Georg Simmel:
Henri Bergson
ex: Die
Güldenkammer, 4. Jg. (= Heft 9 vom Juni 1914), S- 511 - 525 (Bremen)
Der tiefste Kern jeder
geistigen Verfassung offenbart sich, sobald die Bewegung des Denkens, das
unruhige Fragen nach der Bedeutung, der Herkunft, der Begründung des
Wirklichen und Gedachten an einem Begriff gelandet ist, gegen den all jene
Fragen nicht mehr gerichtet werden.
In der Vorstellung des
einzelnen, des Kreises, der Kulturepoche ruht, mehr oder weniger deutlich,
ein solcher Begriff, auf den alle Gedankenwege, als suchten sie erst an
ihm ihre Orientierung, zugehen, während er selbst der schlechthin
selbstverständliche, keiner Fundierung bedürftige und fähige ist.
Denn er ist der Ausdruck
der jeweiligen Art und Gerichtetheit des geistigen Wesens, die dieses
selbst als letzte Tatsache vorfindet und die nicht bewiesen werden kann,
weil sie nicht widerlegt werden kann.
Diese unbegründeten
Grundbegriffe sind die Punkte, an denen das Denken und das Sein des
Denkenden sich treffen.
So zeigte der griechische
Geist seine Struktur an der Idee der Substanz, einer festen, unveränderlichen
Wesenheit und ihrer Formen.
Die Aufgabe des Denkens
schien mit der Zurückführung der Erscheinungen auf ein Zeitlos-Unveränderliches
gelöst, ohne dass dieses selbst nach seiner Legitimation gefragt wurde.
Die Verehrung der
plastischen Form, wie sie diesem Geiste, in seiner unvergleichlichen
Einheit von Rationalismus und Künstlertum eignete, ist das Symbol davon,
wie hier der Begriff des substantiellen Seins und seiner ewigen Formen zur
abschließenden Unfraglichkeit des Weltbildes wurde.
An diese Stelle setzte das
Christentum den Begriff Gottes und der gottgesetzten Ordnung der Dinge.
Ich lasse hier
dahingestellt, wie viel von jenen griechischen Grundbegriffen darin
weiterwirkte.
In jedem Falle hat der
Begriff, an dem das Fragen aufhört, innerhalb der christlichen
Weltanschauung ein größeres Quantum Leben in sich aufgenommen, als der
griechische Seinsbegriff.
Dann tritt mit dem Ende der
Renaissance ein anderer Begriff als der letzte hervor: die Natur und die
Gesetze ihrer mechanischen Bewegung.
Jetzt ist die wahre
Wirklichkeit nicht mehr die schlechthin feste, die granitne Ewigkeit des
Seins, wie bei den Griechen und eigentlich auch am Gottesbegriff, -
sondern sie ist eine in jedem Augenblick veränderte, und so sind denn nun
die Gesetze dieser Veränderungen das Definitive, Allentscheidende.
Wo sie selbst herkommen,
kann nicht mehr gefragt werden, und wenn sie aus dem Willen oder der
Wesenheit Gottes hergeleitet werden, so ist dies nicht mehr in der
Struktur jener Begriffe selbst angelegt, sondern entstammt einer
prinzipiell anderen und jetzt nur überlieferten Problemstellung.
Nun aber scheint mit dein
20. Jahrhundert die mechanische Bewegung ihre Stelle als letzte Instanz
einem anderen Begriff einzuräumen: dem Leben.
Zwischen der metaphysischen
Ewigkeit der Substanz als dem nicht mehr begründbaren Grundbegriff und
dem modernen Begriff des Lebens offenbart sich die mechanische Bewegung
als Zwischenglied - als hätte das Denken, das selbst ein Leben ist, sich
zunächst ganz aus sich entfernt, um einen Halt, ein Objekt, eine Erlöstheit
zu gewinnen, und hätte erst auf dem Umweg oder über die Brücke der
naturgesetzlichen Bewegtheit hin den Mut zu sich selbst, sich selbst als
letztes Fundament des Daseins überhaupt gefunden.
Die Lebendigkeit des
Gottesbegriffes reichte, angesichts von dessen Transzendenz, nicht aus,
die Welt auf das Leben zu stellen; wo Gott wirklich ganz in sie eingeht,
wie in der Philosophie Spinozas, wurde sie eine rein mechanistische,
gerade absolut unlebendige.
Sie musste erst von der
modernen Naturwissenschaft restlos in Bewegtheiten aufgelöst werden, ehe
das Leben, das zunächst diesem gegenüber als das Einzelne, Sekundäre,
Zufällige erschien, sich als das Tiefere, Fundamentalere auftun konnte;
die mechanische Bewegtheit wurde selbst zum Problem, das der
Lebensbegriff, nun selbst nicht mehr Gegenstand einer Frage, von sich aus
lösen konnte.
Dies ist die große Absicht
Bergsons.
Sie stellt sich deshalb als
die Umkehrung des Weges dar, auf dem die moderne Wissenschaft den
Organismus, das seelische Leben, schließlich das Weltganze
wissenschaftlich zu erkennen sucht.
Dieser Weg geht von den
Teilen zum Ganzen, von gegebenen Elementen zu der Einheit, die sich aus
ihnen zusammensetzt.
Die Teilstücke eines
lebendigen Wesens sind chemisch und physikalisch bestimmt.
Physikalische und chemische
Wirkungen also, prinzipiell: die mechanistische Naturgesetzlichkeit, die
allen Erscheinungen außerhalb des Organismus die gleiche Notwendigkeit
auferlegt, besteht auch innerhalb des Organismus, oder vielmehr, ein
Organismus entsteht, indem mechanistische Wirkungen sich zusammenfinden,
und in einer außerordentlichen Komplikation der Gesetzmäßigkeiten,
die sie auch außerhalb des Organismus zeigen, den Lebensprozess erzeugen
und sich abspinnen lassen.
Von Bergsons kritischen Gründen
gegen diese Erklärung des Lebens scheint mir einer der für ihn
entscheidende und sein ganzes Weiterdenken begründende.
Wäre der Mechanismus für
die Welt und also auch für das Lebendige in ihr absolut gültig, so würde
ein mit hinreichendem Wissen ausgestatteter Geist die ganze Zukunft jedes
Wesens konstruieren können.
Das heißt, es würde jeder
Zustand eines materiellen Systems, des Weltganzen wie eines Organismus,
aus einem vorhergehenden zu berechnen sein.
Obgleich nun die Physiker
in solche Rechnungen den Zeitverlauf des Geschehens mit einsetzen, so ist
in Wirklichkeit die Zeit hierfür völlig gleichgültig.
Denn keine Formel, kein
Zustand würde sich ändern, wenn etwa alle Weltbewegungen auf einmal
doppelt oder tausendmal so schnell oder so langsam abliefen, als sie es
tatsächlich tun.
Jenes Auge, das alles überschaut,
würde deshalb mit einem einzigen Blick alle Gegenwart und Zukunft
erfassen, ihm wäre der ganze Weltprozess mit einem Male gegeben, und
jeder beliebige Abschnitt von diesem würde auch in der Tat in einem
einzigen Augenblick abrollen können, wenn nur die Geschwindigkeit, mit
der die einzelnen, auseinander berechenbaren Zustände einander folgen,
unendlich groß wäre.
An diesen Zuständen und
den Gesetzen ihrer Abfolge wäre damit gar nichts geändert.
Dies aber besagt
unmittelbar, dass das Leben auf
diese Weise nicht erfasst werden kann.
Denn für das Leben ist der
zeitliche Verlauf etwas durchaus Wesentliches und es würde vollkommen
aufgehoben sein, wenn man Jugend und Alter unendlich nahe aneinander rücken
wollte.
Es mag relativ schneller
oder langsamer verlaufen, d. h. ähnliche Zustände mögen sich bei
verschiedenen Wesen mit verschiedener Schnelligkeit folgen; aber die Zeit,
die nun einmal dem einzelnen Organismus zwischen Jugend und Alter
beschieden ist, kann absolut nicht abgekürzt werden; denn Leben heißt
Altern.
Hier ist die Zeit nicht mit
einzelnen Konstellationen ausgefüllt, die beliebig nahe aneinandergerückt
werden können, sondern mit einer stetigen Strömung, in der es überhaupt
keine festen, bestimmt begrenzten Zustände gibt.
Diskontinuierliche Punkte,
auf einer Linie gelegen, kann man näher und näher aneinander rücken.
Von der Linie selbst
dagegen kann ich zwar beliebige Stücke abschneiden, wodurch sie eine
andere Linie wird, aber sie in sich zusammendrängen, ist eine ganz
unvollziehbare Vorstellung.
So kann man Inhalten der
Zeit, nachdem man sie zu Einheiten isoliert hat, kleinere oder größere
Distanz geben, an ihr selbst aber ist dies nicht ausführbar und deshalb
ebenso wenig an dem Leben, das die Kontinuität der Zeit hat.
Jedes Entwicklungsmoment
eines Lebewesens ist mit einem bestimmten Augenblick eben dieser
kontinuierlichen Zeit absolut solidarisch verbunden, der ihm durch alle
vorangegangenen Momente zugewiesen ist.
Weil das Leben eine Einheit
ist, kann es nicht, wie eine Anzahl mechanisch aufgereihter Zustände,
zusammengedrängt werden.
Deshalb ist die Zeit für diese
ein leeres, gleichgültiges Schema, für das Leben aber die
unmittelbare Wesensform, die also aus jenen nicht herausgepresst werden
kann.
Das Zeitschema der Physik
ist überhaupt keine eigentliche ablaufende Zeit; denn in ihrer Gleichförmigkeit,
in die die Dinge nur gleichsam hineingesetzt werden, ist ja kein Punkt von
dem anderen unterschieden, sie hat also an sich kein Früher und Später.
Nur die Zeit, die gelebt
wird, in der also jeder Punkt notwendig früher oder später als jeder
andere ist, ist die wirkliche, ablaufende Zeit.
Noch anschaulicher
vielleicht ist der andere Unterschied.
Da nach dem Grundsatz des
Mechanismus jedes Gebilde oder jeder Zustand aus einfacheren Elementen
zusammengesetzt ist, so kann er auch wieder in diese aufgelöst werden;
prinzipiell muss aus jedem späteren Zustand der frühere wieder
hergestellt werden können; dieses beliebig oft zu wiederholende Spiel ist
gleichsam das physikalische Bild davon, dass jede Gleichung ebenso von
rechts nach links, wie von links nach rechts gelesen werden kann.
Wiederum protestiert das
Lebendige gegen diese Art des Konstruiertwerdens.
Denn es ist an eine
Reihenfolge seiner Zustände gebunden, die nur in einer Richtung
ablaufen und niemals umgekehrt werden kann, wie die Reihenfolge einer
chemischen Synthese und Analyse aus denselben Stoffen es vermag: es kann
nur aus der Jugend das Alter werden, niemals aus dem Alter die Jugend!
Gegenüber aller mechanischen Auffassung des Lebens gilt also zunächst
diese Kritik: seine Entwicklungen sind weder aus vorher bestehenden Stücken
zusammenzusetzen, noch ist es jeweils so in einem Augenblick gegeben, dass
sich seine Zustände für alle Zukunft berechnen ließen, weil alle
Berechnungen nur einen festen Zustand aus dem anderen seinem Inhalt nach
entwickeln.
In beiden Hinsichten wäre
die Zeit gleichgültig, denn das Leben ließe sich in der einen beliebig
umkehren, in der anderen beliebig zusammendrücken - während es in
Wirklichkeit ein in und mit seinen Inhalten selbst begründetes Vorher und
Nachher ist.
Hier unterscheiden sich die
Theorien, die die Gestaltungen des Lebens aus ihrer Zweckmäßigkeit
herleiten wollen, gar nicht von den mechanistischen.
Denn auch für sie ist
alles Leben bereits gegeben und nur die Verwirklichung eines vorliegenden
Planes und Zweckes; in welchem Zeitverlauf diese Verwirklichung geschieht,
ist für den Plan selbst prinzipiell gleichgültig: der Finalismus ist nur
ein umgekehrter Mechanismus.
Da sich das Leben also
nicht aus Elementen vorberechenbar zusammensetzt; da das Spätere nicht
bloß eine andere Zusammensetzung des Früheren ist, sondern jeder Moment
eines Lebens etwas ist, was es so in ihm noch nicht gab - so sind seine
Entwicklungen in jedem Augenblick etwas Schöpferisches.
Das bedeutet: so wenig wie
die Zeit sich wiederholen kann, weil das kontinuierliche Fortschreiten ihr
Wesen ist, so wenig kann es irgend ein Lebensmoment.
Jeder vielmehr ist dem
Vergangenen gegenüber ein Neues, während die mechanistische Wissenschaft
nichts Neues zugeben kann.
Denn welche Gleichheit
zweier Momente eines Lebens wir auch annehmen wollten schon dadurch, dass
der erste dem zweiten vorangegangen ist, ist dieser zweite in einer, für
den ersten ganz unerreichbaren Weise modifiziert.
Es ist z. B. ganz unmöglich,
denselben Gedanken genau zweimal zu denken, denn wir denken ihn das zweite
Mal mit einer seelischen Energie, die durch sein erstes Denken doch
irgendwie anders geworden ist, als sie bei diesem ersten Denken war.
Dem Prinzip des
Mechanismus, der das Wirkliche aus gegebenen Stücken zusammensetzt, es
aus fertigen Voraussetzungen ableitet, im letzten Grunde nur Gleiches
wiederholen lässt - ist der Lebensprozess ganz fremd.
Denn für jenes bewirkt die
Gleichgültigkeit oder künstliche Schematik der Zeit, dass das Vergangene
völlig verschwunden ist, jeder Zustand ist nur Gegenwart, die immer die
Resultante sehr verschiedener Ursachen sein kann, während das Leben,
sowohl in der Entwicklung der Arten wie im Individuum, Geschichte hat,
d. h. jede Gegenwart die ganze Vergangenheit voraussetzt.
Da diese Vergangenheit aber
stetig mehr wird, so kann kein Moment des Lebens einem anderen wirklich
gleichen.
Deshalb ist das Künftige
nicht aus dem Früheren oder Jetzigen berechenbar - was kein Manko des
Erkennens ist, das ausgeglichen werden könnte, sondern die positive
Qualität des Lebens.
Das Leben ist ein
ununterbrochenes, fließendes Schaffen von Neuem, so noch nicht
Dagewesenem, es erschöpft sich nicht in der Form von Ursache und Wirkung,
die schließlich immer nur Gleiches aus Gleichem entwickelt, sondern ist
eine ganz ursprüngliche schöpferische Bewegung, die nicht berechnet
werden kann wie ein Mechanismus, sondern nur erlebt.
Ich sehe hier eine
tiefgelegene motivische Verwandtschaft mit Nietzsche, die man auf die
Formel bringen mag: dass das Leben und seine Höhe nicht auf das zu begründen
ist, was unterhalb seiner liegt.
Nur, dass dies bei dem
Naturphilosophen Bergson auf die Wirklichkeit des Lebens, bei dem
Moralphilosophen Nietzsche auf seinen Wert geht.
Nietzsches ganzer Hass
richtet sich dagegen, dass die höchstentwickelten Erscheinungen des
Lebens - die Menschen der jeweilig gesteigertsten Kraft und Schönheit,
Vornehmheit und Schöpfermacht, Größe und Tiefe - ihre Legitimation und
ihren Wertmaßstab aus den zurückgebliebenen Schichten des Menschentums
holen sollen: aus ihren Wirkungen auf die Masse, aus dem, was die
Zukurzgekommenen, die Mühseligen und Armen an Geist von ihnen haben.
Dieses Sichherunter- und
Zurückbeugen lasse das aufwärtsstrebende Leben - und Leben im
eigentlichen Sinne ist es nur, insoweit es aufwärts zu einem noch nicht
erreichten Teilstrich der Entwicklungsskala strebt - verkümmern, es ziehe
seine Werte in perverser Weise aus der Schicht, die sie ihrer Natur nach
gar nicht hergeben könne.
Besteht der Wert des Lebens
unserer Art in der Höhe, die seine höchsten Exemplare erreicht haben, so
streckt er sich dem entgegen, was über ihm ist und kann nie aus der
Beziehung zu dem Herhausgewonnen werden, was unter ihm ist und das überstiegen
zu haben ja gerade seinen Wert ausmacht.
Und so kann für Bergson
das Leben nur aus sich selbst wachsen, es drängt nicht nur, in jedem
Augenblick schöpferisch, nach vorwärts, sondern dieses Schöpfertum des
noch nicht Dagewesenen, dieses Hinausgreifen in das Unberechenbare ist
sein eigentliches Wesen und es ist deshalb völlig unmöglich, es aus den
kombinierten Elementen tieferer Ordnung, den bloß physikalischen und
chemischen, zu entwickeln, wie die mechanistische Lebenstheorie zu können
meinte.
Dennoch, irgendwie sind die
mechanistischen Prinzipien in Physik, Chemie, Psychologie auf das Leben
anwendbar.
Zwischen dem Bilde der
berechenbaren, diskontinuierlichen kausalen Welt und dem unberechenbaren,
weil fortwährend neuen Leben besteht eine Beziehung.
Während diese aber bisher
dazu benutzt wurde, das Leben aus dem Mechanismus als seiner Voraussetzung
abzuleiten, versucht Bergson das umgekehrte: den Mechanismus aus dem Leben
abzuleiten.
Hier steht nun zunächst
eine metaphysisch-kosmologische Vermutung.
In allem Dasein und als den
Kern jeder Welterscheinung sieht Bergson ein absolutes, treibendes Leben,
eine in sich einheitliche Schwungkraft, die Kraft in allen Kräften.
Es ist diese Einheit des
Lebensantriebes, aus der allein die organische Entwicklung begreiflich
wird.
Wenn zweifellos eine »Entwicklungs«-
Reihe des Sehorgans durch die Tierarten hindurch von dem Pigmentfleck des
Infusoriums bis zum Auge der Wirbeltiere führt; wenn ein höchst
komplizierter Bau dieses Organs in ganz gleicher Weise an Gattungen
auftritt, die ihn erst nach ihrer Abzweigung von einem vielleicht
gemeinsamen Urstamm erworben haben können, so ist die mechanistische Erklärung
Darwins durch angesammelte Zufälle, die einen Querschnitt durch die fließende
Entwicklung an den anderen reiht, genau so unzulänglich, wie die
teleologische, die dieses Werden nach der Analogie eines menschlichen
Maschinenbauens konstruiert.
Ohne weiteres aber hebt
sich die prinzipielle Schwierigkeit, wenn diese ganze Entwicklung eine
einzige, durch die Jahrtausende erstreckte Lebensbewegung ist, wie sie,
nur in engerem Zeitmaße, an einer Bewegung meines Armes besteht, die auch
verschiedene Stadien durchläuft und sich für den Mechanismus auch aus
gesonderten Muskel- und Nervenvorgängen zusammensetzt, innerlich aber
eine daraus gar nicht herzuleitende, von Anfang bis zum Schluss unteilbare
Einheit eines Schwunges ist.
Dieser ursprüngliche,
universale Trieb, der an und für sich ganz und gar Leben ist, spaltet
sich dauernd in zwei Richtungen: nach oben, seine Vitalität fortsetzend,
zum menschlichen Bewusstsein, in dessen freien schöpferischen Taten er
zuhöchst sich ausdrückt; nach unten, ermattend, seine Kraft, Einziges zu
schaffen, einbüßend und in bloß Allgemeines versinkend, zu der Gleichförmigkeit
des Mechanismus herabsteigend, kurz zur Materie werdend, in der es nichts
Neues geben kann und die durch Gleichungen auszurechnen ist.
Das universale Leben
gleicht dem Dichter, der die gleichgültige Masse der Worte, wie der
Lexikograph sie vorstellt, mit originalem, schaffendem, zusammenhaltendem
Leben durchströmt; sobald aber seine Schöpferkraft erlahmt, fallen ihm
die Worte zu einer toten, mechanischen Masse auseinander.
Das Nebeneinander der
Atome, auf das der Mechanismus anwendbar ist, gleicht dem bloßen
Nebeneinander der Worte, das nicht mehr von der Lebenskraft eines Sinnes
durchblutet ist.
Wie sich diese beiden
Richtungen des universalen Daseins in jeder Existenz überhaupt kreuzen,
so vor allem in der menschlichen.
Fortwährend kämpft in uns
das lebendige, freie, schöpferische Ich mit der Materie und ihrem
Mechanismus, der zwar vom Leben geschaffen, aber nun vom Leben verlassen
ist, und deshalb der Physik und Chemie unterliegt - oder der
psychologischen Analyse.
Alle Komik besteht nur in
dem plötzlichen Anschaulichwerden dieses Kontrastes, nur darin, dass wir
etwas Mechanisches da erblicken, wo wir dem Sinne der Situation nach etwas
Lebendiges sehen sollten.
In der wunderlichen
Tatsache, dass wir über einen stolpernden Menschen lachen, steckt eben
jener frappierende Dualismus, dass ein beseelter übermechanischer
Lebensakt, wie das zielbewusste Gehen des Menschen, plötzlich der reinen
Mechanik von Hemmung und Schwerkraft gehorcht.
Oder wenn uns die bloße
Nachahmung von Gang und Geste eines Menschen, der an und für sich
keineswegs lächerlich ist, als etwas Komisches erscheint, so tritt auch
hier das mechanistische Prinzip der Wiederholung des Gleichen an einem
Lebendig-Individuellen auf, das von sich aus diesem Prinzip widerstrebt
und in solcher äußerlichen Vereinigung mit ihm den humoristischen
Kontrast ergibt.
Wichtiger aber als die
Deutung der Rolle, die die mechanistisch wirkende Materie objektiv in dem
Dasein und der Entwicklung der Welt überhaupt spielt, ist ihre Herleitung
als einer Vorstellung in den menschlichen Subjekten.
Hier ist Bergsons erstes
Motiv: alles Materielle und Mechanische ist Erzeugnis und Gegenstand des
logischen Verstandes.
Aus dem Ganzen des Daseins,
das, trotzdem eine Tendenz in ihm dauernd auf bloße Materialität, auf
Herabsinken zu indifferenter Räumlichkeit geht, doch als Ganzes niemals
von dem großen Lebensschwung verlassen wird - aus diesem schneidet unser
Verstand einzelne Stücke heraus, die von der rastlosen Bewegtheit des
Ganzen abgeschnürt werden und nicht mehr durch die Gesamtströmung,
sondern nur durch Anstöße von außen bewegt werden.
Der Grund dieses eigentümlichen
Verfahrens unseres intelligenten Denkens ist, dass unser Verstand überhaupt
gar nicht dazu gemacht ist, die reine Wesenheit der Dinge zu erkennen,
dass ihm das Erkennen um des Erkennens willen ursprünglich ganz fern
liegt; er ist vielmehr nur ein Werkzeug des Handelns, er dient nur unseren
praktischen Zwecken in der Welt.
Dazu aber ist es für ihn
erforderlich, die Dinge berechnen zu können, mit ihnen als mit fest
umgrenzten, mechanisch behandelbaren zu verfahren.
Schließlich geht das
Interesse des Intellekts immer auf Herstellung irgendwelcher »Werkzeuge«,
mit denen wir unser Milieu praktisch beherrschen können, und Werkzeuge
lassen sich immer nur aus bereitliegendem Material herstellen, sind immer
ein anorganisch Starres - auch wenn es die Werkzeuge einer rein geistigen
Vorname in einer Geisteswissenschaft sind -, gehen auf Herstellung einer
Vielheit gleicher Produkte.
Dies ist der äußerste
Gegensatz zum Leben, dessen Wesen Bewegtheit ist; denn, so paradox es
klingt, die Bewegtheit der Körper als solche geht unser Handeln
nichts an.
Dieses ist nur dafür
interessiert, wohin ein bewegter Körper geht und an welchem Punkte
seiner Bahn er sich jeweils befindet - also nicht die Bewegtheit, das
Fortschreiten selbst, sondern die festen Lagen, die aneinandergereihten
Unbewegtheiten, die fixierten Pläne, ihre Realisiertheit oder ihre
Hindernisse sind für uns praktisch wichtig und die Bilder des Intellekts
schaffen uns diese stabile, mechanische, mathematische Welt.
Wäre dieser Intellekt zu
reiner Erkenntnis als solcher bestimmt, so müsste er die Bewegung, jenes
eigentlich Reale, das zwischen zwei Ruhepunkten und Festigkeiten liegt,
sich zum Gegenstande machen.
Der Intellekt zerschneidet
den Stoff des Lebens und der Dinge, um ihn zu Werkzeugen, zu Systemen, zu
Begriffen zu machen.
Er ist das nach außen gewandte
Leben, das sich das Verhalten der anorganischen Natur, die mechanistische
Berechenbarkeit aneignet, um die Dinge für seine praktischen Zwecke
auszunutzen; und Bergson macht hierbei die tiefe Bemerkung, dass unsere
Logik fast durchgehendes die Logik der festen Körper ist.
Sie ruht im wesentlichen -
gerade wie der Mechanismus auf den Grundbegriffen Identität und
Anderssein.
Aber gerade diese sind für
seelische Zustände - nach deren Analogie Bergson das Weltdasein auffasst,
die für ihn dessen Erstes und Letztes sind -völlig ungültig.
Der Gegensatz der Identität
und des Andersseins verschwindet in der Kontinuität des Sichänderns.
Und hierbei sei bemerkt:
gerade indem sich Bergson in solche Nähe des Pragmatismus begibt, für
den alle Erkenntnis nur daraufhin entsteht und daraufhin »wahr« ist,
dass wir mit ihrer Hilfe im Leben uns erhalten und vorwärtskommen -
gerade damit überwindet er ihn.
Denn während er diese Nützlichkeit
als Ursache und Kriterium der wissenschaftlichen Erkenntnis zugibt, sie
aus ihrem idealen Reich in die Praxis verpflanzt, verkündet er: dies ist
gar nicht die reine und eigentliche Wahrheit.
Was wir Erkenntnis nennen
(und tatsächlich ist alle wissenschaftliche Erkenntnis = Mechanistik) ist
nicht Wahrheit zum Zwecke der Praxis, sondern Verfälschung zum Zwecke der
Praxis.
Es ist hier im allgemeinen
nicht meine Absicht, in eine Kritik der Bergsonschen Theorien einzutreten;
die fundamentalen Gedanken großer Philosophen haben ja überhaupt das
Eigentümliche, dass »Widerlegungen«, die ihnen in der Ebne der Logik,
ja der empirischen Tatsachen begegnen, das Letzte und Wesentliche ihrer
Bedeutung nicht aufzuheben imstande sind.
Sie bleiben als Offenbarung
von typischen Geisteshaltungen und deren erlebtem Verhältnis zur Welt
bestehen, auch wenn die sachlichen Behauptungen, in denen dies
Aussprechbarkeit gewonnen hat, als sachliche nicht haltbar sind.
Immerhin möchte ich an
einer gewissen Problematik der Bergsonschen Stellungnahme nicht einfach
vorübergehen.
Wenn unser Verstand die
Wirklichkeit nicht als Wirklichkeit erfasst und als Werkzeug des Handelns
auch gar nicht erfassen kann, wenn er uns statt ihrer lauter irreale
Symbole bietet, auf die hin wir zu handeln haben - wie kommt es, dass
dieses Handeln, das doch selbst eine Realität ist und in der realen Welt
verläuft, in real förderlicher Weise verläuft? Die Welt, die ihm
antwortet, ist nicht jene fiktive, intellektgefälschte, sondern die
absolut wirkliche - und dennoch antwortet sie auf die falsch gestellte,
sie eigentlich gar nicht treffende Frage mit einer Antwort die -
wenigstens im allgemeinen - nicht nützlicher, erwarteter, genauer sein könnte,
wenn sie auf tatsächlich richtige Voraussetzungen hin erfolgte! Hier
scheint mir die innerliche Unverbundenheit der wirklichen, d. h. vitalen
und der mechanistischen Welt einen Spalt zwischen den subjektiven
Voraussetzungen und den objektiven Erfolgen unseres Handelns zu lassen, über
den ich bei Bergson keine Brücke finde.
Und wie Bergson ihn als
Tatsache nicht fühlbar macht, so ebenso wenig als Wertmoment.
Es ist als ob er die Tragik
davon gar nicht bemerkte, dass das Leben, um nur existieren zu können,
sich in Nichtleben verwandeln muss.
Innerhalb der tiefen
Paradoxien des Christentums wäre das möglich: »Wer seine Seele
verliert, der wird sie gewinnen.« Dort dagegen ist ja alles auf das Leben
als auf das Absolute gestellt, und dass dies gerade seiner eigenen
Aufhebung, der Erstarrung zu seinem eigenen Gegenteil bedarf, nicht um
einer tragischen Dialektik, nicht um eines metaphysischen Dualismus
willen, sondern einfach um seine Wirklichkeit äußerlich durchzusetzen -
das ist viel dämonischer, als wenn jene tieferen Notwendigkeiten es begründeten;
gerade wie es die erschütterndste Tragik mancher Schicksale ist, dass sie
es zu keiner rechten Tragik bringen können.
In welche wertmäßigen
Folgen aber diese Theorie auch verlaufe, als Tatsache jedenfalls hält sie
fest, dass der Intellekt bisher nicht imstande gewesen ist, das Leben zu
begreifen - wovon der tiefere Grund vielleicht der ist, von dem diese
Seiten ausgehen: dass das Leben, sobald es als das physisch und
metaphysisch Erste und Absolute gilt, überhaupt nicht »begriffen«
werden kann.
Und deshalb - so schließt
Bergson weiter - kann, da die Weltwirklichkeit in ihrem Grunde Leben ist,
auch die Welt in ihrer Ganzheit und Einheitlichkeit nicht vom Intellekt
bewältigt werden, sondern nur die herausgeschnittenen Stücke, in die sie
zwar nachträglich zu zerlegen, aus denen sie aber nicht wieder
zusammenzusetzen ist.
Wie sollten wir denn auch
mit unseren Verstandesbegriffen das Ganze und Volle des Lebens begreifen können,
da sie selbst ja weiter nichts sind als Mittel, die das Leben in einem
seiner Zweige, dem menschlichen, als dessen Werkzeug, sich in seinem
Milieu durchzusetzen, erzeugt hat? Der Verstand verhält sich gar nicht
anders als unsere Sinne, die auch gerade nur auf das eingestellt sind, was
wahrzunehmen für uns nützlich ist.
Der Wolf nimmt sicherlich
Lamm und Ziege nicht als unterschiedene Wesen wahr, sondern sieht nur »Beute«.
So sind auch unsere Sinne
nur Möglichkeiten des Handelns, gerade wie unser gesamter physischer
Organismus, Mittel, uns mit der Materie, an die wir im Praktischen
wesentlich gewiesen sind, auseinander zusetzen.
Der Intellekt ist nur eine
Fortsetzung und Verfeinerung davon in der gleichen Richtung, sozusagen
nicht selbst Leben, sondern ein Apparat, den eine Verzweigung des Lebens
um ihres unorganischen Milieus willen sich bereitet hat.
Wie sollten solche Teilchen
dem Ganzen nachkommen, ein partieller Niederschlag des Lebensgeschehens
diesem selbst? Gewiss, die Wissenschaft muss so verfahren, muss immer mehr
einzelne Elemente aus dem Leben herausgewinnen, immer Begriffe und
Methoden des Verstandes darauf anwenden, und das Ende davon ist nicht
abzusehen.
Aber sie bleibt immer die
Asymptote des Lebens, und die Erfahrung zeigt, dass das eigentlich
Lebendige des Lebens, sein Schöpferisches und Einheitliches, immer weiter
zurückweicht, je weiter man die Mikroskopie treibt, je mehr man Teil
neben Teil setzt, je mehr isolierte feste Begriffe auf das Leben
angewendet werden.
Lebt das Leben erst einmal,
so können wir seine fertigen Erzeugnisse der Physik und der Chemie
unterwerfen.
Aber den Augenblick des
Lebens selbst haben diese Elemente schon hinter sich gelassen, und zu
meinen, man könne es daraus zusammensetzen, ist als wenn man ein
zerschnittenes Bild zusammenkleben und sich daraufhin für seinen Maler
halten wollte.
Den wesentlichen Irrtum und
die Quelle aller Widersprüche der philosophischen Weltdeutungen sieht
Bergson darin, dass die Philosophen Verstandesbegriffe, die gar nicht für
das »interesselose« Begreifen der Welt da sind, sondern für deren
praktische Beherrschung, zu dem Versuche benutzt haben, das reine Wesen
des Weltlebens zu erkennen.
So, wenn die Welt oder die
Seele als Einheit oder als Vielheit bezeichnet wird, ihre Entwicklung als
Differenzierung und Integrierung usw. Dies alles ist Konstruktion der
Entwicklung des Werdens, das allein real ist, aus Bruchstücken des
Entwickelten, Gewordenen.
Das Denken kann wohl aus
der beweglichen Realität feste Begriffe ziehen, indem es sie zum Zweck
des praktischen und wissenschaftlichen Verfahrens mit ihr stillstellt,
erstarren lässt, zerschneidet, mechanisiert; niemals aber kann umgekehrt,
wie es z. B. Spencer und die sensualistische und experimentelle
Psychologie will, aus den festen, als fertig angesehenen Elementen und
Begriffen die Bewegung zurückgewonnen werden.
Indes, ein Wissen um Welt
und Leben müsste möglich sein - gleichviel wie weit wir es realisieren können
-, das nicht ein Mittel ist, durch den Verstand mit seinen Formen die
Lebenshaltung durchzuführen.
Denn es sind doch nicht nur
die Verstandesformen in uns, diese von der ewig bewegten Entwicklung ans
Ufer geworfenen Festigkeiten und starren Schemata, sondern das Leben
selbst ist in uns; unser tatsächliches Leben - nicht das nachträglich in
intellektuellen Rahmen gespannte und gespiegelte - ist doch selbst ein
Weiterschwingen jenes absoluten und einheitlichen Lebensschwunges, der das
kontinuierliche Sein, d. h. Werden der Welt, bedeutet.
Die seelische Gestalt,
in der dieser sich durch die Organismen hindurchsetzt, ist der Instinkt.
Es gehört zu Bergsons
originellsten Gedanken, dass der Instinkt nicht eine Vorstufe ist, aus der
sich der Intellekt entwickelt, ebenso wenig auch eine Nachfrucht des
Intellekts, eine unbewusst gewordene Aufhäufung einzelner Erfahrungen der
Gattung; sondern eine ursprüngliche, den eigentlichen Lebenszusammenhang
bewahrende Art des Verhaltens neben der intellektuellen.
Wenn manche Wespenarten
ihre Opfer, Raupen oder Grillen, genau in das Nervenzentrum stechen, so
dass sie sie gerade nur lähmen, aber nicht töten, so ist es ein Nonsens,
dies für »vererbte Erfahrung«, die im Kampfe ums Dasein erworben wäre,
zu halten.
Vielleicht, dass die »Wissenschaft«
darüber nicht hinaus kann; dann liegen hier eben ihre Grenzen.
Der »Instinkt« der Wespe
besagt in diesem Fall, dass sie und ihr Opfer gleichsam eine organische
Einheit sind und dass die Wespe gar nicht zu »wissen« braucht, wo die
empfindlichen Stellen ihrer Opfer liegen, sie auch gar nicht zu sehen
braucht; sondern sie verhält sich wie wir uns beim Heben eines Armes
verhalten, wobei wir doch auch nicht wissen, welche Muskeln wir zu
innervieren haben, wo die Angriffspunkte von Nerven, Muskeln, Gelenken
liegen.
Wir brauchen das nicht zu
wissen, weil wir ein Leben sind, das von vornherein die Einheit seiner
Stationen besitzt - also sie eigentlich nicht als Stationen, im
Sinn fester Aufenthalte und Abgegrenztheiten besitzt -, die das Wissen
nachträglich als solche herstellt.
So also steht die Wespe mit
ihrem Opfer in einer Lebenseinheit, die man Sympathie nennen kann.
Dieses unmittelbare Mitfühlen
eines anderen Lebens, bloß weil auch dieses eine Welle desselben
Lebensstromes ist wie wir, ist doch auch in uns; sie tritt z. B. am Porträtkünstler
hervor, wenn er das bloße Nebeneinander der Züge mit einem Leben
durchströmt und vereinheitlicht, das der äußere, nur vom Intellekt
erfasste, räumliche Aspekt des Modells nie enthält.
Nun ließe sich wohl
denken, dass dieses nicht begrifflich vermittelte Wissen sich nicht nur an
ein anderes Individuum, sondern an die Wirklichkeit überhaupt wendete.
Während der Verstand uns
die Dinge dadurch erkennen lässt, dass er sie in Formen fasst und sie für
sich sozusagen erst zurechtmacht, würde hier ein mit der Sache selbst
zusammenfallendes Erschauen ihrer stattfinden - ein metaphysisches
Ergreifen, kein wissenschaftliches, das von Bedingungen abhängt.
Es ist das Wissen, das im
Miterleben besteht, darin, dass wir uns aus der gewohnten Schematik des
Denkens in die Strömung des Lebens selbst hineinversetzen, die das reale
Werden der Dinge ist - und es gibt nur werdende Dinge.
Denn jeder Moment ist schon
dadurch ein anderer als der frühere, dass er der spätere ist.
Dieses kontinuierliche
Werden nennt Bergson die Durée (denn nur in fortwährendem Anderswerden können
Dinge dauern, weil bei wirklich ungeändertem Beharren ja der Anfang und
das Ende dieses Zustandes nicht zu unterscheiden wären, also
zusammenfallen müssten, das Ding also gerade nicht dauerte); jene
Mitwissenschaft, die eigentlich eine metaphysische Mitseinsschaft ist,
nennt er die Intuition, die also nur die subjektive Seite der Strömungseinheit
des Daseins ist.
Freilich stellt sie uns
wohl eine unlösbare Aufgabe, zeigt eine Möglichkeit, der sich unsere
Wirklichkeit immer nur nähern kann.
Denn Erkennen ist schließlich
immer an Begriffe gebunden, es bleibt dem Sein immer gegenüber, ein
Subjekt dem Objekt, und mit seiner Vollendung, die den Abstand überwände,
die es wieder in das Sein zurückschmölze, wäre es als Erkennen
aufgehoben.
Der Instinkt ist etwas
Dunkles und Dumpfes, er kann nicht zum Bewusstsein heben, was er als
Realität besitzt; Bergson darf deshalb aussprechen, der Instinkt könnte
uns, vermöge seiner Einwurzelung im Sein, alle Fragen lösen - aber er
stellt sie nicht; der Verstand stellt zwar alle Fragen, aber er kann sie
nicht lösen.
Auch Bergson weiß nichts
anderes zu sagen, als dass die Intuition immer flüssigere, sich immer
erneuernde, der Wirklichkeit sich immer näher anschmiegende Begriffe
liefern müsste, immer aus der Analytik und Symbolik, in der die
Wissenschaft sich unvermeidlich bewegt, dem unmittelbaren Leben der Dinge
zustrebte.
Aber schließlich kann er
es nicht Überwinden, dass Erkennen immer ein Erfassen ist und eine
Distanz zwischen Erkennendem und Erkanntem setzt, von der aus die Identität
des Seins wohl erstrebt aber nicht erreicht werden kann.
Immerhin, es bleibt der
tiefe Gedanke, mit dem diese Lebensphilosophie über jene tragische, in
tausend Formen ausgedrückte Unerreichbarkeit ein dennoch versöhnendes
Licht fallen lässt: die Intuition bedeutet, dass das Leben nur vom Leben
begriffen werden kann - gewissermaßen die Weisheit des Empedokles, dass
Gleiches nur durch Gleiches zu erkennen ist.
Mechanistisches denkend
sind wir selbst Mechanismen, Lebendiges denkend sind wir lebendig.
Und darum ruht auf dem
Grunde dieser Philosophie der Trost: wir verstehen wirklich und von innen
her nur das Lebendige, weil wir selbst lebendig sind.
Alles Übrige können wir
berechnen, kombinieren, benutzen.
Aber letzten Endes ist auch
dies Übrige ein Lebendiges: das Anorganische ist objektiv nur ein
Ermatten des Lebensschwunges, subjektiv ist alles Mechanistische nur ein
Symbol und ein Mittel für peripherische Verhältnisse, darunter und darin
ist als eigentliche absolute Realität ebenso wie dort das Leben.
Und damit, dass auch der
Mechanismus, der Gegensatz des Lebens, aus dem Leben kommt, ist
allerdings, im metaphysischen Bilde, die Verbindung des Geistes mit allem
Dasein, mit der zentralen Strömung, die alles Dasein trägt oder vielmehr
ist - diese Verbindung ist prinzipiell gewonnen.
So wird die Skizzierung der
Bergsonschen Gedanken jene Verlegung des Unfraglichen, alles Begründbare
aus sich Entlassenden, in den Lebensbegriff erwiesen haben, von der als
von der entscheidenden Wendung des modernen Weltbildes diese Seiten
ausgingen.
Die Wissenschaft hat das
Leben zu etwas Mittelbarem gemacht, das aus Stücken, Elementen,
Vorbestehendem herzuleiten wäre - Bergson macht es entschlossen zum
Ersten und Zentralen, stellt es in den Absolutheitspunkt des Daseins;
alles was nicht den Charakter des Lebens, d. h. der Einheit des fortwährend
sich Wandelnden hat, ist sekundäres Gebilde - kosmisch als das
herabgesunkene Leben, menschlich als die Schematisierung und Zerschneidung
des Lebens, um uns damit hantieren zu lassen.
Der Abstand von Denken und
Welt ist damit als einer erkannt, der nur für das Denken, nicht für die
Welt besteht. Freilich, ob der Charakter des absoluten Fließens, den
Bergson dem Leben zuspricht, diese Leistung tragen kann, ist mir nicht
ohne weiteres gewiss.
Die geistige Sehnsucht der
Menschen und des Menschen pendelt zwischen dem Festen und dem Fließenden
und für eines als das Definitive scheint sie sich schließlich
entscheiden zu müssen.
Von Parmenides und Heraklit
bis zu Bergson spielt dieser Prozess sich ab: dem Festen, das das wahrhaft
Wirkliche und Letzte ist, soll das strömend sich Ändernde, das nicht
schlechthin verneint werden kann, irgendwie abgelauscht werden, das Fließende
andererseits, sobald mit ihm das schlechthin Wahre ergriffen wird, soll
irgendwie das Stabile und Bleibende hergeben.
Auch Bergson steht nicht
wirklich über diesen Parteien, sondern auf der Seite der einen, nach der
Seite der anderen hin unvermeidlich eine Unbefriedigtheit hinterlassend.
Vielleicht wird die
Philosophie ihren nächsten Schritt mit der Eroberung eines Begriffes vom
Leben tun, mit dem dieses sich wirklich jenseits jener Gegensätze stellt,
in eine Höhe, von der aus das Fließen des Realen wie des Idealen und die
Festigkeit beider die Absolutheit ihres Gegensatzes verlöschen und als
die Offenbarungsweisen einer für jetzt noch unsagbaren Einheit des
metaphysischen Lebens erschaut werden. |