Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Über einige gegenwärtige Probleme der Philosophie

ex: Vossische Zeitung. Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, Nr. 588, Morgenausgabe, Sonntag, 17. November 1912 (Berlin)

Man wird den Fortschritt der praktischen Kultur, der technischen wie der sozialen, mindestens zum großen Teil so formulieren können: dass alles, was wir erreichen und was wir vermeiden wollen, weniger und weniger eine unmittelbar auf diese Endabsichten gehende Bestrebung hervorruft, sondern dass unsere Arbeit und unser Interesse den Mitteln und Bedingungen gilt, die erst ihrerseits den schließlich gewünschten Erfolg bewirken Man denke an alle Prophylaxis; statt die Krankheit zu heilen, versuchen wir lieber, sie durch Schaffung günstiger Lebensumstände gar nicht erst aufkommen zu lassen, statt den Verbrecher zu strafen, streben wir nach einer Gesellschaftsverfassung, die die Entwicklung zum Verbrecher hindert.

Wie wenige von den Gegenständen unseres Verbrauches gehen noch unmittelbar aus der Arbeit unserer Hände hervor! Wir schieben die Maschine dazwischen, die ihrerseits das Produkt herstellt, wir bauen vielgliedrige Reihen von Mitteln und Mitteln der Mittel, an deren Ende endlich das eigentlich Gewünschte hervortritt - und oft genug vergessen wir über der Arbeit an den Mitteln überhaupt den Endzweck und bleiben mit unsern Kräften und unserm Bewusstsein dauernd an den Bedingungen haften, die uns schließlich selbst als Endzwecke erscheinen.

Es ist nun sehr merkwürdig, dass die Philosophie, scheinbar von solchen zeitlichen Nötigungen und gelegentlichen Befangenheiten am weitesten entfernt, sich dieser allgemeinen Kulturformung nicht entzogen hat.

Die Revolution der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert, die sich an den Namen Kant knüpft, wendet die Frage: Wie sind die Dinge, ihr Wesen, ihr Sinn, ihr Zweck? - In die andere: Welches sind die Erkenntnismittel, durch welche derartige Fragen überhaupt gestellt, beantwortet oder abgewiesen werden? Um diese Wendung von den Sachen zu den Bedingungen der Sachen zu ermöglichen, musste Kant freilich die Sachenwelt selbst in »unsere Vorstellung« verwandeln, d. h. erklären, dass alles, was die Dinge überhaupt für uns sein können, sich mit dem erschöpft, was wir von ihnen erkennen.

Diese Konzentrierung des philosophischen Interesses auf die Bedingungen des Erkennens, die ersichtlich dessen Zulänglichkeit scharfen Kriterien unterwarf, hat zunächst nicht standgehalten, sondern bekanntlich einer Epoche spekulativer Philosophie, zuhöchst der Hegelschen, Platz gemacht, in der das Denken wieder die ganz unmittelbare Wirklichkeit zu ergreifen meinte, unbesorgt um die Mittel, die ihm dieses Ergreifen möglich machten oder deren Unzulänglichkeit es ihm versagte.

Es ist ebenso bekannt, dass nach dem Zusammenbruch dieser Periode die Philosophie überhaupt an dem erkenntnistheoretischen Problem wieder aufgelebt ist.

Man ließ und lässt allen Erkenntnisinhalt, der überhaupt Dinge angeht, so bestehen, wie die Einzelwissenschaften ihn gewinnen, und fragt nur nach den Voraussetzungen und dem Rechte der Erkenntnis als solcher, nach den Grundlagen und Methoden jener Einzelwissenschaften.

Der Punkt, an dem sich die Philosophie als prinzipiellste und umfassendste Wissenschaft, als die höchste Einheit alles Erkennens auftut, liegt nicht in irgendeiner Aussage über die Dinge selbst, sondern in der Erkenntnis der Bedingungen, unter denen solche Erkenntnisse möglich und wirklich sind.

Diese Beschränkung ihres Gebietes auf Erkenntnistheorie, Wissenschaftslehre und -kritik, Methodologie ist ein Fall jener kulturellen Tendenz auf »Prophylaxe«: die Richtung der Arbeit nicht auf das, was man eigentlich wissen will, sondern auf die Ursachen, die dies Definitive ihrerseits erzeugen, zu lenken.

Dieser Richtung sind nun neuerdings Gegenströmungen entstanden.

Die Philosophie, die nur das Erkennen selbst zum Gegenstande hat, erscheint wie jemand, der dauernd Messer und Gabel putzt und auf ihre Gebrauchsfähigkeit untersucht, aber nichts zu essen hat.

Das Problem, das Erkennen zu erkennen, hat sich einerseits als viel weniger fruchtbar erwiesen, als man noch vor wenigen Jahrzehnten glaubte, andererseits weisen die gar nicht entscheidbaren, vielfach dogmatisch erstarrten Gegensätze seiner Beantwortungen darauf hin, dass in der Fragestellung irgendein Fehler stecken muss, der freilich bisher noch nicht ganz überzeugend formuliert worden ist.

In jedem Fall ist wieder ein Mut aufgekommen, den letzten sachlichen Fragen über Welt und Leben die scheinbar für sie verschlossenen Tore der Philosophie wieder zu öffnen.

Zugegeben selbst, dass sie diese Fragen nicht in demselben beweisbar eindeutigen Sinne »beantworten« kann, in dem die Erfahrungswissenschaften die ihrigen, so bleiben zu ihrer Legitimierung noch immer die Möglichkeiten: dass ihre sehr mannigfaltigen Antworten sich zu der Wahrheit verhalten wie die Ätherteilchen im unpolarisierten Lichtstrahl zu dessen Richtung, die sie umspielen; sie machen diesen Strahl aus und doch fällt die Bewegung keines einzigen mit seiner Richtung zusammen.

Oder dass die Philosophie überhaupt einen anderen Wahrheitsbegriff hat als die anderen Wissenschaften, dass er zum Beispiel in dem zutreffenden Ausdruck für das Verhältnis der großen Geistestypen zur Welt liegt, das ersichtlich von dieser Welt selbst sehr verschiedenartige und innerhalb der Philosophie gleichberechtigte, wenn auch von anderen Kriterien her irrige Bilder erzeugt.

Nun ist nicht zu leugnen, dass für die meisten von uns, namentlich in Deutschland, die unmittelbar auf die Dinge gerichtete Spekulation und Bildformung dauernd durch die erkenntnistheoretische Frage: ob wir denn auch Recht und Mittel zu solcher Erkenntnis hätten, gehemmt wird.

Bei allen einzelnen Vorbehalten gegen diese, von Kant eingesetzte »Polizei« schleppen wir doch alle die Kantische Kette am Fuß mit, und die suggestive Wirkung, die einerseits die Philosophie von Husserl, andererseits die von Bergson ausübt, geht großenteils auf ihre Freiheit von den Kantischen Voraussetzungen zurück.

Denn diese Voraussetzungen schaffen uns die lähmende Situation: dass wir ihr logisches Recht anerkennen müssen, und dass sie dennoch einen geheimen Widerspruch enthalten müssen, der ihre Weiterentwicklungen über eine nah gelegene Grenze hinaus mit Sterilität schlägt.

Mit dieser Frage ist eine andere mannigfach verzweigt, die näher an die philosophische »Weltanschauung« herantritt.

Das Ganze unseres Daseins, das sich als Einheit unserm Begreifen nicht stellt, zerlegt sich dem analysierenden Blick in einen Doppelaspekt.

Wir haben es einerseits als eine Summe und Verwebtheit von Inhalten, d. h. von Anschauungen und Begriffen, Willenszielen und Gefühlstönen, Notwendigkeiten und Zufallsspielen.

Andererseits aber erleben wir alles dies, der Prozess des Lebens scheint bald das eine, bald das andere zu ergreifen, innerhalb des Rhythmus seiner Strömung gewinnen all jene Inhalte eine eigentümliche Verwirklichungsform, eine andere, wie wenn sie in logischer Begrifflichkeit, in zeitloser Anschauung, als ästhetische Bilder, als objektive Tatsächlichketten dastehen.

Der Philosophie ist nun im großen und ganzen an der Bestimmung der Inhalte nach Art, Maß, Zusammenhang gelegen; das Leben selbst, den formalen Prozess, durch den diese Inhalte die unsrigen, unsere Erlebnisse werden, sucht sie möglichst auszuscheiden, um ein reines logisches, wertmäßiges, metaphysisches Bild des Daseins zu gewinnen: was man »Lebensphilosophie« nennt, ist im allgemeinen nur entweder Moralpredigt oder Reflexion über bestimmte typische Lebensinhalte.

Unter den modernen Denkern mindestens ist nun Schopenhauer der erste, der über das Leben als solches philosophiert.

Mit seiner letzten Absicht fragt er nicht nach dem Sinn oder dem Wert von irgendetwas im Leben, sondern nach dem Sinn und Wert des bloßen Lebens und der Färbung, die auf alle Inhalte von der Tatsache her, dass sie erlebt werden, ausstrahlt.

Diese Tatsache ist hier zum ersten Male, wenn auch noch nicht mit ausdrücklicher Betonung, in selbständiger, Weltanschauung-begründender Bedeutung erfasst.

Was das Leben besagt und was es wert ist, bloß weil es Leben ist, nicht weil es dies und jenes erlebt, wird hier gefragt.

Mit viel schärferem Bewusstsein hat Nietzsche dies Problem aufgegriffen, das er freilich im entgegengesetzten Sinne wie Schopenhauer löst.

Alle Inhalte und Werte, ethischer, intellektueller, ästhetischer Art sind ihm ganz und gar Ausgestaltungen des Lebensprozesses, und wenn er in ihnen allen »Willen zur Macht« sieht, so ist es, weil ihm das Leben selbst in seinem eigentlichen Wesen Machtwille ist: nicht als ob wir lebten und hätten dann den Willen zur Macht, sondern beides sind nur verschiedene Namen einer und derselben Tatsache.

Was irgendwelche erlebten Inhalte der sittlichen oder wissenschaftlichen, der ästhetischen oder religiösen Reihe an Bedeutung besitzen, ist gleich dem Quantum von Leben, das in ihnen investiert ist, sie haben sozusagen kein Eigengesetz und keinen Eigenwert.

Alle ideale Forderung, die an den Menschen und die Menschheit ergeht, hat deshalb zu ihrem einzigen Sinn die Steigerung und Vervollkommnung des Lebens rein nach dem Rhythmus, der Intensität, den Formen, die ihm als Leben, aber nicht nach den Normen dieser oder jener Lebensinhalte zukommen.*

* Ich darf hier wohl auf die weiteren Ausführungen meines Buches: »Schopenhauer u. Nietzsche« verweisen [in GSG 10, S. 167-408].

Von einer ganz anderen Seite her hat Bergson den Lebensbegriff in das Zentrum einer Weltanschauung geschoben.

Ihm ist Leben das physisch-metaphysische Grundgeschehen des Weltprozesses überhaupt; von vornherein und in unendlichem Fortgang spaltet sich dieser, das Dasein nicht nur tragende, sondern ausmachende Elan vital in eine aufwärts gehende Richtung, die immer mehr Leben wird, bis zum menschlichen Bewusstsein hin, und eine abwärts gehende, wo er in Mechanismus und Materie versinkt, oder genauer: zu Mechanismus und Materie wird.

Schon aus dieser absolut primären Stellung des Lebens, aus seiner Auffassung als eines schlechthin kontinuierlichen, stillstandlosen Werdens folgt, dass ihm keine aus eigenem Grunde und eigenem Recht bestehenden Inhalte gegenüber oder zur Seite gesetzt werden können; worin nun freilich die Ergänzungsbedürftigkeit dieser Philosophie liegen dürfte.

Was bei Nietzsche eigentlich nur das menschliche Dasein und seine spezifischen Werte betrifft, ist bei Bergson kosmisch gewendet: alles, was überhaupt ist, gleichviel mit welchem angebbaren Inhalt, ist eine besondere Entwicklung jenes Elan vital.

Und wenn er statt der wissenschaftlichen Erkenntnis, die ihm nur als eine durch die praktischen Notwendigkeiten geformte, symbolische, künstlich mechanisierte erscheint, die Intuition preist, die sich unmittelbar in das Wesen der Dinge hineinversetzt und sich mit ihrem Dasein selbst erfüllt, so heißt das schließlich, dass das Leben nur durch das Leben begriffen werden kann.

Es ist die Konsequenz davon, dass das Wesen der Dinge ein Lebensprozess ist, und das Leben schließt sich sozusagen in sich selbst, indem es nun auch als Erkennen all die Starrheiten beseitigt, die seine abschließende Konzentration auf die dem Lebensstrom entrissenen, in abstrakte Selbstgenugsamkeit versetzten Inhalte mit sich brachte.

Diese werden wieder in jenem Strom aufgelöst, und darum muss das Erkennen seinerseits wieder Leben statt ein Hinstellen verfestigter Bilder werden, muss ihr Leben werden, wenn es zu seinem Sinn, seiner Wahrheit kommen soll.

Die Philosophie, die auf den Lebensprozess als auf die höchste Allgemeinheit und die letzte Formungskraft des uns zugewiesenen Daseins zurückgeht, scheint mir das wesentlichste Motiv zu bringen, das die Gegenwart in die geschichtliche Entwicklung des philosophischen Geistes einzusetzen hat.

Man könnte hierin ein wohl begreifliches Fortschreiten sehen.

Die griechische Philosophie ruhte auf dem Begriff der Substanz, einer unabänderlichen Wesenheit, die alle Fluktuationen der Erscheinungen unterbaut und übersteht, und den festen Formen, in denen diese Erscheinungen sich gestalten und die sich in ewig gültigen, systematisch verketteten Begriffen, den Trägern aller Wahrheit, abspiegeln.

Dieser Weltanschauung, die den Kern alles Seins und Erkennens in der Unbeweglichkeit " von Substanz, Formen, Begriffen fand und die das mittelalterliche Denken eigentlich nur christlich-religiös gefärbt und überwölbt hatte, setzte sich die neuzeitliche gegenüber, die die entscheidende Form des Daseins in der Bewegung fand.

Und zwar in derjenigen Bewegung, die sich am leichtesten und anschaulichsten begreifen und formulieren ließ, in der mechanischen.

Jetzt galt es nicht mehr, das Weltbild auf substantielle Festigkeit und logisch verbundene Begriffe zu bringen, sondern auf Gesetze, nach denen die Bewegtheiten des Seins berechenbar wären.

Denn wenn die Wirklichkeit eine in jedem Augenblick veränderte ist, so findet der Geist nicht mehr in ihrem Stoff und in ihren Formen, sondern nur in den Gesetzen der Veränderungen das Gültige, Entscheidende und Beherrschende gegenüber eben dieser Wirklichkeit.

Hierin hat auch die Kantische Stellungnahme nichts geändert; nur dass er die Wirklichkeit als ein Vorstellen der Wirklichkeit begriff und nach den Bedingungen dieses Vorstellens forschte.

Der Kosmos blieb ihm eine mechanische Bewegtheit, deren Gesetze zu erkennen, die Aufgabe der Wissenschaft ist, und wenn er die Mechanik nicht glaubte auf das organische Leben anwenden zu können, so schied ihm dieses darum auch aus dem Bezirk des eigentlich Erkennbaren aus.

Die Philosophie des Lebens nun erscheint als die dritte Position nach diesen beiden.

Das Leben als das metaphysische, Subjekt und Objekt gleichsam aus sich entlassende Grundprinzip verhält sich - ganz ungefähr - zu dem Prinzip der mechanischen Bewegtheit wie diese zu dem Substantialismus der Griechen.

Überblickt man die Geschichte des europäischen Geistes in den allergröbsten Zügen, so geht ihr Weg - natürlich mit unzähligen Ausnahmen, Abweichungen, Rückschlägen - unverkennbar auf wachsende »Verlebendigung« des Weltbildes und des Prinzips, durch das seine Wirklichkeit sich dem Geiste öffnet.

Die Reduktion der Wirklichkeit und des Erkennens auf Bewegung und mechanistische Gesetze erscheint jetzt als eine Zwischenstufe, eine Vorbereitung zu dem Prinzip des Lebens.

Was sich in der Gegenwart nun als auf dies gegründete Philosophie anbietet, ist freilich ein noch tastendes, in seinen Erfolgen noch keineswegs sicheres Suchen nach einer neuen Basis des Weltverständnisses - da wir vielleicht alle das klarere oder dunklere Gefühl haben, dass die bisherigen Formen des geistigen Daseins sich einer Erschöpfung ihrer Fruchtbarkeit nähern.

Was aber diese Philosophie, unvollkommen und ergänzungsbedürftig wie sie ist, mit der Hoffnung ausstattet, die Entwicklung des Geistes auf ihre nächste Stufe zu heben, ist vielleicht dies: sie ist der bisher reinste Ausdruck jener beobachtbaren Richtung des sich stetig wandelnden Denkens auf »Verlebendigung« seiner selbst und seiner Welt.


 

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