Georg Simmel:
Das Problem des Schicksals
ex: Die Geisteswissenschaften.
Wochenschrift für das gesamte Gebiet der Philosophie, Psychologie,
Mathematik, Religionswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Sprach- und
Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Rechtsund
Staatswissenschaft, Gesellschaftswissenschaft, Volkswirtschaftslehre
und Statistik, Militärwissenschaft, Länder- und Völkerkunde, Pädagogik,
herausgegeben von Otto Buek und Paul Herre, 1. Jg. Heft 5, ausgegeben am
29. Oktober 1913, S. 112-115 (Leipzig)
Es ist eine nachdenkliche
Tatsache, dass die Philosophie, nach eigenem und allgemeinem Anspruch zur
Deutung des Lebens in seiner Ganzheit und seiner Tiefe berufen, sich mit
einigen der eingreifendsten Mächte der Lebensgestaltung so gut wie gar
nicht auseinandergesetzt hat.
Wo etwa wird, jenseits der
immerhin einseitigen Versuche Platos und Schopenhauers, das Wesen der
Liebe tiefer erörtert? Ist ein Gegenstand in eben dem Maße der
philosophischen Behandlung würdig, in dem Form und Macht, Weihe und
Vernichtung von ihm her dem Leben kommt - so wäre doch wohl eine Theorie
und Metaphysik der Liebe mindestens so wichtig wie die Theorie des
Erkennens und die Metaphysik der Kunst.
Wo ferner wird nach dem
Wesen der merkwürdigen Tatsache gefragt, die wir das »Erleben« nennen?
Was bedeutet dies sonderbare Verhältnis des Lebens zu Dingen und
Ereignissen, durch das diese sozusagen im Leben selbst aufgelöst, von ihm
assimiliert werden, dass dies Objektive nicht nur, wie im Erkennen, zu
Bild und Vorstellung, sondern zu Momenten des Lebensprozesses selbst wird?
Diese Probleme sind keineswegs durch psychologische Analysen zu lösen;
sondern dass solche seelischen Ereignisse wie Liebe und Erleben als
Daseinswirklichkeiten bestehen, fordert philosophische Deutung, wenn
Philosophie überhaupt in irgendeinem Sinne »Lebensweisheit« zu sein
beansprucht.
Nicht weniger vernachlässigt
ist der Begriff des Schicksals - der doch, wenn irgendeiner, unerlässlich
verstanden werden muss, sobald die objektive - nicht etwa nur die
psychologische - Struktur des Lebens unser Problem wird.
Vor allem würde er gleich
den anderen beispielsweise genannten klar werden lassen, wie unzulänglich
es ist, die Probleme des Lebens von den Kategorien Theorie und Praxis
(vielleicht noch unter Hinzunahme von Gefühls- und ästhetischen Werten)
umschreiben zu lassen.
Nur als einen geringen
Versuch und Beitrag zur Erkenntnis solcher Lebensbestimmungen, die im
eminentesten Sinne zu philosophischen Aufgaben werden sollten, biete ich
hier eine Deutung des letztgenannten Begriffes an.
Seine Vernachlässigung
durch die Philosophie mag freilich nicht ganz zufällig sein, sondern sich
in dem ablehnenden Verhältnis seiner Elemente zu den hauptsächlichen
philosophischen Typen, dem Idealismus und dem Pantheismus, gründen.
Indem der Idealismus die
Welt aus dem Subjekt entwickelt, ihr Erkenntnisbild gänzlich durch dessen
geistige Formen bedingt, alles praktische Leben in seine absolute
Selbstverantwortlichkeit und grenzenlose Freiheit stellt - hat er für das
Vergewaltigende, schlechthin über dem Willen, ja über dem Begreifen des
Subjekts Stehende, wie es im Schicksalsbegriffe liegt, keinen rechten
Platz.
Der Pantheismus
seinerseits, alles Individuelle in die Seinseinheit auflösend, keinem
Punkte eine auf ihn besonders gerichtete Intention des kosmischen
Geschehens gönnend, kann nun wieder mit dem personalen Akzent, mit der
Zuspitzung auf das Individuum nichts anfangen, die wir als das andere
Element des Schicksalsbegriffes fühlen.
Dem Rationalismus endlich
(und welche systematische Philosophie, mögen ihre Thesen noch so
voluntaristisch sein, wäre in ihrem innerlich eigenen Wesen nicht
Rationalismus?) widerstrebt das Moment des Unbegreiflichen, Unauflöslichen,
das auch dem günstigsten, beglückendsten Schicksal, insofern es rein als
» Schicksal« empfunden wird, irgendeine leise, wie aus der Ferne
herschattende Dunkelheit gibt.
Diese Erscheinungen lassen
unschwer die Voraussetzungen erkennen, die die tiefere Struktur des
Schicksalsbegriffes ausmachen.
Zunächst bedarf er eines
Subjekts, welches von sich aus und insofern unabhängig von jedem »Ereignis«,
einen Sinn, eine innere Tendenz, eine Forderung enthält oder darstellt.
Neben dieser Eigenrichtung
des Subjekts, ohne genetische Verbindung mit ihr, entstehen und verlaufen
bestimmte Ereignisse, die sich zu ihr dennoch fördernd oder hemmend
verhalten, ihren Gang unterbrechen oder Entferntes verbinden, einzelne
Punkte in ihr akzentuieren oder über ihre Ganzheit entscheiden.
Hierdurch bekommen jene an
sich bloß kausalen Geschehnisse in Bezug auf das Subjekt einen Sinn,
sozusagen eine Art von nachträglicher Teleologie, d.h. sie werden zu
Schicksalen.
Indem sie, deren Ursprung
zu dem innerlich und sinngemäß bestimmten Verlauf unseres Lebens gänzlich
zufällig ist, zu diesem Verlauf eine ganz bestimmte Beziehung, eine
vitale Einfügbarkeit, wenn auch von negativer und zerstörender
Bedeutung, gewinnen, ist der Ton der »Prädestination« von dem, was wir
unser Schicksal nennen, gar nicht zu trennen.
Dennoch bedeutet er nur
einen eigentlich oberflächlichen Reflex des Schicksalsbegriffes.
Denn in diesem spricht sich
zu allererst die Assimilationskraft des menschlichen Wesens aus: dass sich
in dieses als bestimmende Elemente seines Lebens Geschehnisse einstellen,
die zugleich sozusagen unbeirrt ihres objektiven Weges gehen, dass sie von
der Subjektivität dieses Lebens einen Sinn, eine positive oder negative
Zweckbedeutung bekommen, während andererseits eben dieses Leben von ihnen
nach Richtung und Verhängnis bestimmt wird.
Die Aktivität und die
Passivität des Lebens in seinem tangentialen Verhältnis zu dem Weltlauf
ist im Schicksalsbegriff zu einer Tatsache geworden.
Wo eines dieser Elemente
ausbleibt, kommt es nicht zu einem »Schicksal«, und es mag deshalb zum
Erweis seiner Formung dienen, dass wir weder dem Tier noch dem Gott ein »Schicksal«
-es sei denn durch Vermenschlichung des einen oder des andern -
zuschreiben.
Dem Tier fehlt der
Lebenssinn, die eigene ideelle Intention, der sich ein außerhalb
gelegenes, rein kausales Geschehen bestimmend und doch wieder von jenem
eigenen Leben bestimmt, einfügen könnte.
Es handelt sich beim Tier
nur um das Leben überhaupt, das freilich in seinem natürlichen
Sich-Abspielen gefördert oder gehemmt werden kann, das aber nicht, wie
mehr oder weniger jedes menschliche, von der Idee eines besonderen, von
der Wirklichkeit realisierten oder gestörten Verlaufes begleitet ist.
Umgekehrt, für eine göttliche
Existenz bestehen keine ihr ursprünglich fremden an sich notwendigen
Ereignisse, sondern wir müssten uns die Ereignisse von vornherein durch
das göttliche Wesen umfasst und nach seinem Willen verlaufend denken,
ohne dass erst eine Hemmung oder Förderung, die jenes von ihnen erfährt,
ihre Zufälligkeit in einen Sinn zu verwandeln braucht.
Das menschliche Leben aber
steht unter dem Doppelaspekt: der Kausalität, der einfachen Natürlichkeit
seines Geschehens - und der Bedeutung, die, als Sinn, Wert, Zweck es überstrahlt
oder durchgeistet; oder, unter anderem Gesichtswinkel: wir sind einerseits
den kosmischen Bewegtheiten preisgegeben und eingeordnet, fühlen und führen
aber andererseits unsere individuelle Existenz aus einem eigenen Zentrum
heraus, als Selbstverantwortlichkeit und irgendwie in sich geschlossene
Form.
Die nächstliegende Art,
eines in das andere überzuführen, ist das praktische Wollen; aber man
hat weniger beobachtet, dass das, was wir nach seinen deutlichsten
Erscheinungen unser Schicksal nennen, eine ebenso spezifische Synthese der
gleichen Faktoren bedeutet.
Nur dass es hier nicht wie
beim Willen die Aktivität, sondern sozusagen die Passivität unserer
Lebensströmung ist, durch die bloße Tatsächlichkeiten an der letzteren
innerer Besonderheit und mikrokosmischem Sinn teilzuhaben bestimmt werden.
Indem wir etwas als
Schicksal betrachten, heben wir also die Zufälligkeit auf, die zwischen
den Ereignissen und dem eigenen Sinn unseres Lebens besteht.
Deshalb geben wir jenen
eine höhere Würde, wenn wir sie Schicksale nennen; was freilich nicht
selten zu einem großsprecherischen Missbrauch des Wortes verführt.
Denn es liegt darin
einerseits die Supposition, als wäre das Geschehen auf uns angelegt und
abgezielt - andererseits, als hätte unser Leben einen so mächtig
ausgreifenden Sinn, dass es alles Geschehen in sich einziehen kann.
Aber gerade aus der hier
skizzierten Struktur des Begriffs wird klar, dass eben nicht alles, was
uns überhaupt begegnet, Schicksal ist.
Denn unzählige Ereignisse
streifen zwar die äußeren Schichten unseres tatsächlichen Lebens, aber
nicht jene individuell sinnvolle Gerichtetheit seiner, die als unser
eigentliches Ich gilt.
Hier sind natürlich
gleitende Übergänge, aber man wird doch von einer Schwelle des
Schicksals sprechen können, einem Bedeutungsquantum der Ereignisse, von
dem an sie sozusagen die Idee unseres Lebens fördern oder hemmen.
Einen Bekannten auf der
Straße zu treffen, bleibt im Gebiet des Zufalls; auch dann noch, wenn man
jenem eben schreiben wollte und der Zufall dadurch »merkwürdig« wird,
d.h. ein Cachet des Sinnvollen bekommt.
Allein dies verläuft
wieder in das Zufällige, ohne sich mit der definitiven Teleologie des
Lebens zu verbinden.
Wird diese Begegnung aber
durch weitere angeknüpfte Folgen zum Ausgangspunkt tief eingreifender
Lebenswendungen, so wird der Sprachgebrauch sie als eine Fügung des
Schicksals bezeichnen und damit die ganz neue Kategorie andeuten: dass ein
nur peripherisches Geschehen jetzt, mit positiver oder negativer
Teleologie, der Einheit und dem Sinne eines individuellen Lebens
integrierend zugehört.
Dass diese eigentümliche
Synthese, diese Doppeleinstellung des Geschehens das Wesen des Schicksals
ausmacht, wird auch keineswegs dementiert, wenn wir von einem rein inneren
Schicksal sprechen.
Denn wo immer dies
geschieht, hat das Ich selbst sich in ein Subjekt und ein Objekt
gespalten.
Dies ist die allgemeine
Form, in der das bloße Bewusstsein zum persönlichen Geist wird: wir
wissen und verstehen uns selbst, wir selbst sind uns Gegenstand, wie die
übrige Welt es ist.
Und wie wir uns Objekt des
Erkennens sind, so des Erlebens.
Sobald unser eigenes Fühlen,
Denken, Wollen für uns unter die Kategorie des »Ereignisses« rückt,
wird das weiterströmende subjektive, zentrale Leben davon angerührt wie
von Inhalten äußerer Welt; wir nennen diese, im geschlossenen Umfang
unserer Gesamtpersönlichkeit vollzogene Berührung Schicksal, sobald sie
nicht mehr als ein bloßes Geschehen gilt, das zu der innerlichen
Bedeutung jenes zentralen Ichs bloß zufällig ist, sondern sobald dieses
kausal Auftauchende, Wirkliche unserer Existenz eben diesem Sinn ihrer
sich einfügt und von ihm aus eine neue Bedeutung - steigernd oder
ablenkend, modifizierend oder zerstörend - gewinnt.
Auch uns selbst gegenüber
sind wir in einer Passivität, die, indem sie der zentralen Aktivität
unseres Lebens assimiliert wird und sie bestimmt, gleichsam durch Rückstrahlung
von ihr als etwas Sinnvolles, für unser Leben teleologisch Bestimmtes
erscheint.
Aus dieser Struktur des
Schicksalsbegriffes wird die von je bemerkte »anscheinende
Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen« erklärlich, der man
allerhand wunderliche Metaphysiken untergebaut hat.
Besteht das Schicksal in
der charakterisierten Relation zwischen dem Peripherischen und dem
Zentralen, dem Passiven und dem Aktiven, dem bloß Geschehenden und dem
Zwecksinn - so entscheidet ersichtlich eben die Gerichtetheit der inneren
Lebensströmung darüber, was uns Schicksal sein soll, was nicht; sie
trifft gewissermaßen eine Selektion unter den uns anrührenden
Ereignissen und nur welches von diesen sich ihren Eigenschwingungen einzufügen
vermag (und selbst zu ihrer Abbiegung und Zerstörung gehört solche Einfügung)
spielt für uns die Rolle des Schicksals.
Gerade wie uns nur zur
Erkenntnis werden kann, was unseren ursprünglichen oder erworbenen
geistigen Normen entspricht, so dass es sich zur Formung durch sie hergibt
und unsere Erkenntnisse deshalb unserm Geist adäquat sein müssen - so
kann uns nur zum Schicksal werden, was von unserer eigensten
Lebensstimmung aufgenommen und zum Schicksal verarbeitet werden kann.
Den bloßen Ereignissen,
die sich diesem sie überkommenden Sinn entziehen, entsprechen dann etwa
jene bloß sinnlichen Wahrnehmungen, die uns zwar irgendeinen Inhalt
geben, die wir aber nicht verstehen, nicht von uns aus zu Erkenntnissen
formen können.
Das alte Rätsel: wieso
denn die Welt so eingerichtet sei, dass sie von der zufälligen Struktur
unseres Geistes begriffen werden könnte, löste der Kantische Begriff des
Erkennens: die begriffene Welt ist ein Produkt des erkennenden Geistes,
indem wir von ihr eben nur erkennen, was der Geist sich zur Formung durch
sich selbst aneignen kann.
So wird die scheinbare
Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen, die Prädestination, wonach
im großen und ganzen das Schicksal des Menschen und seine individuelle
Wesensart ganz merkwürdig zueinander passen, durch diesen
Schicksalsbegriff verständlich.
Wie die Welt zwar bestimmt,
was unser Erkenntnisinhalt sein soll, aber nur weil das Erkennen zuvor
bestimmt hat, was uns Welt sein kann - so bestimmt zwar das Schicksal das
Leben des Individuums, aber nur weil dieses letztere durch eine gewisse
Affinität diejenigen Ereignisse ausgewählt hat, denen es den Sinn, durch
den sie sein »Schicksal« werden, kann zuteil werden lassen.
Wenn manche Ereignisse
schlechthin als Schicksal, gleichviel welches Individuums, gelten, so ist
es, weil wir gewisse, dafür entscheidende Lebensintentionen bei allen
Menschen voraussetzen.
Indes muss man doch wohl
sagen: dass jemandes Vater ermordet wird und seine Mutter den Mörder
heiratet, würde wohl für einen jeden ein überwältigendes Geschehnis
sein; allein dass es Hamlets Schicksal wird, ist durch Hamlets Wesen und
nicht dadurch, dass dies Ereignis ihn als irgendeinen jemand getroffen
hat, bestimmt.
Die Analogie zwischen der
Gestaltung des Erlebens und der des Erkennens führt noch einen Schritt
weiter.
So entscheidend die eigene
synthetische Energie des Ich für die Bildung der Erkenntniswelt aus dem
Sinnesmaterial sein mag - die bloße Tatsache, dass dieses gegeben, dass
sein Inhalt nicht aus dem Geist allein konstruierbar ist, lässt
irgendetwas Dunkles, Unauflösbares in dieser Welt bestehen.
Und eben ein solches
verbleibt dem Schicksal.
Gewiss wird dem äußeren,
seinem Ursprung nach gegen die personale Lebensteleologie zufälligen
Ereignis dadurch ein Sinn entlockt, dass es in jene eingestellt und zum
Schicksal gestaltet wird.
Immerhin, es bringt sein
Gegebensein, seinen aus anderer Ordnung stammenden Inhalt mit, es beharrt
ein heterogener Kern oder Rest, mit dem es eben nicht bloß unser
Schicksal ist, an den wir freilich zweckmäßiger Weise meistens nicht
hindenken, außer wenn etwa die subjektive Unerwünschtheit unserer
Schicksale uns an dies Preisgegebensein erinnert.
Dass in allem, was wir
unser Schicksal nennen, dem Günstigen wie dem Zerstörenden, ein Etwas
nicht nur von unserm Verstand unbegriffen, sondern auch von unserer
Lebensintention zwar aufgenommen, aber doch nicht bis ins Letzte
assimiliert ist - das entspricht, nach der ganzen Struktur des Schicksals,
dem unheimlichen Gefühl, dass das ganz Notwendige unseres Lebens doch
noch irgendwie ein Zufälliges sei.
Das volle Gegenteil und die
Überwindung davon bietet nur die Form der Kunst, in der Tragödie.
Denn diese lässt uns fühlen,
dass das Zufällige gerade bis in seinen tiefsten Grund hinein ein
Notwendiges ist.
Gewiss geht der tragische
Held an der Reibung zwischen irgendwelchen äußeren Gegebenheiten und
seiner eigenen Lebensintention zugrunde; allein dass dies geschieht, ist
eben in dieser letzteren selbst ganz fundamental vorgezeichnet - sonst wäre
sein Untergang nichts Tragisches, sondern nur etwas Trauriges.
In der Aufhebung jener
Unheimlichkeit des Zufälligen in ein Notwendiges liegt das »Versöhnende«
der Tragödie; sie ist insofern immer »Schicksals«-Tragödie.
Denn die Bedeutung des
Schicksalsbegriffes: dass das bloß Ereignishafte der Objektivität sich
in das Sinnhafte einer individuellen Lebensteleologie wandele oder als
solches enthülle, - stellt sie in einer Reinheit dar, zu der es unser
empirisches Schicksal nicht bringt, weil sein Ereigniselement hier auf
sein selbständig kausales, sinnfremdes Wesen nie ganz verzichtet. -
Indem also das Schicksal in
dieser aneignenden Beziehung der einen Lebenskategorie zu der anderen
besteht, und der Ausfall der einen die Schicksalslosigkeit des Gottes, der
der anderen die Schicksalslosigkeit des Tieres bezeichnet - nähert sich
doch auch der Spielraum menschlicher Existenzen diesen Extremen.
Nur dass das
Unter-dem-Schicksal-Stehen und das Über-dem-Schicksal-Stehen an Menschen
immer dadurch gefärbt ist, dass es das eigentlich Menschliche, unsere
eigentliche Bestimmung ist, im Schicksal zu stehen.
Unter dem Schicksal stehen
heißt: keine eigene Lebensintention haben, der die Assimilation der bloßen
Ereignisse, in Bewältigen und Bewältigtwerden, überhaupt zur Aufgabe
werden könnte; heißt, selbst bloß Ereignis sein und die Dinge, auch wo
sie uns anrühren, in ihrem sinnfreien Verlaufe belassen.
Wer aber über dem
Schicksal steht - dessen Lebensintention ist von innen her so unablenkbar
und unbeeinflussbar bestimmt, dass das eigene Sein und Verlaufen der
Dinge, die das Leben aufzunehmen bestimmt ist, dem gar keine Aufgabe
stellt; hier müssen sich die Ereignisse der übermächtigen Strömung des
Kraft gewordenen Sinnes so widerstandslos einfügen, dass es ist, als berührten
sie diese überhaupt nicht.
Wer über dem Schicksal
steht, kann nicht Held der Tragödie sein.
Denn die Seinsrichtung des
letzteren erfährt gerade die volle antagonistische Wucht der Wirklichkeit
außerhalb seiner - nur dass dieses Vergewaltigtwerden selbst noch einmal
von seiner Lebensteleologie umgriffen wird, dass der bis ins letzte
durchlittene Dualismus von Wirklichkeit und Sinn die Form ist, in der die
Einheit dieses Sinnes lebt.
In dem aber, der über dem
Schicksal steht, taucht diese Form überhaupt nicht in den Dualismus ein.
Er ist davon nicht frei,
wie der Gott, dem das Ereignen von vornherein in seiner absoluten
Zweckreihe steht, sondern nur, weil sein Lebensstrom für sich allein so
stark ist, dass jede einfließende Gegenströmung eine zu vernachlässigende
Größe wird.
Und obgleich der
Schicksalsbegriff, wie ich ihn hier deutete, das eigentliche Los des
Menschen enthält; obgleich das Zutief- und Zuhoch-für-dasSchicksal in
keinem empirischen Leben anders als annähernd zu verwirklichen ist - so
sind doch auch diese Extreme dem Menschenleben innig verhaftet.
Denn auch dies ist sein
eigenstes, wenn auch nur in begrifflichem Widerspruch ausdrückbares
Wesen: dass es über sich selbst hinausgreifen kann.
Nach mehr als einer
Richtung hin empfinden wir bestimmte Grenzen, in die das Zentrale und
Spezifische unseres Daseins geformt ist; dennoch schwingt das Leben über
und unter diese Grenzen hin, ja vielleicht ist dies der weiteste Sinn des
Lebens: all das, was seine eigenen Grenzen überschreitet, dennoch in sich
zu schließen. |