Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Goethes Gerechtigkeit

ex: Der Greif. Cotta'sche Monatsschrift, herausgegeben von Karl Rosner und Dr. Eduard v. d. Hellen, I. Jg-, 1913/1914, Zweiter Band April 1914 bis September 1914, S.381-387(= Heft II vom August 1914), Stuttgart und Berlin: J.G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger

So unbestimmt und mit so vielen Gegensätzen geladen der Begriff sein mag, den wir als den »deutschen Geist« und seine Entwicklung benennen – im Bezug auf Goethe scheint diese letztere sich in einer beinahe einheitlichen Richtung zu bewegen: Goethe, mit dem einige noch jetzt Lebende die gleiche Luft geatmet haben, beginnt die Züge des mythischen Heros anzunehmen, wie es im Bezirke der Geistigkeit jenseits des Religiösen vielleicht nur noch mit Homer geschehen ist.

Seine Leistungen spannen sich so weit auseinander und nach so vielen Dimensionen, dass wir, um seine Persönlichkeit als die Einheit von all diesem zu erschauen, sie gleichsam in eine ungeheure Distanz rücken müssen.

Damit aber verschwinden dem Blick gerade die Individualisiertheiten, Zufälligkeiten, Lücken im Umriss seiner Gestalt.

Schon jetzt gewinnt diese eine Abgerundetheit und sozusagen eine Absolutheit, die sie den empirischen Maßen und Formen leise zu entrücken beginnt.

Die alltägliche Auffassung und die auf tiefere Kenntnis gegründete unterscheiden sich dabei nur insoweit, als jene das Goethesche Bild auf einen Ton abzustimmen pflegt: auf Harmonie, Künstlertum, Daseinsfreude, souveräne Lebenskultur -während die andere überall die polar gespannten Gegensätze in seiner Existenz sieht und deren einzigartige Vollkommenheit als fortwährenden Kampf und Überwindung, Unendlichkeit des Strebens und unbenennbare, über alle Einzelqualität erhobene Formeinheit seines Wesens deutet.

Die Struktur dieses Lebens lässt sich an unzähligen Gegensatzpaaren aus dem geistig-seelischen Bereiche aufzeigen; nur an einem einzelnen dies anzudeuten, sei den folgenden Zellen gestattet.

Die geistige Gesamthaltung Goethes zu Welt und Menschen führt zu der Vorstellung, dass in ihm eine sozusagen absolute Gerechtigkeit war.

Eine solche entspricht zunächst seiner metaphysischen Überzeugtheit von der gleichmäßig einheitlichen Göttlichkeit alles Seins.

Wer jede einzelne Erscheinung als Offenbarung des Absoluten empfindet, nicht nur denkt – für den entfällt eine sozusagen formale Voraussetzung der Ungerechtigkeit: die Scheidung in Schafe und Böcke.

Er kann konsequenterweise gar nicht mit parteimäßigem Radikalismus irgendeine Erscheinung schlechthin verdammen; und wäre eine solche Verdammung auch tatsächlich gerecht, so gibt sie prinzipiell doch die Möglichkeit einer so absoluten Ungerechtigkeit, wie sie eben bei pantheistischer Verneinung jedes absoluten Wertdualismus im Dasein nicht stattfinden kann.

Mit einem ganz ins allgemeine hinsehenden Gleichnis sagt er: der Mensch wird »eher die Entstehung der Distel, die ihm die Arbeit auf seinem Acker sauer macht, dem Fluch eines erzürnten guten, der Tücke eines schadenfrohen bösen Wesens zuschreiben, als eben diese Distel für ein Kind der großen, allgemeinen Natur zu halten, das ihr ebenso nahe am Herzen liegt wie der Weizen«.

Und es ist doch eigentlich nur eine positive Symbolik des gleichen Gedankens, wenn er, dreißig Jahre später, von einer Fortsetzung des Faust spricht, »wo der Teufel selbst Gnade und Erbarmen vor Gott findet«.

Mit dieser Attitüde, soweit sie für Goethe aus seinem Pantheismus folgt, ist nicht etwa Toleranz gemeint; denn diese setzt ja gerade ein objektiv Verwerfliches voraus, das nur vom Subjekte und aus subjektiven Gründen ertragen wird.

Es wird vielmehr der Standort für das urteilende Verhältnis in einer Idee des Göttlichen genommen, deren Allumfassung eine absolute Wertdifferenz der Erscheinungen, eine apriorische Verwerfung irgendwelcher, überhaupt nicht zulässt, sondern eine gemeinsame Distanz, oder, wenn man will, einen gemeinsamen Boden schafft, auf dem eigentlich erst der relative Wert und der relative Unwert der einzelnen abgewogen werden kann.

Höchst eigentümlich ist dies Streben nach Gerechtigkeit in seiner Jugend, wo doch seine Werturteile von äußerster Leidenschaft sind: er erzählt selbst im Alter, er habe früher Bilder, die ihm verkehrt vorkamen, an der Tischecke zerschlagen, Bücher habe er manchmal zerschossen und ingrimmig dazu gerufen: Das soll nicht aufkommen! Dennoch sucht er schon damals die höchste Gerechtigkeit von dem Gedanken einer höchsten Werteinheit her, der ihm, unter Spinozas Einfluss, alles Wirkliche auch als vollkommen erscheinen lässt.

Und eben derselbe veranlasst ihn, mit derselben Tendenz, aber höchst bezeichnendem Unterschied der Altersstufen, in der Jugend zu sagen: »Ist das Böse nicht gut und das Gute nicht bös?« - und im Alter: »Warum denn immer bös und gut? Müssen wir nicht mit uns selbst wie mit andern vorlieb nehmen, wie die Natur uns hat hervorbringen mögen?« Er negiert den Radikalismus des Unterschiedes, zuerst in dem Temperament der Jugend, indem er die Gegensätze in eine Einheit zusammenballt, dann in dem resignierenden Alter, indem er von ihnen zurücktritt.

Und von vornherein ist eines der tiefsten Gerechtigkeitsmotive in ihm wirksam: die Anerkennung der Individualität.

Es ist seine metaphysische Überzeugung, dass der einheitliche Naturgrund sein Leben in der Hervorbringung fortwährend wechselnder, in ihrer Gestaltung unvergleichbarer Wesen zeige.

Er nennt es die höchste und einzige Operation der Natur, dass »ein jedes ein Besonderes werde, sei und bleibe«.

Darum hat, wie er sagt, »jedes Individuum vermittelst seiner Neigungen ein Recht zu Grundsätzen, die es als Individuum nicht aufheben«.

Leidenschaftlich bekämpft er den einseitig Urteilenden, der auch den von Natur anders Gerichteten über den eigenen Kamm schert, der nicht anerkennen will, dass das verschiedene Sein der Menschen auch verschiedene Handlungsweisen, Wertungen, Gläubigkeiten zur notwendigen Folge hat.

Dies ist bei ihm keineswegs schlaffe Toleranz, die ihm mit ihrem bloß negativen Wesen sehr fern lag, sondern die starke, positive Überzeugung, dass mit jedem Menschen ein natürliches Recht auf seine Individualität geboren ist, auf das Rücksicht zu nehmen die erste Bedingung aller Gerechtigkeit sei.

Und wenn er im Alter einmal sagt, dass er lieber eine Ungerechtigkeit begehen als eine Unordnung dulden wolle, so ist ganz klar, dass diese »Unordnung« eine Verletzung der höheren und allgemeinen Gerechtigkeit ist, die »Ungerechtigkeit« aber nur einem Individuum gilt, das freilich jener gegenüber nachgeben muss.

Dies lebenslange Streben zur Gerechtigkeit - er fordert, mit deutlicher Beziehung auf sich selbst, für gerechtes Urteilen eine »unausgesetzte, leidenschaftlich durchgeführte Übung« - ruhte allerdings wohl auf der Stärke des theoretisch-intellektuellen Elementes in seiner Natur.

Man kann sich nicht denken, dass leidenschaftliche Künstlertemperamente, denen die Goethesche Wissenschaftlichkeit fern lag, Michelangelo, Rembrandt, Beethoven dieses bewusste Interesse an das Gerechtigkeitsideal gesetzt hätten.

Unter den großen Menschheitsforderungen hat, abgesehen von dem Ideal der Erkenntnis selbst, die der Gerechtigkeit am meisten einen theoretischen Zug, mit dem sie sich natürlich keineswegs erschöpft; aber sie ist unter allen praktischen Werten das Lieblingsideal des theoretischen Menschen.

Dass diese Konstellation in irgendeinem Maße der Gerechtigkeitstendenz Goethes zugrunde lag, hat Schiller offenbar empfunden, indem er ihm in Indignation über einen Angriff Schlossers schreibt: »Sie, der die Menschen besser kennt, erklären sich vielleicht richtiger und natürlicher durch eine natürliche Beschränktheit, was ich, der die Menschen gern verständiger annimmt, als sie sind, mir nur durch eine moralische Unart erklären kann.«

Auf welche innere Struktur dies aber auch weise - der Erfolg war, dass Goethe der größte aller Ja-Sager war; sein ganzes Leben war, hinsichtlich anderer Menschen und ihrer Leistungen, auf Gerechtigkeit mit dem Willen zur Anerkennung gestellt.

Denn auch dem gerechtesten Individuum pflegt man anzumerken, ob seine tiefste Tendenz, seine eigentliche Spontaneität (auch wo sie sein tatsächliches Urteil gar nicht beeinflusst) auf Verwerfen oder auf Anerkennen geht.

Vielleicht gibt es keinen Großen, der andere Menschen in solchem Maße anerkannt hätte; und dass er von sich selbst sagt, das einzige ihm absolut fernliegende Laster sei der Neid, ist nur ein sehr negatives und sekundäres Phänomen für seine lebenslange Leidenschaft, gerecht zu sein und, als Resultat davon, anzuerkennen.

»Ich hasse die Leute,« sagte er mit 82 Jahren, »die nichts bewundern (nämlich menschliche Leistungen); denn ich habe mein Leben damit hingebracht, alles zu bewundern.«

Dieser Zug, dessen Wichtigkeit für das ganze Bild der Goetheschen Existenz solche Ausführlichkeit rechtfertigt, findet nun aber innerhalb dieser Existenz die frappierendsten Gegenteile.

Er, der in der Kunst alles, was es Großes gab, mit der größten Intensität zu begreifen und zu würdigen sucht, hat, sobald die Klassik in seinen Gesichtskreis trat, die Gotik verachtet, hat von Dantes »widerwärtiger, oft abscheulicher Grossheit« gesprochen, hat für Michelangelo nach ganz kurzer Beeindrucktheit eigentlich keine Augen gehabt, ist durch Italien gegangen, ohne die Frührenaissance sozusagen eines Blickes zu würdigen; er hat Mozart über Beethoven gestellt, hat die Zeltersche Musik gepriesen und Schubert als nicht vorhanden betrachtet; er hat so und so viele mittelmäßigste Talente ermutigt, in einer uns oft unbegreiflichen Weise, und hat Jean Paul, Hölderlin, Kleist abgelehnt! Dies alles ansehend muss man gegenüber jener absoluten Gerechtigkeit, die sein Bild zu zeigen schien, fast sagen, er sei einer der ungerechtesten Menschen gewesen.

Die Polarität, die er an jedem Daseinspunkte sah, hat sich zwischen seiner Gerechtigkeit und seiner Ungerechtigkeit in einer, vielleicht nicht für ihn selbst, aber für andere und für die von ihm bestimmte Kultur tragischen Weise verwirklicht.

Und nun ist das Merkwürdige, das gar nicht rationell, sondern nur in einer gewissen Intuition seines Gesamtlebens begreiflich wird, dass auch jene Falschurteile, ersichtlich der Intention seines Lebens äußerst entgegengesetzt, dennoch dessen einheitliches Bild nicht zerstören.

Nicht als ob sie irgendwie gerechtfertigt werden sollen; sie müssen durchaus als unverlöschte Gegenwertigkeiten in seiner Existenz stehen bleiben.

Denn gerade, dass wir diese ungeheuren Kontraste nicht aus seinem Leben wegdenken können, offenbart die ungeheure Einheitlichkeit dieses Lebens, das, obgleich es sich ganz jedem Inhalt hingab, doch wieder von diesen Inhalten in ihrem Selbstsinne, oft auch in ihrem Selbstwerte, ganz unabhängig war.

Gerade, dass er sein volles Leben in die jeweiligen Inhalte hineinlebte, gab allen diesen, als seine Lebensäußerungen angesehen, eine Einheitlichkeit, die sie, logisch oder in irgendeiner anderen Hinsicht betrachtet, niemals zeigen könnten.

Die Stärke des Goetheschen Lebens, das gerade als Lebensprozess alle Gegensätze seiner Inhalte in seine Einheit fasste, zeigt sich damit wieder in jener Verwurzelung und Analogie mit dem, was wir, mit allen Vorbehalten, Wesen und Grund des Daseins überhaupt nennen müssen.

Auch innerhalb der objektiven Welt sah Goethe eine unerhörte Gespanntheit von Gegensätzen der Inhalte und der Werte.

Alle Dinge leben für ihn in einer unaufhörlichen Entzweiung mit sich selbst und mit anderen, die sich unaufhörlich versöhnt, um sich wieder zu spalten.

Und ebenso sieht er Hohes und Niedriges, Gutes und Böses überall nebeneinander und durcheinander.

Aber alles dies ist Einheit, weil es nicht für sich bestehende selbstgenügsame Daseinsstücke sind, nicht Sackgassen, in die sich die Wirklichkeit verrannt hat, um jedes Mal in ihnen definitiv stillzustehen, sondern weil es Pulsationen eines Lebens sind.

»Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur.« Will man diesen Satz recht verstehen, so muss der Ton auf »Leben« liegen.

Und dessen Einheit wiederum darf nicht so verstanden werden, als setzte sie sich schlechthin der »Entzweiung« entgegen, sondern dass sich das Geeinte entzweit, das Entzweite vereint, das sind die Seiten der übergreifenden Lebenssynthese, der allumfassenden Einheit des Daseins, die überhaupt keine zu versöhnende Entzweiung sich gegenüber hat.

Solange dieser Gegensatz noch besteht, diese sich wechselseitig sinngebende Relativität von Einheit und Getrenntheit - solange ist die absolute Einheit des göttlich-natürlichen Lebens noch nicht erschaut, für die die Einheit in jenem noch gegensätzlichen, noch parteimäßigen Sinne nur eine Äußerung ist und die Trennung der Elemente die andere, beides zusammen aber, mit dem Gleichnis, das Goethe so gern braucht, nur wie Einatmung und Ausatmung, die zusammen erst das Atmen des Lebendigen sind.

So allein war es möglich, dass er an keinem Stück der unendlich gespaltenen, unendlich wertverschiedenen Welt den Geist, die Kraft des Göttlichen vermisste.

Es war doch auch der Zauber seines eigenen Lebens, durch den er all dessen Gespanntheiten Überwand, dass wirklich jeder Augenblick oder jede Leistung die jeweilige Form war, in der sich sein Leben überhaupt bot - dieses Leben, dessen Gesetz freilich ein fortwährendes Sichwandeln, oft ein Schwanken zwischen äußersten Ausschlagpolen war.

Goethe, der dem oberflächlichen Blick ein unaussprechlich zerspaltendes Dasein bietet, eine harte Isolierung zwischen seinen Vorder- und Hintergründen, sagt, offenbar aus dem tiefsten Gefühl seiner selbst heraus: »Teilen kann ich nicht das Leben, Nicht das Innen noch das Außen, Allen muss das Ganze geben.« Er gab allen das Ganze, aber er gab es auch allem, jeder Aufgabe, jedem Gedanken, jeder innerlichen oder auch äußerlichen Situation.

Was wir aus dem Tiefsten des Goetheschen Lebens heraus lernen können, ist dies, dass die entschiedenste Einheitlichkeit eines Lebens durchaus nicht an das gleichsam substantielle Verharren und Durchhalten von irgendwelchen Inhalten, ja sogar von Charakterzügen gebunden ist.

Dass das Leben eine unaufhörliche Bewegtheit ist, ist freilich eine Banalität - allein voller Ernst wird mit dieser Erkenntnis keineswegs häufig gemacht.

Immer noch scheint die Einheit eines Lebens dadurch bedingt, dass unter dem Wellenspiel einer fortwährend bewegten und wechselnden Oberfläche irgend etwas Festes und umgeändert Bleibendes liegt, das eben der eigentliche Träger der »Einheit« ist.

Aber gerade dadurch wird ja das Leben in sich gespalten, jeder seiner Momente in zwei ganz verschieden rhythmisierte Reihen zerlegt.

Nur dadurch, dass jeder Augenblick mit seinem vielleicht völlig neuen Inhalt das ganze Leben ist, d. h. dass das Leben die Form hat, sich als Ganzes kontinuierlich zu wandeln und zu entwickeln - nur dadurch ist es Einheit; es muss in den Wandel seiner Momente auch wirklich jeweils ganz eingehen, es kann nicht irgendeine Starrheit tieferer Schichten diesem Wandel entziehen, um an sie seine Einheit zu knüpfen.

Erst wenn man einsieht, dass die absolute Stetigkeit eines absoluten, d. h. die Ganzheit des Lebens erfassenden Sichwandelns die eigentliche und einzige Einheit dieses Lebens ist, hat man den Goetheschen Begriff des Lebens erfasst, wie er selbst es verstanden und gelebt hat.

Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind auch nur relative Gegensätze, die, wenn man will, in diesem Dasein von einem höchsten Begriffe von Gerechtigkeit umspannt werden, für den es keinen Gegensatz mehr gibt - jenem, den man nach seinem vollendeten, über alles empirische Plus und Minus hinausgewachsenen Wesen die »Gerechtigkeit vor Gott« nennen könnte.

Dann, alle Begrenztheit und alles Fragmentarische des Menschseins vorbehalten, über das kein Geborener hinwegkann, scheinen mir alle Widersprüche, alle Bedeutungen und Gegenbedeutungen der Goetheschen Existenz von einem Strahl des so zu bezeichnenden Wertes getroffen zu sein und uns eine ferne Ahnung seines Sinnes zu geben.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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