
unablässig weiter, seine ruhelose Rhythmik tritt an jedem neuen Gehalt,
in dem es sich eine neue Daseinsform schafft, in Widerspruch gegen dessen
feste Dauer oder zeitlose Gültigkeit.
In rascherem oder
langsamerem Tempo nagen die Kräfte des Lebens an jedem einmal
entstandenen Kulturgebilde; sowie es zu seiner vollen Ausbildung gelangt
ist, beginnt darunter schon das nächste sich zu formen, das es nach kürzerem
oder längerem Kampfe zu ersetzen bestimmt ist.
Als Gegenstand der
Geschichte in ihrem größten Sinn erscheint der Wandel der Kulturformen.
Dies ist die äußere
Erscheinung, mit der die Geschichte als empirische Wissenschaft sich begnügt,
indem sie in jedem einzelnen Fall die konkreten Träger und Ursachen jenes
Wandels herausstellt.
Der Tiefenvorgang dürfte
aber der sein, daß das Leben vermöge seines Wesens als Unruhe,
Entwicklung, Weiterströmen, gegen seine eigenen festgewordenen
Erzeugnisse, die mit ihm nicht mitkommen, dauernd ankämpft; da es aber
seine eigene Außenexistenz nicht anders finden kann als eben in
irgendwelchen Formen, so stellt sich dieser Prozeß sichtbar und benennbar
als Verdrängung der alten Form durch eine neue dar.
Der fortwährende Wandel
der Kulturinhalte, schließlich der ganzen Kulturstile, ist das Zeichen
oder vielmehr der Erfolg der unendlichen Fruchtbarkeit des Lebens, aber
auch des tiefen Widerspruchs, in dem sein ewiges Werden und Sich-Wandeln
gegen die objektive Gültigkeit und Selbstbehauptung seiner Darbietungen
und Formen steht, an denen oder in denen es lebt.
Es bewegt sich zwischen
Stirb und Werde - Werde und Stirb.
Dieser Charakter des
geschichtlichen Kulturprozesses ist zuerst an wirtschaftlichen
Entwicklungen festgestellt worden.
Die wirtschaftlichen Kräfte
jeder Epoche erzeugen eine ihnen gemäße Produktionsform.
Sklavenwirtschaft und
Zunftverfassung, bäuerliche Schollenpflichtigkeit und freies
Lohnarbeitertum oder welche Arbeitsorganisationen immer - als sie sich
bildeten, waren sie der adäquate Ausdruck dessen, was die Zeit konnte und
wollte.
Aber innerhalb ihrer
Normierungen und Schranken wuchsen jeweils wirtschaftliche Kräfte auf,
deren Maß und Art sich in ihnen nicht ausleben konnten und die den immer
drückenderen Zwang der jeweiligen Form in langsameren oder akuteren
Revolutionen sprengten, um eine andere, diesen jetzigen Kräften
angemessene Produktionsart an ihre Stelle zu setzen.
Aber diese letztere hat
doch in sich, als Form, keine Energie, die eine andere verdrängen könnte.
Es ist das Leben selbst -
hier in seiner wirtschaftlichen Auszweigung - mit seinem Drängen und Überholen-Wollen,
seinem Sich-Wandeln und Differenzieren, das die Dynamik zu der ganzen
Bewegung hergibt, das aber, an sich formlos, doch nur als Geformtes zum Phänomen
werden kann.
Dennoch beansprucht diese
Form, ihrem Wesen als Form nach, und auf rein geistigen Gebieten noch
sichtbarer als auf wirtschaftlichem, im Augen blick ihres Aufkommens eine
übermomentane, von der Pulsierung des Lebens selbst emanzipierte Gültigkeit;
und darum setzt sich gegen diese das Leben eigentlich von vornherein in
latente Opposition, die bald in dieser, bald in jener Provinz unseres
Seins und Tuns zum Ausbruch kommt.
Und dies kann sich schließlich
zu einer Gesamtnot der Kultur akkumulieren, in der das Leben die Form
als solche wie etwas ihm Aufgedrungenes empfindet, die Form überhaupt,
nicht nur diese und jene durchbrechen und in seine Unmittelbarkeit
aufsaugen will, um sich selbst an ihre Stelle zu setzen, seine eigene
Kraft und Fülle so und nur so strömen zu lassen, wie sie eben aus seiner
Quelle bricht, bis alle Erkenntnisse, Werte und Gebilde nur noch als seine
umweglosen Offenbarungen gelten können.
Jetzt erleben wir diese
neue Phase des alten Kampfes, der nicht mehr Kampf der heute vom Leben gefüllten
Form gegen die alte, leblos gewordene ist, sondern Kampf des Lebens gegen
die Form überhaupt, gegen das Prinzip der Form.
Der Tatsache nach haben die
Moralisten, die Lobredner der alten Zeit, die Menschen des strengen
Stilgefühles recht, wenn sie über die allenthalben sich steigernde »Formlosigkeit«
des modernen Lebens klagen.
Nur pflegen sie zu übersehen,
daß nicht nur etwas Negatives, das Absterben der überlieferten Formen
geschieht, sondern ein durchaus positiver Lebensdrang diese Formen abstößt.
Weil aber die Breite dieses
Geschehens ihn zu der Konzentrierung zu neuem Formschaffen noch nicht
kommen läßt, macht er sozusagen aus dieser Not ein Prinzip und glaubt
gegen die Form, bloß weil sie Form ist, kämpfen zu sollen.
Vielleicht ist dies nur in
einer Epoche möglich, in der die Kulturformen überhaupt als erschöpfter
Boden empfunden werden, der hergegeben hat, was er hergeben konnte, während
er doch noch ganz und gar von den Erzeugnissen seiner früheren
Fruchtbarkeit bedeckt ist.
Gewiß, im 18. Jahrhundert
geschah Ähnliches, aber einmal geschah es durch einen viel längeren
Zeitraum hindurch, von der englischen Aufklärung des 17. Jahrhunderts bis
zur Französischen Revolution, und dann stand hinter jedem Umsturz das
ganz feste neue Ideal: die Befreiung des Individuums, das Vernünftigwerden
des Lebens, der sichere Fortschritt der Menschheit zu Glück und
Vollkommenheit.
Und aus ihm stieg, die
Menschen innerlich sichernd, das Bild neuer, irgendwie schon vorbereiteter
Kulturformen auf.
So kam es nicht zu der
Kulturnot, die wir kennen, die wir Älteren allmählich wachsen sahen, bis
zu dem Grade, daß überhaupt nicht mehr eine neue Form den Kampf gegen
eine alte aufnahm, sondern auf allen möglichen Gebieten das Leben sich
dagegen empört, in irgendwie festen Formen verlaufen zu sollen.
Es ist wie ein Vorstadium
dieser nun deutlich gewordenen Lage, daß in der philosophischen Deutung
der Welt schon vor Jahrzehnten der Begriff des Lebens herrschend zu werden
begonnen hat.
Um dieser Erscheinung ihren
richtigen Platz innerhalb des geistesgeschichtlichen Gesamtraumes
anzuweisen, muß ich ein wenig weiter ausholen.
In jeder großen,
entschieden charakterisierten Kulturepoche kann man je einen
Zentralbegriff wahrnehmen, aus dem die geistigen Bewegungen hervorgehen,
und auf den sie zugleich hinzugeben scheinen; mag nun die Zeit selbst über
ihn ein abstraktes Bewußtsein haben, oder mag er nur der ideelle
Brennpunkt für jene Bewegungen sein, den erst der spätere Beobachter in
seinem Sinn und seiner Bedeutung für sie erkennt.
Jeder solche Zentralbegriff
findet natürlich unzählige Abwandlungen, Verhüllungen, Gegnerschaften,
aber mit alledem bleibt er der »heimliche König« der Geistesepoche.
Für jede solche liegt er
da - und das macht seinen Ort auffindbar -, wo das höchste Sein, das
Absolute und Metaphysische der Wirklichkeit mit dem höchsten Wert, mit
der absoluten Forderung an uns selbst und an die Welt zusammentrifft.
Gewiß liegt hierin ein
logischer Widerspruch: was unbedingteste Realität ist, braucht nicht erst
realisiert zu werden, von dem unbezweifeltsten Sein kann man ersichtlich
nicht sagen, daß es erst sein soll.
Aber um diese begriffliche
Schwierigkeit kümmern sich die Weltanschauungen in ihren letzten
Aufgipfelungen nicht, und gerade wo sie ihn begehen, wo die sonst
gegeneinander fremden Reihen des Seins und des Sollens sich begegnen, kann
man sicher sein, an einem wirklichen Zentralpunkt des jeweiligen
Weltbildes zu stehen.
Nur in größter Kürze
deute ich hier an, was mir für weite Epochen als ein solcher
Zentralbegriff erscheint.
In der griechischen Klassik
war es die Idee des Seins, des einheitlichen, substantiellen, göttlichen,
das aber nicht pantheistisch gestaltlos war, sondern in sinnvollen
plastischen Formen gegeben und zu ihnen zu gestalten.
An seine Stelle setzte das
christliche Mittelalter den Gottesbegriff, Quell zugleich und Ziel aller
Wirklichkeit, unbedingter Herr unserer Existenz und doch von ihr freien
Gehorsam und Hingabe erst fordernd.
Diesen obersten Platz nahm
seit der Renaissance allmählich der Begriff der Natur ein.
Sie erschien als das
Unbedingte, das allein Seiende und Wahre, zugleich aber als das Ideal, als
ein erst Darzustellendes und Durchzusetzendes; zuerst im Künstlertum, für
das ja von vornherein die Einheit des letzten Kernes der Wirklichkeit und
des wertmäßig Höchsten unerläßliche Lebensbedingung ist.
Dann hat das 17-Jahrhundert
die Weltanschauung um den Begriff des Naturgesetzes als des allein
wesenhaft Gültigen zentriert, und das Jahrhundert Rousseaus hat die »Natur«
als Ideal, als den absoluten Wert, Sehnsucht und Forderung darüber
gebaut.
Daneben arbeitet sich am
Ende der Epoche das Ich, die seelische Persönlichkeit, als Zentralbegriff
auf, indem einerseits das ganze Dasein als schöpferische Vorstellung des
bewußten Ich auftritt, andrerseits die Persönlichkeit doch erst zur
Aufgabe wird, das Durchsetzen des reinen Ich oder auch der Individualität
als der absolute sittliche Anspruch, ja als das metaphysische Weltziel
erscheint. Das 19. Jahrhundert hat in
der bunten Vielheit seiner geistigen Bewegungen keinen gleich umfassenden
Leitgedanken aufgebracht.
In der Beschränkung auf
das Menschliche könnte man hier an den Begriff der Gesellschaft denken,
die im 19.Jahrhundert zuerst als unsere eigentliche Lebensrealität verkündet
wurde, das Individuum ein bloßer Kreuzungspunkt sozialer Reihen oder gar
eine Fiktion wie das Atom; andrerseits aber wird doch gerade ein Aufgehen
in der Gesellschaft erst gefordert, die absolute Hingabe an sie sei
das absolute Sollen, das das sittliche und jegliches andere in sich schlösse.
Erst um die Wende des 20.
Jahrhunderts schienen weitere Schichten des geistigen Europa gleichsam die
Hand nach einem neuen Grundmotiv für den Aufbau einer Weltanschauung
auszustrecken: der Begriff des Lebensstrebt zu der zentralen Stelle
auf, in der Wirklichkeit und Werte - metaphysische wie psychologische,
sittliche wie künstlerische ihren Treffpunkt haben.
Welche Einzelerscheinungen
nun, die zuvor geschilderte Allgemeintendenz der jüngsten Kultur tragend,
in der vielgestaltigen »Metaphysik des Lebens« den Boden für ihr
Wachstum, die Rechtfertigung für ihre Richtungen und ihre Konflikte und
Tragödien finden - wird nachher zu verfolgen sein.
Aber es muß noch gesagt
werden, wie merkwürdig die aufkommende weltanschauliche Bedeutung des
Lebensbegriffes sich vorwegnehmend damit bestätigt hat, daß die großen
Antagonisten der modernen Wertgefühle, Schopenhauer und Nietzsche, sich
gerade in ihr zusammenfinden.
Schopenhauer ist der erste
neuzeitliche Philosoph, der innerhalb der tiefsten und entscheidenden
Schicht nicht nach irgendwelchen InhaltenLebens, nach Ideen oder
Seinsbeständen fragt, sondern ausschließlich: Was ist das Leben, was ist
seine Bedeutung rein als Leben?
Daß er den Ausdruck nicht
braucht, sondern nur vom Willen zum Leben oder vom Willen überhaupt
spricht, darf an dieser Grundeinstellung nicht irre machen.
Jenseits all seines
spekulativen Hinausgreifens über das Leben, ist »Wille« eben seine
Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Lebens als solchen.
Und diese besagt, daß das
Leben keinen Sinn und Zweck außerhalb seiner selbst erreichen kann, weil
es immer seinen eigenen, in tausend Formen verkleideten Willen ergreift;
gerade indem es seiner metaphysischen Wirklichkeit nach nur in sich selbst
bleiben kann, kann es an jedem scheinbaren Ziel nur Enttäuschung und
endlos weitertreibende Illusionen finden.
Nietzsche aber, ganz ebenso
von dem Leben als der alleinigen Bestimmung seiner selbst, als der
alleinigen Substanz aller seiner Inhalte ausgehend, hat den ' dem Leben
von außen versagten sinngebenden Zweck im Leben selbst gefunden, das
seinem Wesen nach Steigerung, Mehrwerden, Entwicklung zu Fülle und Macht,
zu Kraft und Schönheit aus sich selbst heraus ist, - nicht an einem
angebbaren Ziele, sondern an der Entwicklung seiner selbst, dadurch, daß
es mehr Leben wird, einen Wert gewinnend, der sich ins Unendliche
erhöht.
Aus wie tiefen Wesensgegensätzen
heraus, jeder verstandesmäßigen Vermittlung oder Entscheidung spottend,
hier auch die Verzweiflung am Leben und der Jubel über das Leben einander
entgegenstehen - die Grundfrage ist ihnen gemeinsam und scheidet sie von
allen früheren Philosophen - die Grundfrage: Was bedeutet das Leben, was
ist sein Wert bloß als Leben?
Nach dem Erkennen und der
Moral, nach dem Ich und der Vernunft, nach der Kunst und Gott, nach Glück
und Leiden können sie erst fragen, nachdem sie sich jenes erste Rätsel
gelöst haben, und seine Lösung entscheidet über all solches; erst die
Urtatsache des Lebens gibt allem Sinn und Maß, positiven oder negativen
Wert.
Der Begriff des Lebens ist
der Schnittpunkt der beiden entgegengesetzt laufenden Gedankenlinien, die
den Grundentscheidungen des modernen Lebens den Rahmen gegeben haben.
Ich versuche nun an einigen
Erscheinungen der neuesten, das heißt bis 1914 entwickelten Kultur die
entscheidende Abweichung von allem bisherigen Kulturwandel darzustellen,
in welchem immer die Sehnsucht nach einer neuen Form die alte gestürzt
hat; während wir jetzt als das letzte Motiv der Entwicklungen auf diesem
Gebiete, auch wo das Bewußtsein scheinbar oder wirklich zu neuen Gebilden
vorschreitet, dennoch als ihre letzte Triebfeder die Gegnerschaft gegen
das Prinzip der Form überhaupt heraushören können.
Es ist vielleicht - um dies
noch vorauszuschicken - nur ein anderer Ausdruck für das, der benennbaren
Erscheinung nach Negative dieser Geistesbewegung, daß wir mindestens seit
einer Reihe von Jahrzehnten nicht mehr unter einer irgendwie gemeinsamen
Idee leben, ja in weitem Ausmaß überhaupt nicht unter einer Idee - wie
das Mittelalter seine kirchlich christliche Idee hatte, und die
Renaissance den Wiedergewinn der irdischen Natur als eines Wertes, der
nicht erst durch Legitimation von transzendenten Mächten her galt, wie
die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die für die Idee des allgemeinen
Menschenglücks durch die Herrschaft der Vernunft lebte, und die große
Zeit des deutschen Idealismus, die die Wissenschaft durch künstlerische
Phantasie verklärte und der Kunst durch wissenschaftliche Erkenntnis ein
Fundament von kosmischer Breite geben wollte.
Würde man aber heut die
Menschen der gebildeten Schichten fragen, unter welcher Idee sie
eigentlich leben, so würden die meisten eine spezialistische Antwort aus
ihrem Beruf heraus geben; aber von einer Kulturidee, die sie als ganze
Menschen und die alle Sonderbetätigungen beherrschte, würde man selten hören.
Ist das eigentümliche
Stadium des geschichtlichen Wandels schon innerhalb der einzelnen
Kulturprovinz jetzt dies, daß die reine Unmittelbarkeit des Lebens in die
Erscheinung treten will und, soweit sie dies doch nur in irgendeiner Form
kann, durch deren Unzulänglichkeit gerade jenes eigentlich entscheidende
Motiv verrät - so fehlt nicht nur sozusagen das Material für eine
zusammenfassende Kulturidee, sondern die Gebiete, deren Neubildungen von
ihr zu umgreifen wären, sind viel zu mannigfaltig, ja heterogen, um eine
solche ideelle Vereinheitlichung zuzulassen.
- Auf das Einzelne übergehend,
spreche ich nun zuerst von künstlerischen Erscheinungen.
Aus den
durcheinanderlaufenden Bestrebungen, deren Ganzheit als Futurismus
bezeichnet wird, scheint sich nur die als Expressionismus charakterisierte
Richtung mit einer einigermaßen bezeichenbaren Einheit und Deutlichkeit
herauszuheben.
Täusche ich mich nicht, so
ist es der Sinn des Expressionismus, daß die innere Bewegtheit des Künstlers
sich ganz unmittelbar so, wie sie erlebt wird, in das Werk oder genauer
noch als das Werk fortsetze.
Sie soll das nicht an einer
Form tun oder sich in eine Form gießen, die ihr von einer Existenz außerhalb
ihrer, einer realen oder auch einer ideellen, aufgedrungen würde.
Darum hat sie nichts mit
der Nachbildung eines Seins oder Geschehens zu tun, weder in dessen
objektiver naturgesetzlicher Gestalt, noch, wie es der Impressionismus
wollte, in der unseres momentanen sinnlichen Eindrucks von ihm; denn auch
dieser ist schließlich nicht die rein eigene, ausschließlich von innen
bestimmte Produktion des Künstlers, sondern die Impression selbst ist
etwas Passives, Abhängiges und das sie widerspiegelnde Werk eine Art
Mischung des künstlerischen Selbstlebens mit der Fremdheit eines
Gegebenen.
Und wie dieses dem Inhalt
nach Außersubjektive abgewiesen wird, ebenso diejenige Formgebung im
engeren Sinne, die an den Künstler erst von irgendwoher herantritt, von
der Tradition und der Methode, von einem Vorbild und einem festgestellten
Prinzip.
Alles dies sind Hemmungen
des Lebens, das sich aus sich selbst heraus schöpferisch ergießen will
und deshalb, wenn es sich solchen Formen fügte, sich nur als ein
abgebogenes, starr gewordenes, unechtes in dem Werk fände.
Ich möchte mir das
Schaffen des expressionistischen Malers (und entsprechend, nur nicht so
einfach ausdrückbar, in allen anderen Künsten) bei absoluter Reinheit so
vorstellen, daß seine seelische Bewegtheit sich ohne weiteres in die
Hand, die den Pinsel hält, fortsetzt - wie die Geste die innere
Bewegtheit, der Schrei den Schmerz ausdrückt -, daß deren Bewegungen ihr
widerstandslos gehorchen, so daß das auf der Leinwand schließlich
dastehende Gebilde der unmittelbare Niederschlag des inneren Lebens ist,
das nichts Äußerliches und Fremdes in seine Entfaltung hineingelassen
hat.
Daß auch
expressionistische Bilder nach einem Objekt tituliert werden, mit dem sie
gar keine »Ähnlichkeit« haben, ist zwar befremdend genug und vielleicht
überflüssig, aber doch nicht so sinnlos, wie es nach den bisherigen
artistischen Voraussetzungen scheinen muß.
Denn jene innere Bewegtheit
des Künstlers, die als expressionistisches Werk nur ausströmt, kann
freilich aus unauffindbaren oder namenlosen Quellflüssen der Seele
kommen.
Sie kann aber natürlich
auch dem Reiz durch ein äußeres Objekt entstammen.
Und während man bisher
meinte, daß der künstlerisch produktive Erfolg solcher Anregung eine
morphologische Ähnlichkeit mit dem, wovon sie ausging, zeigen müßte
(auf dieser Voraussetzung ruhte der ganze Impressionismus), hat der
Expressionismus diese Voraussetzung aufgelöst; er macht Ernst damit, daß
eine Ursache und ihre Wirkung keinerlei Gleichheit ihrer äußeren
Erscheinungsform zu haben, daß die nur innerlichen dynamischen
Beziehungen beider sich in keine anschauliche Verwandtschaft fortzusetzen
brauchen.
So kann der Anblick einer
Geige oder eines menschlichen Gesichts in dem Maler Affekte auslösen,
die, in Umsetzungen durch seine künstlerischen Energien, schließlich ein
völlig anders aussehendes Gebilde aus sich entlassen.
Man könnte sagen, der
expressionistische Künstler setze an die Stelle des »Modells« die »Veranlassung«,
die sein inhaltlich nur sich selbst gehorsames Leben zu einer Bewegung
anregt.
Auf den abstrakten Ausdruck
gebracht, der doch die ganz reale Willenslinie zeichnet, ist es der Kampf
des Lebens um sein Selbst-Sein; es will, wo es sich ausspricht, eben nur
sich selbst aussprechen und durchbricht deshalb jede Form, die ihm von
einer anderen Wirklichkeit, die um ihrer Wirklichkeit willen, oder von
einem Gesetz, das um des Gesetzes willen gilt, auferlegt werden soll.
Gewiß, begrifflich
angesehen, hat auch das schließlich dastehende Gebilde eine Form.
Allein sie ist hier der künstlerischen
Intention nach nur eine sozusagen unvermeidliche Äußerlichkeit, sie hat
nicht, wie die Formen aller anderen Kunstideale, eine Bedeutung an sich
selbst, die von dem schaffenden Leben nur getragen, nur verwirklicht würde.
Deshalb ist diese Kunst
auch gegen Schönheit oder Häßlichkeit gleichgültig, die sich an die
Erscheinung solcher Formen heftet, während das Leben in seinem nicht von
einem Ziel bestimmten, sondern von einer Kraft getriebenen Ausströmen,
seine Bedeutung jenseits von Schönheit und Häßlichkeit hat.
Wenn die Werke, die dabei
herauskommen, uns nicht befriedigen, so bestätigt dies nur, daß eine
neue Form eben nicht gefunden ist und sozusagen nicht in Frage steht.
Nachdem die Gestaltung
dasteht, der zeugende Lebensprozeß sie verlassen hat, zeigt sich, daß
sie den eigenen Sinn und Wert nicht besitzt, den man von dem objektiv
Dastehenden, von seinem Schöpfer Gelösten fordert, den aber dieses, nur
sich selbst ausdrückende Leben, gleichsam eifersüchtig, dem Gebilde
nicht gegönnt hat.
Vielleicht hegt in dieser
prinzipiellen Richtung schon die eigentümliche Vorliebe, die sich seit
einiger Zeit für die Alterskunst der großen Künstler bemerkbar macht.
Hier ist das schöpferische
Leben so souverän es selbst, so reich an sich selbst geworden, daß es
jede Form, die irgendwie traditionell oder mit anderen geteilt ist, abstößt,
daß seine Äußerung im Kunstwerk nichts anderes ist, als sein jeweiliges
eigenstes Verhängnis.
So zusammenhängend und
sinnvoll das Werk von diesem her sei, so erscheint es vom Standpunkt der
hergebrachten Formen aus oft zersplittert, ungleichmäßig, wie aus
Fragmenten bestehend.
Dies ist nicht senile Unfähigkeit
zur Gestaltung, keine Altersschwäche, sondern Altersstärke.
Der große Künstler ist in
dieser Epoche seiner Vollendung so rein er selbst, daß sein Werk nur das
an Form noch zeigt, was die Strömung seines Lebens von selbst erzeugt:
ihr Eigenrecht hat die Form ihm gegenüber verloren.
Nun wäre es zwar
prinzipiell durchaus möglich, daß eine Form, die rein als Form
vollkommen und in sich bedeutsam ist, der völlig adäquate Ausdruck jenes
unmittelbaren Lebens ware und ihm anläge wie eine organisch gewachsene
Haut; und bei den großen, eigentlich klassisch zu nennenden Werken ist
dies zweifellos der Fall.
Allein von diesen
abgesehen, offenbart sich hier ein eigentümliches Strukturverhältnis der
geistigen Welt, das weit über seine Folgen für die Kunst hinwegreicht.
Man wird behaupten dürfen,
daß sich in der Kunst etwas ausspricht, was jenseits der - in Vollendung
zu Gebote stehenden - Form der Kunst lebt.
In jedem großen Künstler
und jedem großen Kunstwerk ist ein Tieferes, Breiteres, aus verborgeneren
Quellen Fließendes enthalten, als die Kunst in ihrem rein artistischen
Sinne hergibt, das aber von ihr aufgenommen und zu Darstellung und
Merkbarkeit gebracht wird.
Während dieses Etwas nun
in jenen klassischen Fällen gänzlich mit ihr verschmilzt, wird sein Gefühltwerden,
sein Bewußtsein, in den Fällen etwas mehr Gesondertes, von sich
aus Sprechendes, in denen es der Form der Kunst geradezu widerstreitet, ja
sogar sie zerstört.
So das innere Schicksal,
das Beethoven in den letzten Werken aussprechen will.
Hier ist nicht eine
bestimmte Kunstform zerbrochen, sondern die Kunstform überhaupt ist von
etwas anderem, Weiterem, aus einer anderen Dimension Kommendem überwältigt.
So in der Metaphysik.
Ihre Absicht ist doch
Erkenntnis der Wahrheit.
Aber es will sich in ihr
etwas aussprechen, was jenseits von Erkenntnis liegt und dieses Mehr oder
Tiefer oder nur Anderes dadurch unverkennbar macht, daß es die Wahrheit
als solche vergewaltigt, das Widerspruchsvolle, zweifellos Widerlegbare
behauptet.
Es gehört zu den typischen
Paradoxien des Geistes - die freilich der bequeme Optimismus der Flachheit
zu verleugnen pflegt -, daß manche Metaphysik als Lebenssymbol oder als
ausgedrücktes Verhältnis eines Typus Mensch zum Seinsganzen nicht so
wahr wäre, wenn sie als »Erkenntnis« wahr wäre.
Vielleicht ist auch in der
Religion etwas, was nicht Religion ist, ein tieferes Jenseits-Ihrer, das
es bewirkt, daß jede ihrer konkreten Formen, in denen sie doch wirklich
Religion ist, gesprengt wird, und das sich als Ketzertum und Abfall
offenbart.
Daß in einem Menschenwerk,
vielleicht in jedem, das ganz aus der Schöpferkraft der Seele stammt,
mehr ist, als in seine Form hineingeht - wodurch es sich von allem bloß
mechanisch Entstandenen unterscheidet -, sehen wir erst unzweideutig, wenn
es sich in Gegensatz zu dieser Form begibt.
- Vielleicht nicht in
solcher Zuspitzung, aber der allgemeinen Struktur nach, liegt hier das
Motiv für das Interesse, das die Kunst van Goghs jetzt findet.
Denn mehr wohl als bei
allen anderen Malern empfindet man, daß hier ein leidenschaftlich und
weit über die Grenzen der Malerei hinausschwingendes Leben,
hervorbrechend aus einer ganz singulären Breite und Tiefe, in dem
malerischen Talent gleichsam nur den Kanal für sein Ausströmen gefunden
hat, sozusagen zufällig, als hätte es sich ebensogut in praktische oder
religiöse, dichterische oder musikalische Betätigung hinausleben können.
Es scheint mir vor allem
dieses glühende, in seiner Unmittelbarkeit fühlbare Leben zu sein - das
freilich nur hier und da zu seiner anschaulichen Ausformung in einen sie
zerstörenden Kontrast tritt -, was ganz im Sinne der hier gemeinten
allgemeinen Geistesrichtung weite Kreise an van Gogh fesselt.
- Daß andrerseits in einem
Teil der heutigen Jugend die Sehnsucht nach einer völlig abstrakten Kunst
besteht, wird wohl aus dem Gefühl stammen, daß das Leben sich mit der
Leidenschaft des unmittelbaren, nackten Selbstausdrucks in einen
Widerspruch und eine Unmöglichkeit begibt, gleichviel, wie unbesorgt es
diese auf sich nimmt.
Gerade die ungeheure
Bewegtheit des Lebens in dieser Jugend treibt auch jene Tendenz in das
absolute Extrem.
Übrigens ist es überhaupt
begreiflich, daß vor allem die Jugend die hier charakterisierte Bewegung
vertritt.
Denn wenn im allgemeinen
schon geschichtliche Wandlungen von äußerem oder innerem
Revolutionarismus durch die Jugend getragen werden, so liegt hier noch in
dem besonderen Wesen der jetzigen eine besondere Hinweisung darauf.
Denn während das Alter,
bei ermattender Vitalität, sich mehr und mehr auf die objektiven Inhalte
des Lebens (die in dem jetzigen Sinne ebenso als seine Formen zu
bezeichnen sind) konzentriert, kommt es der Jugend vor allem auf den Prozeß
des Lebens an, sie will nur dessen Kräfte und Kraftüberschuß
ausleben, relativ gleichgültig, an welchen Gegenständen und deshalb oft
genug treulos gegen sie.
In einer Kulturrichtung,
die nur das Leben selbst und seine gegen alle Form beinahe verächtliche
Äußerung inthronisiert, objektiviert sich gewissermaßen der Sinn des
jugendlichen Lebens als solchen.
Endlich begegnet uns im
Umkreis dieser Erwägungen noch ein bestätigendes Fundament innerhalb und
in weitem Maße auch außerhalb des Kunstbetriebes.
Die Originalitätssucht bei
so vielen jungen Leuten der Gegenwart ist vielfach, keineswegs aber
ausschließlich, Eitelkeit und ein Bemühen, sich für sich selbst und
andere zu einer Sensation zu machen.
In den besseren Fällen
wirkt darin doch die Leidenschaft, das wirkliche eigene Leben zur Äußerung
zu bringen, und die Sicherheit, daß es wirklich seine Äußerung
ist, scheint nur gegeben, wenn nichts sonst Bestehendes, Überliefertes in
sie aufgenommen ist.
Denn dies ist eine schon
festgewordene, jenseits des unmittelbaren Schöpfertums objektivierte Art
und Form, in die man das eigene Leben gießt, und in der es nicht nur
seine Eigenheit verliert, sondern in Gefahr ist, gerade seine Lebendigkeit
in ein nicht mehr Lebendiges zu verströmen.
Was in diesen Fällen
gerettet werden soll, ist nicht sowohl die Individualität des Lebens,
sondern das Leben der Individualität.
Die Originalität ist
sozusagen nur die ratio cognoscendi, die uns vergewissert, daß das Leben
rein bei sich selbst ist und nicht Formen, die ihm äußerlich,
objektiviert und starr sind, in seinen Strom oder seinen Strom in sie
aufgenommen hat.
Dies ist vielleicht überhaupt,
worauf ich hier nur hindeuten kann, eine tiefere Intention, die dem
modernen Individualismus zugrunde liegt. -
Ich versuche nun den
gleichen Grundwillen an einer der jüngsten philosophischen Bewegungen
nachzuweisen, die sich am entschiedensten von den historisch gefesteten
Gestaltungen der Philosophie abwendet.
Ich will sie als
Pragmatismus bezeichnen, weil auf diesen Namen die bekannteste Auszweigung
der Theorie, die amerikanische, getauft ist, die ich im übrigen für ihre
oberflächlichste und beschränkteste halte.
In Unabhängigkeit von
dieser wie von jeder anderen bisher bestehenden Fixierung erscheint mir für
unser jetziges Interesse die folgende Motivation als die entscheidende.
Von allen Sondergebieten
der Kultur ist keines dem Leben gegenüber selbständiger, keines so
autonom, in solcher Entferntheit von den Bewegtheiten und Nöten, den
Individuallsierungen und Schicksalen des Lebens ruhend, wie das Erkennen.
Nicht nur daß zwei mal
zwei vier ist, oder daß die Materienmassen sich im umgekehrten
Entfernungsquadrat anziehen, gilt, gleichviel, ob lebendige Geister
es wissen oder nicht, und gleichgültig dagegen, welche Wandlungen während
seines beharrenden Erkanntseins das Menschengeschlecht erlebe, sondern
auch die unmittelbarer in das Leben verflochtenen Erkenntnisse spielen
ihre Rolle in diesem, gerade weil sie in allem Auf und Nieder seiner Strömungen
etwas diesem Unberührbares sind.
Auch das sogenannte
praktische Wissen ist natürlich ein theoretisches, das nur nachträglich
zu praktischen Zwecken verwendet wird, als Wissen aber einer
selbstgesetzlichen Ordnung, einem idealen Reich des Wahren zugehörig
bleibt.
Diese, der Wahrheit von je
zuerkannte Unabhängigkeit wird vom Pragmatismus bestritten.
Jeder Schritt und Tritt des
Lebens, äußeren wie inneren, - so argumentiert er - beruht auf
irgendwelchen Erkenntnisvorstellungen, deren Wahrheit unser Leben erhält
und fördert, deren Irrigkeit uns ins Verderben führt.
Da aber unsere
Vorstellungen von unserer psychischen Artung abhängig und keineswegs
mechanische Abspiegelungen der Realität sind, in die unser praktisches
Leben sich verflicht, so wäre es der merkwürdigste Zufall, wenn
Vorstellungen, ausschließlich in der Konsequenz subjektiver Denkweise
entwickelt, zu erwünschten und berechenbaren Folgen innerhalb jener
Realität führen sollten.
Das Wahrscheinliche ist
vielmehr, daß unter den zahllosen, unser handelndes Leben bestimmenden
Vorstellungen gewisse, auf Grund ihrer fördernden dynamischen
Beeinflussung dieses Lebens den Titel der wahren erhalten, während andere
von entgegengesetzten Folgen die irrigen heißen.
Es besteht also nicht jene
von vornherein unabhängige Wahrheit, die nur wie nachträglich in den
Lebensstrom hinabgezogen wird, um ihn richtig zu leiten, sondern
umgekehrt: unter den unabsehlichen theoretischen Elementen, die dieser
Lebensstrom gebiert und die rückwirkend wieder seine Richtung
beeinflussen, sind solche, deren Einfluß unserem Lebenswillen gemäß ist
- zufällig, könnte man sagen: aber ohne diesen Zufall würden wir nicht
existieren können - und eben diese heißen uns die wahren, die richtig
erkennenden.
Nicht die Objekte für sich
und nicht ein souveräner Verstand in uns bestimmen den Wahrheitsgehalt
unseres Vorstellens: sondern das Leben selbst, bald nach seinen groben Nützlichkeiten,
bald nach seinen tiefsten seelischen Bedürfnissen erzeugt jene
Wertrangierung unter unseren Vorstellungen, deren einen Pol wir als die
volle Wahrheit, den anderen als den vollen Irrtum bezeichnen.
Ich kann diese Lehre hier
weder ausführen noch kritisieren.
Auch kommt es mir ja nicht
auf ihr Recht oder Unrecht, sondern darauf an, daß sie eben jetzt
entwickelt worden ist, daß sie dem Erkennen seinen alten Anspruch nimmt,
ein freischwebendes Reich zu sein, nach selbständigen ideellen Gesetzen
verwaltet; nun ist es ein in das Leben verwebtes Element, aus dessen
Quelle gespeist, von der Gesamtheit und Einheit seiner Richtungen und
Zwecke gelenkt und von seinen fundierenden Werten her legitimiert.
Das Leben hat damit über
eine bisher scheinbar von ihm abgetrennte und autonome Provinz seine
Souveränität reklamiert; und mit tieferer weltanschaulicher Wendung ist
dies so auszudrücken, daß die Formen des Erkennens, durch ihre innere
Konsistenz, ihren selbstgenugsamen Sinn einen festen Rahmen oder ein
unzerreißbares Kanevas für unsere ganze Vorstellungswelt bildend, von
und in der Flutung des Lebens aufgelöst werden, sich deren werdenden und
sich wandelnden Kräften und Richtungen bildsam zeigen, ohne ihnen aus
einem eigenen Recht und einer zeitlosen Gültigkeit Widerstand
entgegenzusetzen.
Zu reinster Ausprägung
gelangt das Leben als Zentralbegriff der Weltanschauung da, wo weit über
diese Umgestaltung des Erkenntnisproblems hinaus das Leben zur
metaphysischen Urtatsache, zum Wesen alles Seins überhaupt wird, so daß
jede gegebene Erscheinung ein Pulsschlag oder eine Darstellungsweise oder
ein Entwicklungsstadium des absoluten Lebens ist: es steigt, in der
Gesamtentfaltung der Welt zum Geiste, als Geist, auf, es sinkt als Materie
herab.
Und wenn diese Theorie die
Erkenntnisfrage durch die »Intuition« beantwortet, die jenseits alles
Logischen, verstandesmäßig Vermittelten die wahre Innerlichkeit der
Dinge unmittelbar erfasse - so bedeutet dies, daß nur das Leben imstande
ist, das Leben zu verstehen.
Darum mußte, von dieser
Seite gesehen, auch alle Objektivität, der Gegenstand der
Erkenntnis, in Leben verwandelt werden, damit der Prozeß des Erkennens,
durchaus als eine Funktion des Lebens selbst gedeutet, auch sicher sei,
ein ihm ganz durchdringbares, weil ihm wesensgleiches Objekt sich gegenüber
zu haben.
Während also der ursprüngliche
Pragmatismus das Weltbild nur von der Seite des Subjekts her in
Leben auflöste, ist dies nun hier auch von der Seite des Objekts her
geschehen.
Von der Form als einem
Weltprinzip außerhalb des Lebens, als einer Daseinsbestimmung eigenen
Sinnes und eigener Macht ist nichts mehr übrig geblieben.
Was in diesem Bilde noch
als Form bezeichnet werden könnte, würde nur von Gnaden des Lebens
selbst bestehen.
Es akkumuliert sich diese
Wendung vom Formprinzip weg in der Abneigung nicht nur des Pragmatismus,
sondern aller von dem modernen Gefühl für das Leben erfüllten Denker
gegen das geschlossene System, in dem die frühere, noch von dem
klassischen Formgedanken beherrschte Epoche das ganze philosophische Heil
gesehen hatte.
Das System will alle
Erkenntnisse, mindestens in ihren allgemeinsten Begriffen, von einem
Grundmotiv aus gewissermaßen symmetrisch zu einem nach allen Seiten
gleichmäßig ausgebildeten Bau über- und untergeordneter Glieder
vereinigen.
In der archltektonisch ästhetischen
Vollendung, in der gelungenen Abrundung und Lückenlosigkeit dieses Baues
sieht es - und dies ist der entscheidende Punkt - den Beweis für seine
sachliche Richtigkeit und dafür, daß nun wirklich die Ganzheit des
Daseins erfaßt und begriffen wäre.
Es ist die äußerste
Aufgipfelung des Formprinzips überhaupt, indem es die innere
Befriedigtheit
und Geschlossenheit der
Form zum letzten Prüfstein der Wahrheit macht; und das ist es, wogegen
sich das zwar immer formgestaltende, aber auch immer formdurchbrechende
Leben zur Wehre setzt.
Die weitanschauliche
Position, die diese Theorien für das Leben gewinnen, ist in zwei
Richtungen fest gelegt: es wird von ihm her einerseits der Mechanismus als
kosmisches Grundprinzip verworfen; er ist vielleicht eine Technik des
Lebens, vielleicht eine Verfallserscheinung seiner.
Andrerseits ebenso die Idee
als metaphysische Selbständigkeit, als oberste und unbedingte Leitung
oder Substanz alles Daseins.
Das Leben will nicht von
dem beherrscht sein, was unter ihm ist, aber es will überhaupt nicht
beherrscht sein, also auch nicht von der Idealität, die sich den Rang
oberhalb seiner zuspricht.
Wenn sich dennoch kein höheres
Leben dem entziehen kann, sich unter der Führung der Idee - sei es als
transzendenter Macht, sei es als sittlicher oder sonst wertmäßiger
Forderung - zu wissen, so scheint dies jetzt nur dadurch möglich oder
dadurch mit einer Chance des Gelingens ausgestattet, daß die Ideen selbst
aus dem Leben kommen.
Es ist das Wesen des
Lebens, sein Führendes und Erlösendes, sein Gegensätzliches und
Siegend-Besiegtes aus sich selbst zu erzeugen; es erhält und erhebt sich
gleichsam auf dem Umwege über sein eigenes Erzeugnis, und daß dieses ihm
gegenübersteht, selbständig und richtend - das ist eben seine eigene
Urtatsache, ist die Art, wie es selbst lebt.
Die Gegnerschaft, in die es
so mit dem Höheren-seiner-Selbst gerät, ist der tragische Konflikt des
Lebens als Geist, der natürlich jetzt in dem Maße fühlbarer wird, in
dem das Leben sich bewußt wird, ihn wirklich aus sich selbst zu erzeugen
und deshalb organisch, unausweichlich mit ihm behaftet zu sein.
In allgemeinster
kultureller Hinsicht angesehen, bedeutet diese ganze Bewegung die
Abwendung von der Klassik als dem absoluten Menschheits- und
Erziehungsideal.
Denn die Klassik steht
durchaus im Zeichen der Form, der gerundeten, in sich befriedigten
Gestaltung, die sich durch ihre ruhige Geschlossenheit als die Norm für
Leben und Schaffen weiß.
Auch hier ist gewiß noch
nichts positiv Genügendes und Geklärtes an die Stelle des alten Ideals
gesetzt.
Gerade deshalb zeigt der
Kampf gegen die Klassik, daß es sich zunächst gar nicht um das
Aufbringen einer neuen Kulturform handelt, sondern daß das seiner selbst
gewisse Leben sich nur von dem Zwang der Form überhaupt befreien will,
dessen historischer Repräsentant die Klassik ist. -
Ganz kurz kann ich mich mit
dem Hinweis auf die gleiche Grundtendenz in einer Sondererscheinung der
ethischen Kultur fassen.
Mit dem Namen der »Neuen
Ethik« bezeichnet sich eine Kritik der bestehenden Sexualverhältnisse,
deren Propaganda von einer kleineren Gruppe betrieben, deren Bestrebungen
aber von einer großen geteilt werden.
Diese Kritik richtet sich
hauptsächlich gegen zwei Elemente der bestehenden Zustände, die Ehe und
die Prostitution.
Will man ihr Motiv ganz
prinzipiell ausdrücken, so ist es dies: daß das erotische Leben seine
eigenste, innerste Kraft und sinngemäße Richtung den Formen gegenüber
durchsetzen will, in die unsere Kultur es im allgemeinen eingefangen und
damit in Erstarrung und Widersprüche versetzt hat.
Die Ehe, tausendfach aus
anderen als den eigentlich erotischen Gründen geschlossen, die lebendige
Flutung dieser tausendfach entweder zur Versumpfung führend oder ihre
Individualisiertheit an unbiegsamen Traditionen und legalen Grausamkeiten
zerschellend; die Prostitution, zu einer fast legalen Einrichtung
geworden, die das Liebesleben des )ungen Menschen in einen entadelten,
karikierten, seiner tiefsten Natur widersprechenden Verlauf zwingt - das
sind die Formen, gegen die das unmittelbare und echte Leben hier
revoltiert, Formen, die diesem vielleicht in anderen Kulturverhältnissen
nicht ebenso unangemessen waren, Jetzt aber die aus seiner letzten Quelle
hervorbrechenden Kräfte gegen sich aufrufen.
Unvergleichlich
entschiedener als auf den anderen Kulturgebieten ist hier festzustellen,
wie wenig dem durchaus positiven Grundantrieb zur Vernichtung der Formen
bisher die positive Neuformung korrespondiert.
Kein Vorschlag jener
Reformatoren wird irgendwie allgemein als ausreichender Ersatz der von
ihnen verurteilten Formen empfunden.
Der typische Kulturwandel:
Bekämpfung und Ersatz der veralteten Form durch eine neuaufstrebende,
steht hier ganz besonders weit zurück.
Die Kraft, die sich in die
letztere zu kleiden bestimmt ist, richtet sich vorläufig, sozusagen hüllenlos,
unmittelbar gegen die von dem echten erotischen Leben verlassenen Formen,
steht aber damit, den nun oft betonten Widerspruch begehend, im Leeren, da
das erotische Leben, sobald es irgendwie im Kulturzusammenhange steht,
schlechterdings einer Geformtheit bedarf.
Dennoch sieht, den früheren
Erwägungen entsprechend, nur der oberflächliche Blick hier bloße Zügellosigkeit
und anarchische Gelüste - da auf diesem Gebiet allerdings die bloße
Formlosigkeit schon diese Aspekte bietet. In der Tiefe aber, wo solche überhaupt
vorhanden ist, liegt es anders.
Das echte Leben der Erotik
fließt in ganz individuellen Kanälen, und die Opposition richtet sich
gegen jene Formen, weil sie dieses Leben in allgemeine Schemata einfangen
und damit seine jeweilige Besonderheit vergewaltigen.
Hier wie in vielen der
anderen Fälle ist es der Kampf zwischen Leben und Form, der, weniger
abstrakt, weniger metaphysisch, als Kampf zwischen Individualisierung und
Verallgemeinerung ausgefochten wird.
- Eine Stimmung innerhalb
der gegenwärtigen Religiosität fordert, wie mir scheint, die ganz
entsprechende Deutung.
Ich knüpfe diese an die
seit ein oder zwei Jahrzehnten beobachtete Tatsache, daß nicht wenige
geistig vorgeschrittene Persönlichkeiten ihre religiösen Bedürfnisse
mit der Mystik befriedigen.
Im ganzen kann man wohl
annehmen, daß all diese in den Vorstellungskreisen einer der bestehenden
Kirchen aufgewachsen sind.
Indem sie sich nun der
Mystik zuwenden, ist eine doppelte Motivierung unverkennlich.
Einmal, daß die Formen,
die das religiöse Leben an objektiven, inhaltlich bestimmten Bildreihen
ablaufen lassen, eben diesem Leben nicht mehr genügen; andrerseits, daß
dessen Sehnsucht damit nicht etwa abgetötet ist, sondern sich andere
Ziele und Wege sucht.
Für die Verlegung dieser
in die Richtung der Mystik erscheint vor allem entscheidend, daß damit
die Festumrissenheit, die Grenzbestimmtheit der religiösen Form
aufgehoben ist.
Hier ist eine Gottheit, die
über jede personale, also schließlich doch als partikular empfundene
Gestaltung hinausreicht, hier eine unbestimmte Weite des religiösen Gefühls,
das sich an keine dogmatische Schranke stößt, und seine Vertiefung in
eine formlose Unendlichkeit, hier seine Entwicklung aus der
kraftgewordenen Sehnsucht der Seele allein.
Die Mystik scheint die
letzte Zuflucht der religiösen Naturen zu sein, die sich noch nicht von
jeder transzendenten Formung lösen können, sondern - sozusagen vorläufig
- nur von jeder bestimmten, inhaltlich festgelegten.
Die tiefste
Entwicklungsrichtung aber - mag sie in sich widerspruchsvoll und ihrem
Ziele ewig fern sein oder nicht - scheint mir dahin zu drängen, die
Glaubensgebilde in das religiöse Leben, in die Religiosität als
eine rein funktionelle Gestimmtheit des inneren Lebensprozesses aufzulösen,
aus der jene emporgestiegen sind und noch immer emporsteigen.
Bisher hat der Wandel der
religiösen Kultur sich in der hier immer aufgezeigten Art vollzogen: daß
eine bestimmte Ausformung des religiösen Lebens, bei ihrer Entstehung
seinen Kräften und Wesenszügen völlig angemessen, allmählich in Veräußerlichung
und Verengerung erstarrt und von einer neu aufkommenden Form verdrängt
wird, in der die Dynamik und jetzige Gerichtetheit des religiösen
Impulses wieder unmittelbar lebt; das heißt, es ist noch immer eine
religiöse Gestaltung, eine Reihe von Glaubensinhalten, an die Stelle der
überlebten getreten.
jetzt aber sind, für eine
jedenfalls sehr große Zahl von Menschen, die jenseitig-realen Gegenstände
des religiösen Glaubens radikal ausgeschaltet - ohne daß darum ihr
religiöses Wollen wegfiele.
Aber das in diesem wirksame
Leben, das sich sonst in jenem Aufbringen neuer adäquater Dogmengehalte
offenbarte, fühlt sich in dem ganzen Gegenüber eines glaubenden
Subjektes und eines geglaubten Objektes nicht mehr zutreffend ausgedrückt.
In dem Endzustand, auf den
diese ganze innere Umstimmung hinaussieht, würde Religion sich als eine
Art der unmittelbaren Lebensgestaltung vollziehen, gleichsam nicht als
eine einzelne Melodie innerhalb der Lebenssymphonie, sondern als die
Tonart, in der diese sich als ganze abspielt; der Raum des Lebens, ausgefüllt
von allen weltmäßigen Inhalten, von Handeln und Schicksal, Denken und Fühlen,
würde mit all diesem durchdrungen sein von jener einzigartigen inneren
Einheit der Demut und der Erhebung, der Spannung und des Friedens, der Gefährdung
und der Weihe, die wir eben nur religiös nennen können; und an dem so
verbrachten Leben selbst würde der absolute Wert empfunden werden, der
diesem Leben sonst von den einzelnen Formungen, in die es sich faßte, den
einzelnen Glaubensinhalten, zu denen es kristallisierte, zu kommen schien.
Einen Vorklang hiervon,
transponiert freilich in die der Mystik noch letztverbliebene Form, läßt
Angelus Silesius hören, wenn er den religiösen Wert von aller Fixierung
an irgend etwas Spezifisches löst und als seinen Ort das überhaupt
gelebte Leben erkennt:
»Der Heil'ge,
wenn er trinkt, Gefallet Gott so wohl Wie wenn er bet' und singt.«
Es handelt sich nicht etwa
um die sogenannte »diesseitige Religion«.
Denn auch diese heftet sich
noch immer an bestimmte Inhalte, nur daß sie empirisch statt transzendent
sind; auch sie kanalisiert das religiöse Leben in gewisse Formen von Schönheit
und Größe, von Erhabenem und lyrischer Bewegtheit - im Grunde genommen
lebt sie von den verhüllt weiterwirkenden Resten der transzendenten
Religiosität, ein unklares Zwischending.
Hier aber steht Religiosität
als ein unmittelbarer, jeden Pulsschlag einschließender Lebensprozeß in
Frage, ein Sein, nicht ein Haben, ein Frommsein, das, wenn es Gegenstände
hat, Glauben heißt, nun aber eine Art ist, wie das Leben selbst sich
vollzieht, nicht eine Stillung der Bedürfnisse von einem Außen her - wie
der expressionistische Maler sein künstlerisches Bedürfnis nicht durch
Anschmiegen an einen Außengegenstand befriedigt - sondern es wird ein
kontinuierliches Leben aus einer Tiefe heraus gesucht, in der es sich noch
nicht in Bedürfnis und Erfüllung zerlegt hat und also keinen »Gegenstand«
braucht, der ihm eine bestimmte Form vorschriebe.
Das Leben will sich
unmittelbar als religiöses aussprechen, nicht in einer Sprache mit
gegebenem Wortschatz und vorgeschriebener Syntax.
Mit einem nur anscheinend
paradoxen Ausdruck könnte man sagen: die Seele will ihre Gläubigkeit
bewahren, während sie den Glauben an alle bestimmten, vorbestimmten
Inhalte verloren hat.
Diese Gerichtetheit religiöser
Seelen, die oft in Ansätzen, wunderlicher Unklarheit, sich selbst mißverstehender,
rein negativer Kritik fühlbar ist, begegnet nun freilich jener tiefsten
Schwierigkeit: daß das Leben in dem Augenblick, in dem es als geistiges
zu Worte kommt, dies eben doch nur in Formen kann, in denen allein
auch seineFreiheit wirklich zu werden vermag, obgleich sie in
demselben Akt auch die Freiheit beschränken.
Gewiß ist Frömmigkeit
oder Gläubigkeit eine Verfassung der Seele, die mit ihrem Leben selbst
gegeben ist und es auch dann in bestimmter Weise färben würde, wenn ihr
nie ein religiöser Gegenstand gegeben würde - wie eine erotische Natur
ihren Charakter als eine solche immer bewahren und bewähren müßte,
sollte sie auch nie ein für sie liebenswertes Individuum treffen.
Dennoch ist es mir
zweifelhaft, ob nicht der Grundwille eines religiösen Lebens
unvermeidlich eines Objektes bedarf, ob jener rein funktionelle Charakter,
seine an sich formlose, nur das Auf und Nieder des Lebens überhaupt färbende,
weihende Dynamik, die jetzt den definitiven Sinn so vieler religiöser
Bewegtheiten zu bilden scheint, nicht ein bloßes, eigentlich ideell
bleibendes Zwischenspiel ist, der Ausdruck einer Lage, in der die
bestehenden religiösen Formen von dem religiösen Innenleben durchbrochen
und verworfen werden, ohne daß es neue an deren Stelle setzen könnte;
wobei denn hier wie anderswo die Vorstellung entsteht, dieses Leben könne
überhaupt ohne Formen von eigenen objektiven Bedeutungen und
Forderungsrechten, und mit dem bloßen Ausströmenlassen seiner von innen
vorbrechenden Kraft auskommen.
Jene Unmöglichkeit, die
kirchlich überlieferten Religionen noch länger zu bewahren, während der
religiöse Antrieb aller »Aufklärung« zum Trotz weiterbesteht (da diese
der Religion nur ihr Kleid, aber nicht ihr Leben rauben kann) - gehört zu
den tiefsten inneren Schwierigkeiten unzähliger moderner Menschen; die
Steigerung dieses Lebens zu einem völligen Selbst-Genügen, die
Verwandlung gleichsam des Transitivums Glauben in ein Intransitivum ist
ein bestechender Ausweg, der aber vielleicht auf die Dauer in keinen
geringeren Widerspruch verwickelt.
So offenbart sich an all
diesen und noch mehreren Erscheinungen der Konflikt, in den sich das Leben
nach seiner Wesensnotwendigkeit begibt, sobald es im weitesten Sinne
kulturell ist, das heißt entweder schöpferisch oder Geschaffenes sich
aneignend.
Dieses Leben muß entweder
Formen erzeugen oder sich in Formen bewegen.
Wir sind zwar das Leben
unmittelbar und damit ist ebenso unmittelbar ein nicht weiter
beschreibliches Gefühl von Dasein, Kraft, Richtung verbunden; aber wir haben
es nur an einer jeweiligen Form, die, wie ich schon betonte, im
Augenblick ihres Auftretens sich einer ganz anderen Ordnung angehörig
zeigt, mit Recht und Bedeutung eigener Provenienz ausgestattet, einen übervitalen
Bestand behauptend und beanspruchend.
Damit aber entsteht ein
Widerspruch gegen das Wesen des Lebens selbst, seine wogende Dynamik,
seine zeitlichen Schicksale, die unaufhaltsame Differenzierung jedes
seiner Momente.
Das Leben ist unlöslich
damit behaftet, nur in der Form seines Widerspiels, das heißt in einer Form
in die Wirklichkeit zu treten.
Dieser Widerspruch wird
krasser und scheint unversöhnlicher in dem Maße, in dem jene
Innerlichkeit, die wir nur Leben schlechthin nennen können1),
sich in ihrer ungeformten
Stärke geltend macht, in
dem andrerseits die Formen sich in ihrem starren Eigenbestand, ihrer
Forderung unverjährbarer Rechte als der eigentliche Sinn oder Wert
unserer Existenz anbieten, vielleicht also in dem Maße, in dem die Kultur
gewachsen ist.
Hier will also das Leben
etwas, was es gar nicht erreichen kann, es will sich über alle Formen
hinweg in seiner nackten Unmittelbarkeit bestimmen und erscheinen - allein
das durchaus von ihm bestimmte Erkennen, Wollen, Gestalten kann nur die
eine Form durch die andere, niemals aber die Form überhaupt durch das
Leben selbst, als das der Form Jenseitige, ersetzen.
Alle jene leidenschaftlich
stürmenden oder sich langsam vorarbeitenden Angriffe gegen die Formen
unserer Kultur, die klarer oder verhüllter gegen diese die Kraft des
Lebens eben nur als Leben und weil es Leben ist, einsetzen, sind
Offenbarungen des tiefsten inneren Selbstwiderspruches des Geistes, sobald
er sich zur Kultur entwickelt, das heißt sich in Formen dartut.
Und es will mir allerdings
scheinen, als ob von allen geschichtlichen Epochen, in denen dieser
chronische Konflikt sich zum akuten gesteigert hat und die ganze Breite
der Existenz zu erfassen suchte, noch keine ihn so deutlich wie die unsere
als ihr Grundmotiv enthüllt hätte.
Aber es ist auch ein ganz
philiströses Vorurteil, daß alle Konflikte und Probleme dazu da sind,
gelöst zu werden.
Beide haben in Haushalt und
Geschichte des Lebens noch andere Aufgaben, die sie, unabhängig von ihrer
eigenen Losung, erfüllen, und sie sind deshalb keineswegs umsonst
gewesen, auch wenn die Zukunft nicht den Konflikt durch seine Schlichtung,
sondern nur seine Formen und Inhalte durch andere ablöst.
Denn freilich machen all
jene erörterten problematischen Erscheinungen uns bewußt, um wie vieles
zu widerspruchsvoll das Gegenwärtige ist, um bei ihm stehen zu bleiben -
dem Maße nach zweifellos auf einen fundamentaleren Wandel hinweisend, als
wenn dieser nur die Umbildung einer bestehenden Form in eine neu empordrängende
beträfe.
Denn kaum je erscheint in
dem letzteren Falle die Brücke zwischen dem Vorher und dem Nachher der
Kulturformen so ganz abgerissen wie jetzt, so daß nur noch das an sich
formlose Leben zu bleiben scheint, um sich in die Lücke zu stellen.
Ebenso zweifellos aber
treibt es auf jenen typischen Kulturwandel hin, auf die Schöpfung neuer,
den jetzigen Kräften angepaßter Formen, mit denen aber nur - vielleicht
langsamer bewußt werdend, den offenen Kampf länger hinausschiebend - ein
Problem durch ein neues, ein Konflikt durch einen anderen verdrängt wird.
Damit aber erfüllt sich
die echte Vorzeichnung des Lebens, das ein Kampf in dem absoluten Sinne
ist, der den relativen Gegensatz von Kampf und Frieden umgreift, während
der absolute Frieden, der vielleicht diesen Gegensatz ebenso einschließt,
das göttliche Geheimnis bleibt.
Anmerkung
1) Weil
das Leben das Gegenspiel der Form ist, ersichtlich aber nur das irgendwie
Geformte mit Begriffen beschreiblich ist, so ist der Ausdruck Leben in dem
hier gemeinten, ganz fundamentalen Sinne von einer gewissen Unschärfe,
logischen Undeutlichkeit nicht zu befreien. Denn das Wesen des vor oder
jenseits aller Form gelegenen Lebens wäre verleugnet, wollte und könnte
man eine begrifflichche Definition davon bilden. Es ist ihm als bewußtem
Leben nur gegeben, in seiner Bewegtheit sich seiner selbst bewußt zu
werden, ohne den vermittelnden Umweg über die Schicht der
Begrifflichkelt, die mit dem Reich der Formen zusammenfällt. Daß das
Wesen de, Sache so die Ausdrucksmöglichkeit begrenzt, setzt die Klarheit
jenes prinzipiellen weltanschaulichen Antagonismus nicht herab. |