Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Vom Tode in der Kunst

Nach einem Vortrag

 

 

ex: Frankfurter Zeitung, Jg. 59, Nr. 92, 2. April 1915, Erstes Morgenblatt, S. 1-3

Wenn in diesen Monaten Jünglinge von uns Abschied nahmen, an denen der Glanz des Lebens unverlöschlich schien und sein Reichtum unerschöpflich, und dann die Nachricht kam: »Gefallen«, so galt unsere Erschütterung nicht nur dem Verlust so vieler Gegenwart und Zukunft.

Irgend etwas von dem metaphysischen Grauen mischte sich dazu, das entsteht, wenn das Logisch-Widerspruchsvolle, für unmöglich Gehaltene, plötzlich als ein dennoch Wirkliches vor uns steht.

Dass wir diesen Menschen, der so ganz und gar Leben war, als Toten denken sollten, schien sozusagen eine unvollziehbare Forderung, wie wenn das Licht zugleich das Dunkel wäre.

Aber wir wissen doch: auch dieser musste einmal sterben; woher das Entsetzen darüber, dass es ein paar Jahre früher geschah? Die Vorstellung ist doch allgemein, dass auch sonst der Tod als ein dunkles Verhängnis über uns schwebt, um uns an irgend einer Stelle wie ein lauernder Feind zu überfallen.

Jetzt, wo dieser »Parzenschnitt« doch nur in seiner wirklichen Krassheit anschaulich wird, da wird durch jenen zerreissenden inneren Widerspruch, jenes Entsetzen, das wir noch neben dem Kummer, dem Schmerz um das Verlorene empfinden, ein Tieferes aufgedeckt: dass das, was jetzt geschieht, zwar jener oberflächlich alltäglichen Vorstellung vom Tode scheinbar entspricht, so aufgefasst aber unserem tieferen Wissen von ihm widerstreitet.

Vielleicht wissen wir irgendwie, dass dem Leben innerlich und immer der Tod verbunden ist, und wo ein äusserlich gewalttätiges, jugendliches Sterben einen unversöhnlich absoluten Gegensatz zwischen Leben und Tod beweisen möchte, da stehen wir vor dem Grauen des Unbegreiflichen, weil damit jenem sozusagen organischen Wissen um ihr Zusammengehören, so selten es formuliert sein mag, widersprochen scheint.

Ich will ganz vorbehaltlos aussprechen: die Einsicht in die Bedeutung des Todes hängt durchaus daran, dass man die Parzen-Vorstellung abtue: als wäre in einem bestimmten Zeitmoment der Lebensfaden, der sich bis dahin als Leben und ausschliesslich als Leben fortspann, »abgeschnitten«; als wäre es zwar dem Leben bestimmt, an irgend einem Punkte seiner Bahn dem Tode zu begegnen, aber erst in diesem Augenblick überhaupt in Berührung mit ihm zu kommen.

Statt dieser Vorstellung scheint es mir ganz zweifellos, dass der Tod von vornherein dem Leben einwohnt.

Zwar gelangt er zu makroskopischer Sichtbarkeit, sozusagen zur Alleinherrschaft erst in jenem einen Augenblick.

Aber das Leben würde von der Geburt an und in jedem seiner Momente und Querschnitte ein anderes sein, wenn wir nicht stürben.

Nicht wie eine Möglichkeit, die irgendwann einmal Wirklichkeit wird, steht der Tod zum Leben, sondern unser Leben wird zu dem, als was wir es kennen, überhaupt nur dadurch geformt, dass wir wachsend oder verwelkend, auf der Sonnenhöhe des Lebens wie in den Schatten seiner Niederungen, immer solche sind, die sterben werden.

Freilich sterben wir erst in der Zukunft, aber dass wir es tun, ist kein blosses »Schicksal«, das Sterbenwerden ist nicht einfach eine Vorwegnahme, eine ideelle Verschattung unserer letzten Stunde - obgleich wir es sprachlich freilich nur als Zukunft, das heisst als ein nicht Wirkliches zu benennen pflegen, weil es erst in jener Stunde für unsere Praxis wichtig wird, - sondern es ist eine innere Immer-Wirklichkeit jeder Gegenwart, ist Färbung und Formung des Lebens, ohne die das Leben, das wir haben, unausdenkbar verwandelt wäre.

Der Tod ist eine Beschaffenheit des organischen Daseins, wie es eine von je mitgebrachte Beschaffenheit, eine Funktion des Samens ist, die wir so ausdrücken, dass er einst eine Frucht bringen wird.

Diese Art, den Tod zu empfinden, als ein in allem Lebendigen Enthaltenes, wird in dem Bilde des Menschen, wie Rembrandt es fasst, nachdrücklicher und herrschender fühlbar, als bei irgend einem anderen Künstler.

Nicht in einem elegischen oder pathetisch betonten Sinne.

Denn dieser entsteht, wo der Tod als eine, dem Leben wie von aussen drohende Vergewaltigung erscheint, als ein Schicksal, das an irgend einer Stelle unseres Lebensweges auf uns gewartet hat, unvermeidlich zwar der Tatsache nach, aber nicht aus der Idee des Lebens heraus notwendig, sondern ihr sogar widersprechend.

Wird so der Tod vorgestellt als eine dem Leben unverbundene Macht über dies Leben selbst, so bekommt er das Grausige, Beklagensmässige, gegen das man entweder heroisch rebelliert, oder dem man sich lyrisch unterwirft, oder mit dem man innerlich nichts zu tun hat - wie dies allenthalben in den »Totentänzen« dargestellt wird; das im seelischen Sinne Äusserliche dieser Auffassung des Todes symbolisiert sich treffend damit, dass hier der Tod auch als ein räumlich ausserhalb seines Opfers stehendes Wesen sichtbar wird.

Anders aber, wenn der Tod unmittelbar mit und in dem Leben als ein Element dieses selbst empfunden wird.

Nun sind wir nicht mehr vom Tode »bedroht« wie von einem von fernher auf uns zukommenden Feind oder auch - Freund, sondern der Tod ist von vornherein ein character indelebilis des Lebens.

Darum ist hier auch sozusagen gar nicht viel von ihm her zu machen, er ist eben von unseren ersten Tagen in uns, nicht als eine abstrakte Möglichkeit, die sich irgendwann einmal verwirklichen wird, sondern als das einfache konkrete Sosein unseres Lebens, wenngleich seine Form und gleichsam sein Mass sehr wechselnde sind und erst im letzten Augenblick keine Täuschung mehr zulassen.

Wir sind nicht »dem Tode verfallen«, all solches kann nur aufkommen, wo das funktionelle und immanente Element des Todes zu etwas Substantiellem und zu einer selbständigen Sondergestalt hypostasiert wird -, sondern von vornherein wäre unser Leben und sein gesamtes Phänomen gänzlich anders, wäre es nicht von dem durchwaltet, was wir nach seinem Definitivum den Tod nennen - was eben die tiefsten Rembrandtporträts zu verkünden scheinen.

Dies und die darin liegende Einzigkeit seiner Kunst zu begreifen, bedarf es eines Blickes auf sein Verhältnis zur Klassik.

Man kann wohl schon auf einen ziemlich allgemeinen Eindruck von der klassischen und von der Rembrandtschen Kunst hin sagen, dass jene auf die gewissermassen abstrakten Formen geht, die das Leben an seiner Oberfläche ablagert und festwerden lässt, diese aber auf das Leben in seiner Unmittelbarkeit.

Die griechische Kunst will nicht vom Leben fort, nicht von ihm erlösen, wie vielleicht die ägyptisch-hieratische und die altostasiatische Kunst.

Aber darum ist doch nicht die jeweilige Einreihigkeit und Individualität, in der es zeitlich verfliesst, ihr Absehen, sondern die diesem Fluss mindestens scheinbar enthobene Struktur, in der das Leben sich, festgeworden, nach aussen hin ausspricht; sie sucht deshalb die Gesetzlichkeit, mit der die Elemente seines Phänomens zusammenhängen, und die, eben als Gesetzlichkeit, aller Zeit und aller Individualität enthoben ist und nicht, wie bei Rembrandt, von der inneren, unsichtbaren und, wenn man will, formlosen Lebendigkeit in jedem Augenblick gespeist, aber auch zerbrochen und wieder aufgebaut wird.

Von der allgemeinen Gesetzlichkeit der Form trägt in der klassischen Kunst das einzelne Gebilde seine Bedeutung zu Lehen, und daher stammt das Repräsentative, in gewissem Masse Schauspielerische, das der griechischen Kunst, a vielleicht dem griechischen Leben anhaftet: das Individuum ist hier nicht schlechthin es selbst, sondern es repräsentiert ein Allgemeines, wie die Rolle ein Ideelles, Allgemeines ist, die dem einzelnen Schauspieler Sinn und Inhalt seines Daseins gibt.

Dies: ein Überindividuelles zu vertreten und damit den Wert der Individualität zu erschöpfen, - gibt der griechischen Erscheinung ihre Würde und ihren Stolz, aber auch die Angewiesenheit auf das Gesehen- und Anerkanntwerden, und von daher verknüpft sich das Allgemeinheitsprinzip mit jener Richtung auf das nach Aussen hin Gebildete, auf dasjenige Kunstphänomen des Lebens, das dessen Bewegtheit in ein festes Gebilde gerinnen lässt.

Zu höchst hat Plato dies abstrakt ausgedrückt, indem die Dinge ihm nichts sind, als die Repräsentanten der Idee, nicht von sich aus bedeutungsvoll, sondern insofern sie ein Allgemeines in die Form sichtbarer Wirklichkeit überführen.

Für Plato ist das Einzelding der Schauspieler der Idee, es spielt die Rolle, die ihm und unzähligen anderen Individualitäten ideell vorgeschrieben ist, und, wie der Schauspieler als solcher, ist es ein Etwas nur von diesem allgemeinen Auftrag her.

Hier also, ich wiederhole es, liegt die tiefe Beziehung zwischen der klassischen Abwendung von der reinen Individualität und der Hinwendung zu der selbstgenügsamen, eigengesetzlichen äusseren Form des Lebens, die seine unsichtbare, nicht in festen Strukturen ergreifbare innerliche Strömung verschweigt.

Rembrandt aber hat in seine vollkommensten Porträts die flutende, jede Form von innen her überflutende Bewegung des vollen Lebens selbst hineingezaubert.

Und nun erst, zu jener Deutung des Todes zurücksehend, kommt dies zu seinem ganzen Sinn.

Jene Porträts enthalten das Leben in seiner weitesten Bedeutung, in der es auch den Tod einschliesst.

Alles, was bloss Leben ist, derart, dass es den Tod aus sich entfremdet hat, ist Leben in einem engeren Sinne, ist gewissermassen eine Abstraktion.

Bei vielen italienischen Porträts hat man den Eindruck, dass diesen Menschen der Tod in Form eines Dolchstosses kommen würde, - bei den Rembrandtschen, als würde er die stetige Weiterentwicklung dieser fliessenden Lebensganzheit sein, wie der Strom, indem er in das Meer mündet, doch nicht durch ein neues Element vergewaltigt wird, sondern nur seinem natürlichen, von je bestehenden Fall folgt.

Rubenssche Menschen haben scheinbar ein viel volleres, ungehemmteres, elementarer mächtiges Leben als die Rembrandtschen; aber um den Preis, eben jene Abstraktion aus dem Leben darzustellen, die man gewinnt, wenn man aus dem Leben den Tod weglässt.

Rembrandts Menschen haben das Dämmernde, Gedämpfte, in ein Dunkel hinein Fragende, das eben in seiner deutlichsten, schliesslich einmal allein herrschenden Erscheinung Tod heisst, und um gerade so viel weniger Leben scheinen sie, oberflächlich angesehen, zu enthalten; in Wirklichkeit enthalten sie gerade dadurch das ganze Leben.

Dies gilt zwar hauptsächlich von seinen späten Porträts, aber doch nicht ganz ausschliesslich.

Sieht man das Dresdener Selbstporträt mit Saskia genau an, so erscheint seine schattenlose Lebensfreude ein wenig künstlich, als wäre sie zwar für jetzt an die Oberfläche seines Wesens getreten, in dessen Tiefe aber mit schwereren, sich aus der Ferne herstreckenden Unentrinnbarkeiten verwachsen.

Fast erschreckend deutlich wird dies, wenn man das lachende Selbstporträt der Carstanjenschen Sammlung (34 Jahre nach jenem) daneben betrachtet.

Hier ist das Lachen unverkennbar etwas rein Momentanes, sozusagen als zufällige Kombination aus Lebenselementen zustande gekommen, deren jedes für sich völlig anders gestimmt ist, das Ganze wie vom Tode durchzogen und auf ihn hin orientiert.

Und nun besteht zwischen beiden die unheimlichste Ähnlichkeit: das Grinsen des Greises erscheint nur als die Weiterentwicklung jener jugendlichen Fröhlichkeit, und als wäre das Todeselement im Leben, das sich in dieser auf die tiefsten, unsichtbaren Schichten zurückgezogen hat, nun bis an die Oberfläche gedrungen.

Ganz allgemein hat der Gedanke des Todes ein bemerkenswertes Verhältnis zur künstlerischen Darstellung des Menschen.

Weil das Porträt nicht nur Jahrhunderte oder Jahrtausende leben kann, sondern weil es seinem Inhalt, als einem künstlerischen, Zeitlosigkeit verleiht, wird an ihm die Spannung fühlbar: dass es eben doch ein vergängliches Wesen ist, das es darstellt.

An dem bewegten Leben, das auch den Betrachter in seine Strömung mitreisst, mag uns der mit ihm verwachsene Tod völlig entschwinden, schon weil er fast durchgehendes - ob mit Recht, bleibe vorläufig dahingestellt - als das immer Gleiche und Generelle gilt; dieses aber schalte t das gewöhnliche Bewusstsein aus, um sich an die Wichtigkeit der Unterschiede des Lebens zu heften.

Wo aber das Gebilde diese unmittelbare Bewegtheit verliert, die uns gewissermassen über den Tod täuscht und ihn zu dementieren scheint, da wird er bei genauerem Hinempfinden sichtbar.

Wenigstens scheint mir dies einer der wesentlichsten Eindrucksunterschiede des realen und des künstlerisch nachgestalteten Menschengebildes zu sein: dass an diesem, weil es in der Sphäre jenseits des verfliessenden Lebens steht, der Tod gerade durch den Gegensatz zu dieser Sphäre irgendwie spürbar wird; gerade in die Porträtgestalt erscheint mir, freilich in verschiedensten Deutlichkeiten, der Tod, das Ephemere unseres Lebens, die Vergänglichkeitsbestimmung, so eingewebt, dass es nicht herausgelöst werden kann, ohne das Ganze zu zerstören.

Aber innerhalb dieses Allgemeinen treten grosse Unterschiede auseinander.

Die ganze Tiefe des Gegensatzes zwischen der Zeitlichkeit des sterblichen Wesens und der Zeitlosigkeit seiner Kunstformung herauszuarbeiten, war nicht Sache der klassischen Kunst.

Sie suchte ihn vielmehr zu überbrücken, zu vereinheitlichen, indem sie ihren Gegenstand in seiner ganzen Beschaffenheit und Bedeutung in die Sphäre der Zeitlosigkeit hob.

Sie erreichte das dadurch, dass sie ihn typisierte.

Nur das Individuum stirbt, der Typus nicht.

Indem sie sich von jenem entfernte und diesen darstellte, verminderte sie die Spannung zwischen der Kunstform als solcher und ihrem jeweiligen Inhalt, stellte sie die Idee der Zeitlosigkeit über beide.

Sie hat die Gegenstände als künstlerisches Material auf diejenige Schicht oder diejenige Bedeutung reduziert, in der sie wie von selbst und widerstandslos in den allgemeinen Stil eingingen, auf dasjenige, was von vornherein und schon an ihnen selbst als zeitlos gelten kann: also ihren Typus, ihr abstrakt - wenn auch nicht mit Begriffen - ausdrückbares generelles Wesen.

Der Gegenstand selbst musste nach dem, was man an ihm selbst sah und was man von ihm in die Kunstschöpfung hineinnahm, in der Nähe des Stiles verbleiben, der diese bestimmte.

Die künstlerische Zeitlosigkeit hielt sich an das ihr zunächst assimilierbare Objekt, an das Unsterbliche an der menschlichen Erscheinung; welches eben die Gattung, der Typus einer jeden ist, das, was an ihr dem Tode fremd ist.

Nichts kann diesen Zusammenhang besser beweisen, als dass er mit umgekehrtem Vorzeichen ganz ebenso besteht.

Jene Fühlbarkeit des Todes in den grössten Rembrandtporträts entspricht dem Masse, in dem sie die absolute Individualität der Person als ihren Gegenstand aufnehmen.

Und dies ist von innen her begreiflich.

Der Typus, sagte ich, stirbt nicht, aber das Individuum stirbt.

Und je individueller also der Mensch ist, desto »sterblicher« ist er, denn das Einzige ist eben unvertretbar und sein Verschwinden ist deshalb um so definitiver, je mehr es einzig ist.

Jene Organismen, bei denen das Einzelwesen sich einfach durch Teilung in zwei Wesen fortpflanzt und damit restlos verschwindet, sind sicher die niederste Stufe der Individualisierung; und gerade auf sie hat man den Begriff des Todes für unanwendbar erklärt, weil ihr Verschwinden keine Leiche zurücklässt.

Das absolute Aufgehen in der Gattungsfortsetzung, das beim Einzelwesen nicht einmal eine Leiche gönnt, verneint den Tod.

Wer sein Wesen auf die Form beschränkt oder, wenn man will, zu ihr erweitert hätte, in der er mit seinem Typus, mit dem Allgemeinbegriff seiner Gattung Eines ist, der wäre im tieferen Sinne in aller Zeit und über der Zeit.

Wer aber einzig ist, wessen Form mit ihm vergeht, der allein stirbt sozusagen definitiv: in der Tiefe der Individualität als solcher ist das Verhängnis des Todes verankert.

Darüber aber erhebt sich eine neue Problematik, sobald die Individualität zum Gegenstande der Kunst wird, von der sie nun doch Unsterblichkeit und Unzeitlichkeit zu Lehen trägt.

Die so entstehende Spannung blieb der klassischen Kunst erspart, weil sie ja den Typus, der von sich aus diese Eigenschaften besitzt, zum Gegenstand hatte, künstlerische Intention und Gegenstand also insoweit in eine und dieselbe Richtung wiesen.

Etwas Fragwürdiges und irgendwie Widerspruchsvolles (so tief sinnvoll dieser Widerspruch auch sei) haftet deshalb an aller auf die Individualität hin pointierten künstlerischen Darstellung: so haben alle sehr individuellen Porträts einen leiseren oder deutlicheren tragischen Zug, so sind alle tragischen Helden Shakespeares scharfe Individualitäten, während alle seine Lustspielfiguren Typen sind; so hat die italienische Kunst, weil sie typisiert, etwas Heiteres, die germanische, mit ihrer individualistischen Leidenschaft, oft etwas Zerrissenes; jenes eigentümlich Unabgeschlossene gegenüber der Abgerundetheit des Klassischen, das ins Unendliche Weiterstrebende der germanischen Kunst, als würde man von jeder endlichen und beruhigenden Lösung immer weiter einem erst zu Gewinnenden oder niemals zu Gewinnenden zugetrieben, - dies speist sich vielleicht aus der Unversöhnlichkeit der Individualität, in die der Tod eingewebt ist, mit der Kunst, die rein als Kunst über dem Tode steht.

Das Leben aber erzeugt sich nur in der Form von Individuen, und darum spannt sich an ihnen der Gegensatz von Leben und Tod am gewaltsamsten: das individuellste Wesen stirbt am gründlichsten, weil es am gründlichsten lebt.

Der äussersten Hochführung der Individualitätsidee, von der ich in der lyrischen Kunst weiss, unterbaut sich gerade die Deutung des Todes, die ihn allem Leben, das wir kennen, als einen unablöslich bestimmenden Faktor einwohnen lässt.

Sie steht bei Rilke:

O Herr, gib jedem seinen eignen Tod,
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
Darin er Liebe hatte, Sinn und Not.

Hier verneint sich, wenn auch in idealer Vision, die Allgemeinheit des Todes.

Eben damit aber wird er unmittelbar in das Leben selbst eingesenkt.

Denn so lange der Tod ausserhalb des Lebens steht, so lange er - in dem dafür bezeichnenden räumlichen Symbol - der Knochenmann ist, der plötzlich an uns herantritt, ist er natürlich für alle Wesen einer und derselbe.

Zugleich mit seinem Gegenüber-vom-Leben verliert er seine Immergleichheit und Allgemeinheit, in dem Masse, in dem er individuell wird, in dem »jeder seinen eignen Tod« stirbt, ist er dem Leben als Leben verhaftet und damit dessen Wirklichkeitsform, der Individualität.

Eines der tiefsten typischen Verhältnisse unseres Weltbildes macht sich hier geltend.

Viele unserer wesentlichen Daseinsbestimmungen ordnen sich zu Gegensatzpaaren, so dass der eine Begriff seinen Sinn erst an der Korrelation mit dem anderen findet: das Gute und das Böse, das Männliche und das Weibliche, das Verdienst und die Schuld, der Fortschritt und der Stillstand und unzähliges andere.

Die Relativität des einen findet Grenze und Form an der des anderen.

Nun aber werden oftmals diese beiden Relativitäten noch einmal umfasst von einem absoluten Sinne, den eine von beiden erwirbt.

Gewiss schliesst Gutes und Böses in beider relativem Sinne sich gegenseitig aus; vielleicht aber ist das Dasein in einem absoluten göttlichen Sinn schlechthin gut, und dieses Gute birgt in sich das relativ Gute wie das relativ Böse.

Gewiss bekämpfen sich unversöhnlich der geistige Fortschritt und der geistige Stillstand; vielleicht aber ist der Weltprozess des Geistes ein absolutes Fortschreiten, in dem das empirisch so bezeichnete etwas Relatives ist und in das auch das, was wir Stillstand nennen, sich als ein Modus des Fortschreitens einordnet.

Und so vielleicht sind Leben und Tod, insofern sie einander logisch und physisch auszuschliessen scheinen, doch nur relative Gegensätze, umgriffen vom Leben in seinem absoluten Sinne, der das gegenseitige Sichbegrenzen und Sichbedingen von Leben und Tod unterbaut und übergreift.

Und von diesem zu höchst erreichten Punkte fällt vielleicht ein versöhnenderes Licht auf jenes Grauen des Soldatentodes.

In dem Krieger, der sich in Freiheit opfert, d. h. aus der letzten Tiefe seines individuellen Willens heraus, lebt in eben dieser Tiefe noch ein anderes Individuum: die grosse Individualität des Volkes, eine Allgemeinheit also, die sich nicht der Individualität entgegensetzt, sondern mit ihr Eines ist.

Sichrer als je wissen wir jetzt, wie jedes einzelne ihrer Glieder sie unmittelbar enthält, so dass dessen Tod um ihretwillen doch der Tod aus seiner eigenen Freiheit heraus ist; an den Jünglingen, die sich singend dem Feind entgegenwerfen, weil ihnen Leben und Tod ein Rausch des Lebens ist, erfahren wir, wie der kleine Sinn des Lebens und der kleine Sinn des Todes ihren Gegensatz und sein Grauen in den grossen Sinn des Lebens aufheben.


 

Editorial:

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