Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Erinnerung an Rodin

ex: Vossische Zeitung, Nr. 606, 27. November 1917, Abendausgabe (Berlin)

Die Nachricht vom Tode Rodins läßt mich an eine Begegnung mit ihm zurückdenken, die das Interesse an dem großen Meister vielleicht mitteilenswürdig macht.

Vor vielen Jahren, als Rodins Name noch in Deutschland so gut wie unbekannt war, hatte ich in einer Studie versucht, den Charakter seiner Kunst zu bezeichnen.

Diese hatte er sich übersetzen lassen (er selbst verstand kein Wort Deutsch) und schrieb mir einen rührend dankbaren Brief, mit der dringenden Einladung, ihn gelegentlich in Paris zu besuchen.

Als ich ihr im Jahre 1905 folgen konnte, fand ich ihn in seinem Stadtatelier, an einem Empfangstage, in einem großen Kreise von Besuchern, besonders von vornehmen und eleganten Frauen.

Er war ein kleiner, breitschulteriger Mann von riesiger Körperkraft, der mit Marmorbüsten, die ich gerade nur anheben konnte, wie mit Spielzeugen herumhantierte.

Auf den ersten Blick wirkte er weder sehr bedeutend noch sehr angenehm; er hatte etwas Listiges, Haschendes im Auge, etwa wie ein schlauer Händler.

In sehr liebenswürdiger Weise führte er mich an den dastehenden Werken umher, sprach viel, aber ich hatte sehr bald den Eindruck, daß dies bereitgestellte Phrasen waren und daß er den Fremdenführer an seinen eigenen Werken machte.

Erst als ich, darüber verdrießlich, anfing zu sagen, wie ich meinerseits mir diese Dinge deutete, wurde er ernsthafter, zog sich mit mir in eine Ecke des Ateliers zurück, und als ich meinte, ihn nicht länger seinen anderen Besuchern entziehen zu dürfen, bat er mich, ihn in seiner Villa in Meudon zu besuchen, wo er ein kleines Museum von seinen Werken aufgestellt hatte.

Dort nun habe ich einen mir höchst denkwürdigen Tag mit ihm allein verbracht.

Er theoretisierte gern, wie er auch, trotz des Mangels an allen Sprachkenntnissen, eine erhebliche literarische Bildung besaß.

Allein es war sehr schwierig, das Gespräch auf das Wesentliche und Entscheidende zu bringen.

Er erging sich mit Vorliebe in allgemeinen Redensarten von ziemlich abgebrauchtem Pathos, und einem Eingehen in die tieferen Probleme schien er wie etwas Mühseligem und fast körperlich Schmerzhaftem zu widerstreben.

Ich gab aber nicht nach, und schließlich hatte ich ihn so weit - ich mußte an Odysseus denken, der den fortwährend ausweichenden Proteus zum Wahrsagen zwingt -, daß er ganz vertraut und persönlich von seiner Kunst und seinem Leben sprach.

Die individuelle, konventionsfreie deutsche Äußerungsart schien ihm sympathisch zu sein.

»Zu Ihnen kann ich frei reden«, sagte er, »hier versteht mich niemand.« Ich sprach von einem großen Sammelwerk, in dem alle möglichen Äußerungen und Studien seiner Landsleute über ihn zusammengetragen waren, und äußerte mein Mißbehagen darüber, daß seine Kunst fast allenthalben als durch erotische Sinnlichkeit bestimmt gedeutet wurde.

Er selbst erklärte dies für ein höchst irritierendes Mißverständnis.

»Natürlich bin ich ein sinnlicher Mensch«, sagte er; »ich bin fortwährend durch die Eindrücke, die ich empfange (offenbar meinte er besonders die Eindrücke von seinen Modellen) in sinnlicher Erregtheit: mais ce n'est pas la sensualité du sexe.« In allem, was er in diesen Stunden über Kunst sagte, vereinigte sich die Richtung auf das Hauptsächlichste und Substantielle, unter völliger Gleichgültigkeit gegen alles bloß Technische und Effektvolle, mit einer unglaublichen Sensibilität für die feinsten Nuancen der Erscheinungen.

Bei der Gestaltung eines Kopfes, erklärte er, ginge er immer von der Ei-Form aus; diese erschien ihm - er brauchte natürlich den Ausdruck nicht - als das Urphänomen, aus dem sich alles entwickle.

Im Eifer zeichnete er mir auf den Sockel einer eben fertigen Marmorbüste ein Ei und ließ aus diesem wie durch Metamorphose einen Kopf entstehen.

»Der Hinterkopf ist darum das Entscheidende, er ist der Träger für den ganzen Zusammenhang der Teile. Wenn ich in einer Ausstellung eine Büste von hinten sehe und der Hinterkopf ist nicht in Ordnung, so sehe ich sie mir gar nicht erst von vorne an; sie kann nicht gut sein.«

Offenbar beherrschte die Wahrnehmung des Wirklichen in seinen subtilsten Zügen und namentlich in seiner organischen Einheit so sehr sein Bewußtsein, daß er die souveräne Umbildung in der künstlerischen Vision sozusagen gar nicht wahrnahm, sondern sich mit Leidenschaft als »Naturalisten« ausgab: »Ich mache nur das nach, was ich sehe,« Ich wies auf einen eben modellierten, höchst stilisierten Pferdekopf hin und fragte, ob er wirklich ein solches Pferd gesehen hätte.

»Non, naturellement«, sagte er, »je modifie un peu.«, (Worauf ich freilich nur zu sagen wußte: Eh bien, ce peu - c'est Rodin.) Was er seinen Naturalismus nannte, das hing eben an einem Begriff von »Natur«, über den wir uns nur sehr schwer verständigen konnten.

Er zeigte mir unter anderen wundervollen altägyptischen und griechischen Bildwerken seines Besitzes einen ägyptischen Sperber, eine Arbeit von streng geometrischer Stilisierung und absoluter Reduktion auf wenige entscheidende Linien und Flächen.

Dies, sagte er, wäre ungefähr das größte Kunstwerk, das er kennte; denn - und damit brachte er mich einigermaßen aus der Fassung - »c'est la Nature«.

Ich konnte ihm nur mühsam klar machen, daß seine »Nature« etwas völlig anderes wäre, als die des »Naturalismus«, ja, eigentlich das Gegenteil davon, und viel mehr das, was das 18. Jahrhundert und besonders Rousseau unter diesem Begriff verstanden hatte: nicht die unmittelbare einzelne Wirklichkeit, sondern das von dieser gerade überdeckte eigentliche Wesen, ein nur innerlich geschautes Ideal, das eher angibt, wie die Realität sein sollte, als wie sie ist.

Aber wie gesagt, diese Schöpfung aus dem Geiste war ihm so »natürlich«, daß er ihren Abstand von dem einfach abgeschriebenen Natureindruck gar nicht einsehen wollte.

Darum konnte er mir, unmittelbar nach jener Versicherung, daß er nur machte, was er sähe, einen höchst interessanten Produktionsprozeß so schildern: er forderte oft das Modell auf, vielfache willkürlich wechselnde Stellungen einzunehmen, dann interessiere ihn plötzlich die Wendung oder Biegung irgendeines einzelnen Gliedes: eine bestimmte Drehung der Hüfte, ein gehobener Arm, der Winkel eines Gelenkes - und diesen Teil allein in seiner Bewegung halte er im Ton fest, ohne den übrigen Körper.

Dann, oft nach langer Zeit, stehe die innere Anschauung eines ganzen Körpers in charakteristischer Pose vor ihm, und er wisse dann sogleich mit Sicherheit, welche von den auf jene Weise entstandenen Studien in diesen gehöre.

Ganz ersichtlich hielt er diese unerhört schöpferische Leistung der Phantasie für die ganz selbstverständliche, sozusagen bloß logische Konsequenz des früheren Natureindrucks.

Und wie er ein eigentliches Schöpfertum gegenüber der Natur in Abrede stellte, so auch gegenüber der Geschichte seiner Kunst.

Fast mit den gleichen Worten, mit denen es mir, Jahre zuvor, Ibsen einmal über seine Kunst aussprach, erklärte Rodin, daß er keineswegs ganz neue Wege zu gehen, vielmehr die Tradition der Klassik fortzusetzen glaube, die erst im 18. Jahrhundert unterbrochen sei.

Daß er sich fortwährend - selbsttäuschend oder nicht - von diesen beiden Stützen, der natürlichen Wirklichkeit und der künstlerischen Überlieferung, getragen meinte, hing vielleicht mit seiner Bescheidenheit zusammen.

Er hatte die ruhige Sicherheit des Menschen, dessen Denken ausschließlich seiner Sache gilt und sozusagen an deren Grenzen halt macht, ohne nach ihren Wirkungen und auf ihn zurückfallenden Reflexen zu fragen.

Besonders ansprechend war die Art, in der er über seine Fachgenossen redete.

Das Gespräch kam auf manche, die ihm durchaus antipathisch sein mußten; aber ich habe kein abfälliges Urteil von ihm gehört, überall fand er ein Positives und irgendwie Wertvolles heraus.

Es zeigte sich aber auch das große Künstlerleiden, das vielleicht auf einer Illusion beruht, aber doch mit den allerrealsten Wirkungskräften in einer tiefen und dunklen Verbindung steht: der Kummer, durch das äußere Schicksal von der Vollendung des ganz entscheidenden Werkes abgesperrt zu sein.

Wie für Michelangelo das Julius-Denkmal, das immer Fragment bleiben sollte, ein Lebensverhängnis war, so begleitete Rodin der Plan eines gigantischen Werkes durch viele Jahre: er nannte es den »Turm der Arbeit«; es sollte, nach dem kleinen Modell, das er mir zeigte, eine riesenhafte Säule werden, von einer Wendeltreppe umgeben; die Säule zeigte in Form eines fortlaufenden Bandes alle Arten menschlicher Arbeit, in realistischer und symbolischer Darstellung.

Er sprach mit Erschütterung von diesem Werk, an dem offenbar sein ganzes Herz hing.

»Ich werde es nie ausführen«, sagte er. »Aus eigenen Mitteln kann ich es nicht und niemand hilft mir dazu. Man bestellt Porträts bei mir und kauft einzelne Figuren, aber für die Hauptsache werde ich im Stich gelassen.«

Als wir uns trennten, war die Hülle konventioneller Schönrednerei, in der er mir zuerst gegenübergetreten war, gefallen.

Wahrscheinlich wußte er sich dem Fremden gegenüber, den er vielleicht nicht zum zweiten Male traf, weniger engagiert und gab sich deshalb offener als manchem Mitbürger.

Wenigstens sagte mir Bergson - vor einigen Jahren, als es noch ein Europa zu geben schien -, daß er Begegnungen mit Rodin nicht gerade suchte: >Il ne parle que des banalités.< Ich hätte ihn eines Besseren belehren können.

Denn es war mir ganz klar geworden, daß diese banale Phraseologie nur ein Außenwerk dieser tiefen und leidenschaftlichen Seele war, ebenso wie seine erotischen Abenteuer, von deren nicht gerade anmutenden Details ganz Paris sprach.

Alles dies waren Schichten, um eine große Einsamkeit herum, die er durch das eine zu verbergen, durch das andere, wie es mir schien, vergeblich zu bannen suchte.

Denn ersichtlich fehlte ihm jede Erlösung durch einen religiösen Gedanken.

Er haftete ganz und gar am Leben, das er freilich nicht in personaler Umschränktheit, sondern in seiner kosmischen Verwurzeltheit und Ausbreitung fühlte.

Ein berühmter deutscher Dichter, der ihm sehr nahe stand, erzählte mir, daß Rodin nicht sehr lange vor dem Kriege - ihn in seiner Wohnung in Paris aufgesucht hätte, in erregter und ratloser Stimmung, und ihm wie verlegen und stockend gestanden hätte, er habe heut zum erstenmal an den Tod gedacht.

Und dann hätte er vom Sterben gesprochen, ganz primitiv und fast kindlich, wie von etwas Unbegreiflichem: »Pourquoi laisser tout çà - -.« Er war wohl der Typus Mensch, der sich mit allen Fasern in der Welt zu Hause fühlt, aber nicht unter den Menschen.

Darum konnte er sich nur in seinem Werk aussprechen, und ganz zusammenhanglos stand daneben sein Verhältnis zu den Menschen einerseits als ein egoistisch genießendes, vielleicht manchmal brutales, andererseits als ein rein oberflächliches und formelhaftes.

Wir hatten wohl beide beim Abschied die Empfindung, daß wir uns nicht wiedersehen würden.

Und vielleicht war es gut so. Er schickte mir noch ein paar Jahre lang zum Neujahr eine freundliche Zeile, die aber wieder völlig konventionell war und mir zeigte, daß jene vertrauten Stunden zu den seelischen Glücksfällen gehörten, die man nicht zu wiederholen versuchen soll.


 

Editorial:

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