Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Der Fragmentcharakter des Lebens

Aus den Vorstudien zu einer Metaphysik

 

 

ex: LOGOS. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, herausgegeben von Richard Kroner und Georg Mehlis, Band VI, 1916/17, Heft I, S. 29-40, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)

Die Charakterisierung des Lebens: dass es ein Fragment sei und bleibe, kann viel tiefere Begründungen für sich geltend machen, als die Klagen eines banalen Pessimismus verraten.

Denn diese pflegen nur die Unerfülltheit unserer Wünsche, die Mängel unserer sittlichen und sachlichen Leistungen, das Unabgeschlossene und Zufällige in unserer Persönlichkeit und unserem Schicksal aufzugreifen.

So legt entweder der Wunsch größerer Intensität und Fülle von Kräften und Erlebnissen oder unbedingter Vollendung gleichsam um unser tatsächliches Dasein einen idealen Kreis, von dem zurückrechnend dieses Dasein als bloßer Annäherungsversuch, als mittenwegs gebrochnes Streben zu einer Ganzheit erscheint.

Ein tiefer berechtigtes Bild entsteht, wenn man es mit dem Begriff des Fragmentes genauer nimmt: ein Stück, das übrig geblieben ist, indem von einem vorbestehenden Ganzen Teile in Wegfall gekommen sind.

Vielfach in der Tat wird das individuelle Leben so empfunden, als bildete es in einer verborgenen Schicht oder vor einem göttlichen Auge ein vollkommenes, seiner Idee restlos entsprechendes Ganzes, von dem aber unzähliges in dem Augenblick gleichsam abbricht, in dem es in unsere empirische Wirklichkeit übergeht.

Diese ist wie der Rest oder das Bruchstück, das übrig bleibt, wenn von unserem vollen, metaphysischen Wesen wegfällt, was in die Formen des irdischen Daseins und Bewusstseins nicht hineingeht.

Platos Phantasie von der Seele, die selig vollendet im überhimmlischen Raume schweift und durch den Sturz in einen materiellen Körper verstümmelt wird, ist nur eines von den vielen Symbolen für dieses Gefühl: als wäre unsere Wirklichkeit nur das übriggebliebene Bruchstück einer irgendwie bestehenden, überwirklichen Vollendung und Ganzheit unser.

-Jenseits solcher Spekulationen, die der menschlichen Bedürftigkeit und dem menschlichen Größenwahn einen Treffpunkt gewähren und die dementsprechend auch nur das einzelne Individuum in der Spannung zwischen seiner unvollständigen Wirklichkeit und seiner idealen Vollkommenheit zeigen - gibt eine andere Blickstellung dem »fragmentarischen« Wesen des Lebens einen ganz neuen Sinn.

Wir stellen, bewogen durch ein unbeirrbares Gefühl, unseren Lebensprozess als ein kontinuierliches Gleiten und Werden vor, absatzlos zwischen Geburt und Tod der ununterbrochenen Zeitlinie entlang fließend.

Und in gleicher Kontinuität müssen wir uns das räumliche und zeitliche Dasein aller Natur überhaupt denken, eine Stetigkeit der Energieströmungen, eine Wechselwirkung von allem mit allem, eine unendliche Einheit wesensgleicher und in unendlichen, sozusagen gleichberechtigten Kombinationen sich ergehender Elemente.

Ein völlig neues Bild aber tritt auf, sobald der Lebensprozess ein bewusstgeistiger wird.

Jetzt ist er nicht nur, wie die Welt außer ihm auch, ein Geschehen, ein in stetiger Fortsetzung und Umsetzung verlaufendes Kräftespiel; sondern der geistige Lebensvorgang hat Inhalte, er erzeugt innere Gegenstände: Vorstellungen, Begriffe, Erkenntnisse; und diese haben eine eigentümliche andere Art von Bedeutung und Bestand, Gültigkeit und Ordnung als der monotone Ablauf des bloßen Geschehens.

Diese Inhalte, diese geistigen Gestaltungen, in die das Dasein übergeht, haben nun plötzlich eine Anordnung: zunächst um den Kopf des vorstellenden Subjekts herum.

Dass hiermit die Welt von einem Zentrum aus gesehen wird, das schafft Distanzen, Akzentuierungen, perspektivische Verschiebungen und Überschneidungen sinnlicher wie geistiger Art, zu denen es in der objektiven Ausgebreitetheit des Daseins gar keine Analogie gibt.

Das Leben ist jetzt nicht mehr einfach in den Ablauf der Welt versponnen, sondern seinen inneren Antrieben und Gesetzen folgend, schneidet es aus der Vorstellung-gewordenen Welt Stücke heraus, die es Gegenstände nennt, verbindet Fernes, trennt Nahes, setzt wechselnde Wertakzente ein, deutet das bloße Geschehen nach Ideen.

Kurz, indem das Leben die Stufe des Geistes ersteigt, bildet es Formen aus, die einen irgendwie gegebenen Stoff gestalten, und baut sich, indem sein Prozess weiter und weiter verläuft, eine Welt geistiger Inhalte auf.

Jene Formen aber, die die eigentliche Aktivität des Geistes ausmachen, die Gestaltungskräfte der Weltmaterialien, wohnen zunächst ganz und gar dem Leben ein, sie sind Notwendigkeiten, die ein bestimmt charakterisiertes, in dem gegebenen Weltmilieu verlaufendes Leben ebenso ausbildet, wie bestimmt geformte Glieder und ihre Funktionsarten.

Das Leben strömt durch sie hindurch wie die lebendige Kraft eines Flusses durch die jeweilige Form seiner Wellen.

Nun aber können die Formen, mit denen das Bewusstsein die für das Leben erforderliche Welt bildet, jenseits dieser Rolle als Durchgangspunkte und Mittel, sich als Endziele, Zentren, um ihrer selbst willen wirksame Kräfte auftun.

In Hinsicht der rein intellektuellen Formen ist dies, in verschiedenen Wendungen, schon öfters festgestellt worden.

Auch wer annimmt, dass das menschliche Erkennen eine im Kampf ums Dasein gezüchtete Waffe ist, kann ihm nicht die Selbständigkeit des Interesses und Wertes absprechen, die es schließlich erworben hat, so dass es zu einem Endzweck geworden Ist, in dessen Dienst sich das Leben des Erkenntnissuchers stellt - statt dass es seinerseits ein Mittel des Lebens sei.

Schopenhauers Lehre, dass der Intellekt sich dem Dienst des Willens entreißen könne, drückt dies in metaphysischem Zusammenhang aus.

Kants Deutung der metaphysischen Begriffe ist nur eine gewisse Modifikation hiervon.

Ihm erscheint die ins Unendliche sich fortsetzende tatsächliche Erfahrung als das Produkt gewisser intellektueller Kategorien oder Formen, die den sinnlichen Stoff gestalten.

Nur in dieser Funktion haben sie ihre sinnvolle Bedeutung.

Dennoch lösen sie sich von diesem Dienst an der stofflich bestimmten Erfahrung los und konstituieren sich, neben oder über deren Gesamtzusammenhang, als selbstgenügsam abschließende; d. h. statt der stetig sich entwickelnden Erkenntnis der endlos verketteten Gegenstände zu dienen, stellen sie sich für sich allein als definitive Wahrheiten hin, statt bloßer Funktionen, die sich nur an einem Stoff zu bewähren haben, werden sie zu Absolutheiten, in die, als Höhepunkte, alle einzelnen Erkenntnisse einzumünden haben.

So ist z. B. Verursachung nur eine Kategorie, durch deren Anwendung das Sinnlich-Gegebene zu einer gegenständlichen Welt, zu fortlaufender Erfahrung verknüpft wird; ohne diese Gegebenheiten ist sie eine leere abstrakte Form.

Sie verselbständigt sich aber, indem sie von dem Ganzen alles Daseins, das, selbst nicht erfahrbar, alle Erfahrungen in sich schließt, behauptet: auch dieses müsse eine Ursache haben.

Die Weltursache, Gott, bedeutet von dieser Richtung her gesehen nur, dass die Kausalität nicht mehr als funktionelle Verbindung dem allmählichen Aufwachsen des Weltbildes dient, sondern sozusagen aus eigenem Rechte besteht und dem Ganzen der Welt, das als solches ganz außerhalb jener ursprünglichen Funktion ihrer liegt, ihre Form auferlegt.

Die metaphysische Psychologie ist desselben Wesens.

Das ich, im intellektuellen Sinne, ist für Kant nichts als die Form oder der Träger der fortschreitenden Erfahrung, des kontinuierlich bewegten, weltaufnehmenden Lebens; in dieser allein konkreten Bedeutung hat es also nur soweit Realität, als es seine Funktion in und an diesem erkennenden Leben ausübt - wie der Schauspieler als solcher nur existiert, solange er eine Rolle trägt, außerhalb dieser Leistung aber überhaupt kein Dasein hat.

Da das Ich nur Tätigkeitsform ist (mag diese Tätigkeit sich auch als zeitlos objektives Gebilde niederschlagen), so besteht es überhaupt nur zugleich mit dem Bestande dieser Tätigkeit, d. h. des intellektuellen Lebens, und ist vor und nach diesem ein bloßes Wort.

Zu der metaphysischen Seelensubstanz aber wird dieses Ich, indem seine endliche, an das Leben gebundene Funktion sich in eine für sich bestehende, die Endlichkeit ebenso wie das Leben übergreifende Absolutheit umformt.

Dennoch ist das Entscheidende nicht einfach, dass ein Relatives verabsolutiert wird, sondern dass ein Lebendiges sich als Fragment einer über dem Leben oder Jenseits seiner stehenden Realität offenbart.

Die »Seele« der rationalen und theologischen Metaphysik geht nicht, wie das transzendentale Ich, in ihrer lebensmäßigen, von Inhalt zu Inhalt fließenden, Erfahrung gestaltenden Funktion auf, sondern diese ist nur wie ein zeitweise ausgeübtes Amt, das mit dem eigen-eigentlichen Wesen seines Trägers nicht solidarisch ist.

Das Unsterblichsein, innerhalb dessen das irdische Leben eine bloße Episode bildet, ist nur der temporale Ausdruck dafür, dass die Seele ein Dasein jenseits der Form der empirischen Lebendigkeit besitzt und dass es, in eben diese eingeschlossen, nur ein Fragment seiner Absolutheit ist.

Hier also ist das Leben in einem tieferen Sinn als in jenen früheren, Fragment - nicht weil es als Leben mehr sein sollte als es ist, sondern weil es Leben ist, weil dies ein durch eine zufällige, passagere Form herausgeschnittenes Stück einer metaphysischen Absolutheit ist.

Mit diesen Verabsolutierungen, die die Formen des Lebens über ihre Funktion innerhalb des Lebens hinausführen und diese deshalb im Rückblick zu Fragmenten machen - werden Gebilde rein spekulativer oder phantasiemäßiger Art erreicht.

Es bestehen aber auch Totalitäten, die, das Leben unter den gleichen Aspekt rückend, nicht metaphysischer, sondern einerseits geistig-ideeller, andererseits historisch-konkreter Art sind und deren Begriff sich etwa folgendermaßen festlegen lässt.

Die Scheidung von Inhalt und Form, an den Stücken und Ereignissen der empirischen Welt sich zunächst als ein selbst Empirisches darbietend, erzeugt und trägt das Ganze der empirischen Welt als solcher; und nicht nur in deren alltäglichem Sinne, der sich aus praktischer Zuverlässigkeit, Wirklichkeitsgefühlen, theoretischer Erkennbarkeit zusammenwebt.

Fassen wir nämlich den Begriff der empirischen Welt in seinem weitest möglichen Sinne, so ist er ein Abstraktum, das eine Reihe empirischer Welten unter sich begreift: da es nicht nur eine theoretische Empirie gibt, sondern auch eine religiöse, eine werthafte, eine künstlerische, so besteht nicht nur eine »wirkliche« Welt in dem praktischen Sinne des Wortes, sondern auch eine religiöse, eine wissenschaftliche, eine künstlerische.

Alle diese Welten haben prinzipiell den gleichen Inhalt, aber ganz verschiedene Grundmotive bringen ihn in diese ganz verschiedenen Gesamtformungen.

Keine von diesen ist von sich aus der Mischung oder Kreuzung mit den anderen fähig, da eine jede ja schon den Weltstoff seinem ganzen Umfange nach einschließt.

Diesen Stoff können wir in seiner Reinheit nicht ergreifen, vielmehr heißt Ergreifen schon, ihn in eine jener großen, in ihrer vollen Auswirkung je eine Welt bildenden Kategorien einstellen.

Wenn wir z. B. die Farbe Blau vorstellen, so ist sie etwa ein Element der sinnlich wirklichen Welt, die der Ort unseres praktischen Lebens ist.

Diesem Sinne ihrer gehört wahrscheinlich meistens auch das Phantasiebild an, in dem wir die Farbe nur von den Begleitumständen gelöst haben, mit denen die Wirklichkeitswelt sie verweht.

Innerhalb der Begrifflichkeit der reinen Erkenntniswelt aber ist das Blau in ganz anderem Sinne bedeutsam: da ist es eine bestimmte Schwingung von Ätherwellen oder eine bestimmte Stelle im Spektrum oder eine bestimmte physiologische oder psychische Reaktion.

Wieder anderes besagt es als Element der subjektiven Gefühlswelt, in den lyrischen Empfindungen angesichts des blauen Himmels oder der blauen Augen der Geliebten.

Es ist dasselbe und seiner weltmässigen Bedeutung nach doch völlig anders orientierte Blau, wenn es in den religiösen Bezirk gehört, etwa als die Farbe des Mantels der Madonna oder überhaupt als Symbol in einer mystischen Welt.

Der in dieser Weise zum Element sehr mannigfacher Welten geformte Stoff ist nicht etwa, weil er ohne solche Formung unergreifbar ist, ein »Ding an sich«; er Ist nichts Transzendentes, das zur Erscheinung würde, indem es erkannt oder gewertet, religiös eingeordnet oder künstlerisch ausgestaltet wird.

Sondern in den so bezeichneten Gesamtbildern ist der Weltstoff jeweils ganz und gar und nicht auf Borg von einer selbständigeren Existenz her enthalten.

Die »Inhalte« haben eine Existenz sui generis.

Sie sind weder »real«, da sie das ja erst werden, noch eine bloße Abstraktion aus ihren mannigfachen Kategorisiertheiten, da sie nichts Unvollständiges, Eigenschaftsloseres sind, wie es der Begriff Baum gegenüber den konkreten Bäumen ist.

Sie haben weder das metaphysische Sein der platonischen Ideen, noch »Geltung« - obgleich sie zu dem letzteren Begriff noch die meiste Affinität besitzen.

Aber das Geltende ist in höherem Maße etwas für sich, ein Abgeschlossenes, vielleicht auch Forderndes, aber dennoch metaphysisch Unabhängigeres, für sich Vorstellbareres als der Inhalt.

Der Begriff »Inhalt« oder »Welt« zwar ist ein Abstraktum aus den verschiedenen Inhalten oder Welten, aber der einzelne Inhalt ist kein solches.

Platos Ideen sind auf dem Wege zu diesen »Inhalten«; aber er gelangt nicht zu der Reinheit ihres Begriffes, weil er sie sogleich logisch intellektualistisch, also doch einseitig fasst.

Er hält die logische Formung und Verbindung für die schlechthin reine, noch nicht spezifisch präjudizierte.

Wie ein Stück physischer Materie in beliebig vielen Formen erscheint, ohne irgend eine aber nicht existieren kann, und der Begriff seines reinen, form-freien Materie-Seins eine zwar logisch gerechtfertigte, aber in keiner Art von Anschauung vollziehbare Abstraktion ist - so etwa verhält sich das, was ich den Stoff der Welten nenne, die, von je einem Grundmotiv her, diesen Stoff zu - im Endlichen oder erst im Unendlichen abschließbaren - Totalitäten formen.

Denn eben wegen dieser prinzipiellen Fähigkeit, den Stoff in seinem ganzen Umfang aufzunehmen, nenne ich das Wirkliche als ganzes und ebenso das künstlerisch Erschaffbare, das theoretisch Erkennbare und das religiös zu Konstruierende je eine Welt.

Vom menschlichen Geiste her gesehen, gibt es keineswegs nur eine Welt, wenn Welt den Zusammenhang aller überhaupt möglichen Gegebenheiten bedeutet, die durch irgendein schlechthin gültiges Prinzip zu einem Kontinuum werden.

Kontinuität ist für den Weltbegriff unerlässlich; was überhaupt in keinem Zusammenhang steht, unmittelbarem oder mittelbarem, gehört nicht in eine Welt.

Sagt man, es gäbe nur eine Welt, so meint man durchgehendes den Ort unserer praktischen Interessiertheit, über die die Not des Lebens die Menschheit nur so wenig hinausblicken lässt, dass die künstlerischen, religiösen, rein theoretischen Inhalte nur als mehr oder weniger isolierte Einzelheiten erscheinen.

Für die Mehrzahl der Menschen ist die so genannte wirkliche Welt die Welt schlechthin und der künstlerische, religiöse und theoretische Realismus -d. h. das Bedürfnis, Stücke der wirklichen Welt als solche in diese anderen Formungen einzubauen, oder die letzteren nach den Normen jener zu gestalten - entstammt dem Übergewicht, das unsere praktische Gebundenheit der Wirklichkeitsform der Welt verliehen hat; eben dies Übergewicht verbirgt es, dass jene anders geformten Inhalte eigenen Welten angehören, in welche sich die Kompetenz der Wirklichkeitsform nicht erstreckt.

An dieser Identifizierung von Welt und wirklicher Welt laboriert vielleicht auch der Kantische Idealismus.

Denn wenn er auch neben der empirischen Welt die der reinen Vernunft, die vermittels der sittlichen Werte zugängig sei, anerkennt, so wird dadurch, dass nur eine von beiden eigentlich ,wirklich ist, die andere auch in ihrem Charakter als Welt herabgedrückt oder problematisch: entweder die Phänomene oder die Dinge an sich sind die eigentliche »Welt«.

Dies wird aber anders, sobald man den ganzen Dualismus beseitigt und an die Stelle der Dinge an sich die Inhalte setzt, die zu lauter prinzipiell koordinierten Welten geformt werden.

Der Einwand: diese Koordination der künstlerischen oder der metaphysischen Welt mit der empirischen sei unmöglich, weil jene doch nicht ebenso »wirklich« wären - macht die naive Voraussetzung, die hier ja gerade bestritten wird, dass die wirkliche Welt die einzige sei, womit sie denn in die Alternative zwischen transzendenter und phänomenaler eingesperrt wird.

Welt ist ein formaler Begriff und unterliegt nur dem allgemeinen Verhängnis allgemeiner Formen: mit ihrer häufigsten, wichtigsten, historisch nachdrücklichsten Spezialisierung identifiziert zu werden, so dass alle anderen Ausgestaltungen solcher Form nicht mehr in sie hineinzugehören scheinen.

(So erscheint Moral schlechthin als die christliche oder soziale, Kunst als die klassisch-moderne, Erkenntnis als [potentielle] Wissenschaft.) Insoweit solche weltformenden Kategorien bestehen, hat eine jede prinzipiell die gesamten Weltinhalte zu ihrem Stoff.

kein Inhalt kann sich dem entziehen, sich erkennen zu lassen, künstlerische Formung zu erhalten, religiös ausgewertet zu werden.

Dass im einzelnen Grenzunsicherheiten entstehen und dass ein von einer Kategorie geformtes Weltstück in die andere hineingenommen und hier von neuem als bloßer Stoff behandelt werde, ist selbstverständlich.

Aber ein eigentliches Übergreifen und Sich-Verflechten der einen Welt in die andere ist unmöglich, da eine jede ja schon die Gesamtheit der Weltinhalte in ihrer besonderen Sprache ausdrückt.

Innerhalb der geschichtlichen Realisierungen dieser Welten sieht es freilich anders aus.

Es existiert nicht Erkenntnis schlechthin, Kunst schlechthin, Religion schlechthin.

Mit der absoluten Allgemeinheit dieser Begriffe verbindet sich keine bestimmte Vorstellung mehr, sie liegen sozusagen im Unendlichen, d. h. da, wo z. B. die Linien aller überhaupt möglichen künstlerischen Produktion sich schneiden; deshalb kann man vielleicht »Kunst überhaupt« nicht definieren.

Es existiert immer nur eine historische, d. h. eine jeweils in ihrer Technik, ihren Ausdrucksmöglichkeiten, ihren Stilbesonderheiten bedingte Kunst; eine solche aber kann ersichtlich nicht jedem der unbegrenzten Weltinhalte Unterkunft gewähren.

Wie man, um ein ganz singuläres Beispiel zu nennen, nicht jedes Gefühlserlebnis in jedem lyrischen Stile ausdrücken kann, so ist überhaupt die Latitüde begrenzt, in der die bis zu jedem historischen Moment hin entwickelten Kunstformen auf die Weltinhalte anwendbar sind.

Die Maxime, die namentlich der künstlerische Naturalismus verkündet: es gäbe überhaupt keinen Weltinhalt, der nicht zum Kunstwerk gestaltet werden könnte - ist ein artistischer Größenwahn; er nimmt den restlosen Umfang, in dem die Kunst überhaupt und als absolutes Prinzip den Weltstoff formen könnte, für die in ihrer Formungskraft notwendig begrenzte Kunst in Anspruch, die in uns bis zu irgend einem geschichtlichen Augenblick realisiert ist.

Gewiss konnten die künstlerischen Verfahrungsweisen Giottos oder Botticellis nicht die Farbenimpressionen Degas'scher Ballerinen umspannen.

Allein dieser Erweiterungsprozess ist ersichtlich nie abzuschließen, und dass die Kunst der Idee nach eine absolut vollständige Welt zu formen vermag, ist ebenso sicher, wie dass jede gegebene Kunst dies prinzipiell Mögliche nur fragmentarisch verwirklichen kann - und zwar nicht nur wegen der selbstverständlichen Begrenztheit alles Menschlichen, sondern weil rein sachlich kein historisch endlicher Bestand von künstlerischen Formen sich auf den gesamten Weltinhalt anwenden kann.

Dass es mit der religiösen Welt nicht anders ist, liegt auf der Hand.

Es ist oft genug unternommen worden, das Ganze der Dinge und des Lebens zu einer lückenlos religiösen Welt auszubauen.

Aber selbst an dem jeweilig beschränkten Material ist es nicht gelungen, immer bleibt etwas von Weltstoff, was von den religiösen Kategorien nicht bewältigt wird - so sicher es möglich wäre, auch die von den historischen Religionen nicht ergriffenen Inhalte sich in religiöser Weise gestalten zu lassen, so dass ideell also wirklich eine religiöse Welt besteht.

Auch an der »wirklichen« Welt wird sich dies zeigen lassen.

Es gibt gewisse Weltinhalte (wobei man eben nur Welt nicht von vornherein als wirkliche Welt verstehen darf, Welt vielmehr als die ganz allgemeine Form gilt, von der »Wirklichkeit« eine spezielle Determinierung ist) - die z. B. innerhalb der Kunst völlig sinnvoll und nach derer besonderer Logik in sich und mit anderen kohärent sind, ohne dass sie unter der Kategorie der Wirklichkeit bestehen könnten; prinzipiell und vielleicht für einen höher oder anders organisierten Geist würden auch diese der »wirklichen« Welt zugehören.

Selbstverständlich kann man auch Kunstwerke und religiöse Vorstellungen als Realitäten, also als Stücke der wirklichen Welt betrachten, in rein Sinne nach aber gehören sie mit ihrem, in jener Hinsicht »wirklichen« Inhalt jetzt besonderen Gesamtwelten an.

Diese müssen ihre ideelle weltmässige Vollständigkeit damit bezahlen, dass sie innerhalb des historischen Lebens immer nur in individueller Einseitigkeit auftreten und infolgedessen nicht fähig sind, die Gesamtheit möglicher Inhalte zu ergreifen.

Dass dies dem Prinzip Wirklichkeit in viel höherem Maße gelingt, liegt einfach an seiner Verbundenheit mit der äußeren Lebenspraxis, die den individuellen Verschiedenheiten, den Einseitigkeiten, den zufälligen Ausgestaltungen keinen so großen Spielraum gibt, sondern uns in einer relativ gleichmäßigen Attitüde festhält, deren Kategorien sich mehr zu allmählicher Bereicherung als zu gegenseitiger Verdrängung entwickeln.

Der hier behauptete Parallelismus der Welten scheint freilich einem erheblichen Bedenken zu begegnen.

Die Wirklichkeit ist, von ihrem eigenen Standpunkt angesehen (nicht von dem ihrer geistigen Spiegelungen oder Deutungen), eine schlechthin eindeutige; der ideelle Komplex der Inhalte, alle Wiederholungen und Zeitverläufe einschließend, ist in einer einheitlichen Welt »verwirklicht«, in der jeder Punkt zur Vollständigkeit des Ganzen auf jeden anderen hinweist.

Das ändert sich vielleicht schon innerhalb der Erkenntnis; denn es bleibt mindestens zweifelhaft, ob es nicht für verschiedene geistige Organisationen verschiedene »Wahrheiten« über das gleiche Objekt, d. h. verschiedene geistige Formungen des gleichen Inhalts gibt.

Sicher aber scheint die Zusammengehörigkeit der künstlerischen Gestaltungen zu einer Welt ausgeschlossen.

Den identischen Inhalt formt ein Künstler zu einem ganz anderen Gebilde als ein anderer und man könnte allenfalls sagen, dass der Stil eines einzelnen Künstlers oder einer Epoche prinzipiell die Ganzheit des Daseins in sich aufnehmen könnte, aber nicht, dass alle diese möglichen Kunstgebilde - deren mehrere, denselben Inhalt darstellend, doch oft geradezu einander ausschließen - eine einheitliche Welt in dem Sinne bildeten, in dem man dies von der Wirklichkeit behaupten kann.

»Kunst« erscheint als ein bloß abstrakter Begriff, gar nicht imstande, die gegenseitig fremden, zusammenhangslosen, widersprechenden Kunstformungen eines und desselben Inhalts zu vereinheitlichen.

Allein zunächst wäre zu untersuchen, was in diesem Falle unter Einheit verstanden werden muss und ob dies nicht etwas ganz anderes ist, als die Einheit der Wirklichkeit, aber immerhin Einheit.

Dann aber ist es gar nicht sicher, dass jene Heterogenität von Kunstwerken gegenüber demselben Objekt wirklich besteht.

Wenn Tizian und Dürer denselben Menschen auf zwei ganz verschiedene Arten darstellen, so ist es »derselbe« nur unter der Kategorie der Wirklichkeit; künstlerisch gibt es nicht den gleichen Inhalt in verschiedenen Formen, sondern die innere Einheit des Kunstwerks bewirkt, dass das anders geformte Kunstwerk auch einen anderen Inhalt hat.

Dürer sieht nicht dasselbe wie Tizian und macht dann etwas anderes daraus, sondern er sieht von vornherein etwas anderes und diese beiden Etwas, das Dürersche und das Tiziansche, sind eben nur für die Kategorie der Theorie und der Praxis identisch.

Dass sie es im Reich der Inhalte sind, ist ganz fraglich.

Nun mag man behaupten: nicht nur die Darstellungen und Auslebungen der Prinzipien Kunst, Religion, Wert usw. seien durch historische Zufälligkeit bedingt, sondern dass diese Prinzipien auch in ihrer größten Allgemeinheit und übersingulären Idealität überhaupt bestünden, sei der historischen Entwicklung der Menschheit zuzuschreiben; es sei schließlich in höherem Sinne ein Zufall und eine bloße Faktizität unserer geistigen Einrichtung, dass jene Kategorien und nicht ganz andere bestehen und Welten bilden; wie man denn auch wirklich neuerdings behauptet hat, die Kategorie Kunst gehöre einer nun bald beendeten Menschheitsepoche an.

Gibt man diese These, ohne in ihre metaphysische Diskussion einzutreten zu, ist damit das hier Durchzuführende keineswegs bedroht.

Denn es handelt sich nur darum, dass diese Welten ideell bestehen, notwendig oder nicht, und dass sie der Wirklichkeit als Welten koordiniert sind.

Behauptet man ihre Zufälligkeit, so muss man auch für die Wirklichkeit eben dieselbe zugeben.

Auch dass wir mögliche Inhalte in die Form der Wirklichkeit fassen, ist nicht als notwendig zu erweisen: es gibt tatsächlich träumerische »wirklichkeitsfremde« Menschen, vor denen die Inhalte des Daseins als bloße Bilder schweben und die den Begriff Wirklichkeit nie recht erfassen.

So wenig dies auch bei solchen in vollkommenem Maße stattfinden mag, so ist es doch jedenfalls ein Hinweis darauf, dass die Wirklichkeit nicht etwas Absolutes ist, dem gegenüber alle anderen Welten etwas Relatives, Zufälliges, Subjektives sind, sondern dass alle diese ontologisch auf derselben Stufe stehen - mag man diese Stufe als Ganzes nun für eine objektive oder eine historisch subjektive erklären.

Zu diesen Welt-Ganzheiten, die gewissermaßen in ideeller Vorzeichnung um uns liegen und die wir mit jeder geistigen Produktivität mehr zu entdecken und zu erobern als zu erschaffen scheinen, hat nun das individuell gelebte Leben ein eigentümliches Verhältnis.

Jeder gegenständliche Bewusstseinsvorgang gehört seinem Inhalt und Sinne nach in eine dieser Welten.

Es ist, als wären sie lauter auseinandergelagerte Ebenen, durch die das Leben hindurchschwingt, bald aus dieser, bald aus jener ein Stück sich aneignend, sich einbildend, bald mit gewissen Inhalten wie in undifferenzierter Form zwischen ihnen stehend.

Tatsächlich werden alle unsere Gedankeninhalte von dem mehr oder weniger deutlichen Gefühl begleitet: dass ein jeder sozusagen irgendwohin gehört.

Auch das Phantastische, Paradoxe, Subjektive ist nur relativ isoliert: empfindet man genauer hin, so gehört es in einen unabsehlichen Zusammenhang der gleichen Schicht, mag diese Schicht auch für jetzt oder für uns nur durch eben dieses Element markiert sein.

So sind also unsere sämtlichen, aktiv oder passiv erlebten seelischen Inhalte Fragmente von Welten, deren jede eine besonders geformte Totalität von Weltinhalten überhaupt bedeutet.

Hinsichtlich der theoretisch erfaßbaren »wirklichen« Welt ist dieses Verhalten jedermann geläufig: wir wissen alle, dass unser Wissen Stückwerk ist.

Ebenso im Ethischen: wir wissen alle, ein wie geringer Teil dessen, was die wertgeformte Welt sein könnte und sollte, von unserem Handeln nicht nur, sondern sogar von unserem Pflichtbewusstsein nachgezeichnet wird.

In diesen Fällen wird uns der fragmentarische Charakter unserer Lebensinhalte durch eine an jeden ansetzende, über jeden hinaustreibende Forderung nahegelegt.

Aber auch in allen anderen besteht, weniger sich aufdrängend, dieser Fragmentcharakter unseres Lebens, jeder in diesem aufzeigbare Inhalt ist aus einem Gesamtzusammenhänge, in dessen Logik er eine bestimmte und notwendige Stelle hat, in den aus eigener Quelle brechenden, jenen Welten transzendenten Vitalstrom hineingezogen.

So erst scheint mir das immer empfundene »Bruchstückhafte« des Lebens einen weltanschauungsmässigen Sinn jenseits der bloß elegischen Kontemplation zu offenbaren.

Wir kursieren fortwährend durch sehr mannigfache Ebenen, deren jede prinzipiell die Welttotalität nach einer besonderen Formel darstellt, von deren jeder aber unser Leben nur jeweils ein Bruchstück mitnimmt.

Gerade dieses ideelle - aber als ideelles durchaus objektive - Ergänztsein jedes Lebensinhaltes macht ihn zu einem Fragment.

Anders aber ist der Aspekt, wenn wir das Leben von sich selbst aus, und nicht von diesen, jenseits seiner sich zu eigener Totalität streckenden Ebenen aus betrachten.

Dann nämlich verliert die Zugehörigkeit seiner Inhalte zu den gesonderten, sozusagen für sich seienden Welten jede Bedeutung.

Diese Zugehörigkeit erscheint jetzt als ein nachträgliches Herausschneiden und ideelles Transplantieren von Stücken, die als erlebte diese gegenseitige Abgegrenztheit und Diskontinuität gar nicht besitzen.

Innerhalb der Dynamik des Lebensprozesses sind sie verbunden, wie die Wellen eines Stromes, es ist jeweils ein Leben, welches sie als seine, von ihm nun nicht abtrennbaren und deshalb auch untereinander nicht trennbaren Pulsschläge erzeugt.

Ja schon der bloße Ausdruck als Inhalte - als seien sie etwas von dem Prozess erst irgendwie Aufgenommenes, in jenem Strom zwar Schwimmendes, aber nicht in ihm Aufgelöstes, nicht ihn selbst Ausmachendes - ist leicht missverständlich.

Sieht man das Leben rein von innen her an, so kann man nicht mehr von einem Fragmentcharakter seiner sprechen, denn nun ist es ein selbstgenügsames Geschehen, das in jedem seiner Momente ganz da ist, weil in der Zeitform seines Fließens alles Vergangene vernichtigt ist und deshalb der jeweilige Moment das ganze Leben ist - während seine Zerlegung in Inhalte jedem von diesen eine gewissermaßen zeitlose Stelle und Bedeutung zuweist.

Auf diese Inhalte also hin, mit ihrer transvitalen Einordnung und Wertung, und als ihre Summe angesehen, ist das Leben aus Fragmenten zusammengesetzt, was es aber keineswegs ist, sobald es rein als Leben gilt und die Inhalte nur die Äußerungen bedeuten, mit denen es verläuft.

Darum ist es für diesen letzteren Aspekt kein ganz treffender Ausdruck, dass das Leben diese Inhalte erzeuge, denn damit wird es doch wieder irgendwie jenseits ihrer gestellt, als sei es ein formaler Prozess, der, insoweit er produktiv ist, seine Produkte von sich absondert, sie als dem Sinne nach selbständige hinstellt.

Dies ist aber erst eine begrifflichzerlegende Nachträglichkeit, das seelische Leben ist nichts anderes als die kontinuierliche Strömung von Inhalten, die Inhalte nichts anderes als die Jeweilige Ausgestaltung des mit ihnen identischen Lebens.

Erst wenn wir sie gleichsam von außen sehen, als Dinge und Ereignisse, als Erkenntnisse und Werke, als Gesetzlichkeiten und Werte - gewinnen sie einen in sich festen Rahmen, erscheinen als Darstellungen je eines Begriffes, setzen sich mit sachlichem Sinne gegeneinander ab.

Aber dies bezahlen sie unmittelbar damit, dass sie nun Fragmente sind, dass jeder Inhalt seine Grenze an einem anderen jener kategorialen Welt findet, in die er nun eingestellt ist und in deren ideellem Ganzen er ein unselbständiges Teilstück bildet.

Indem unsere Lebensinhalte gewissermaßen zwischen das Leben als solches und die ideelle Totalität von Welten gestellt sind, werden sie zu Fragmenten.

Vom Innern des Lebens her gesehen sind sie dies zwar nicht, sondern sind die Wellenformen seiner einheitlichen Kontinuität; wohl aber, sobald wir eben diese auf den eigenen Sinn der Inhalte projizieren, wobei denn das Leben als ein durch viele Welten hindurchgelebtes erscheint, von einem jeden Stücke aufraffend, Stücke, die vor dem Auge eines Gottes nur ganz partikulare Auswirkungen der absoluten je eine Welt bildenden Kategorien wären - und sich aus diesen zusammensetzend.

Das Leben ist Vollständigkeit und jede Welt ist Vollständigkeit; aber wo sie sich schneiden, umgrenzen die Schnittflächen ein Fragment -ein Fragment ebenso des Lebens wie eines der Welt.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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