Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Die Idee Europas

ex: Berliner Tageblatt, 44. Jg., Nr. 121, 7. März 1915, Morgen-Ausgabe, 2. Beiblatt

Ist dieser Krieg ein Paroxysmus, eines der Fieber, die manchmal epidemisch durch die Völker laufen, wie der mittelalterliche Flagellantismus, und aus denen sie eines Tages aufwachen, zerschlagen und ohne zu begreifen, wie dieser Wahnsinn überhaupt möglich war - oder ist es ein ungeheures Umgraben und Durchackern des europäischen Bodens, damit er Entwicklungen und Werte hergebe, deren Art wir heute nicht einmal ahnen können? So war die Völkerwanderung, die sicher den alten Kulturnationen als eine bloße sinnlose Zerstörung, eine unbegreifliche Vergewaltigung erschien und doch einem unendliche Werte tragenden, vorher ganz unausdenklichen Leben und Fruchtbringen die Bedingungen bereitete.

Dass niemand diese Frage theoretisch beantworten kann, erleichtert nicht den Druck, mit dem sie uns Tag und Nacht bedrängt, aber es gibt der praktischen Aufforderung Raum, alle unsere Kräfte einzusetzen, dass nicht die unsinnige, sondern die sinnvolle Seite der Alternative Wirklichkeit werde.

Für ihren Druck freilich bedeutet auch dies nur Umlagerung, nicht Verminderung.

Denn nun ist jeder unserer Augenblicke mit einer so ungeheuren Verantwortung beladen, wie kein Frieden sie kannte.

Im Frieden haben wir unsere Ziele und Aufgaben in deutlicher Nähe vor uns und nur für sie glauben darum die meisten von uns verantwortlich zu sein.

Mag die undurchdringliche Zukunft dann in derselben Weise für sich sorgen! jetzt aber sehen wir keine festen Umrisse, für deren Ausfüllung wir uns vorzubereiten hätten, sondern was uns an Aufgaben bevorsteht, streckt sich in das Undurchdringliche und deshalb für uns Grenzenlose.

Gewiss gilt wie sonst und mehr als sonst: Reif sein ist alles.

Allein die Welt, für die wir reif sein Sollen, wird eine neue, vielleicht noch von niemandem geahnte sein, von der wir nur wissen, dass wir mit jedem Tun und jedem Gedanken für sie, und dafür, dass sie einen Sinn habe, verantwortlich sind.

Freilich kann uns das Erlebnis Deutschland während des Krieges selbst ein hoffnungsreiches Symbol sein.

Niemals nämlich hat die Geschichte, die wir kennen, eine so ungeheure Spannung zwischen den negativen Werten einer Ursache und den positiven Werten ihres Erfolges verwirklicht.

Dass dieser Krieg von unseren Gegnern entfesselt wurde, war ein Wahnwitz und Verbrechen; was er aber in Deutschland bewirkt hat, an Kraftentfaltung und selbstloser Hingabe, an Begeisterung und Opferwillen - das steht von den Durchschnittswerten menschlichen Verhaltens ebenso weit ab, wie jenes andere nach der anderen Seite.

Damit ist nicht chauvinistisch hochmütig gemeint, dass alle Werte auf unserer Seite und alle Gegenteile auf der Seite der Feinde wären; in Frankreich mindestens scheint der Krieg gleichfalls ein höchstes Maß von Patriotismus, Opferbereitschaft und kriegerischen Tugenden ausgelöst zu haben, wodurch freilich das Verhängnis dieses Volkes nur um so tragischer wird.

Aber auch das französische Volk als Ganzes hat sicher den Krieg nicht gewollt, so sehr es auch mit dem Gedanken der Revanche gespielt hat - der indes seine Dienste als Fahne des nationalen Idealismus hinreichend tat, wenn er Gedanke blieb.

Bis zu einem gewissen Grade also vollzieht sich auch in Frankreich jene ungeheure Polarität der Werte, die unser deutsches Erlebnis ist: dass ein Krieg, den alle verbrecherischen Begierden und Frivolitäten entzündet haben, mit der reinsten Flamme weiterbrennt, in der das Trübe, Gespaltene, Selbstische des deutschen Lebens sich verzehrt hat.

Jedoch neben den Verlust der teuersten Menschen, von dem dieser Gewinn in unlösbarer Einheit bedingt ist, hat der Krieg einen anderen gestellt, der Verlust und nichts weiter ist: das geistige Einheitsgebilde, das wir »Europa« nannten, ist zerschlagen und sein Wiederaufbau ist nicht abzusehen.

Und es kann doch niemand im Ernst glauben, dass es etwa unter Ausschluss Deutschlands und Österreichs weiterbestehen wird! Um einen reinen Verlust, sage ich, handelt es sich; denn keineswegs ist dies etwa der Preis, um den eine größere Reinheit und Kraft des Deutschtums erlangt würde.

Diese wird zwar sicher der Erfolg des Krieges sein; allein was dafür preisgegeben wird, ist nur der Internationalismus - in seiner grotesken Steigerung das Globetrottertum -, der ein Mischmasch ist, ein charakterloses, grenzenverwischendes Hin und Her von Interessen und Gesinnungen, allenfalls ein Abstraktum aus vielen Nationen, gewonnen durch Absehen von dem eigentümlichen Wert einer jeden.

Die internationale Gesinnung und Wesensart, leider auch für viele Deutsche verhängnisvoll geworden, ist ein durchaus sekundäres Gebilde, das entweder durch bloßes Aneinandersetzen oder durch bloßes Weglassen entsteht, und ein Feind des wurzeleigenen nationalen Wesens.

Das Europäertum dagegen ist eine Idee, etwas durchaus Primäres, nicht durch Zusammensetzung oder Abstraktion erreichbar - gleichviel wie spät es auch als historische Macht auftauche.

Es steht nicht zwischen den Nationen, sondern jenseits ihrer und ist deshalb mit jedem einzelnen nationalen Leben ohne weiteres verbindbar.

Dieses ideelle »Europa« ist der Ort geistiger Werte, die der heutige Kulturmensch verehrt und gewinnt, wenn ihm sein nationales Wesen zwar ein unverlierbarer Besitz, aber keine blindmachende Enge ist.

Darum gehören Goethe und Beethoven, Schopenhauer und Nietzsche, so deutsch sie bis zum Grunde sind, doch zu den Schöpfern von »Europa«.

Diese Idee Europa, die feinsten Säfte des geistig Gewachsenen in sich einziehend, ohne es doch seinen heimischen Wurzeln zu entreißen, wie der Internationalismus es tut, ist nicht logisch oder mit bestimmten Inhalten festzulegen; wie die anderen »Ideen« ist sie nicht mit Greifbarkeiten zu erweisen, sondern nur in einer Intuition zu erleben, die freilich erst der Lohn langer Bemühungen um die Kulturwerte der Vergangenheit und der Gegenwart ist.

Dennoch, die überhistorische Höhe, in der metaphysische und künstlerische, religiöse und wissenschaftliche Ideen ihre Unangreifbarkeit finden, begrenzt nicht die Idee Europa.

Sie ist, was man eine historische Idee nennen könnte, ein geistiges Gebilde, das zwar über dem Leben steht, aus dem es sich erhoben hat, aber ihm doch verbunden bleibt und aus ihm seine Bedeutung und Kraft gewinnt.

Gewiss ist die Idee Europa, diese einzigartige Färbung eines Komplexes geistiger Güter, charakteristisch gesondert von der des griechisch-römischen Geistes im Altertum und der katholischen Weltidee des Mittelalters - gewiss ist sie unsterblich: aber sie ist verwundbar.

Gewiss kann sie nicht überhaupt verschwinden - aber sie kann unsichtbar werden, wie der Komet des letzten Sommers, der auch nicht aus der Welt verschwindet, aber vielleicht erst wiederkehrt, wenn wir alle längst verschollen sind.

Die Idee der Wahrheit verliert nichts an ihrem Bestand und ihrer Leuchtkraft, auch wenn wir alle irren, die Idee Gottes berührt es nicht, dass die Welt ihn nicht erkennt oder von ihm abfällt; aber die Idee Europa ist mit dem auf sie konvergierenden Bewusstsein europäischer Menschen in wunderbarer Weise verbunden, wie das Schiff mit dem Gewässer, das es trägt und mit dessen Austrocknen es zwar immer noch dieses Schiff bliebe, aber seinen Sinn, Güter und Werte in sich zu bergen und von Ort zu Ort zu tragen, verloren hätte.

Es genügt nicht, dass die Idee Europa nicht sterben kann: sie soll auch leben.

Und es ist männlicher, sich einzugestehen, dass sie das für absehbare Zeit nicht wird; und diese Einsicht wird vor allem der schmerzlichen Enttäuschung gewisser vager Hoffnungen vorbeugen, die schon hier und da in der heutigen Literatur auftauchen.

Zu weit hat der europäische Hass die Geister getrennt, zu entschieden sind die Sympathien auch der Neutralen parteimäßig aufgeteilt, als dass sie die Zuflucht der Idee Europa sein könnten; zu misstrauisch und voneinander enttäuscht wird - davon sind wir wohl alle überzeugt - der Krieg auch unsere Gegner zurücklassen: der gemeinsame Hass gegen uns, der sie jetzt notdürftig und widernatürlich zusammenschweißt, wird nach Lösung dieser Spannung auf sie selbst, zwischen sie selbst zurückfluten.

Nein, die Glieder des Körpers, dessen Seele jene Idee war, sind so voneinander gerissen, dass er auf Gott weiß wie lange nicht mehr ihr Träger sein kann.

Europa hat den Begriff des »guten Europäers« verspielt, an dem wir Älteren, gebend und nehmend, teilzuhaben glaubten, sicher, dadurch in keiner Weise international, kosmopolitisch - oder wie all die wohlklingenden Übertäubungen der Entwurzeltheit heißen - zu werden, sondern gerade dadurch im Tiefsten deutschen Wesens zu sein.

Denn wie es das Wesen des Lebens ist, über das Leben hinauszugreifen, wie der Geist am vollsten er selbst ist, wenn er das berührt, was mehr als Geist ist - so scheint das Sichstrecken über das Deutschtum hinaus gerade zum Wesen des Deutschtums selbst zu gehören.

Gewiss sind uns daraus unzählige Gefahren, Ablenkungen und Einbußen gekommen: so mancher deutsche Baum ist verdorrt, weil man seine Wurzeln aus dem heimatlichen Boden herausgrub, aus Besorgnis, sein Wipfel möchte sonst nicht nach »Europa« hineinragen.

Jedoch diese Selbstmissverständnisse sollen uns nicht darüber täuschen, dass die europäische Sehnsucht dennoch aus der echten Wurzeltiefe der deutschen Seele stammt.

Gerade hierin liegt aber unser Trost, wenn nun auch die Idee Europa in unseren Verlustlisten steht und von ihr nur dasselbe, was von all den geliebten Namen in diesen bleibt: Erinnerung und Mahnung.

Die Idee Deutschland wird die Universalerbin der Kräfte, die nach jener sich hinstreckten, wie von so manchen anderen, die unser früheres Leben sich in zu große Enge oder in zu große Weite verlaufen ließen, und die nun in ihre Quelle zurückgeleitet werden, um von neuem aus ihr zu entspringen.

Aber eben weil wir wissen, dass das Europäertum kein äußeres Hinzufügsel zum Deutschtum war, dass dieses Übersichhinausleben seinem innersten, eigensten Leben angehörte - darum wissen wir, dass das in seinen eigenen Grenzen erstarkte, in sich immer echter gewordene Deutschtum an einem fernen Tage der Idee Europa ein neues Leben, mächtiger und weiter wohl als alles frühere, geben und sie an ihre Unsterblichkeit erinnern wird.

Es ist, wie wenn einem Sohn sich sein Haus verschließt, vielleicht in Entzweiung und Bitterkeit; nun scheidet sich, was von seinem Wesen dorther kam und dorthin ging, von dem, was er wirklich allein ist, und auf dessen Energie und Wachstum seine Zukunft steht.

Einmal aber kommt der Tag, an dem Versöhnung die Türen wieder öffnet und an dem er mit einem Reichtum zurückkehrt, wie nur die auf sich selbst angewiesene Kraft ihn gewinnen konnte; und die wiedererwachte Stimme des Blutes sagt ihm und den anderen, dass, was er in der Getrenntheit und nur für sich erarbeitete, von seiner tiefsten Quelle her dazu bestimmt war, in die alte, neuerstandene Gemeinsamkeit zu münden.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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