Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: »Werde, was du bist«

ex: Der Tag, Nr. 29 1, 10. Juni 1915, Morgenausgabe, Illustrierter Teil, Nr. 133 (Berlin)

All die innerdeutschen Gewinne und Wandlungen, von denen wir einen Ersatz für die unsäglichen Opfer dieses Krieges erhoffen, scheinen mir ihr tiefstes Wesen darin zu haben, dass sie nicht, wie Eroberungen, eine gleichsam äussere Hinzufügung von Neuem, unserem Leben bisher ganz Unverbundenem bedeuten.

Sondern wie Früchte sind sie, die schon lange vor der Reifung standen, vielleicht noch lange vor ihr gestanden hätten; nun aber hat Glut und Kraft dieser Zeit alle Säfte des deutschen Lebens in sie getrieben und gesammelt und hat zu äusserer Wirklichkeit gereift, was längst innere Notwendigkeit war.

So etwa haben wir alle gefühlt, dass unsere politischen Parteien und ihr gegenseitiges Verhältnis dem wirklichen Leben und Willen unseres Volkes nicht mehr entsprachen. Aber noch lange wären die Parteien in ihren eingefahrenen Gleisen weitergelaufen, wenn der Krieg nicht alle solche überpflügt hätte.

Und nun dürfen wir hoffen, dass, wie unter dem morschen Blatt schon der neue Keim sich bildet, dessen Triebkräfte nur warten, dass jenes sich löse, die parteibildenden Interessen und Gesinnungen eine neue Ordnung aus sich formen werden - deren Gestalt wir zwar heute noch nicht ersehen; aber sie wird den Willen des Volkes wirklicher ausdrücken, und der Krieg braucht nur die Hülle der alten abzustreifen, unter der sie gereift ist.

- Gewisse Parteien der geistigen Lebensrichtung haben sich in den letzten Jahrzehnten nicht weniger überlebt, ohne dass vor dem Kriege der rechte Anstoss zu ihrer endgültigen Beseitigung sich gefunden hätte. Unser Leben litt unter den Gegensätzen einer materialistischen und einer ästhetisierenden Führung.

Vielleicht war der Materialismus der zuerst unvermeidliche Schatten unserer wirtschaftlichen Entwicklung - der dann als seinen nicht minder extremen Gegenschlag die blasse Überfeinerung des Ästheten hervorrief.

Es besteht eine tiefe innere Verbindung zwischen der zu nahen Fesselung an die Dinge und dem zu weiten Abstand, der uns mit einer Art von »Berührungsangst« ins Leere stellt.

Wir wussten längst, dass wir an beiden zugleich krank und doch zur Gesundung reif waren, die wir nun von der Krisis des Krieges ersehnen.

Für wen hundertmal die Frage der Stunde zwischen Leben und Tod stand, oder wer auch nur zu Hause Tag für Tag von dem unbedingten Schicksal dieser Zeit erfüllt war, der hat erfahren, wie wenig das Leben auf das bloss Materielle der Dinge und wie wenig es auf den blossen Reiz ihrer Form zu stellen ist.

Wenn überhaupt irgendein innerer Erfolg des Krieges uns sicher ist, so ist es dieser, dass unzählige von uns mehr als bisher am Wesentlichen leben werden; wer an irgendeinem Punkt seiner Existenz ein Wesentliches besass, an dem müssen die Erschütterungen dieser Zeit es gereift und herausgebracht haben, nachdem die Vergangenheit es nach jenen beiden Polen hin zu zerstreuen drohte.

Solche Verwirklichung des innerlich schon Entschiedenen - dass gleichsam der Schluss wirklich gezogen wird, der in den lange gewonnenen Prämissen ideell enthalten ist - scheint sich auch auf religiösem Gebiet vorzubereiten, wo freilich die in den Tiefen des deutschen Geistes - des Ganzen und der Individuen - vollzogene Entscheidung ihrem Inhalt nach noch ganz dunkel ist.

Wir kennen alle den grossen Gegensatz, der die Religiosität der Zeit spaltet und nur die schlechthin irreligiösen Gemüter und die Anpassungschristen nicht berührt: zwischen dem Christentum und einer Religion, die jeglichen historisch gegebenen Inhalt ablehnt, sei es als ein Monotheismus, der sich in keinerlei Dogmen fortsetzt, sei es als Pantheismus, sei es als eine rein innere, von jedem Glaubensinhalt absehende Gestimmtheit des Gemütes.

Die Zeit, in ihrer allgemeinen religiösen Toleranz, drängte nicht zur Entscheidung und liess es, wenn ich mich nicht täusche, häufig dazu kommen, dass unter dem oberen Bewusstsein, das sich der einen Richtung hingegeben glaubt, in der Tiefe doch die andere ihr altes oder ihr neues Leben als das eigentlich kräftige und bestimmende führt.

Unverkennbar nun haben die religiösen Innenmächte durch den Krieg Belebung und Steigerung erfahren, bis zu einem Grade, der einem jeden einen Entschluss darüber abfordert, auf welchem absoluten Grunde er denn nun eigentlich steht.

Die friedlichen Zeiten der allmählichen Übergänge, der Mischungen, des angenehmen Halbdunkels, in dem man sich auch den einander ausschliessenden Gegensätzen abwechselnd hingeben kann, dürften vorbei sein.

Die Entschlossenheit, mit der das deutsche Volk seit drei Viertel Jahren seinen Weg geht, wird hoffentlich auch in dieses Gebiet innerster Entscheidungen weiterstrahlen.

Nirgends aber trifft sie auf einen so »faulen Frieden« wie im religiösen Gebiet, wo alles rein in das Innere des Individuums gelegt ist und wo einerseits wirkliche Christen aus einem gewissen »Bildungs«tick heraus, eine undogmatisch pantheistische Haltung annehmen, andererseits entschieden Ungläubige sich durch »symbolische« Umbildung der christlichen Grundlehren noch eine Art Christentum selbst einreden.

Es ist mir nicht wahrscheinlich, dass wir sobald einen Kampf beider Parteien erleben werden.

Und zwar gerade deshalb nicht, weil jeder reifere Mensch die Entscheidung schon lange vollzogen haben dürfte und nur in der eigentümlichen kulturellen Weitherzigkeit, die unsere Lage zu erlauben oder zu fordern schien, diese Entscheidung oft noch mit der entgegengesetzten mischte oder verhüllte.

Dies aber gestattet eine Zeit nicht mehr, in der sich alles aufwühlt, was an religiöser Tiefe in den Menschen ist.

Gleichviel welche Masse des einen und des anderen wir erleben werden und ob diese Masse überhaupt äusserlich fassbar sein werden: in den Menschen wird das zur Herrschaft Reifgewordene seine Herrschaft auch antreten. Der Krieg wird keine neue Religion schaffen.

Aber seine Erschütterungen, die an so vielen Punkten das Unwesentliche abfallen und das echt Gewachsene sich offenbaren lassen, werden das, was dem einzelnen wirklich seine Religion ist, jenseits der Überdeckungen und blossen Abfärbungen stellen, mit der Entschiedenheit, die wir an der Besinnung des Deutschtums auf sich selbst jetzt allenthalben erleben, und deren reine Formen allen engen oder aggressiven Chauvinismus ablehnen, weil gerade er noch aus der Unsicherheit des Selbstgefühles hervorgeht.

Gerade er ist auch noch eine der Hüllen, die der Reifeprozess dieses echten Selbstgefühles durchwachsen wird - wenn nicht überall in dem Kriege von heute, so doch in seinen Folgen von morgen.

Die entschiedenste Offenbarung längst gefällter, aber nicht vollstreckter Urteile aber betrifft die Scheidung zwischen dem, was in Deutschland noch lebens- und zeugungsfähig ist, und dem, was an die Vergangenheit angenagelt und ohne Recht an die Zukunft ist: Menschen und Institutionen, Weltanschauungen und Sittlichkeitsbegriffe.

Die behagliche Ungestörtheit des Friedens mag es sich leisten können, das Überständig-Gewordene, innerlich Abgestorbene noch mitzurechnen, es mittels allmählicher Übergänge mit dem wirklich Lebendigen zu vereinheitlichen.

Mit der Härte und Entschiedenheit, zu der der Krieg unser Dasein ausgehämmert hat, verträgt sich dies nicht länger, er stellt alle und alles vor ein unbarmherziges Entweder-Oder von Wert und Recht und lässt nur noch Raum für das wahrhaft Keimkräftige und Echtgebliebene; was unserem bevorstehenden Leben, dem wir kaum mit dem Alleräussersten von Kraft und Leistung werden genügen können, sich nicht mehr fördernd einfügt, muss ausgestossen werden, in die Not und Arbeit unserer Zukunft können wir nicht mehr mitschleppen, was uns der Kräfteüberschuss der weniger beanspruchenden Vergangenheit zu konservieren erlaubte.

Dass unsere Siege das Opfer jener herrlichen alten Kathedralen forderten, das ist, freilich ins schmerzhaft Groteske übertrieben, dennoch ein Symbol dessen, was uns bevorsteht.

Wer nicht mitbauen kann an dem neuen Deutschland, muss beiseite stehen, welche Menschen und Dinge innerlich schon gerichtet und unfruchtbar geworden sind, an denen vollzieht der Krieg nur den Richterspruch.

Denn seine Erschütterungen schütteln die Bäume, dass abfällt, was überreif ist und nur lässiger Duldsamkeit noch frisch erschien.

So hat sich in Deutschland vieles mit rein innerlich gebliebener Notwendigkeit entwickelt und ist gereift, ohne dass es doch seine Hülle sprengen konnte.

Dass dieser Krieg sie zerreisst, dass er nur der unerwartet rasche Überbringer dessen, was in unserer Vergangenheit ja eigentlich schon gewachsen war, an die Zukunft ist - das zeigt seinen im Tiefsten organischen Charakter, im Gegensatz zu allem mechanischen Wesen, das jeden Eroberungskrieg, jeden Krieg aus äusserlicher Begehrlichkeit erfüllt.

Jeder unserer Feinde will von ihm solches Äussere: Russland die Ostsee und Konstantinopel, Frankreich das Elsass und die Revanche, England die Unumschränktheit seiner Seeherrschaft.

Wir, die wir weder etwas von ihm noch, eben deshalb, ihn selbst gewollt haben, gewinnen von ihm, was wir schon haben - aber bisher gehabt haben, »als hätten wir es nicht«; denn Unendliches ist reif, ist innerlich fertig, ist seinem eigentlichen Wesen nach schon da und gewonnen - aber ohne dies Schicksal wären wir vielleicht noch lange nicht gezwungen worden, es wirklich und offenbar zu machen, unserm Leben die Form zu geben, die in seinen Inhalten schon vorgebildet lag.

Wahnwitz und Verbrechen haben diesen Krieg entfesselt; unsere grosse Hoffnung aber ist, dass er an Deutschland vollbringe, was man als die Formel aller Sittlichkeit angesprochen hat: »Werde, was du bist«.

Aber es scheint das Schicksal des Menschen zu sein, dass er nicht von selbst, in der Ruhe selbstgenügsamen Wachstums, das werde, was er seinem tiefsten, sinngemässen Sein nach schon ist; sondern dass es, mehr als zu irgendeinem äusseren Gewinne, des Kampfes, der Not, der Gefahr bedarf, damit er sich selbst finde.


 

Editorial:

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