Georg Simmel:
Die historische Formung
ex: LOGOS.
Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, herausgegeben von
Richard Kroner und Georg Mehlis, Band 7, 1917/18, Heft 2, S. 113-152,
Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)
Der Ausgangspunkt der
kantischen Kritik, der »alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfangen«
lässt, ist nicht unbedingt eindeutig.
Es entspräche ihm ungefähr,
wenn man den »Anfang« aller Malkunst in das Zeichnen setzte.
Wie man damit zwar das
erste Glied der Kunstreihe vielleicht bezeichnet hätte, nicht aber den
Beginn der ganzen seelischen Entwicklungslinie, die zum Zeichnen und über
dieses hinweg zum Malen führt - so mag Erfahrung die früheste Stufe
innerhalb der Erkenntnisreihe sein, allein Erkenntnis selbst ist nicht die
erste Aktivitätsform des Geistes; andere liegen ihr voran, und wenn man
nach dem »Anfang aller unserer Erkenntnis«, also auch ihrer höchsten
Stufen fragt, so kann man ihn durchaus noch unterhalb der Erfahrung
erblicken, von wo der Weg dann durch diese, als durch eine Zwischenstation
hindurchgeht.
Die zu der Totalität der
Erkenntnis, genau nur als solcher, aufführende Reihe beginnt mit der
Erfahrung; als geistige Funktion überhaupt angesehen, setzt sie eine über
diese hinaus verlängerte Reihe voraus.
Anschaulich wird dies,
indem man einen einzelnen Inhalt, der sich irgendwann einmal als ein
theoretischer bietet, in seinem vortheoretischen Zustand feststellen und
seinen Übergang in die Erkenntnisform beobachten kann.
Man darf jenen früheren
(der übrigens noch immer weiter neben dem anderen fortbesteht) den
Zustand des »Erlebens« nennen.
An ihm haben wir, wie ich
glaube, die ursprünglichste Art, in der ein Bewusstseinsinhalt, dem
Bewusstseinssubjekt irgendwie objektiv gegenüberstehend, uns zugängig
wird.
Im Erkennen reagieren
gewisse differenzielle Seiten unseres Wesens auf die Dinge oder bilden die
Vermittlungen unseres Weltverhältnisses; als Erleben aber dürfen wir
wohl die von viel breiteren und ganz fundamentalen Schichten vollzogene
Antwort unserer Gesamtexistenz auf das Dasein der Dinge bezeichnen, unsere
Seite des Verhältnisses zwischen einem Objekt und der Ganzheit oder
Einheit unseres Seins.
Im »Erleben« wird das
Leben, der intransitivste aller Begriffe, in unmittelbaren funktionellen
Konnex mit der Objektivität gesetzt und zwar in einem einzigartigen
Modus, zu dessen Einheit sich Aktivität und Passivität des Subjekts,
gegen ihren gegenseitigen logischen Ausschluss gleichgültig,
zusammenschließen.
Es ist der Ausdruck für
unser ganz primäres Weltverhältnis, mit ihm fängt also, absolut
genommen, auch die Erkenntnis an; sie ist eine durch spezielle Organe
hindurchgeleitete Kanalisierung eben dieses Verhältnisses, dessen Träger
der zu einer Einheit zusammengeschlossene Gesamtumfang des Subjekts ist.
Sie aber vollzieht das
Eigentümliche: dass das Objekt, vom Leben aufgenommen und bearbeitet,
sich von dieser vitalen Bedingtheit löst und als erkanntes zu einem
selbständigen Bilde, in sachlich ideeller Sphäre wird.
Ein verstandenes
physikalisches Experiment oder ein Lautverschiebungsgesetz sind ganz
gleichgültig dagegen, dass diese Sachgehalte uns als erlebte zugängig
waren und sind; sie haben das Leben, obgleich es sie trägt, dennoch
hinter sich gelassen.
Hier wird nun die
Besonderheit der historischen Erkenntnis sichtbar.
Werden historische Reihen
hergestellt: aus den strategischen Daten eines Feldzuges oder den Werken
einer Kunstepoche, aus sich ablösenden Wirtschaftsverfassungen oder den
Beschlüssen von Konzilien, oder woraus immer - all dieses sind Objektivitäten,
deren jede für sich und deren logische oder technische Konsequenzen in
reiner Sachlichkeit erkennbar sind und ohne dass ihr Erlebtsein diese
Erkenntnis kategorial bestimmte.
Allein insoweit ist die
Reihe noch nicht historisch, sondern systematisch.
Es fehlt ihr die reale
Bewegtheit, die, über jeden Sachgehalt und seine noch so bündige ideelle
Verknüpftheit mit anderen kommend, eben diese Verknüpftheit erst wie von
innen durchströmt, mit kontinuierlicher Dynamik wirklich eines aus dem
anderen entwickelt.
Wo nicht die eigentümliche
Bewegtheitsform, die wir Leben nennen, zwischen Element und Element eine
Verbindung schafft, die wir zwar sprachlich-logisch nur als eine Beziehung
der Sachgehalte ausdrücken können, die wir aber als eine noch in ganz
anderem Sinne innerliche, kraftmäßige, die Grenzen der Einzelerscheinung
nach beiden Seiten hin öffnende meinen - da können wir nicht von
Geschichte sprechen.
Hegels Bestimmung, dass nur
der Geist Geschichte habe, scheint mir dahin zu ergänzen, dass nur der
lebendige Geist Geschichte habe.
Denn auch das Einzelfaktum
der Vergangenheit, der isolierte Begriff, das für sich verständliche
objektive Gebilde, zu dem psychische Leistung kristallisiert, ist Geist;
aber es ist noch nicht Geschichte.
Das wird es erst in der
Form des Lebens, oder: daraufhin angesehen, dass es Erlebnis ist.
Dies Leben kann ein
individuell konkretes sein, aber auch in erweitertem Sinne das einer
gesellschaftlichen Gruppe, oder kann auch, als symbolischer Hilfsbegriff,
die Entwicklungsstadien einer Wissenschaft, einer Kunst, einer Technik an
sich aufreihen lassen.
Immer aber ist es der
spezifische Rhythmus des Lebens, zu dessen Wellenbergen und Wellentälern
die einzelnen Inhalte sich stetig ordnen müssen, die einzigartige Form,
in die sie durch die Tatsache ihres Erlebtwerdens gestellt sind, wodurch
sie zum Gebilde Geschichte werden.
Aber dadurch allein,
sozusagen von selbst, werden sie es noch nicht.
Das Geschehen, das der
Gegenstand der Geschichte ist, kann zwar nur ein Lebendiges sein; allein
Geschehen überhaupt ist noch nicht Geschichte.
Und daraus scheint mir das
Grundproblem für alle Theorie des historischen Erkennens zu wachsen: wie
wird aus dem Geschehen Geschichte? Sie ist eine Form, in die der Geist das
Geschehen und dessen Inhalte bringt.
Aber eben doch eine Form,
neben der andere das gleiche Material gestalten.
Wir können dieses in der
Zeitlosigkeit seines rein logischen Inhalts denken, es kann in die Form
der Kunst gebracht werden, es kann, immer als dasselbige, in ein Leben
eingehen, die Form des Erlebtwerdens annehmen.
Indem Inhalte nun, über
die letztere hinweg, zu historischen werden, geschehen gewisse
Neuformungen mit ihnen, die eben für das Gebilde Geschichte spezifisch
sind.
Sie werden damit - wie wir
es als Bestimmung jeder Wissenschaft erkannten - dem Erleben entrissen,
aber doch, wie es wiederum nur der historischen Wissenschaft eigen ist,
so, dass bei diesem Transplantationsprozess die Lebensform mit umgriffen,
das Erlebtsein der Inhalte nicht ausgeschieden, sondern umgebildet wird.
Ich versuche im folgenden
einige dieser Umbildungen zu zeichnen, der spezifischen Differenzen, vermöge
deren die Geschehnisse »wie sie wirklich gewesen sind« zu dem geistigen
Gebilde Geschichte werden.
I. Es fällt zunächst ins
Auge, dass die Geschichte das stetige Geschehen der erlebten Wirklichkeit
in gesonderte Reihen zerlegt, die je einem Sachbegriff unterstehen.
Universalgeschichte,
Weltgeschichte sind unglückliche Ausdrücke.
Nicht nur, dass sie einen
Umfang der Kenntnis beanspruchen, vor dem deren tatsächliches Maß ein
Minimum ist, sondern, was viel wesentlicher Ist, diese Begriffe verkünden
eine Einheit des Bildes, zu der die Bilder der Einzelheiten zusammengehen
oder vielmehr, aus der sie sich entwickeln, die aber gerade für uns nicht
erreichbar ist.
Denn das bedeutete, dass
man jenes allerzeugende Leben der Gattung und der Individuen zum
Bilde gestalten könnte, was wir eben nicht können.
Zum Bilde werden uns nur
die objektiv gewordenen und darum diskontinuierlich dastehenden
Erzeugnisse dieses Lebens, die sich irgendwie jenseits seiner
unmittelbaren Einheit stellen - wenn auch, wie wir noch sehen werden, eine
gewisse Rhythmik und Symbolik des Lebens sich in ihre historische Ordnung
überleiten lässt.
Tatsächlich gibt es nur
Spezialgeschichten: Geschichte der äußeren und der inneren Politik, der
Religion und der Moden, der Medizin und der Kunst, der Weltanschauungen
und der Technik, kurz all der Erscheinungen, die wir zwar nach der
Zeitfolge aufreihen, deren Auswahl für diese Reihung wir aber nach jenen
übertemporären, durch ihren Sachgehalt logisch bestimmten Begriffen
vollziehen.
Statt der Entwicklung des
Totalgeschehens, das sich nach allen Dimensionen, als wären sie nur eine
einzige, streckt, konstruieren wir Jene eindimensionalen, nebeneinander
laufenden Linien von Sonderentwicklungen, durch die wir höchstens hier
und da eine Querlinie, abstraktiv gefundene Charaktergleichheiten
verbindend, legen können.
Was man Universal- oder
Weltgeschichte tituliert, ist eine, genau angesehen, äußerliche
Zusammenstellung von Stücken solcher Linien in einem literarischen
Rahmen.
Die Spaltung und Verteilung
der Inhalte, aus ihrer Erlebnisform heraus, in begrifflich geleitete
lineare Synthesen, ist das erste und entscheidende Verfahren der
Geschichte.
Die politische Geschichte
eines Herrschers etwa erfasst aus der Kontinuität eines reichen und nach
allen Seiten hin expansiven Lebens die politisch wichtigen Gedanken und
Betätigungen und formt daraus seinen politischen und als solchen
kontinuierlichen Lebenslauf.
Schwerlich ist irgend ein
Moment desselben in der Isolierung verlaufen, die diese Konstruktion
fordert, sondern in steter Verflechtung mit inneren Ereignissen anderer
Provenienz, in Abhängigkeit von allgemeinen Dispositionen des Charakters
und der momentanen Stimmung; ganz verständlich wären sie nur aus dem
Leben als ganzem; und statt dieses Zusammenhanges, der keiner Wissenschaft
erfassbar ist, erbaut der Historiker einen neuen, von dem
Vereinheitlichungsbegriff: Politik aus, der vielleicht in dieser
abstrakten Klarheit niemals in das Bewusstsein des Subjekts getreten ist.
Schon das Gleichnis ginge
zu weit, dass hiermit aus dem vielfältigen Gewebe des Lebens ein
einzelner Faden herausgelöst und den anderen gegenüber, in die die
Wirklichkeit ihn, tragend und getragen, verspinnt, zu einem selbständigen
Gewebe verarbeitet wird.
Denn es fehlt die
Ununterbrochenheit, mit der die Stücke eines Fadens in sich zusammenhängen;
es handelt sich vielmehr um Stücke des Gewebes, die nur gelegentlich und
nur teilweise innerhalb des Ganzen mit einander verbunden sind und erst
von einem Gesichtspunkt aus, den der Betrachtende als einen allein
herrschenden und Einheit erzwingenden herbeibringt, eine »Geschichte«
bilden1.
In Frage steht damit nicht
eine Abschlagszahlung auf das eigentlich zu wissen gewünschte
Totalgeschehen zu einer Zeit, in einem Bezirk, an einer Persönlichkeit,
sondern von vornherein ist die Absicht auf die durch eine Begriffseinheit
charakterisierten Teile des Geschehens gestellt.
Wir wollen gar nicht
wissen, was Richelieu oder Wilhelm von Humboldt von Morgen bis Abend
erlebt hat, einschließlich ihrer Speisezettel und ihrer Schnupfen,
sondern nur die Elemente ihrer Existenz, die unter den Begriff der
politischen Tätigkeit oder einer sonst bestimmten geistigen Aktion gehören,
und wollen unter diesen einen Zusammenhang ausfinden, während der reale
Zusammenhang ihres Lebens ihre Mahlzeiten und ihre körperlichen oder
seelischen Sensationen zu kontinuierlicher Verbundenheit zwischen jene
historisch wesentlichen Momente schiebt.
Der ununterbrochene Verlauf
der Lebensinhalte von einem produktiven, in sich selbst seine letzte
Instanz findenden Mittelpunkt her ist ausschließlich der Realität des
Erlebens vorbehalten, ihre Synthese von ihrem Sachgehalt und dessen
Bedeutung her bleibt der notwendige Weg der Historie.
Nun gibt es freilich eine
seelische Tatsache des unmittelbaren und durch sie sogar wesentlich
bestimmten Lebens, die gewissermaßen eine Vorform dieser
historisch-theoretischen Reihenbildung ist: der Anschluss eines aktuellen
Bewusstseinsinhaltes an die vergangenen, die ihm sachlich verbunden sind.
Hat man z. B. die Lektüre
eines Buches unterbrochen und nimmt sie nach Tagen oder Wochen wieder auf,
so schließt sich in uns das jetzt Gelesene an jenes frühere ohne Lücke
an, der psychologische Augenblick trägt die durch den sachlichen Inhalt
gegebene Fortsetzung, als ob alles inzwischen Erlebte und Gedachte nicht
dazwischen läge.
Und so verhält es sich
offenbar auch mit den wissenschaftlichen Gedanken des Gelehrten, mit den
politischen Aktionen eines Fürsten, mit der Durchführung aller
vielgliedrigen Pläne, mit dem Ausfechten dauernder Gegnerschaften.
Sogar die unerzwingbare
Stimmung, die mit der Produktion eines Werkes verbunden ist, setzt mit dem
Augenblick wieder ein, in dem man nach einer Unterbrechung wieder daran
geht, und zwar oft gerade in der Nuance, deren es für den unterbrochenen
Passus bedarf.
Gedanken, Stimmungen,
Willensinteressen knüpfen so über erstaunlich lange Intervalle, angefüllt
mit absolut heterogenen Inhalten, genau an den Punkt an, wo wir sie fallen
ließen.
So baut sich unser Leben
aus unzähligen Reihen auf, die, indem sie sachlich kohärent sind, es
auch psychologisch sind, deren Stücke aber in dem Zeitverlauf des
Seelenlebens sich fortwährend gegenseitig unterbrechen und ablösen 2.
Die Stücke unseres inneren
Lebens, die wirklich in logischer und teleologischer Kontinuität
verlaufen, sind, genau angesehen, erstaunlich kurz - erstaunlich deshalb,
weil die tatsächlich sich herstellende Affinität des Zusammengehörigen
uns seine zeitliche Lücken praktisch so gleichgültig macht, dass wir auf
diese Diskrepanz zwischen der zeitlichen und den inhaltbestimmten Reihen
unseres Lebens gar nicht zu merken pflegen.
Mit der Berufung auf das »Gedächtnis«
- die sowieso keine Erklärung böte - ist nichts getan.
Denn wesentlich handelt es
sich hier gar nicht um bloße Assoziation, mit der die jetzige
Vorstellung die verwandte
frühere heraufbeschwüre, sondern um eine Entwicklung (die
keineswegs eine teleologische sein muss) in einem sachlich gelenkten
Lebensstrom, der durch die zeitlich getrennten Elemente hindurchgeht und
in dem ein jedes nur eine bestimmte Stelle haben kann, während die
Assoziation gar keine determinierende Reihenfolge erzwingt; es ist eine
dynamische Gerichtetheit, kein bloß assoziatives Nebeneinander, das das
spätere Element an das frühere schließt.
Dieser Strom hat eine
geheimnisvolle Kontinuität, die sich durch die Intervalle, wie der
Totallauf des Lebens sie zwischen dessen Wellen schiebt, sozusagen gar
nicht stören lässt.
Der seelische Prozess
verwirklicht seine bloß organische, vitale Kontinuität in der eigentümlichen
Verflechtung von Reihen, deren Glieder, an jenem, der Zeit parallelen Lauf
gemessen, ganz auseinander liegen.
Aber diese bilden jeweils
eine zusammenhängende Kette, die nun gleichsam dem inhaltlichen Sinn
parallel ist - aber dieser Zusammenhang ist kein bloß ideell bestehender,
nur in der Synopsis verwirklichter, sondern eine in realer psychischer
Wirksamkeit weitergeleitete Entwicklung.
Das dem Sinne nach fortwährend
Durchbrochene wächst dennoch, von diesem Sinne geleitet, fortwährend
wieder zusammen, während das einheitlich-ganze seelische Geschehen, rein
als solches angesehen, jene Durchbrechung zwar vollzieht, aber schließlich
doch auch diese Aneinanderreihung in sich schließt, Kraft und Richtung für
sie hergeben muss.
Man bedenke doch auch, dass
die zu einem Lebensverlauf gereihten Inhalte, insofern sie rein von diesem
Lebensprozess her gesehen sind, durchaus den nur als Einheit zu
bezeichnenden Charakter tragen können, während sie, von Sachbegriffen
her gesehen, in die bunteste, zusammenhangloseste Zufälligkeit
auseinandergehen.
Das Leben hat eine ganz
andere Logik als die Dinge, die Begriffe, die Ideen; aber eine nicht
weniger bündige, nicht weniger die Elemente zu Einheit zusammenschließende.
Vielleicht ist diese
Differenz in den Formen beider Reihen begründet: dass das Leben seine
Momente in realer Kontinuität verbindet, während alle rationale
Logik ihre Verbindungen zwischen relativ in sich geschlossenen Elementen
herstellt.
In jener Kontinuität öffnen
sich gleichsam die starren Grenzen des einzelnen Inhalts, so dass er eine
viel freiere, weitherzigere Vereinigungsmöglichkeit mit den anderen
besitzt, als die vorbegrifflichen Inhalte, deren Festgeformtheit mehr von
einem Zusammenhang mit anderen übergriffen, als von ihm durchdrungen
wird.
Das anschaulichste Beispiel
einer Existenz, deren vitale Logik es zu einheitlichster Entwicklung
gestaltet, während ihre Inhalte sachlich angesehen, im ungeheuerlichsten,
oft ganz unbegreiflichen Gegensatz stehen, ist Goethe.
Nicht nur, dass alle möglichen
praktischen und dichterischen, wissenschaftlichen und rein personalen Betätigungen,
produktive und rezeptive Interessen, Offenheiten und Verschlossenheiten in
ihm durcheinanderwirbeln, so dass die Erfülltheit eines Tages oft absolut
fremd gegen die des vorigen steht; sondern auch ihrem Wert nach lösen
sich die meisterhaften und die ganz misslungenen Produktionen, die
tiefsten Einsichten und die wunderlichen Missgriffe so zufällig und
zusammenhanglos ab, dass man aus ihnen selbst ihre Aneinanderreihung
niemals begreifen würde.
Allein, hat man erst einmal
den Rhythmus und das Gesamtbild dieses sich stetig wandelnden Lebens
erfasst, so spürt man in dieser Gegensätzlichkeit und Unlogik seiner
Inhalte die wunderbarste Einheit.
Gerade durch diese Stadien,
dieses Auf und Nieder, diese Affinität des einander Fernsten hat sich,
all dieses von innen und als Pulsierungen dieses einzigen Lebens
angesehen, eine unabbiegbare Gesetzmäßigkeit verwirklicht, hat eine »geprägte
Form lebend sich entwickelt«.
An den Erscheinungen dieser
Art, die alles Menschenleben durchziehen und in Goethe nur die höchste
Spannung und die vollkommenste Entspannung ihrer Problematik besitzen, tut
sich die ganze Rätselhaftigkeit des Verhältnisses zwischen Prozess und
Inhalt des seelischen Geschehens auf und legt nahe, dem ganzen scheinbar
kontradiktorischen Gegensatz von Kontinuität und Diskontinuität - wie
mancher anderen, als zwingend geltenden Alternative - die Gültigkeit für
dieses Geschehen abzusprechen; vielleicht verläuft es in einer dritten
Form, für die diese Entscheidung nicht notwendig ist, die wir aber noch
nicht begrifflich erfassen können.
Uns aber geht hier die bloße
Tatsache an, dass sich schon innerhalb des realen Lebensverlaufes
Zuordnungen seiner Elemente zeigen, die der Einheit eines Sinnes folgen,
unter Gleichgültigkeit gegen das in Hinsicht des Sinnes chaotische, in
Hinsicht der Zeitfolge aber kontinuierliche Nacheinander des Erlebens; mit
dieser sinngemäßen Knüpfung seelischer Entwicklungsreihen korrigieren
wir gewissermaßen die Zufälligkeit, mit der das flackernde, inkohärente
(gerade wegen seiner zeitlichen Kohärenz inkohärente) Leben sich aus den
logischen oder sonst wie objektiven Reihen der Inhalte bald dieses, bald
jenes Stück für seinen Aufbau herausreißt.
Besteht hiermit nun auch
eine Art Vorzeichnung oder Umrissgleichheit zwischen dem Erlebnis und der
Historie, die gewisse Stücke aus jenem unter Einheitsbegriffen
zusammenordnet, als einheitliche Entwicklung gelten lässt - so annulliert
das doch keineswegs den Richtungsgegensatz in beiden.
Indem Jene psychischen
Reihen sich durch Zurückgreifen über jeden Hiatus hinweg herstellen,
wird Ja erst ihre Verflechtung und damit der Zusammenhang und die Einheit
des vorwärtsdrängenden Lebens ermöglicht.
Die Historie aber isoliert
gerade die einzelne Reihe, drängt das Lebensganze zurück, zu dem jede
sich mit den anderen verwebt, fingiert gewissermaßen ein Leben, dessen
Inhalte auf die Schnur eines Begriffes aufgereiht sind, während
das wirkliche Leben gerade durch die unzähligen Unterbrechungen der
Reihen entsteht, die ein fortwährendes Zurückgreifen, Darüberhingreifen
mit sich bringen.
Das gelebte Leben gleicht -
mit allen Vorbehalten des Gleichnisses - einem Teppich, von dessen vielen
Fäden jeder einzelne nur kurze Strecken weit zutage liegt, während sein
Übriges an der Unterfläche läuft, jene Sichtbarkeiten kontinuierlich
verbindend, bei dieser Funktion aber von den anderen, ebenso beschaffenen
überdeckt wird; so erst zeichnet das Nebeneinander der Stücke das
Muster, das in keinem einzelnen pro rata aufzufinden ist.
Die Geschichte aber zieht
den einen Faden ganz heraus, macht ihn, als kennte er keine Unterbrechung,
sichtbar, und bringt dadurch freilich eine Kontinuität, aber kein Muster
zustande.
Dennoch hat dies irgend
eine symbolische Beziehung zum Leben, irgendwie ist dieses in die Form,
die je ein Begriff bezeichnet, projiziert.
Die Form seiner
Wirklichkeit ist hier freilich verlassen, aber ein Allerallgemeinstes
seines Wesens, wenn auch unkonkret geworden, ist in die begriffsgeleitete
Reihung seiner Inhalte übergerettet.
Denn wenn ich die
politische Geschichte eines Herrschers, die religiöse
Entwicklungsgeschichte eines Reformators, die Versuche, Fehlschläge,
Erfolge eines Erfinders, die Rechtsgeschichte eines Volkes erzähle, ja
die der Subjektseinheit ganz entbehrende Geschichte der Chemie oder der
Baukunst - so ist doch die Reihung der aus dem Vollerleben herausgezogenen
Inhalte eine von dem Lebensprinzip überhaupt getragene oder durchströmte,
im Unterschied gegen eine systematische, auf die Erkenntnis des
Sachgehalts als solchen hin orientierte Ordnung.
Der Zusammenhang, obgleich
von dem Apriori der objektiven Theorie gestaltet, ist doch sozusagen in
seiner Qualität noch ein vitaler; er ist zwar von der, überhaupt nicht
begrifflich erfassenden und erfassbaren Lebenswirklichkeit schlechthin
getrennt, nicht weniger aber doch auch von den Ordnungen theoretischer
oder ästhetischer oder metaphysischer Art, die das Leben nicht einmal
symbolisch oder nachträglich oder als Entwicklungsmotiv für die
Synthesen oder das Verständnis seiner Inhalte in Anspruch nehmen.
Das ist der spezifische
Charakter der Geschichte als Erkenntnis, durch den sie sich sowohl von dem
Erleben der Inhalte wie von deren rein sachlicher, gegen ihr Erlebtwerden
gleichgültig gewordenen Erforschung und Systematisierung unterscheidet:
sie hebt die Inhalte des Lebens aus dessen Verwebungsweise und
kontinuierlicher Bewegtheit heraus und verknüpft sie, unter der Führung
von Sachbegriffen und den Bedürfnissen des Erkennens genügend, zu neuen
Sonderreihen; aber innerhalb dieser bleiben sie nun, fühlbar wirksam,
Erzeugnisse des Lebens, Zeugnisse des Erlebens, sie haben die
Nabelschnur, die sie mit dem Blutstrom des Organisch-Seelischen verbindet,
nicht gelöst, wie die sachlich systematische Wissenschaft, die von dort
aufgenommene innere Bewegtheit vibriert auch durch ihre jetzige Ordnung
und schafft die, nur seelisch verständliche, Beziehung von Glied zu
Glied.
Sie ist die einzigartige
Gestaltungsweise, in der das Erleben, als Sinn und Bewegtheit, als
Beseelung und Entwicklung nicht verloren ist, obgleich die Form, in die es
seine Inhalte unmittelbar bringt, durch eine gänzlich andere, vom
Wissensideal herkommende, ersetzt worden ist.
Wenn jede Keimzelle eines
Organismus mit allen vererbbaren Vergangenheiten des Geschlechts geladen
ist und die Kräfte unabsehlicher Zukunft in sich trägt, ein stetig
verbundenes Glied einer stauungslosen Entwicklung, so ist jedes Element
einer geschichtlichen Reihe ein Symbol davon.
Die Reihe ist so ausgewählt
und konstruiert, dass jeder Punkt in ihr nur durch die vorhergehenden
historisch verständlich ist und dass nur er die nachfolgenden verständlich
macht.
Nur eine solche Reihe
definieren wir als eine historische, nur dies gibt ihr, obgleich sie ein
begrifflich geistiges Gebilde, kein vitales ist, obgleich die Verbindung
ihrer Glieder eine völlig andere als die vom Leben gestiftete ist, die
unvergleichliche Beziehung zum Leben, das seine kontinuierliche
Entwicklung auf ihre Reihen in tausendfacher Verteiltheit symbolisch übertragen
hat.
Gewiss ist die Geschichte
eine Form, die durch die Kategorien ihrer Inhaltsordnung sich völlig von
dem Erleben dieser Inhalte scheidet; allein Scheiden ist etwas anderes als
von vornherein Gleichgültig-Sein.
Trotzdem sie das Erlebte
durch Sonderung und neue Synthese zu einem ganz neuen Gebilde macht,
bleibt es doch für ihre Formen und Inhalte unverlierbar, dass sie zwar
das Erleben hinter sich gelassen haben, aber immer Formen und Inhalte des
Erlebten als solchen sind.
2. Wenn man dem im
Vorangehenden berührten Verhältnis zwischen dem Leben als solchen und
seinen Inhalten, die eigene Totalitäten bilden, weiter nachgeht, so
ergibt sich unmittelbar, dass von den letzteren her gesehen die einzelnen
Abschnitte des Lebens als Fragmente erscheinen.
Die Erkenntnis, die selbst
für den einzelnsten Gegenstand den kosmischen Totalzusammenhang fordert,
für jeden Begriff die ganze Pyramide der über- und untergeordneten; die
Schöpfung künstlerische oder andere, über der wie ihr Astralleib eine
Immer nur zu ahnende Vollendung schwebt; das praktische Verhalten, von dem
aus der Anspruch an ethische Kräftigung und Reinigung noch immer
weitergeht - alles dies gibt das Bild ideell vollkommener Welten, durch
die jedes einzelne Leben hindurchpassiert, bald dieses bald jenes Stück
ihrer als seinen Inhalt realisierend.
Insoweit dieser Inhalt in
den sachlichen Zusammenhängen seiner jeweiligen Welt steht, harmonisch
oder kontinuierlich ihrer Ganzheit eingeordnet, seinen Sinn und Umfang
darin völlig auswirkend, ist er kein Fragment.
Das wird er erst, wenn er,
aus diesen ideellen oder realen Zusammenhängen gelöst, in der von ganz
anderen Forderungen her erwachsenden Ganzheit und Einheit eines
Lebensverlaufes auftritt.
Dieser erscheint nun aus
Bruchstücken möglicher Erkenntnisse, möglicher Konsequentheit von
Handlungsreihen, möglicher Vollendungen mannigfachster Art
zusammengesetzt.
Darum braucht das Leben an
seinem eigenen Sinn, seinen eigenen Triebkräften gemessen, noch
keineswegs ein Fragment zu sein, selbst die Inhalte seiner einzelnen
Abschnitte brauchten es nicht, da sie hier gleichsam in dem Lebensstrom
aufgelöst und von vornherein durch diesen in ihrer Form bestimmt sind.
Dennoch bleibt dem Leben
auch von dieser Blickrichtung her der Fragmentcharakter nicht erspart.
Einmal als ganzem, wenn es
an seiner überzeitlichen Idee gemessen wird; aber darauf ist hier nicht
einzugehen, weil es nicht auf eine historische Apriorität führt, wohl
aber werden wir dies von anderen, als Fragmente charakterisierten Seiten
des menschlichen Phänomens feststellen können.
Dass solcher Charakter
besteht, offenbart sich sehr oft nur an seiner Korrektur: gewisse geistige
Vornahmen geben sich als »Ergänzungen« zu erkennen und von diesen
gleichsam zurückrechnend, müssen wir ihren Kern, dasjenige, woran sie
sich ansetzen, als Fragment bezeichnen.
Zunächst ergibt sich eine
solche, von der Geschichtsbildung dann aufgenommene Ergänzung innerhalb
der täglichen Praxis daraus, dass wir das Individuum dauernd unter
allgemeinen Begriffen betrachten, als Bestandteil allgemeiner Kategorien
auffassen, seien diese logisch-psychologischer, seien sie
gesellschaftlicher Art.
Gemäß instinktivem
Eindruck oder genauerer Kenntnis, hält ein Mensch den anderen für klug
oder dumm, großzügig oder kleinlich, sittlich oder gewissenlos, kurz für
einen qualitativ bestimmten Typus Mensch.
Nun versteht es sich
freilich von selbst, dass ein Individuum nicht nur klug oder dumm etc.
ist, diese Bezeichnung vielmehr unzähliges an ihm unberücksichtigt lässt.
Allein indem und vielleicht
gerade weil sie eine Verkürzung des Menschen darstellt, erhöht sie die
spezielle Nuance, in der er die Eigenschaft darstellt, in eine breitere
Allgemeinheit; mit dem Urteil: er ist klug oder dumm, wird das
Individuelle seiner Verstandesbeschaffenheit zu etwas Überindividuellem
ergänzt; und werden zudem die einzelnen Gedanken und Handlungen, die die
fragliche Qualität tragen, gewissermaßen über den Kopf aller anderen zu
einer einheitlichen Färbung des ganzen Menschen zusammengefügt, die tatsächliche
Diskontinuität der Momente seines Wesens und seiner Geschichte, die
wirklich diese Qualität tragen und offenbaren, werden prinzipiell für
ihn zu einem Immer und Überall ergänzt.
In den praktischen
Beziehungen zu den Mitlebenden ist dafür gesorgt, dass solche Ergänzungen
der Teilaspekte einer Existenz ein bestimmtes Maß halten, sich
gegenseitig korrigieren, vor allem erinnert der Totaleindruck der
lebendigen Persönlichkeit immer daran, dass sie nicht auf das Schema
einer allgemeinen Kategorie zu reduzieren ist.
Sobald sie aber in der
historischen Perspektive steht, die unmittelbar überhaupt nur einzelne
Beschaffenheiten oder Kraftäußerungen sichtbar macht, ist die Ergänzung
des So-Gesehenen zu einem Gesamtphänomen eigentlich unvermeidlich, indem
das unendlich Komplizierte, schillernd Flutende des individuellen Lebens
von einem mehr oder weniger allgemeinen Begriff überdeckt ist.
Denn jede einseitig
herausgehobene Qualität eines solchen Lebens ist etwas Allgemeines, mit
vielen Geteiltes, individuell ist nur der Totalumfang eines Lebens mit all
seinen Mannigfaltigkeiten oder auch Widersprüchen.
Und das wird auch dadurch
nicht geändert, dass sich eine Persönlichkeit in unserem historischen
Wissen unter mehrere solche allgemeinen Begriffe stellt, zu denen
fragmentarisch gegebene Züge sich ergänzen.
Diese liegen dann
gewissermaßen übereinander oder nebeneinander, das Individuum steht
unter mehreren Allgemeinheiten, von denen jede aber die Ausweitung einer
partikularen Festgestelltheit zur Färbung der Gesamtpersönlichkeit ist.
Man mache sich doch klar,
wie geringfügig und isoliert, gegenüber dem unabsehlichen Reichtum eines
wirklichen Lebensverlaufes, dasjenige ist, was man von der Mehrzahl der
historisch gewussten Persönlichkeiten wirklich weiß.
Allein mit eben diesem begnügen
wir uns nicht, sondern diese Einzelheit, meistens nur eine Ausladung der
Persönlichkeit, mit der sie in ein großes überpersönliches Geschehen
hineinragt, wächst zum Gesamtcharakter der Persönlichkeit überhaupt
aus.
Denn es gehört zu den
apriorischen Funktionen, durch die der Mensch zur Vorstellung des anderen
Menschen wird, dass er ihn als Lebensganzheit vorstellt, gleichviel
welchen Umfang das dazu verfügbare Material hat.
Aber gegenüber dem
Lebendigen und gegenüber dem historischen Menschen geschieht dies in zwei
prinzipiell verschiedenen Griffrichtungen.
Das Bild des ersteren
gestalten wir nach einer eigentümlichen Intuition, die uns, oft auf den
ersten Blick, seine Totaleinheit zugängig macht - zutreffend oder
verfehlend, scharf umrissen oder verschwimmend, klar bewusst oder dumpf
instinktmäßig.
Irgend ein wahrgenommenes
Faktum seines Lebens mag uns hierbei leiten, meistens aber wird umgekehrt
Bild und Deutung seiner einzelnen Wesensäußerungen von diesem einmal
gewonnenen Aspekt seiner Wesenswurzel her geformt.
Die historische Blickbahn
aber, der dieser Ausgangspunkt versagt ist, muss den entgegengesetzten wählen:
das überlieferte einzelne Verhalten, dessen Charakterqualität wirklich
»ergänzt«, das heißt zum Charakter jenes Ganzen, jener geschlossenen
Persönlichkeits-Einheit verbreitert oder vertieft wird.
Natürlich sind diese
Gegenrichtungen in solcher Schärfe nur begrifflich geschieden.
Das tatsächliche Erkennen
auch des gegenwärtigen Individuums ist fortwährend von der eben
bezeichneten Vorstellungsweise durchflochten; sie gehört zu den
Einstellungen, mit denen wir, jenseits aller wissenschaftlichen Absichten,
Historiker sind; gerade wie umgekehrt auch im geschichtlichen Erkennen
jenes intuitive, jenseits aller faktischen Einzelheiten gestaltete Wissen
um die lebendige individuelle Ganzheit wirksam und unentbehrlich ist.
Hier aber erscheint die
angedeutete Ergänzung der gegebenen Teilerscheinung zu einem ihr nachgefärbten
Totalcharakter des Individuums als eine der formalen Notwendigkeiten, die
sich aus dem Verhältnis des Geistes zur Wirklichkeit, wenn er aus dieser
Geschichte bilden will, ergeben.
Das Allgemeine, aus dem
heraus die Ergänzung erfolgt, war hier psychologischer Natur; es ist aber
in anderen Fällen sozial bestimmt, auch dies im Historischen die
Fortsetzung eines Verfahrens, mit dem die Lebenspraxis fortwährend ihre
eigenen inneren Voraussetzungen gewinnt; nur dass die Geschichte es aus
den Zusammenhängen und der dienenden, zweckhaften Rolle innerhalb jener
Praxis löst, die das zu gewinnende Bild seltener zu Reinheit und
Selbstgenügsamkeit kommen lässt.
In einer ganz unabschätzbaren
Zahl von Fällen, wo, in irgendwelchen Kulturverhältnissen, Individuen
miteinander zu tun haben, scheint es unvermeidlich, dass für ein Jedes
von ihnen das Bild des anderen durch dessen soziale Stellung mitbestimmt
ist.
Mit einem Geistlichen oder
einem Offizier, einem Professor oder einem Künstler redend, lassen wir
die gefühlte Zugehörigkeit zu seinem Stand auf unser ganzes Verhalten zu
ihm, sozusagen reflektorisch einwirken, und zwar - worauf es hier ankommt
- über dasjenige Maß hinaus, in dem der Beruf und was zu ihm gehört, zu
inneren Momenten der Persönlichkeit selbst geworden sind.
Um den Einzelnen schwebt
die soziale Schicht, die ihn umfasst, die allgemeine Lebenssphäre, die er
mit seinen Berufsgenossen teilt, wie ein ideeller Dunstkreis, der das
Benehmen des darin Eintretenden irgendwie abstimmt.
Wir sehen diese Person gar
nicht in ihrem rein individuellen Umriss, sondern wie durch einen
Schleier, gewebt aus den Allgemeinheiten seiner Situation, der jenen
Umriss einigermaßen auflöst, ja, ihn im Maße der Unbekanntheit mit der
wirklichen Persönlichkeit oft verschwimmen lässt.
Diese Verallgemeinerungen
des Individuellen, die in tausend Abwandlungen und Analogien dieser dürftigen
Andeutung jedes Gegenwartsleben durchziehen, gewinnen nun für die
historische Bildgestaltung eine viel prinzipiellere Wichtigkeit.
Während wir den
Mitlebenden, der in irgendeiner sinnlichen oder geistigen Weise unsere
Gegenwart berührt, wenigstens vor uns hinstellen können, herausgehoben
aus allem, was um ihn herum und nicht nur er selbst ist, isoliert wie eine
Porträtplastik, - ist der in die Vergangenheit hinein erblickte Mensch für
uns sehr viel unlösbarer in die Zusammenhänge seiner Gegenwart
verflochten, er kann uns nie inkognito entgegentreten wie jener, sondern
damit er überhaupt für uns ein Etwas sei, wissen wir, besser oder
schlechter, aber jedenfalls irgendwie, was er gewesen sei, Staatsmann oder
Krieger, Arzt oder Priester, Abenteurer oder Händler oder sonst irgend
etwas.
Er wird also sogleich von
einer allgemeinen Kategorie her eingeführt, er wird uns überhaupt nur in
einem Licht sichtbar, das von seinem Beruf, seiner Stellung, seiner
Leistung ausgeht, kurz von der Bedeutung, die er für ein Allgemeines, ihn
Umgebendes oder jedenfalls innerhalb eines solchen hat.
Unzählige Male wächst er
uns überhaupt nur aus den Strahlen dieses Lichtes zusammen.
Wenn uns die Gestalten der
Vergangenheit so oft - und keineswegs nur die eigentlichen Heroen - eine
eigentümliche Größe, einen Umfang, über den der empirisch erlebten
Menschen hinaus, zu haben scheinen, so liegt mindestens eine Teilursache
davon wohl hierin, dass statt eines in seiner Umschriebenheit
unzweideutigen empirisch-individuellen Wesens ein zunächst von einem
gesellschaftlichen Allgemeinbegriff her erschautes sich darbietet.
Es ist die begrifflich
widerspruchsvolle Kombination in der historischen Gestalt, dass sie gegenüber
der unmittelbar erlebten, in tausend Nuancen und Bewegtheiten spielenden,
einen knapperen Umriss zeigt, eine strengere Stilisierung, eine genauere
Beschränkung auf das Wesentliche; und zugleich jenes leicht
Verschwimmende, im Kontur Aufgelockerte, das nicht nur die Folge des
zeitlichen Abstandes ist - wie sie der optisch verunklärenden Folge des räumlichen
Abstandes entsprechen würde, - sondern jener Sphäre von
Allgemeinbegrifflichkeiten entstammt, die den eigentlichen Persönlichkeitspunkt
der nicht erlebten, sondern nur historisch gewussten Persönlichkeit
umkleiden, ihn ersetzen oder ergänzen - mögen es nun die vorerwähnten
psychologischen Begrifflichkeiten sein oder die gesellschaftlichen, die
als Beruf oder Position, als Leistung oder als Reaktion des engeren oder
weiteren Kreises das Individuum zwar historisch festlegen, aber es über
seine wirklich individuelle, von innen her gesetzte Wesensgrenze in ein
irgendwie Allgemeineres erweitern.
Insoweit diese Bildungen
nun zum Typus der »Ergänzungen« gehören - da sie der historischen Persönlichkeit
eine Umfangsvergrößerung, Abrundung nach oben hin geben, ja durch dies
Verfahren, über seine Gegenwartsverwendung hinaus, die historische Persönlichkeit
als solche erst möglich wird - bedeuten sie gewisse Hinzufügungen zu dem
bloß individuellen, fester umschriebenen (obgleich in sich mehr
fluktuierenden) Bilde der Person, wie es sich am Erlebniseindruck
gestaltet.
Man könnte sie daraufhin,
obgleich sie keine Interpolationen sind, keine Hypothesen von Zwischenstücken,
doch mit diesen in eine Kategorie bringen.
Nun aber gibt es eine Ergänzung
im Sinne der Herstellung eines Ganzen, die ein solches nicht durch Hinzufügung,
sondern in genauer Beschränkung auf das Gegebene zustandebringt.
Das Gegebene bedeutet hier
die Summe der direkten und indirekten Zeugnisse einer Zeit, die einer späteren
bekannt werden und es dieser ermöglichen, jene frühere historisch zu
erkennen.
Würde man nun diese
Dokumente in ihrer vollen Gegebenheit nebeneinander stellen, so wäre dies
ersichtlich noch keine Geschichte jener Zeit.
Sind wir uns darüber klar,
dass eine solche nur durch ein weiteres, vom Subjekt ausgehendes Verfahren
zustande kommt, so entsteht eben die Frage, welche Geformtheiten durch
dieses Verfahren denn an jenem bloßen Material auftreten, indem es zur
Geschichte wird.
Der Begriff der Form
bezeichnet nur das abschließende oder umfassende Ziel des Verfahrens;
innerhalb seiner bedarf es an allen Ecken und Enden materialer Hinzufügungen,
eingeschobener Verbindungen, untergelegter, aus dem Material nie exakt
beweisbarer Grundvorgänge seelischer oder anderer Art.
Aber genau angesehen
entsteht auch dadurch noch nicht eine Ganzheit, sondern doch auch nur ein
Material, ein solches freilich, das der Anwendung der Formganzheit keine
Schwierigkeiten mehr entgegensetzt.
Ersichtlich aber ist der
Unterschied gegen den ursprünglichen Materialkomplex nur ein relativer.
Denn eine absolute
Kontinuität der Stücke ist, da jedes von ihnen irgendwie selbständig
und begrifflich geschlossen ist, doch nicht zu erreichen und welcher Abstand
zwischen den einzelnen klein genug ist, damit sie sich der
Ganzheitsfunktion fügen, hängt von den Ansprüchen an die Vollkommenheit
des resultierenden Gebildes, von allen möglichen Gewöhnungen und
Vorurteilen ab.
Es gibt gar keine Unvollständigkeit
eines irgendwie synthetisierten Materials, bei der dieses nicht doch schon
als Ganzheit angesprochen wäre, gar keine Vollständigkeit, die nicht
doch als ungenügend, die absolute Ganzheit unterbrechend, empfunden wäre.
Nicht betroffen von dieser
Relativität sind natürlich diejenigen Gebilde, deren Ganzheit von
vornherein durch ihren numerischen Begriff festgelegt ist: 32 Figuren sind
eben unter allen Umständen ein ganzes Schachspiel, 25 Buchstaben unser
ganzes Alphabet.
Allein solche absolute
Ganzheit ist nur möglich, wo wie hier eine einheitliche Idee in sich
schon die Maße enthält, die von einer Wirklichkeit nur
rekapituliert zu werden brauchen, um diese zu einer ganzen zu machen.
Diese mechanisch oder
analytisch gesicherte Bestimmung aber versagt an Fragen wie: was wir von
einer Epoche wissen müssen, um ein Bild ihrer Ganzheit zu haben, welche
Charakterzüge das Wesen eines ganzen Menschen umschreiben, welche Summe
von Indizien uns einer Tatsache »ganz« sicher machen, welche Zweige
einer staatlichen Organisation wir kennen müssen, um zu sagen, dass wir
diesen Staat in seiner Ganzheit begreifen und unzähliges ähnliche.
Hier besteht nun eine
Neigung und eine außerordentliche instinktive Geschicklichkeit, die
gegebenen Einzelheiten so anzuordnen, dass das herauskommende Bild uns als
lückenlose Ganzheit erscheint.
Dies offenbart sich in
weitestem Maß auch auf nichthistorischen Gebieten.
Ein junger Mensch etwa, dem
die ungeheuer ausgedehnte Bedeutung der sexuellen Tatsachen für die
menschlichen Existenzen noch verborgen ist, wird dennoch alles Geschehen
um ihn herum im großen und ganzen zu verstehen meinen; er wird sich aus
den Handlungen der Menschen ein irgendwie geschlossenes Bild machen und zu
ihm jenen Faktor nicht brauchen, ohne den doch, wenn man ihn einmal kennt,
das Verständnis der Menschenwelt allenthalben lückenhaft ist.
Als noch niemand etwas von
Elektrizität wusste, glaubte man doch, an den schon bekannten Kräften
des Universums ein prinzipiell ununterbrochenes Verständnis seiner zu
besitzen.
Ebenso schienen die
Faktoren des historischen Kosmos eine befriedigende Geschlossenheit zu
bieten, bevor man von der Bedeutung der wirtschaftlichen Kräfte und
Formen für die gesellschaftliche Gesamtverfassung eine Vorstellung hatte.
Und nur ein geistiger
Gegenwartschauvinismus könnte sich dagegen wehren, dass, was uns als
prinzipielle Vollständigkeit unseres Weltbildes erscheinen will (und
selbst dann so erscheinen will, wenn seine Ergänzungsbedürftigkeit in
unzähligen Einzelheiten zugegeben wird), nur dieser merkwürdigen
Plastizität unserer Erkenntniselemente verdankt wird, mit der sie sich
jeweils spaltenlos aneinander zu schließen scheinen, um unserem
Ganzheitsbedürfnis zu genügen.
Ersichtlich äußert dieses
sich hier, wo es sich an jedem zufälligen Status des Gegebenen
befriedigt, viel souveräner als wo es durch Einschiebung hypothetischer
Zwischenglieder das Material selbst schon der Vollständigkeitstendenz gefügiger
macht.
Die Vollständigkeit des
Realen ist von der »Idee« abhängig: ein halber Kreis ist unter der Idee
des Halbkreises etwas Ganzes, aber nicht unter der des Kreises.
Keiner Wirklichkeit ist an
und für sich anzusehen, ob sie ein Ganzes oder ob sie ergänzungsbedürftig
ist, sondern dies entscheidet sich für ein gegebenes Material erst durch
unsere Bestimmung, was uns jetzt als ideelle Einheit gelten soll; wobei
freilich die Art unserer Ideenbildung es mit sich bringt, dass gewisse
Wirklichkeitskomplexe sich ohne weiteres unter Einheitsideen ordnen und
ihre Ganzheit daraufhin als immanentes Verhältnis ihrer Bestandteile
erscheint.
Während man dies am
ehesten für das Kunstwerk behaupten möchte, dessen Wesen von vornherein
in der anschaulichen Einheit von sonst gegeneinander zufälligen und
zusammenhanglosen Elementen besteht, lehrt uns ein Blick auf die ungeheure
Verschiedenheit dessen, was verschiedene Epochen und Individuen für die
Einheit des Kunstwerkes fordern, dass eben auch hier nicht die Sache
selbst, sondern die herangebrachte Idee über die Ganzheit jener
entscheidet.
In einem anderen Schnitt
zeigt dies die menschliche Persönlichkeit, die einerseits als Mikrokosmos
empfunden wird, das heißt als das Gegenbild der einzigen absoluten
Ganzheit - andererseits aber als das denkbar Fragmentarischste, ein Bündel
psychischer Zufallsereignisse, hergeweht aus allen Windrichtungen von
Natur und Geschichte; gerade der Radikalismus der Einheitsforderung an uns
lässt hervortreten, wie wenig wir Ganze sind, bis zur Sehnsucht nach
einer postexistenzialen »Vollendung«.
Ist mit alledem die Tendenz
auf Herstellung von Ganzheiten ein allgemeines geistiges Verfahren, so äußert
es sich an dem geschichtlichen Material mit einer besonderen Prinzipienmäßigkeit.
Alle in einer Gegenwart
oder in einer Zeitlosigkeit gegebenen Inhalte könnten ihrem Begriff nach
sich zu Ganzheiten aneinanderfügen.
Das System der chemischen
Elemente könnte vollständig sein, die Statistik könnte die
ganzheitliche Gliederung der Gesellschaft erfassen, die Lexikographie könnte
den gesamten Wortschatz einer lebendigen Sprache registrieren.
Nur Unzulänglichkeiten,
deren Grund nicht in der Natur des Materials selbst liegt, lassen diese
Erkenntnisse Fragmente sein, und unser Ganzheitsstreben an ihnen relativ
erfolglos.
Ein Komplex aber, dessen
Material zwar einst lebendig war, aber verschwunden und nur durch auf uns
gekommene Überlebsel rekonstruierbar ist, kann sich prinzipiell unserer
Erkenntnis nicht als Ganzheit geben, er muss für sie Fragment bleiben,
gleichviel von welcher synthetischen Idee aus auch seine Ganzheit bedingt
wäre.
Die Zufälligkeit der Überlieferung,
die Diskontinuität der Stücke, die aus dem gelebten Leben heraus ihren
Inhalten nach bewahrt oder nach Indizien herstellbar sind, ist überhaupt
nicht zu überwinden.
Die Ganzheitsbildung ist
als eine mit dem Material spontan verfahrende Funktion hier also mit der
Art dieses Materials viel unmittelbarer, viel innerlicher notwendig
verbunden als innerhalb einer nichthistorischen Erkenntnis.
Ja, der Unterschied ist
vielleicht kein nur gradueller.
Alles was uns gegenwärtig,
aktuell lebendig ist, hat eine gewisse Sphäre um sich herum, mit der es
sich über seinen begrifflich ausdrückbaren Inhalt weitererstreckt und
die wir, ohne es uns weiter mit Worten klar zu machen, als ihm selbstverständlich
zugehörig, von ihm ausgehend empfinden.
In der physischen Nähe
eines Menschen3, weiterhin, in einen geselligen Kreis oder in
eine Versammlung eintretend, fühlen wir, mit mehr oder weniger
Bewusstsein, eine ganz bestimmte Atmosphäre, den Luftton eines über die
tastbaren Grenzen seiner Träger hinüberflutenden Lebens; ja, in einer
Stadt oder sogar einem Lande, insbesondere einem fremden, weht uns dieser
charakteristische Lebenshauch, hier natürlich aus hundert minimen Eindrücken
zusammenrinnend, als etwas Einheitliches und auf konkrete Einzelheiten gar
nicht zurückführbar, entgegen.
Nur das Lebendige, in
seiner Gegenwärtigkeit Empfundene, ist von solcher, unbestimmbar weithin
wirkenden Atmosphäre umgeben, sie vermittelt ersichtlich eine Art von
Kontinuität zwischen den Lebenden und hilft den Eindruck des Individuums
über seine Einzelheiten, Widersprüche, primären
Zusammenhangslosigkeiten hinweg zu einer Ganzheit abzurunden.
Für den Vergangenen aber fällt
dies Allgemeine fort, Individuen wie Mehrheiten stehen uns in der harten
Umrissenheit dessen, was wir als konkrete Einzelheiten von ihnen wissen,
gegenüber, der Luftton, den nur das Leben ausstrahlt, ist nicht um sie
und kann sie deshalb nicht in eine Totaleinheit verweben.
Eine solche ist hier also
nur durch ein genaues Aneinanderfügen der Stücke zu gewinnen, diese müssen
so gestellt oder auch in ihren Umrissen leise so umgestaltet werden, bis
sie möglichst wie nahtlos ineinander passen und damit die Kategorie der
Ganzheit an sich in Funktion treten lassen.
Das Beispiel im größten
Stil hierfür ist wohl der fünfte Band von Mommsens römischer
Geschichte.
Hier ist wirklich aus bloßen
Fetzen der Überlieferung, allerdings mit eingeschobenen Stücken, oft
aber durch bloße Anordnung ein Ganzes hingestellt, das Mommsen selbst
freilich nur als das Surrogat eines Ganzen bezeichnet, wie es durch die
Phantasie zu gewinnen sei.
Allein genau genommen ist
eben jedes historische Bild in diesem Sinne Surrogat eines Ganzen.
Denn was Mommsen hier
Phantasie nennt, ist im wesentlichen jene Spontaneität der
Ganzheitsbildung, deren wir zwar in keiner theoretischen Provinz, am
wenigsten aber in der historischen entraten können.
Welche Beschaffenheit und
welches Maß des Materials freilich die Ganzheit als erreicht anerkennen lässt,
wird nur subjektiv und von Fall zu Fall entschieden; aufrichtigerweise
muss man zugeben, dass es ein Gefühl ist, eine Art geistigen
Augenmaßes, das statt objektiver Kriterien über diese Erreichtheit
entscheidet.
Auch richten sich die
Forderungen für ein Totalitätsbild oft genug nach dem Maße des
Erreichbaren, was zwar der allgemein menschlichen Anpassungsfähigkeit,
aber eigentlich nicht der methodischen Idee entspricht.
So, wenn ein durchaus
besonnener Forscher über die Koloniegründungen Philipps von Mazedonien
sagt, wir hätten betreffs ihrer nur »wenige und verstreute Notizen, die
uns den Zusammenhang seiner kolonisatorischen Pläne nur ganz im
allgemeinen ahnen lassen« - und dann, nach Erwähnung von drei, zum Teil
noch problematischen Angaben fortfährt: wir bekommen damit »den Einblick
in eine großartige kolonisatorische Politik«.
Von den vielerlei
Modifikationen, unter denen sich die historische Ganzheitsbildung
vollzieht, will ich nur noch zwei charakteristische anführen.
Ihr Gelingen ist unter
anderem davon abhängig, dass das Zentrum oder der Gesichtspunkt, von dem
aus das Material sich zur Ganzheit zusammenschließt, richtig gewählt
wird.
Es ist zum Beispiel eine
Entwicklungsgeschichte Shakespeares herstellbar, die ein Aufsteigen oder
auch einen Rhythmus von Stilentfaltung und Mittelerweiterung,
Sprachherrschaft und Problemvertiefung zeigt.
Gewiss steht jedes der
Dramen in der Geschlossenheit des Kunstwerks diskontinuierlich neben dem
anderen.
Allein ihre objektiven
Qualitäten gestatten eben die Anordnung, die durchlaufend der Beobachter
jenes Ansteigen oder Alternieren als eine Kontinuität fühlt; wir
projizieren diese in den Schöpfer, sehen gleichsam die ununterbrochene
Linie eines schöpferischen Lebens, deren Richtung von den Werken wie von
einzelnen Punkten festgelegt ist.
Wollten wir aber
Shakespeares Entwicklungsgeschichte als eigentliche Biographie
konstruieren, als Entfaltung und Periodik der Gesamtpersönlichkeit und
aus deren ganzer, innerlich-äußerlicher Lebensbreite die Entstehung, Art
und Skala der einzelnen Werke verständlich machen - so würde das
Material dafür versagen und keinerlei Ganzheit ergeben.
Man kann - und dies scheint
mir ein höchst wichtiges Moment - einem historischen Komplex nie rein
formal, aus dem immanenten Verhältnis seiner Teile ansehen, ob er eine
Ganzheit bildet.
Vielleicht ist dies überhaupt
nur dem einzelnen lebendigen Organismus und dem Kunstwerk gegenüber möglich.
Jener, der seine Form von
innen heraus bestimmt, trägt allerdings in der selbstgenügsamen
Wechselwirkung seiner Teile das Kriterium seines Ganz-Seins in sich
selbst; für das Kunstwerk gilt das gleiche, indes nur soweit es auf seine
rein artistische Formalität hin betrachtet wird, was in der Musik, der
Architektur, dem Ornament ohne weiteres geschehen kann - auf darüber
hinausgehende Bedeutungen und Werte hin angesehen, bedarf auch das
Kunstwerk einer irgendwie von außen herangebrachten Idee, nach der seine
Ganzheit oder Unvollständigkeit bemessen wird.
Wo aber, wie in der
historischen Überlieferung, von vornherein nur isolierte Elemente
vorliegen, ist dies durchgängig erfordert.
Und die Zufälligkeit des
Verhältnisses zwischen dem gerade vorhandenen Material und den uns
wesentlichen Ideen bewirkt, dass man jenem nicht von vornherein, sondern
erst nach der Wahl einer heranzubringenden Idee ansehen kann, ob und
inwieweit es sich zum Bilde einer Ganzheit zusammenschließt.
In einer anderen von den
Ebenen, in denen die Wege zur historischen Ganzheit laufen, liegt das
allem bisher Angeführten entgegengesetzte Verfahren: das Weglassen von
Elementen.
In eine Darstellung, die überhaupt
mehr ist als bloße Mitteilung des urkundlichen Materials, nimmt der
Historiker das »Unwichtige« nicht auf.
Sieht man aber genauer zu,
was mit diesem scheinbar nur den Eigenwert des Materialstücks angehenden
Begriffe gemeint ist, so bezeichnet er oft ein solches, das den
Zusammenschluss der übrigen zu einer Ganzheit stören würde.
Wie der Historiker
einerseits mehr sagt, als er genau genommen weiß, weil die einmal
angenommene Idee des Ganzen ihn berechtigt, die Lücken der Überlieferung
durch Interpolation und Zurechtbiegen der Stücke, bis sie ineinander
passen, auszufüllen - so sagt er auch weniger als er weiß, wenn ein
gewusstes Stück innerhalb der Ganzheit eine tote Stelle, nicht auf die führende
Idee hin orientiert wäre.
Widerspräche es ihr
geradezu, so wäre es zu überlegen, ob sie aufgegeben werden muss
oder ob jenes Stück zu verwerfen ist.
In jedem dieser Fälle ist
die Erhaltung der Ganzheit bestimmende Forderung, und hier handelt es sich
um denjenigen, wo ein Stück der Überlieferung nicht aus materialen Gründen
ausgeschaltet wird, sondern aus dem formalen: dass es sich in die
herzustellende Ganzheit nicht als positiver Beitrag einfügen will.
Wer zum Beispiel eine
philosophiegeschichtliche Darstellung der Lehre Heraklits geben will, wird
von den Fragmenten diejenigen benutzen, die, von der einmal gefassten Idee
der Philosophischen Grundanschauung Heraklits aus, sich zu einem Ganzen
zusammenschließen lassen.
Er würde aber dessen Bild
durch einen sinnlosen Hiatus zerbröckeln, wenn er etwa die überlieferte
Äußerung Heraklits, dass die Seelen im Hades riechen oder dass Schweine
sich im Kot baden, Vögel aber im Staub - in diese Darstellung einfügte.
Indessen wäre es nicht
prinzipiell (wenn auch wohl tatsächlich) ausgeschlossen, dass die ganze
Lehre eines Tages von einer andern Grundidee her erfasst würde, von der
aus gesehen diese Fragmente sich etwa als symbolische Ergänzungen dem
einheitlichen Zusammenhang der Lehre einfügten; an ihrer Stelle würden
dann vielleicht andere, die für die jetzige Ganzheit notwendige Glieder
sind, ausgeschaltet werden.
Am unverkennlichsten ist
das historische Prinzip des Weglassens um der Ganzheitsform willen und die
Wichtigkeit seiner Modifikation angesichts der Verschiedenheiten des Umfangs,
in dem eine und dieselbe Geschehensperiode dargestellt wird.
Der siebenjährige Krieg,
auf hundert Seiten erzählt, fordert nicht nur gegenüber einer
Darstellung auf tausend Seiten eine Komprimiertheit des Ausdrucks, sondern
das radikale Weglassen von soundso vielen Einzelheiten.
An dieser Selbstverständlichkeit
ist uns hier wichtig, dass diese und jene von solchen Einzelheiten, in die
kurze Darstellung eingefügt, gerade deren Ganzheit zerreißen würde.
Innerhalb der historischen
Formgebung verzahnen sich, bei gegebenem Verhältnis zwischen Gesamtumfang
und Gesamtgeschehen, nur Geschehnisse bestimmter Größendimensionen.
Was unterhalb dieser
bleibt, fällt aus der Verbindung heraus und schafft eine Lücke in ihr, während
es bei Änderung jenes Verhältnisses gerade als Verbindung dienen kann.
In jenem ersteren Fall nämlich
wirkt es als Anekdote, die durchaus das Gegenteil des historischen
Prinzips darstellt.
Denn dessen Wesen ist der Zusammenhang
der Ereignisse.
Gewiss müssen sie auch
unabhängig von ihm und ihrem selbständigen Inhalt nach gewisse
Bedeutsamkeiten besitzen, um in das historische Blickfeld einzutreten.
Allein abgesehen davon, ob
diese Bedeutsamkeiten nicht etwa in wirklichen oder potentiellen Zusammenhängen
bestehen, in Vergangenheiten, die sich an diesem Punkt konzentrieren,
Zukunftserfolgen, die von ihm ausstrahlen - davon noch abgesehen und den
Eigenwert dieses Wirklichkeitsmomentes zugegeben, wird er doch zum
historischen erst durch Einstellung in eine vielgliedrige Kette weiterer
Momente, durch die Fühlbarkeit des Lebensstromes, der die Ereignisse
durchflutet und jedes mit jedem verbindet.
Die Anekdote aber bedeutet
die herausgehobene Pointiertheit eines einzelnen als solchen, die
Vergleichgültigung der Kontinuität, in der es steht.
Auch wenn sie ein
historisches Subjekt hat, so liegt doch der Akzent des Interesses an ihr
auf dem Amüsanten oder Charakteristischen, dem Exzeptionellen oder
Ergreifenden ihres Inhaltes als eines selbstgenügsamen Bildes: dies
allein ist das Motiv ihres Erzähltwerdens.
Innerhalb eines
dargestellten Ganzen eine Einzelheit als solche zu empfinden, zeigt an,
dass sie sich aus dessen Rhythmus oder allgemeinen Dimensionen in diesem
Sinne isoliert und das Ganze dadurch zerbröckelt; was sie, ohne eigene Änderung,
bei einem durchgehenden Maßstab von größeren Dimensionen und breiterer
Fülle nicht bewirken würde.
Es ist sehr lehrreich, die
Verwertung der mit dem Charakter der Anekdote überlieferten Einzelheiten
bei den wirklich großen Historikern zu betrachten.
Hier hat sie niemals jene
abkapselnde Zuspitzung, in der sie als um ihrer selbst willen erzählt
erscheint, und den sie sofort annimmt, sobald die allgemeinen Abmessungen
des Darstellens nicht auf solches Detail eingerichtet sind.
Sie wird vielmehr nur vom
Standpunkt und im Interesse der Ganzheit des Dargestellten aufgenommen und
muss weichen, sobald sie sich diesem Ganzen, dessen Dimension seinen Stil
bestimmt, nicht einfügt, sondern auf das selbstzufriedene Interesse an
ihrem Inhalt hin einen Platz beansprucht.
Aufs schärfste tritt hier
der Gegensatz von Geschehen und Geschichte hervor.
Das Geschehen überhaupt
ist eine Ganzheit in der, objektiv betrachtet, kein Element ausfallen kann
und in deren Kontinuität jedes reale Element die unentbehrliche Brücke
zwischen dem vorhergehenden und dem folgenden ist.
Die Ganzheit aber, die die
Geschichte herstellt und als die sie sich darstellt, ist variabel und
gewissermaßen elastisch.
Dem Zufall des überlieferten
Materials preisgegeben, ist sie oft aus diesem nur durch die Einschiebung
von Zwischenstücken zu gewinnen, manchmal aber nur durch die Ausschaltung
überlieferter Materialstücke.
Indem die Extensität der
gewählten Darstellungsform von sich aus die höchst wechselnden Maße
bestimmt, in denen Einzelheiten in sie hinein gehören oder in das
jenseits der Geschichte, das Anekdotische, fallen; indem allein durch
diese Variabilität von Ausschaltungen die »Ganzheit« der jeweiligen
Darstellung erreicht wird - bestätigt sich von neuem die Autonomie der
Form Geschichte gegenüber der Form Geschehenswirklichkeit.
3. Es ist sehr merkwürdig,
dass einer unserer angewendetsten, praktisch und theoretisch
unentbehrlichsten Begriffe: Gegenwart - seiner inhaltlichen Bestimmtheit
nach von einer schwer ins reine zu bringenden Undeutlichkeit ist.
Sein logisch genauer Sinn
ist zwar nicht zweifelhaft: das schlechthin Punktuelle der Zeit, von dem
aus jegliche Zeitausdehnung, also eigentlich jede Zeit überhaupt,
entweder Vergangenheit oder Zukunft ist.
Beschränkt man sie auf
diese Bedeutung, so haben oder erleben wir überhaupt keine Zeit; denn wir
sind nur in der Gegenwart, nur diese ist Wirklichkeit, alle
Vergangenheit ist Erinnerung, alle Zukunft Phantasie.
Unsere Existenz wie die
aller Dinge ist ein gleichsam immer vorrückender Punkt, sie kann, als
Realität, keine Zeit erfüllen; denn da alle Zeit, als ausgedehnte,
Vergangenheit oder Zukunft ist, also etwas Irreales, so kann sich auch
keine Wirklichkeit durch sie hindurch ausdehnen; anderenfalls wäre diese,
die ja ihrem Begriffe nach nur Gegenwart sein kann, eine stehende
Gegenwart, welches ein innerer Widerspruch ist.
Eine »Gegenwart« gibt es
überhaupt nicht für die inhaltlose Ausgedehntheit der reinen abstrakten
Zeit, sondern nur für ein in ihr sich abspielendes Geschehen, dessen
Inhalte verfließen, das heißt sich ändern.
Diese allein haben
Wirklichkeit, aber eben, in der Konsequenz des Begriffes, keine zeitlich
ausgedehnte, da ihre Gegenwart nur der Punkt ist, an dem die ausgedehnte
Vergangenheit und die ausgedehnte Zukunft zusammenstoßen.
Hiermit entsteht also die
Paradoxie, dass zeitliche Wirklichkeit überhaupt ein imaginärer Begriff
ist - wie räumliche Wirklichkeit es wäre, wenn das Reale nur aus Punkten
bestünde, die zwar durch Raumkoordinaten festzulegen, selbst aber nicht räumlich
ausgedehnt sind.
Mit der Idealität der
Zeit, ihrer Ungültigkeit für das Absolute, für das überempirische
Ansich des Daseins, hat dies ersichtlich nichts zu tun, es handelt sich
vielmehr nur um die logische Durchdringung des empirisch Gegebenen.
Insoweit dieses also auf
die objektive Realität seines Seins oder Geschehens hin angesehen wird,
gilt die Zeit dafür nicht, sondern erst der Geist fügt, zurückdenkend
und vordenkend, das nicht mehr oder noch nicht Seiende in eine Zeitlinie
zusammen.
Diese Fähigkeit aber
benutzt der Geist, um auch seinen Gegenwartsbegriff selbst über die
Beschränkung auf seine logisch strenge Punktualität zu erweitern und ihn
in der Praxis aus einem Stückchen Vergangenheit und einem Stückchen
Zukunft zusammenzusetzen.
Diese Erstreckung um das
Gegenwarts- oder Augenblickszentrum herum ist freilich sehr unbestimmt und
sehr wechselnd.
Wer von dem gegenwärtigen
Stadium einer Freundschaftsbeziehung, von einem augenblicklichen Leiden
oder von dem Genuss der Gegenwart spricht, meint damit sehr verschiedene Längen
von Erinnerung und Vorblick um den genauen Punkt des jetzt herum; sie
erweitern sich prinzipiell für überindividuelle Subjekte: die gegenwärtige
geologische Periode, der gegenwärtige Stand der Medizin, die gegenwärtige
Politik eines Staates decken jedenfalls viel größere Zeiträume als
personale Gegenwärtigkeiten tun, sind aber auch untereinander und jedes für
sich äußerst variabel.
Ob hier indes wirklich nur
eine psychologische Verwischung vorliegt, unter der als ausschließliche,
auch innerliche Realität jene scharfe Abgegrenztheit punktueller
Gegenwart gegen die Irrealitäten von Vergangenheit und Zukunft besteht -
will ich hier nicht ausführlich erörtern.
Befragen wir uns aber nach
dem zutiefst erreichbaren inneren Sachverhalt, so finden wir, wenn ich
mich nicht täusche, unsere Lebensrealität niemals an jene logisch
absolute Momentaneität gebunden, ja wir können sie überhaupt nicht in
dieser Beschränktheit empfinden.
Ganz unmittelbar vielmehr
ist uns das über sie hinausflutende Leben mit seinen Inhalten »gegenwärtig«
und eine aktuelle Wirklichkeit.
Das Leben hat doch
vielleicht einen anderen Rhythmus, eine andere Möglichkeit, die Welt und
sich selbst zu erfassen, als sich nach der logischen Formel von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausrechnen lässt.
Mindestens ist es, als ob
das Erlebnis Gegenwart deren begriffliche Exklusivität durchbräche und
jeweils eine Strecke der kontinuierlichen Zeit in sich begriffe, die dann,
eben dieser Kontinuität gemäß, sich ohne merkliche Schwelle in der
entschiedenen Vergangenheit und Zukunft verlöre.
Die Vergangenheit ist mit
irgend einem Stückchen, das bis an den Gegenwartsmoment hinanreicht, für
uns eben nicht vergangen, die Zukunft mit einem Stück, das an diesen
Moment ansetzt, keine bloße ideelle Vordatierung, sondern wirklich von
unserem Leben erfüllt.
Das praktisch Entscheidende
ist diese Gerichtetheit in die Zukunft nach vorwärts, - die wir
vielleicht nicht ganz verbegrifflichen können, sondern nur als eine
letzte Lebenstatsache unmittelbar fühlen, wie wir rechts und links fühlen.
Denn auch die, logisch
betrachtet, vergangenen Zeitinhalte, die das Bewusstsein des
Gegenwartserlebens noch deckt, sind nach vorwärts hin orientiert, ihr
Lebenswert ist, mindestens im praktischen Sinne, das was sie für die
folgenden leisten.
Kurz, das Leben ist eine
nicht umkehrbare Strömung, mit der jeder Moment im nächsten aufgeht, und
wenn wir ihre Richtung eben als ein Vorwärts bezeichnen, so ist
vielleicht dieser letztere Begriff kein für sich feststehender, der sich
erst synthetisch mit der Lebensbewegtheit füllte, an ihr rekognosziert würde,
sondern der Name für die Richtung dieser Bewegtheit - man könnte auch
sagen: für ihre Qualität -, und erst an der Tatsache des Lebens nähmen
wir eine Tatsache und einen Sinn wahr, die wir »vorwärts« nennen.
Es bedurfte der Ausmachung
dieses Tatbestandes, damit klar werde, welche Wendung ihm gegenüber die
Schöpfung der Geschichte bedeutet.
Hier dreht das Bewusstsein
die Richtung des Lebensstromes, von dem es einsinnig durchflutet wird,
radikal um; die Vergangenheit, insofern sie vergangen ist, sich zu »vergegenwärtigen«,
sich zum Inhalt zu machen, ist nun das bewusste Interesse.
Die Vergangenheit ist als
solche zum selbständigen Wert geworden, die Inhalte ihrer einzelnen
Abschnitte haben zwar untereinander auch die nach vorwärts orientierte
Richtung, aber der jeweilig betrachtete Abschnitt ist ihr enthoben und hat
seine historische Bedeutung durch Teilhaben an der Gesamtform
Vergangenheit.
Mag man ein historisch
Festgestelltes auch mit einem Späteren, mit aller Zukunft überhaupt, in
Beziehung setzen - jenes organische Verwachsensein der Vergangenheit mit
der Zukunft, durch das allein jene eine Lebensrolle spielt, ist mittels
der Historie aufgelöst.
Wenn auch, wie wir sehen
und noch sehen werden, keineswegs alles vergangene Leben schon Geschichte
ist, die Zulassung zu dieser vielmehr von weiteren Bedingungen und
Ordnungen abhängt, so ist doch das Vergangensein ihrer Inhalte das unerlässliche
Element, das rein als solches und aus der Vorwärtsströmung des Lebens überhaupt
herausgehoben, allen anderen variableren Elementen anhaften muss, damit
sie Geschichte werden.
Das Interesse an den als
zeitlos vorgestellten Objekten: Begriffen und Ideen, Kunstwerken und
Naturgesetzen, reinen Formen und religiösen Gestaltungen, mag noch so
abstrakt und den Impulsen des unmittelbaren Lebens ferngestellt sein - es
ist ihnen nicht in so positiver Weise entgegengerichtet, wie alles
Historische.
Denn das Zeitlose steht
gewissermaßen parteilos über den Unterschieden der Zeit und es kann sich
an den Inhalten einer jeden zeitlich verwirklichen.
Die Historie aber bleibt an
ihren Ort gebannt und zieht den Blick nach rückwärts (oder richtiger:
der nach rückwärts gewandte Blick erschafft sie als Geschichte),
entgegen der vitalen Strömung, die ihn nach vorwärts trägt.
Hier liegt wohl der tiefste
Gegensatz der Form Geschichte gegen die Form Leben.
Er findet seine zarteste
und zugleich anschaulichste Ausgestaltung an der Eigenbetrachtung des persönlichen
Lebens.
Jeder unserer praktischen
Schritte setzt irgendwelche Erinnerungen an unsere Vergangenheit voraus:
allgemeinere oder speziellere, mehr oder weniger klare Bilder von dieser
bestimmen ihm Inhalt und Richtung, ihrerseits ganz und gar durchdrungen
von der Dynamik des in der Lebensrichtung drängenden Willens.
Sehr genau aber können wir
von ihnen diejenigen unterscheiden, die das Vergangene rein als
Vergangenes vor unsere inneren Augen bringen; sie liegen wie in einer
anderen Ebene als jene, selbst wenn es sich um den identischen Inhalt
handelt, steht die Gegenintentioniertheit der Betrachtung zwischen ihnen
wie ein Abgrund, der jede innere Berührung oder Einstellung in eine Richtung
ausschließt.
Hierin und nicht in der
Unterschiedenheit der Inhalte und ihrer Farben ist, wie gesagt, die
entscheidende charakterologische Differenz von Leben und Historie begründet.
Sie ist freilich von vielen
Verwischungen bedroht.
Innerhalb des
als historisch betrachteten Zeitabschnitts herrscht natürlich die nach
der jeweiligen Zukunft hin orientierte Anordnung; seine Tatsächlichkeit hängt
mit der aktuell erlebten in zeitlicher und sachlicher Kontinuität
zusammen; er ist, als geistig-historischer in seiner Ganzheit von der
Lebensströmung des historisch Interessierten erzeugt oder aufgenommen -
und dennoch fordert sie die Stillstellung jenes vorwärtsdrängenden
Rhythmus, der alles dem Leben dienende Vorstellen in sich einbezieht und
besteht, in ihrer Wesensgeschlossenheit, durch die nicht weiter zu begründende
apriorische Geistesform: die Bedeutendheit des Vergangenen als
Vergangenen.
Indes kann gerade das
Angedeutete: dass die innere Struktur des historischen Komplexes der
zeitlichen Lebensform folgt, zu der missverständlichen Vorstellung
verleiten, als sei ein Faktum dann als historisches verstanden, wenn es
aus vorangegangenen Fakten verstanden sei.
In Wirklichkeit ist gerade
das historische Verständnis menschlichen Tuns ganz wesentlich an die
Einsicht in seine Folgen gebunden.
Als unmittelbar Erlebtes
dagegen, am Subjekt selbst und an anderen, begreifen wir es viel
hinreichender aus seinen innerlichen und äußerlichen Antezedenzien.
Zunächst ist hier zu
bedenken, was für alles Begreifen menschlichen Tuns wesentlich ist - dass
wir unter einer »Tat« ja fast niemals ihren genau gegenwärtigen Inhalt
in seiner mit sich abschließenden Anschaulichkeit verstehen.
Sie wird vielmehr von
vornherein als die Summe der an sie ansetzenden Folgen angesehen.
Sie ist sozusagen gar
nichts anderes als die Potentialität dieser Summe.
Wenn wir sagen, es habe
jemand dies und das unternommen, gewagt, geschaffen, vom Alltäglichen bis
zum Ungewöhnlichsten, so meinen wir, wenn wir genau prüfen, gar nicht
das exakt umschriebene, durch seine eigenen Innervationen fertig gewordene
Tun, sondern sehen unmittelbar über dessen Grenze hinaus auf dasjenige,
was dieses Tun als Veranlassung gewisser Folgen bedeutet.
Das Bild eben dieser
schiebt sich wie ohne Zwischenraum an das jetzt vom Subjekt Vollbrachte
heran und überdeckt dies so, dass es für sich allein eigentlich gar
nicht mehr sichtbar ist, sondern von den Ereignissen, Zuständen, Werten,
dem Sich-Aufbauenden und den Zerstörungen, die in ihm ihre Quelle haben,
vertreten wird.
Dieses Verfahren, das jedes
Tun nur als einen in sich irrelevanten Samen und erst die ihm
entwachsenden Früchte von vornherein als seine Substanz gelten lässt,
ist uns so selbstverständlich, dass wir uns kaum darüber klar zu werden
pflegen.
Wie wir bei der sinnlichen
Wahrnehmung gar nicht genau sagen können, was wir wirklich wahrnehmen und
was wir - etwa unter der problematischen Bezeichnung der »unbewussten
Schlüsse« - dazu ergänzen, so ist auch das, was wir unter einer Tat
verstehen, eine Verwachsung des konstatierbaren aktuellen Tuns und seiner
erst erwarteten Folgen; sie ist oft sogar nur die Hülle, die als ihre
eigentliche Essenz diese noch gebundenen Folgen in sich hat.
Einen Teil in dieser bilden
die beabsichtigten Folgen, ihr subjektiver Sinn, für den sie
selbst das vorübergehende oder irrelevante Mittel ist; ersichtlich aber
hat dieser Teil eine höchst variable Maßrelation zu der Gesamtheit der
Folgen, die in ihrer Tatsächlichkeit erst die volle Bedeutung der Tat
verkünden oder richtiger: ausmachen.
Dieses Grundverhältnis,
das die Tat nicht aus den ihr vorhergehenden, sondern den ihr folgenden
verstehen lässt, zeigt nun innerhalb des historischen Erkennens
mannigfache Modifikationen.
Zunächst stellt es als
Geschichtliches sich in viel radikalerer Art dar, wie als gegenwärtig
Erlebtes.
Denn dort haben sich die
Folgen schon als tatsächliche und übersichtliche ausgebreitet, jede
Handlung und was aus ihr hervorgeht, liegt in einer Ebene, in der
Verflechtung des Geschehens überhaupt.
Je näher aber eine
Handlung uns steht, desto mehr erscheint uns ihr Verständnis von ihrem
terminus a quo abhängig: von den vorangegangenen Umständen und, schließlich
entscheidend, von der seelischen Impulsivität und Verfassung des
Vollbringers, in die jene Umstände motivierend eingegangen sind.
Am unbedingtesten erscheint
dem Subjekt das Verständnis des eigenen Handelns nur auf diese
eigentlich psychologische, von der Ursache herkommende Weise möglich, in
abgestuften Maßen gilt sie von den persönlich Gekannten, den
Zeitgenossen, den Erscheinungen, die wir der Gegenwart noch wie durch einen
Blutstrom verbunden fühlen.
Je weiter wir in des von
den Ereignissen zeitlich abstehen, desto weniger genügt solche
psychologisch kausale Bedingtheit dem Anspruch auf Verständnis ihrer,
desto mehr geht für unseren Blick die Handlung in ihren Ergebnissen auf,
ihre objektive Bedeutung, wie sie sich in diesen verkündet, gewinnt um so
entschiedenere Prärogative vor den subjektiven Kräften und Ursachen
ihres Zustandekommens, aus je größerer Ferne die Betrachtung geschieht,
je reiner historisch sie ist, das heißt, je mehr sie der Geschehensströmung
in ihrer ganzen Breite und Kontinuität gilt.
Vor der Handlung bestehen
ihre Folgen - mindestens ein Teil ihrer - in der Form der Vorstellung als
Zwecke, die den Vollbringer treiben; ist sie geschehen, historisch
geworden, so liegen eben diese Folgen sichtbar vor, die nicht in die Form
der Wirklichkeit eingetretenen, wenngleich vorher mitintentionierten, sind
vernichtigt und haben (besonders zu begründende Ausnahmen vorbehalten)
keinen Platz in der Historie.
So zeigt also einerseits
die Geschichte die radikale Drehung des Lebens, aus der ihm als Leben
eigenen Richtung heraus: während innerhalb dieser alles vor dem
Gegenwartsmoment Gelegene nur den Sinn hat, die Zukunft aus sich
hervorgehen zu lassen, ruht das geistige Gebilde Geschichte auf dem
verselbständigten Werte der Vergangenheit: statt dass sie dem Leben
diente, steht jetzt das Leben - als Geist - in ihrem Dienste, es wird
gewissermaßen rückläufig.
Die so erfasste
Vergangenheit aber expliziert sich an einem Bilde, das sich zu jenem in
eigentümlicher Weise als Fortsetzung wie als Entgegensetzung verhält.
Für das aktuell gelebte
Leben und sein Verständnis - auch dasjenige Verständnis, das dem Leben
unmittelbar bedingend und bedingt eingewachsen ist - haben die jedem
Moment voranliegenden Bedingungen eine dominierende Bedeutung, aus dem
Vergangenen, seelisch weiter Wirkenden, verstehen wir diesen Moment, für
den die Zukunft schlechthin unsicher und nur in der Form von Trieb oder
Zweck, von Hoffnung oder Furcht vorhanden und wirksam ist.
Den historischen Augenblick
aber sehen wir in kontinuierlicher Verbindung mit den aus ihm entwickelten
Wirklichkeiten, nur soweit sie in diese umgesetzt sind, haben die in ihm
gesammelten Energien Bedeutung, alles ihm sonst Voranliegende ist, cum
grano salis, historisch nichtig.
In radikalem Ausdruck
begreifen wir den gelebten Moment aus seiner Vergangenheit, den
historischen aus seiner Zukunft.
Dies ist das prinzipielle
Hindernis, die Gegenwart historisch zu verstehen.
Bedeutete dies die
Ableitung aus vorangegangenen Bedingungen, so wäre es prinzipiell
immerhin möglich.
Aber die Gegenwart hat ihre
Folgen noch nicht feststellbar entwickelt und deshalb können
wir sie nicht historisch verstehen.
- Dass solche
Komplikationen, in denen das Verhältnis von Leben und Geschichte sich äußert,
grüblerisch erscheinen, darf an ihnen nicht irre machen.
Werden hochzusammengesetzte
geistige Gebilde auf ihre Charakterisierung durch so einfache Elemente wie
die Zeitrichtungen sind, hin befragt, so ist es nur natürlich, wenn die
Antwort wunderliche, ja vielleicht widerspruchsvolle Synthesen dieser
Elemente zeigt.
Dass die »Einfachheit«
das Kriterium der Wahrheit sei, setzt ein mystisches Verhältnis zwischen
der sachlich-geistigen Struktur der Dinge und unserem höchst variablen
Ideal der Einfachheit naiv voraus.
Freilich sind die Elemente,
auf die unser Erkennen die Erscheinungen zurückführt, als relativ
einfache zu bezeichnen; aber die Kombinationen, die dazu mit ihnen
vorgenommen, die Entwicklungen, durch die sie geführt werden müssen, können
darum doch höchst vielgliedrige und verwickelte sein; so dass jenes Dogma
auf der Verwechslung zwischen dem Stoff der schließlichen Erklärung und
den formalen Funktionen, mit denen er seinen Dienst leistet, zu beruhen
scheint.-
Ich erwähne nur noch eine
der auf die Zeitform bezüglichen Veränderungen, mit denen sich die
Umbildung des Lebens zur Geschichte vollzieht.
Die einsinnige Vorwärtsorientierung
der gelebten Zeit erfährt eine Stauung oder Drehung, indem wir gewisse
besonders folgenreiche Ereignisse, Personen, Epochen als feste Punkte
setzen, um die geschichtlichen Vorgänge als entweder vor ihnen oder nach
ihnen eingetreten zu bezeichnen.
So die Gründung Roms, die
Geburt Christi, in der Geschichte der Philosophie Sokrates und Kant, die
Renaissance, die französische Revolution, die neudeutsche Reichsgründung.
In jenen vorwärtsgerichteten
Strom des Lebens schlagen wir sozusagen Pflöcke, indem wir einen
Zeitmoment als vermöge seines Inhalts scheidend und entscheidend
fixieren, so dass wir von ihm aus vorwärts und rückwärts rechnen und
seine Wichtigkeit manchmal sogar in der Chronologie symbolisieren.
Das Interessante ist, dass
die rein qualitative Bedeutung eines Datums uns bewegt, die Form der Zeit
für die historische Reihung umzukehren und zum Beispiel die Jahreszahlen
erst von der Geburt Christi anzunehmen, bis zu ihr aber - ganz entgegen
jener Einsinnigkeit des Zeitverlaufs - abnehmen zu lassen.
Man schafft damit eine Art
Drehpunkt in der Zeit, eine künstliche Wasserscheide auf einer Höhe, auf
die wir uns stellen, um von ihr aus nach beiden Seiten hinzusehen.
In abgestuften Maßen
wiederholt sich diese Betrachtungsform gegenüber allen möglichen
Geschehensverläufen, akzentuieren wir in ihnen einen Kulminationspunkt,
an dem die Betrachtung gewissermaßen fest wird und das formlose Ganze des
Zeitstroms organisiert, den bis dahin abgelaufenen Teil seiner Inhalte
nach der rückblickenden, invertierten Reihenfolge rechnend, den anderen
nach der vorblickenden, normalen.
Vielleicht empfindet jeder
Mensch von irgendwie bewegteren äußeren Schicksalen und inneren
Entwicklungen einen solchen Drehpunkt in seinem Leben, der es dauernd in
ein Vorher und ein Nachher bannt; von ihm aus bis zum Lebensbeginn
schwimmt die Erinnerung gleichsam gegen den Zeitstrom und erst zwischen
ihm und der Gegenwart mit diesem.
Am auffälligsten geschieht
dies bei jenen inneren Revolutionen, jener insbesondere religiösen »Umkehr«,
deren blitzartiges, keiner Entwicklung bedürftiges Auftreten in einem
merkwürdigen Missverhältnis zu der Bestimmtheit des ganzen folgenden
Lebens durch sie steht: so die Bekehrung des Buddha und des Paulus, Rancés
und Tolstois.
Allen diesen erschien der
Moment ihrer Erleuchtung als der Höhepunkt, von dem aus das ganze Leben
gesehen wird, so dass nur dessen weiter folgender Teil sich der
Zeitgerichtetheit anschließt, der vorhergehende aber sich gewissermaßen
in umgekehrter Richtung darstellt.
4. Zeigen sich
Entscheidungsmomente, so für die Herstellung der Historie aus dem Leben
verwendet, gewissermaßen als Gerinnungspunkte der vorwärtsgehenden Zeit,
so ergreift eine andere Kristallisierung des lebensmäßig Bewegten nun
auch ausgedehntere Zeitstrecken.
Ich meine den Begriff des
»Zustandes«, der zwar auch das aktuelle Leben durchwirkt, aber nicht nur
innerhalb der historischen Bilder eine viel bestimmtere Bedeutung zeigt,
sondern auch dort eine jener Kategorien darstellt, die uns auch gegenüber
dem eigenen und gegenwärtigen Leben zu fragmentarischen Historikern
machen.
- Ein dauerndes Machtverhältnis
zwischen sozialen Faktoren, Reinheit oder Verderbnis der Sitten, die
jeweilige Produktionsart, die rechtliche Verfassung, die Arbeitsteilung,
Zufriedenheit oder Unzufriedenheit von Klassen - alles dies bezeichnen wir
als Zustände, obgleich es in Wirklichkeit nie etwas Statisches, sondern
immer Reihen von Geschehnissen zu sein scheinen, deren jede noch dazu sich
in fortwährenden Besonderungen und Qualitätsschwankungen bewegt4.
Die Bevorrechtung einer
gesellschaftlichen Schicht vor einer anderen besteht etwa darin, dass der
Ertrag von Arbeitsleistungen der letzteren ihr nur zum notdürftigen Teil,
im übrigen aber der ersteren arbeitslos zugute kommt; dass Übergriffe,
die seitens jeder Klasse doch auch nur eine bestimmte Zahl ausmachen, an
der einen sehr milde, an der anderen hart geahndet werden; dass
gesetzliche Vorschriften, die gleichfalls nur eine bestimmte Summe
vorkommender Handlungen regulieren, durch die Angehörigen der einen
festgesetzt werden, während die der anderen keinen Einfluss darauf haben
usw. Kurz, es findet eine Reihe von Einzelereignissen statt, deren jede
und die zusammen die fließende Form des Lebens haben und sich in dessen
Totalität mit meistens verschwimmenden Grenzen mischen.
Dennoch bezeichnen wir das
Ganze als einen »Zustand« der sozialen Gruppe, als bildeten nicht nur
diese höchst mannigfaltigen Vorkommnisse eine Einheit von stabiler Qualität,
sondern als streckte sich jene Bevorrechtung als ein kontinuierliches
So-Sein durch sie hin und füllte alle die Zeitlücken, die zwischen den
einzelnen Tatsächlichkeiten liegen und in denen keinerlei »Bevorrechtung«
konkret oder vielleicht auch nur als Gefühlszustand besteht.
In individuellen Existenzen
ist es nicht anders.
Wer dauernd krank ist oder
unglücklich verheiratet, ist in einem elenden »Zustand«, obgleich
dieser in einer Reihe einzelner Momente leidvollen Geschehens besteht, es
ist kein ruhendes Sein, dessen Zeitmomente untereinander indifferent sind,
sondern ein innerlich-äußerliches Geschehen, das sich, durchaus
dynamisch, in einzelnen, mannigfaltig gegeneinander abgesetzten, von
Pausen unterbrochenen Akten darstellt.
Was bedeutet nun bei dieser
Sachlage der Zustandsbegriff, welche Umbildung geht mit jenen einzeln
erfahrenen Ereignissen vor, damit dieser Begriff durch sie hin oder in
einer ihnen parallelen, aber stetigen Erstreckung erwachse?
Man könnte auf das Gesagte
hin zunächst denken, der Zustand sei gar nicht als etwas Konkretes in den
Trägern der Ereignisse vorhanden, sondern eine Abstraktion, von einem
Betrachtenden als das den letzteren Gemeinsame herausgezogen.
Allein, damit wäre
durchaus dem mit diesem Begriff Gemeinten widersprochen.
Er geht vielmehr auf eine
in den Subjekten vorhandene Realität, die freilich einer anderen
Kategorie angehört als die einzelnen Vorkommnisse, die die unmittelbar
dargebotenen, aber singulären und unregelmäßig auf- und abschwankenden
Träger oder Dokumente des beharrenden »Zustandes« sind.
Es offenbart sich damit in
der Struktur der menschlichen Existenzen eine doppelte Schichtung, am
deutlichsten in den individuellen.
Wir empfinden in den -äußerst
verschieden ausgedehnten - Perioden unseres Lebens je eine durchgehende Färbung,
die einerseits der Niederschlag seiner kommenden und gehenden
Einzelinhalte ist, andererseits sie nach Art, Wert und Wirkung bestimmt.
Damit werden diese zu
Symbolen der gleichsam unterhalb oder oberhalb ihres Wechsels beharrenden
Bestimmtheit oder Zuständlichkeit, die objektiv allerdings an jenen
allein zu erkennen ist.
Nur an der eigenen Person
kennen wir sie unmittelbar, von innen her, und fühlen sie tatsächlich
nicht nur an den konkreten Einzeldaten, sondern auch da, wo solche gar
nichts mit ihr zu tun haben - ein unaufhörlich in uns klingender Ton, auf
den wir nur nicht immer gleichmäßig hinhören.
Dies ist vielleicht der
reinste Fall eines »Zustandes« als einer Seinskontinuität, einer
-relativ - chronischen Bestimmtheit, von der Unterbrochenheit akuter
Vorkommnisse ebenso fühlbar unterschieden wie mit ihnen in
wechselseitigem Offenbarungsverhältnisse stehend.
Ich glaube, dass alle Zustände,
die die Beobachtung von außen her feststellt, an diesem ihr Schema finden
- so sehr natürlich die Verwendungsgrenzen dieses Begriffes fluktuieren.
Wenn wir von Zuständen des
politischen oder des religiösen, des sittlichen oder künstlerischen
Lebens einer Epoche sprechen, so erblicken wir sie gewissermaßen von
einem einheitlichen Subjekt getragen, dessen Erlebnisse jene einzelnen, in
Wirklichkeit von sehr verschiedenen Individuen erlebten Tatsachen sind,
und das jener Stimmung personaler Lebensepochen entsprechend ihre
Bedeutung in einem übermomentanen, von ihrem wechselnden jetzt und Hier
unberührten Zustand zusammenfasst.
Er kann noch einmal ein
Symbol, das seine Festigkeit und zeitmäßige Überlegenheit über jedes
Einzelgeschehen ausdrückt und steigert, dadurch gewinnen, dass er sich in
die Zeitlosigkeit des objektiven Geistes einbildet: so wenn der Zustand
einer Periode in bezug auf Machtverteilung, Besitz, sittliche
Vorstellungen als gültiges Gesetz formuliert wird, ihr religiöser
Zustand als kirchliches Dogma und ähnliches.
Der Zustandsbegriff, so
unbefangen man von ihm Gebrauch macht, ist eine keineswegs leicht
analysierbare unter den Kategorien, mit denen wir die Realität zu
geistiger Anschaulichkeit bringen.
Er ist wie ein
kontinuierliches Medium, das sich durch die qualitative Diskontinuität
der Lebenstatsachen hindurch erstreckt, in seiner Färbung natürlich nur
aus diesen erkennbar; aber indem er so der Erkenntnisweise nach eine
Abstraktion zu sein scheint, wissen wir ihn doch dem Bestande nach als
etwas objektiv Wirkliches und so wenig an und für sich ein Abstraktum,
wie wir innerhalb des eigenen Lebens jene durchgehende transsinguläre
Lebensstimmung für ein solches halten; er ist in der Form unmittelbarer
Existenz, was in der nachträglicher Reflexion das Abstraktum ist.
Dies lässt sich vielleicht
in eine noch allgemeinere Verfahrungsweise unseres Geistes einstellen; und
wenn Geschichte prinzipiell eine Anordnungsform, Verständnisform, alles
durch und an Menschen Wirklichem ist, so scheint die Erörterung solch
allgemeinster Kategorien angemessen, um die spezifisch historischen als
gewisse Modifikationen jenes Allgemeinen aufzuweisen.
In jener Reduktion
mannigfacher aktueller Geschehnisse auf den Generalnenner Zustand, der als
ihre koexistente Wirkung oder Ursache sie durchzieht oder umfasst, lebt
die eigentümliche, praktisch intellektuelle Notwendigkeit: das unter sich
Ungleiche zu behandeln, als wäre es unter sich gleich.
Es scheint nämlich, als ob
die Behandlungsweisen, mit denen wir äußerlich wie innerlich auf
Eindruck und Anspruch der Dinge und Ereignisse reagieren, nicht über
dasselbe Maß von Differenziertheit und Abstufung verfügten, das diese
Dinge und Ereignisse selbst besitzen und das ihr unmittelbarer Eindruck
oder mittelbare Rekonstruktion uns zugängig macht.
Uns selbst und den anderen
behandeln wir als die gleichen, heute wie gestern, dieselbe Kraft,
dasselbe Glück und Leiden, dasselbe Wollen scheint uns morgen wie heute möglich
- obschon die bloßen organischen Veränderungen von gestern über heute
zu morgen eine wirkliche Gleichheit ausschließen.
Vom grob Materiellen bis
zum subtilsten Seelischen werden die Ungleichheiten des Seins und
Geschehens unendlich oft von der Fiktion der Gleichheit überdeckt, weil
unser seelisches Verhalten sich gar nicht jenen Verschiedenheiten in ihrer
vollen Individualität anzuschmiegen vermag.
Für die gewöhnliche
Auffassung geschieht dies in ganz prominenter Weise nur innerhalb der
intellektuellen Erkenntnis, nämlich durch die abstrakten Begriffe: von
diesen aus gesehen erscheint eine jeweils unbegrenzte Zahl individuell höchst
verschiedener Einzelexistenzen als gleich - freilich nur in eben dieser
Hinsicht gleich, aber diese Gleichheit ist es, auf die hin wir sie jetzt
physisch oder geistig behandeln, und es sind die ganzen Erscheinungen, für
die diese Gleichheit gilt.
Der Schnitt zwischen dem
mit anderen Gleichen und dem von anderem Verschiedenen, den wir durch jede
einzelne Erscheinung legen, wird von außen geführt, ist eine Tat des
Betrachters und ist in der objektiven Einheit der Erscheinung selbst nicht
vorgezeichnet.
Der Begriff Baum besagt,
dass die Palme und die Buche als Bäume gleich sind.
Aber dieses Baum-Sein liegt
doch nicht in der Palme als ein gesondertes Etwas, jenseits all dessen,
worin sie sich von der Buche unterscheidet, sondern mit eben diesem ist
sie ein Baum und also das Gleiche wie die Buche.
Eine kleine Bleikugel und
eine große Holzkugel sind als Kugelgestalten gleich und können für
mancherlei Zwecke (zum Beispiel zum Demonstrieren der geometrischen
Kugelform) als ununterschieden gelten; sie sind Komplexe schlechthin
differenter Eigenschaften, einschließlich der Größendifferenz selbst
ihrer Kugelgestalt, und nun dennoch als Totaleinheiten in dieser Hinsicht
»gleich«.
Die Bildung allgemeiner
Begriffe ist das Mittel, die praktisch - durch das Verhältnis unserer
Energien zum Weltmaterial - erforderte Behandlung des Ungleichen als
Gleichen intellektuell zu klären, zu fixieren und logisch zu
rechtfertigen.
Aber immerhin ist dies nur
eine gelegentliche Beleuchtung jener fortwährend geübten
Angleichungsfunktion und noch dazu eine, die nur allmählich und niemals
etwa vollständig deren tatsächliche Wirksamkeit ergreift.
Als eine ihrer
Ausgestaltungen also erscheint mir auch die Zustandsvorstellung.
Wenn wir von dem Zustand
Sittenverderbnis reden, so sind die darin befassten unmittelbar gelebten
Einzelgeschehnisse von äußerst verschiedener, ihrem Phänomen nach oft
gar nicht vergleichlicher Art.
Der Begriff
Sittenverderbnis legt eine ideelle Linie durch sie, vermöge deren sie
trotz und mit ihren Ungleichheiten zu einem in sich homogenen Zustand
verbunden erscheinen.
Es ist die eigentümliche
Struktur des letzteren - wie in gewisser Weise des Allgemeinbegriffes -,
dass sein Inhalt in den differenten Realitäten neben alle dem
liegt, worin eben sie nicht zu vergleichen sind, und nun dennoch diese
Realitäten als ganze umgreift und sie in einer Totalität, eine Totalität
bildend, schauen lässt, innerhalb deren sie »gleich« sind.
Die besondere Art, in der
der »Zustand« die Behandlung des Ungleichen, als wäre es gleich,
darstellt, hat vielleicht ihr Prototyp an der Form des unmittelbaren persönlichen
Lebens.
Unsere mannigfachen
Erlebnisse und Erfahrungen, die ganze bunte, qualitativ unsäglich
heterogene Folge der Lebensinhalte fühlen wir doch an dem durchgehenden
kontinuierlichen Ich aufgereiht; wie Eiche und Tanne, Buche und Palme Bäume
sind und jeder der gleiche Träger des alle umfassenden Begriffes; wie
Charakterlosigkeit und Ausschweifung, materialistische Habgier und Trägheit,
indem sie in einer Periode zusammenkommen und Träger des Zustandes
Sittenverderbnis sind, damit insoweit gleich sind, so verschiedene
Tatsachen sie unter sich auch seien; so ist es eine konkretere und
zugleich viel weitere Spannungen überwindende Gleichheit, die die
Materialstücke eines individuellen Lebens dadurch gewinnen, dass sie eben
die Inhalte dieses einen unverwechselbaren Lebens sind.
Ja, wenn die ganz
immanente, stoffreie Entwicklung dieses Lebens selbst durch ungeheure Abstände
zwischen Stärke und Schwäche, Expansion und Gesammeltheit, Bedürfnis
und Befriedigung passiert, so sind auch diese mannigfaltigen Zustände des
reinen Ich gleicherweise die Träger seines Lebens.
Dass so, von außen wie von
innen her, das Allerdifferenteste sich unter dem immer identischen Aspekt:
dies ist mein Leben - uns aneignet, dass ihm damit die Gleichheit eines
Charakters zukommt, die keine jener Differenzen irgendwie verwischt, das
ist vielleicht das ganz aus der Tiefe herauswirkende Schema (obgleich natürlich
nicht im wörtlichen Sinne) für das typische Verfahren der Behandlung des
Ungleichen als Gleichen; und der Zustandsbegriff ist sozusagen ein
Mittleres zwischen den äußerlichen Fällen dieses Verfahrens und dem
oben angedeuteten, der sich aus der zentralsten Form des Lebens heraus
entfaltet.
Es mag diesen Aspekt stützen,
dass, wenn unsere Erörterung des Zustandes durch seinen Gegensatz zum
Ereignis bedingt wurde, wir alles das, was wir Zustand nennen, dem Ich näher
verbunden fühlen, als das, was uns Ereignis ist.
Auch wo der Zustand von außen
hervorgerufen ist und der Folge der Ereignisse eng angeschlossen bleibt,
wissen wir ihn doch in entschiedenerem Maße als eine Reaktion des Ich
oder eine Modifikation von dessen Eigenfarbe, als wir dies von dem Erleben
eines akuten Ereignisses auszusagen pflegen.
Uns geht hier vor allem an,
dass, indem die volle existenziale Einheit in unserer Intuition sich in
die verfließenden differenten Geschehnisse und den relativ beharrenden
und einheitlichen Zustand zerlegt oder auch jene sich zu diesem verdichten
- sich damit eine für das Historisch-Werden des Lebensinhaltes besonders
wichtige Kategorie auftut.
Das unmittelbare Leben,
Erleben vollzieht sich an jenem auf- und abwogenden Strom qualitativ
gegeneinander abgesetzter Einzelereignisse; obgleich aber auch der »Zustand«
dieses Lebens als Realität gilt, so rücken wir es doch weiter von uns
ab, wenn wir es unter dieser Kategorie betrachten.
Man kann die bisherigen
Formulierungen über das Verhältnis von Ereignis und Zustand vielleicht
ebenso zusammenfassen: dass ein Leben entweder als das variable
Nacheinander singulärer Geschehnisse angesehen wird, ein andermal
- in seinen einzelnen Perioden - als ein relativ dauernder jeweiliger
Zustand; und dass dieser letztere Aspekt bei größerer Distanznahme des
Betrachtenden eintritt (auch wenn es die Betrachtung des eigenen Lebens
gilt).
Nicht als ob dies ein bloßes
Verschwimmen der Differenzen der Einzeldaten bedeutete, ein bloßes
Herstellen einer nun in sich homogenen Mischung und Durchschnittlichkeit;
sondern erst von der besonderen Einstellung her, die man mit dem Symbol
Distanznahme andeutet, scheidet sich wirklich Periode von Periode, eine
jede charakterisiert durch eine qualitativ kontinuierliche Zuständlichkeit,
die durch die wechselnden Ereignisse von Tag und Stunde hindurchgeht, wie
eine Aufreihung verschieden geformter Substanzstückchen an dem Faden, der
sie zur Kette zusammenhält.
Durch diese
Betrachtungsweise unter der Kategorie Zustand bekommen die Einzelheiten
die Kohärenz eines in seiner Idee einheitlichen Bildes und einen gewissen
Halt, den der kurzatmige Rhythmus jener für sich betrachteten
Einzelheiten nicht gewährt.
Die historischen
Darstellungen, wie sie vorliegen, haben nun freilich die Zustände einer
Epoche nicht zu einem prinzipiell bevorzugten Inhalt, gegenüber der
Schilderung der singulären Daten.
Wohl aber ist zu bemerken,
dass das historische Bewusstsein diese Daten in höherem Maß in dem
Zusammenhang und auf dem Hintergrund eines allgemeinen Zustandes der
Epoche vorstellt, als es in dem Bewusstsein des Tages und seiner aktuellen
Inhalte der Fall ist.
Was den historischen
Geschehensinhalt von dem anekdotischen unterscheidet, ist doch der
Zusammenhang, der sich von dem einzelnen her nach allen möglichen
Dimensionen - Zeit, Kausalität, qualitative Kontinuität, Sinngemäßheit
- erstreckt und ihn aus der spröden Eingeschlossenheit und singulären
Pointiertheit erlöst.
Indem er innerhalb eines Zustandes
erblickt wird (gleichviel ob er selbst erst das Erkenntnismittel für
diesen Zustand war), ist diese Auflockerung, Entsingularisierung,
Verbindung eingeleitet oder vollzogen.
Welche Daten wir auch von
Alexander oder Cäsar, von Luther oder Loyola aufnehmen, immer werden sie
uns erst historisch verständlich, wenn sie sich ebenso einem gewussten
Zustand der weiteren und der näheren Zeitperiode einordnen, wie sie sich
von ihm abheben.
Der eben angedeutete Zirkel
darf daran nicht irre machen; aus den zersplitterten Einzelgeschehnissen
gewinnen wir den Zustand der Zeit, dieser selbst aber gibt jenen
historische Einsichtigkeit und Vollständigkeit.
Dies ist einer der Zirkel,
die für unsere Erkenntnisart überhaupt typisch sind, in denen wir zum
Beispiel aus den Handlungen eines Menschen seinen Charakter erschließen,
aus diesem aber wieder jene verstehen - aus einzelnen Erfahrungen ein
Gesetz abstrahieren, das uns dann wieder die empirischen Einzelheiten
fundiert - aus der körperlichen Erscheinung eines Individuums sein
seelisches Wesen, aus dem wir nachher die Art seines Äußeren deuten usw.
Bezeichnet man Ereignis und Zustand als die beiden kategorialen Formen
unserer Lebensinhalte, so wird man bemerken können, dass unser
Bewusstsein als aktuell erlebendes sich wesentlich mit dem
Ereignisrhythmus und seinen jeweiligen Zuspitzungen beschäftigt und, über
deren Einzelheit hinausgehend, eher die Verbindung der einen mit der
anderen aufsucht, statt sich der tieferen oder innerlicheren Schicht des
allgemeinen Zustandes hinzugeben; wo dies geschieht - was sich natürlich
auch tausendfach mit jenem Verhalten verschlingt - ist immer schon eine
gewisse Distanz zu der Erregung des Augenblicks, ein nicht mehr
vollkommenes Befangensein in seinen akuten Wechseln, der Einschuss eines
mehr reflektierenden, die singulären Unmittelbarkeiten ausgleichenden
Elementes spürbar.
Braucht man die Ausdrücke
in dem unverwischten Sinne ihres eigentlichen Kernes, so wird man sagen können:
sobald das Zustandsbewusstsein das Ereignisbewusstsein zu überwiegen oder
innerhalb dieses betont zu werden beginnt, ist der erste Schritt zur
historischen Gestaltung des Lebens getan; wo das dem eigenen Leben gegenüber
geschieht, schaffen wir eine Grundlage zu dem fortwährend Geschehenden:
die Historiker unser selbst zu sein.
Indem sich der Begriff des
Zustands von dem des Ereignisses ablöst, gehört er als historischer
Begriff dem Verfahren an, das die Historisierung des Erlebnisses im
weitesten Sinne vollzieht: die Verwandlung des absoluten und
kontinuierlichen Nacheinander der Ereignisreihe, des stauungslos fließenden
Erlebens in ein Bild, das einerseits eine gewisse rahmenhafte
Geschlossenheit zeigt, andererseits eine Nebeneinanderordnung von
Elementen und Aufhebung ihres Eingestelltseins in den Zeitstrom.
Genauer ist dies etwa so
darzulegen.
Alles Leben lässt seine
Zustände und Inhalte stetig ineinander übergehen, und wenn wir von
Abschnitten des Lebens oder einem Riss in seiner Entwicklung, von seinen
Perioden und seinen Stillständen sprechen, so sind solche Teilungen und
Punktsetzungen von Werten und Begriffen her, die außerhalb des Lebens als
solchem stehen, an es herangebracht, liegen aber nicht in seiner natürlichen
Rhythmik; oder sie entstehen, wenn wir das Leben, auch das eigene, schon
unter den historischen Blickpunkt rücken, es gemäß dem Apriori
historischer Formung vorstellen.
Denn diese freilich
verlangt solche Unterbrechung.
Wie sie einerseits das
zeitlich Auseinanderliegende unter der Führung einer einheitlichen Idee
zu einer Kontinuität zusammenfasst, die nur dem historischen Bilde, aber
nicht der Wirklichkeit zukommt, so muss sie nicht nur die reale Kontinuität
innerhalb eines betrachteten Zeitverlaufs zerbrechen, sondern sie muss
diesen Zeitverlauf als ganzen aus der Kontinuität der kosmischen und der
menschlichen Ereignisreihen herausschneiden.
Trotz aller »Einleitungen«
oder Vorgeschichten und epilogisierenden Ausblicken ist das jeweilige
historische Thema in eine feste Abgegrenztheit gegen das Vor-ihm,
Nach-ihm, Neben-ihm gesetzt, die sich den gleitenden Übergängen des
Lebens enthebt.
Und dies nicht nur aus den
selbstverständlichen Gründen unserer Endlichkeit und der
Erkenntnistechnik überhaupt, sondern weil die Umwandlung des lebendigen
Geschehens in die Form eines Bildes es so fordert.
Dass von allen
wissenschaftlichen Leistungen die historische besonders häufig mit der künstlerischen
verglichen worden ist, hat viel mannigfaltigere Rechtfertigungen als die
gewöhnlich angeführten.
Zu den wichtigsten gehört
eben dies: dass die - freilich äußerst variable - Ausdehnung der
Geschehnisse in der historischen Vorstellung sozusagen mit einem inneren
Blick überschaut wird.
Das Kunstwerk zeigt dies
Verfahren in reinster Ausbildung.
All die Fäden, die seinen
Inhalt nach Zeit und Raum, nach Sinn und Schicksal, nach Qualität und
Dynamik mit dem Ringsumher der Welt verbinden, sind durchschnitten und in
seinen Mittelpunkt zurückgeknüpft, so dass es ein inselhaftes Eines ist
und dadurch - nur dadurch - mit einem Blick zu überschauen.
Denn mit diesem
symbolischen Ausdruck darf man das Bild-Werden auch eines zeitlich
ausgedehnten Vorganges charakterisieren.
Auch wenn ein Drama drei
Stunden dauert oder ein Roman einen jahrzehntelangen menschlichen
Lebenslauf abspinnt, so ist seine artistische Vollendung doch durch eine
Art seines Sich-Darbietens, seines Aufgenommenwerdens bedingt, die man so
bezeichnen muss: dass wir es mit einem Blick umfassen.
In diesem bestimmten Sinn
gilt dies gegenüber keinem Objekt innerhalb des konkreten
Lebensverlaufes.
Denn hier wird der innere
wie der äußere Blick sprunglos von einem zum anderen geführt, das klare
Zentrum des Blickfeldes geht unvermerklich in seine Randelemente üben
Insoweit wir in dem tosenden Erlebnisstrom schwimmen und uns seiner nur
ganz unmittelbar bewusst werden, gibt es uns gar kein eigentliches »Bild«,
das immer eine formale Einheit fordert, wie sie sich nur durch eine
gewisse Abschließung gegen das Nicht-Dazugehörige und Gesammeltheit in
sich selbst herstellt.
Die Skala der geistigen
Gebilde, die unter diesem Formgesetz stehen, gipfelt in dem Kunstwerk, das
deshalb den Begriff des Bildes schlechthin für sich beschlagnahmt hat.
Das historische Gebilde
aber steht ihm nicht ganz fern, und wenn man die Geschichtsdarsteller ein
»historisches Gemälde« entwerfen lässt, so liegt der tiefste
Vergleichungspunkt nicht in der inhaltlichen »Ähnlichkeit« mit der
reproduzierten Wirklichkeit, sondern in der Verwandtschaft mit jener
entscheidenden Form des Kunstwerks.
Natürlich ist der
geschichtliche Inhalt nicht mit der Strenge des Gemäldes, des Musikstücks,
des Dramas von jeder Erstreckung über die Grenzen des jeweiligen Bildes
abzuschließen.
Allein gerade daran, dass
die Geschichte, würde sie ihrer Gegenständlichkeit mechanisch
entsprechen, überhaupt keine Abgrenzungen kennen, sondern, selbst
unterbrechungslos, der Kontinuität des Geschehensverlaufes folgen würde,
zeichnet sich um so deutlicher die ihr eigene Forderung: der
Zusammenschluss eines Geschehenskomplexes zu einem Bilde, das heißt zu einem
Bilde, das vollzieht sich, indem sich an seinen Grenzen (den oberen,
unteren, seitlichen) die Inhalte gewissermaßen zu einem Rahmen stauen
oder verdichten - eben die Formung des unmittelbaren Geschehens und Lebens
durch ein Apriori, deren Begründung oder deren Erfolg wir damit ausdrücken,
dass wir jenen Komplex mit einem inneren Blicke überschauen, während
seine unmittelbare, nicht historische Vorstellung der geistigen Kategorie
des »einen Blickes« nicht untersteht, sondern das Bewusstsein
kontinuierlich, zeit-parallel weitergleiten lässt.
Aber wie diesem setzt sie
sich allem Anekdotischen entgegen.
Denn dieses ist nicht als
synthetisch gestalthafte Geschlossenheit, sondern nur mit dem Symbol des
Punktuellen zu bezeichnen und bedarf deshalb keiner Vereinheitlichung,
weil es seinem Sinne nach überhaupt kein Mannigfaltiges ist.
Natürlich wirkt diese
Formung nicht nur innerhalb der Kunst und der Geschichte, sondern, von
allen eigentlich objektiven Schöpfungen abgesehen, auch allenthalben da,
wo wir das Leben nicht nur sind, sondern es haben.
Nicht eben in der Aktualität
des Erlebens, aber in jedem Rückblick auf seinen Gesamtablauf, sehen wir
es in Perioden zerfallen wie in eine Reihe von Bildern, deren jedes um
einen charakteristischen Zug oder ein entscheidendes Ereignis oder den
Begriff einer Altersstufe zentriert und eben damit eine entsprechende
Gerahmtheit erwirbt.
Jede dieser Lebensepochen füllt
gleichsam je einen Erinnerungsblick, der sie überschaut, und der Übergang
zu einer anderen fordert eine neue Innervation des inneren Blickens.
Dies ist die Gestalt, in
der das eigene Leben uns historisch wird.
Während sich hier aber die
Einschnitte durch die unmittelbar erlebten Differenziertheiten wie von
selbst ergeben, müssen sie an der Geschichte willensmässig bestimmt
werden.
Nun entscheidet Zweck und
Bedingtheit des Erkennens darüber, welcher Sachumfang und welche Zeitlänge
in je eine zusammenhängende Darstellung einzugrenzen ist; durchaus oberflächlich
ist die Vorstellung, dass hier kein Problem vorläge, da ja die »Natur
der Sache« die jeweilige Einteilung der Inhalte zu Einheiten - als
Periodisierungen, Arbeitsgebieten, Erzählungszusammenhängen usw. -
bestimmte.
Nicht die Sache, sondern
das Verhältnis des Geistes, das heißt der geschichtsbildenden Aprioritäten,
entscheidet darüber.
Dass man etwa die
Regierungszeit eines Herrschers oder die Breite einer Kulturperiode, die
Dauer eines Krieges oder die Leistungsgesamtheit eines Künstlers zu einer
Problemeinheit einrahmt, ist so selbstverständlich, wie man es für die
Praxis ruhig zugeben kann, nur darum, weil gerade diese Umfänge jene
Bedingungen der Bildhaftigkeit erfüllen, das heißt für je einen inneren
Blick überschaubar sind; was eben von den Fähigkeiten des Blickens und
der Art ihrer methodischen Schulung abhängt.
Wie viel Varietäten hier möglich
sind, zeigt die Geschichte der Geschichtsschreibung; die Synthesen, die in
einer ihrer Epochen vollzogen wurden, erscheinen einer anderen oft höchst
wunderlich, sie werden dann wieder in den stetigen Geschehensverlauf
zerteilt, um zu neuen Bildeinheiten zusammengeschaut zu werden.
Eine führende Idee - die
intellektuelle Form dessen, was in sinnlichem Gleichnis jene Überschaubarkeit
mit einem Blick ist -, zum Beispiel die Herrschaftsdauer einer politischen
Macht oder Tendenz, umzirkt eine Ausdehnung von zwanzig Jahren, und es wäre
sinnlos, zehn Jahre mehr oder zehn Jahre weniger in dasselbe Bild
hineinzunehmen; stellen wir uns aber in den Blickbezirk einer religiösen
Reformarbeit oder einer literarischen Mode, so macht dort vielleicht die
Verlängerung bis zu dreißig Jahren, hier die Verkürzung bis zu zehn
Jahren je ein historisches Bild aus.
Die Umwandlung von
Geschehens- oder Erlebenszeit in historische Zeit bedingt also nicht nur
ganz im allgemeinen die Zerspaltung jener in eingerahmte Abschnitte;
sondern die Ausdehnung der einzelnen Einheit, die Sammlung um einen
Mittelpunkt und die Grenzensetzung durch die Reichweite der von ihm
ausgehenden Radien - dies wird nun noch im besonderen durch die jeweilig
historisch apriorischen Absichten, Kräfte, verfügbaren Formen
festgesetzt.
Das vor der historischen
Formung stehende Material kann unseren derartigen Aktivitäten leichteren
oder schwierigeren Zugang bieten; nur durch sie aber wird es zu dem
grenzgesicherten Bilde, das wir geschichtlich nennen und das gegenüber
dem rein eigenen Sinn und Rhythmus von Geschehen und Leben als solchen ein
kategorial Neues ist.
Anmerkungen
1)Ich
entnehme einige dieser Formulierungen meinen »Problemen der
Geschichtsphilosophie«.
vgl. http://socio.ch/sim/pgp1.htm
2)
Wir haben
hieran das Grundphänomen, von dem bestimmte Grade und Formen das
sogenannte Doppel-Ich bilden, beziehungsweise pathologischen Charakter
tragen. Es entstehen zum Beispiel in der Trunkenheit Vorstellungen
und Handlungen, die aus dem Bewusstsein des ernüchterten Subjekts absolut
verschwunden sind, aber bei erneuter Trunkenheit sich sogleich wieder
einstellen und sich konsequent weiterentwickeln; wie es auch vorkommt,
dass man in der zweiten Nacht dort fortfährt zu träumen, wo man in der
ersten erwacht ist, ohne dass man an dem Zwischentag dessen gedacht hätte. Bei Wiederholungen der Hypnose begegnet die genau gleiche Anknüpfung
und Fortsetzung, und die Psychiatrie kennt den beglaubigten Fall eines im
Somnambulismus vergewaltigten Mädchens, das nach dem Erwachen keinerlei
Erinnerung an das Geschehene hatte, im folgenden Anfall aber es sogleich
ihrer Mutter erzählte. Den am wenigsten mysteriösen Erklärungstypus
für diese Erscheinungen gibt wohl die Überlegung, dass man das jeweilige
Ereignis doch nicht aus dem gleichzeitigen gesamtpsychischen Zustand
herauslösen und für sich allein betrachten darf. Das primäre
Vorkommnis ist Wirkung wie Ursache einer bestimmten Verfassung und
Richtung des ganzen seelischen Bezirkes, es ist von einem Hof
charakteristischer Gefühle und Vorstellungen unabtrennbar umgeben. Indem
nun dieser trunkene, somnambule usw. Zustand wiederum herbeigeführt wird,
ist man tatsächlich wieder dasselbe gleichbestimmte Wesen, das man vorher
war und das ganz begreiflich die in Jenem gegebenen Inhalte und
Aktionskeime, ihrer inneren Logik gemäß, weiterentwickelt. Jenes
Zurückgreifen des normalen Menschen auf die Anknüpfung bietenden
Vorgedanken, über alles Dazwischenliegende hinweg, Jenes fortwährende
Herstellen begrifflich und praktisch kohärenter Reihen aus zeitlich inkohärenten
Stücken geht wahrscheinlich auf das gleiche Wiederentstehen von
seelischen Gesamtzuständen zurück, die ihren Bewusstseinskern samt
seinen Entwicklungsmöglichkeiten immer wieder in sich tragen.
3)
Ich bin -
natürlich ohne die Möglichkeit eines Beweises - Überzeugt, dass das
menschliche Individuum da sozusagen noch nicht zu Ende ist, wo unser
Gesicht und Getast seine Grenzen zeigen; dass vielmehr darüber hinaus
noch jene Sphäre liegt, mag man sie sich substanziell oder als eine Art
von Strahlung denken, deren Erstreckung sich jeder Hypothese entzieht und
die genau so zu seiner Person gehört oder sie bildet, wie das Sichtbare
und Tastbare des Leibes. Zu diesen verhält sie sich wie zu
den Farben des Spektrums die ultraroten und ultravioletten Strahlen, die
wir auch nicht sehen, ohne dass darum ihre Wirksamkeit zu bestreiten wäre.
Die eigentümliche, mit den verschiedensten Vorzeichen stattfindende
Beeinflusstheit, die wir in der physischen Nähe eines Menschen fühlen
und die in seiner, den »fünf Sinnen« zugängigen Erscheinung keine
hinreichende Ursache findet, kann ich mir nicht anders erklären als durch
das Eintauchen in diesen ultramateriellen Wirksamkeitsumkreis, den er mit
sich führt. Es ist damit
durchaus nichts Mystisches gemeint, sondern etwas prinzipiell innerhalb möglicher
Erfahrung und unserer auch sonst gültigen Erkenntnismethodik Liegendes,
das nur einer Verfeinerung dieser Methodik bedarf.
Als so außerordentlich
wichtig für alles reale Gemeinschaftsleben mir dieser Bestandteil der
individuellen Existenz erscheint - die rätselhafte Erscheinung des
Prestige, die gar nicht zu rationalisierenden Antipathien und Sympathien
zwischen Menschen, das häufige Gefühl, von dem bloßen Dasein eines
Menschen gewissermaßen eingefangen zu sein und viel anderes, auch in den
historisch gewordenen Vorgängen oft Entscheidendes, mag auf ihn zurückgehen
-, so entzieht sie sich ersichtlich der Überlieferung und Rekonstruktion
mehr als die den »fünf Sinnen« zugängigen und deshalb eine
Sprachbegriff besitzenden Beschaffenheiten der Person. Immerhin ist sie wahrscheinlich mit diesen letzteren, mit denen
zusammen sie ja die Ganzheit des Menschen bildet, in irgendeiner, jeder
Vermutung freilich sich jetzt noch entziehenden Art verbunden, so dass uns
manchmal aus dem, was von einem Menschen überlebt, seiner Rede, seinen
Taten, der Schilderung seiner Erscheinung ein Schimmer dieses erweiterten
Seinsbezirkes berührt. Am
entschiedensten gelingt es dem großen Porträtisten, ihn in seiner
Assoziation mit der sichtbaren Erscheinung festzuhalten; zuhöchst gegenüber
den vollkommensten Rembrandtporträts sind wir in einen förmlich
somatisch fühlbaren Existenzkreis der Person gebannt, dessen Radius weder
deren bloße Anschaulichkeit noch irgendeine von dieser abgelesene
Geistigkeit abreicht, und den uns sonst nur das lebendig Gegenwärtige spüren
lässt.
4) Hier liegt
also die Umkehrung dessen vor, was Bergson als absolute Wahrheit lehrt. In
vielen Fällen ist gerade die Zeitform das Fälschende. Wo Wechselwirkung,
Einheit des Mannigfaltigen vorliegt, wie in den organischen Individuen, im
Kunstwerk, in den logischen Zusammenhängen - da ist unsere Bindung an die
Notwendigkeit, das eine Element früher, das andere später und so
wechselseitig aufzufassen, doch nur eine sehr nachträgliche, symbolische,
asymptotische Vorstellungsweise dessen, was eigentlich da ist und gemeint
ist. Die Zeit zerreißt hier die Einheit, und die Umkehrung der
Reihenfolge der Inhalte kommt dieser Einheit nur ganz unvollkommen nach. |