Georg Simmel:
Goethes Individualismus
ex: LOGOS. Internationale
Zeitschrift für Philosophie der Kultur, herausgegeben von Richard Kroner
und Georg Mehlis, Band III, 1912, 3. Heft (Dezember), S. 251-274 (Tübingen)
Mit den frühesten Schritten des
vorstellenden Bewusstseins muss sich in ihm die Individualität - nicht
als allgemeiner Begriff, aber als wirksame, weltbildende Kategorie - zu
entwickeln beginnen.
Denn indem überhaupt eine Mehrheit
verschiedener Dinge zusammengeschaut oder zusammengedacht werden, steht
das einzelne dem andern einzelnen oder der Gesamtheit, die es einbegreift,
gegenüber, es ist eines, indem es ein anderes ist als andere.
Mit der ersten Empfindung von
Unterschieden, deren Träger als Dinge vorgestellt werden, beginnt die
Entwicklung der Individualität; und zwar setzt sie mit zwei Motiven ein.
Jede Existenz: ein Stein oder ein Baum,
ein Gestirn oder ein Mensch, ist zunächst individuell, indem sie ein
gesondertes Dasein besitzt, d. h. irgend eine Art von geschlossenem
Umfang, innerhalb dessen sie ein in irgend einem Sinne Selbständiges und
Einheitliches ist.
Hier kommt die von andern etwa
unterschiedene Beschaffenheit des Wesens nicht in Betracht, sondern nur,
dass dieses Stück des Daseins ein in sich zentriertes und - in welchem Maß
auch immer- für sich bestehendes ist; gleichviel, ob es mit diesem
Eigenbestande dann in Abhängigkeiten und weiteren Gesamtheiten
verflochten ist.
Bestünde etwa die Welt aus lauter
absolut gleichartigen Atomen, so würde ein jedes von ihnen, von jedem
andern qualitativ ununterscheidbar, dennoch in diesem Sinne ein Individuum
sein.
Dieser Begriff aber erfährt sozusagen
eine Steigerung, sobald das Anders-Sein sich auf die Eigenschaften des
daseienden Subjektes erstreckt.
Nun kommt es - in Anwendung auf den
Menschen - nicht mehr nur darauf an, ein Andrer zu sein, sondern ein
Anderes zu sein, als Andere; nicht nur im Sein, sondern auch im So-Sein
sich von ihnen zu unterscheiden.
Das ganze denkende und praktische Leben
der Menschheit läuft unter der Wirksamkeit dieser so differenzierten
Kategorie ab.
In unendlichen Abstufungen der
Entschiedenheit erfassen wir die Geteiltheit des Daseins als
Individualisierung - von dem »einen« Stück toter, mechanisch trennbarer
Materie bis zu der »unteilbaren« Seele des Menschen.
Alle Atomistik ist nur der reinste
Ausdruck dieses fortwährend geübten Verfahrens: dass wir aus dem Dasein
überhaupt Stücke aussondern, deren jedem wir ein Maß von Selbständigkeit
zuschreiben; seine Eigenschaften haben hiermit nichts zu tun, es mag sehr
viele oder sehr wenige besitzen, vergleichbare oder unvergleichbare - hier
aber handelt es sich darum, dass Wesen als irgendwie selbstgenugsame
Einheiten gelten, weil wir jedem von ihnen sozusagen ein volles Dasein
zuschreiben.
So entscheidend für unsere Weltbildung
diese Kategorie ist, so spitzt sich doch das Bewusstsein mehr nach ihrer
Weiterbildung ins Qualitative zu.
Gegenüber Menschen wie Gegenständen
ist unser Interesse und unsere Tätigkeit darauf gegründet, dass wir die
Unterschiedenheit eines jeden gegen jeden kennen, und selbst festgestellte
Gleichheit ist nur dadurch wichtig, dass sie etwas andres ist als die
sonst oder daneben festgestellte Ungleichheit.
Diese Kategorien, die so gewissermaßen
als reale Kräfte von jeher die Inhalte von Welt und Leben gestaltet
haben, gewinnen nun in der Entwicklung des modernen Geistes ein über ihre
reale Wirksamkeit hinausgehendes Bewusstsein.
Und zwar in der doppelten Form: einmal
als rein abstrakte Begriffe, mit denen die Erkenntnis die Struktur der
Wirklichkeit deutet, und dann als Ideale, zu deren immer vollkommenerer
Ausprägung der Mensch die eigene und fremde Wirklichkeit zu entwickeln hätte.
In der Ideenwelt des 18. Jahrhunderts
dominiert die differentielle Existenz des Menschen, das Gesammeltsein in
dem selbständigen Punkt des Ich, die Gelöstheit eines für sich selbst
verantwortlichen Daseins aus den Verschmelzungen, Bindungen,
Vergewaltigungen von Geschichte und Gesellschaft.
Entzogen den Durchbrechungen seiner persönlichen
Grenze, mit denen diese ihn bedrohen, ist er schlechthin ein individuelles
Dasein, und deshalb ist er metaphysisch ebenso absolut frei, wie er es
moralisch, politisch, intellektuell, religiös sein soll.
Indem er so seine eigene eigentliche
Natur dokumentiert, taucht er damit in den Grund der Natur überhaupt zurück,
von der die geschichtlich-gesellschaftlichen Mächte ihn losgerissen
haben, weil sie ihm die Freiheit seines individuellen, nur in seinem
eigenen Umfange wohnenden Fürsichseins genommen haben.
Die Natur aber ist der Ort der absoluten
Gleichheit vor dem Gesetz: so sind denn alle Individuen in ihrem letzten
Seinsgrunde gleich, wie die Atome der konsequentesten Atomistik.
Die Beschaffenheitsunterschiede reichen
in den entscheidenden Punkt der Individualität nicht hinüber.
Vielleicht war es das Gefühl, dass das
schlechthin auf sich gestellte, nur aus den Kräften des eigenen Seins
gespeiste Individuum seine Vereinsamung und seine Verantwortung nicht
tragen könnte, was diesen Individualismus einen Halt in der Zugehörigkeit
zu der Natur überhaupt und in der Gleichheit aller solchen Individuen
untereinander suchen ließ.
Die andere Form des Individualismus,
gegen Ende des 18. Jahrhunderts und namentlich bei den Romantikern rein
ausgebildet, sieht die Bedeutung der Individualität nicht darin, dass
sich der Kreis ihrer Existenz um ein selbständiges Ich legt, eine in sich
geschlossene Welt - sondern dass der Inhalt dieser Welt, die Qualitäten
der Wesenskräfte und -äußerungen, von Individuum zu Individuum
unterschieden sind.
Man könnte ihn, im Gegensatz zu jenem
formalen, den qualitativen Individualismus nennen; nicht die Selbständigkeit
des Seins prinzipiell gleicher Wesen, sondern die Unverwechselbarkeit des
So-Seins von prinzipiell ungleichen ist ihm ebenso die tiefste
Wirklichkeit wie die ideale Forderung des Kosmos und zuhöchst der
Menschenwelt.
Dort ist es der Lebensprozess, dessen
Formung - nämlich sein Ablauf um gegeneinander isolierte und freie, aber
homogene Zentren herum - in Frage steht, hier der Inhalt dieses Prozesses,
den keiner seiner Träger mit dem andern teilt und teilen soll.
Zu dieser großen Entwicklung des
Individualismus, deren reinste Aussprachen zu Goethes Lebzeiten
stattfanden, hat er nun keineswegs ein einseitig entschiedenes Verhältnis.
Soweit überhaupt nach einem der parteimäßigen
und also rohen Schlagworte gefragt wird, muss seine Lebensanschauung eine
individualistische heißen; es verleugnet sich nicht, dass den Geist
seiner Zeit die angedeuteten Tendenzen leiteten.
»Wenn ich aussprechen soll, sagt er
kurz vor seinem Tode, was ich den Deutschen überhaupt, besonders den
jungen Dichtern geworden bin, so darf ich mich wohl ihren Befreier nennen:
denn sie sind an mir gewahr geworden, dass, wie der Mensch von innen
heraus leben, der Künstler von innen heraus wirken müsse, indem er, gebärde
er sich, wie er will, immer nur sein Individuum zu Tage fördern wird.«
Was als individuelles Leben erscheint,
hat seine letzte Wurzel im Individuum selbst; dieses Verhältnis zum Leben
setzt sich einer Dreiheit anderer Möglichkeiten entgegen.
Für gewisse theologische Denkarten strömen
dem Individuum seine Energien, nach Maß und Richtung, von einer
transzendenten Macht zu, die Inhalte seiner Existenz sind ihm ebenso wie
diese Existenz selbst als bloße Teile eines ihm selbst verborgenen und
eigentlich außerhalb seiner gelegenen Weltplanes verliehen.
Der extreme Soziologismus ferner macht
das Individuum zum bloßen Schnittpunkt von Fäden, die die Gesellschaft
vor ihm und neben ihm gesponnen hat, zum Gefäß sozialer Einflüsse, aus
deren wechselnden Mischungen die Inhalte und die Färbung seiner Existenz
restlos herzuleiten sind.
Die naturalistische Weltanschauung
endlich setzt an die Stelle des sozialen Ursprungs des Individuums den
kosmisch-kausalen.
Auch hier ist das Individuum sozusagen
eine Illusion, seine vielleicht unvergleichbare Form entsteht nur in einem
Zusammenströmen eben derselben Stoffe und Energien, die auch das Gestirn
und das Sandkorn bauen, ohne dass diese Form ein eigener Ursprung von
Inhalten und Betätigungen seines Lebens wäre.
In all diesen Fällen kann der Mensch
nicht »von innen heraus leben«, weil sein »Inneres« als solches eben
keine Produktivkräfte entfaltet; was er »zu Tage fördert«, ist nicht
»sein Individuum«, weil dieses überhaupt keine Substanz ist, sondern
irgend etwas andres, Metaphysisches, Soziales, Naturhaftes, das nur die
zufällige Form freier Individualität passiert hat; diese selbst kann
nichts Produktives sein, und also nichts urtümlich Eigenes, sozusagen
nicht sich selbst hervorbringen.
Die Kardinalfrage der Lebensanschauung:
ist das Individuum ein letzter Quellpunkt des Weltgeschehens, ist es
seinem Wesen als Individuum nach schöpferisch; oder ist es ein
Durchgangspunkt für Mächte und Strömungen überindividueller
Provenienz; ist es die Substanz, aus der die Formungen des geistigen
Daseins quellen oder die Formung, die andere Substanzen dieses Daseins
annehmen - diese Frage ist für Goethe in dem ersteren Sinne entschieden.
Dies ist ein metaphysisches Grundgefühl
Goethes, das freilich sein Verhältnis zum Problem der Individualität
keineswegs abschließt, mit dem er aber jener ersten Form des
Individualismus sich zubekennt.
Nun enthält aber diese Eigenproduktion
des Individuums noch eine Zweiheit, die die eben getroffene Entscheidung
noch einmal differenziert.
All jene so entgegengesetzten Theorien
waren im Sinne einer dynamischen Einwirkung auf das Individuum gemeint;
sein Leben war durch die realen Kräfte bestimmt oder sogar konstituiert,
die von außerhalb seiner gelegenen Instanzen her flossen und an denen
dieses Leben, als ein ablaufender Prozess, seine richtunggebenden Kausalitäten
fand; und diese bestimmten unvermeidlich auch die Inhalte eben des
Lebensprozesses.
Wenn nun aber dieser Prozess sozusagen
aus sich selbst, von innen her, abläuft, wenn er schöpferisch ist - so
braucht darum sein Inhalt noch keineswegs einzig, originell,
unvergleichbar zu sein; dieser vielmehr kann durchaus ein typischer,
vorbestehender, allgemeingültiger sein.
Und damit scheint allerdings mindestens
eine Richtung in Goethes vielverwebten Verhältnissen zum Problem des
Individualismus bezeichnet.
In ureigner Dynamik erzeugt sich der
Prozess eines jeden Lebens, ihm verbleibt das eigentlich Persönliche, das
aus keiner metaphysischen, mechanischen, historischen Instanz stammt; und
was er erzeugt, ist deshalb durchaus der echte Ausdruck eben dieser Persönlichkeit.
Dies bedarf zuerst der Festlegung.
Es gehören hierhin Aussprüche wie die,
dass poetischer Gehalt Gehalt des eigenen Lebens ist; hierhin die
bedeutsamen Worte: »Man gibt zu, dass Poeten geboren werden, man gibt es
bei allen Künsten zu, weil man muss.
Aber wenn man es genau betrachtet, wird
jede, auch die geringste Fähigkeit uns angeboren, und es gibt keine
unbestimmte Fähigkeit.
Nur unsre zweideutige, zerstreute
Erziehung macht die Menschen ungewiss; sie erregt Wünsche, statt Triebe
zu beleben, und statt den wirklichen Anlagen aufzuhelfen, richtet sie das
Streben nach Gegenständen, die so oft mit der Natur, die sich nach ihnen
bemüht, nicht übereinstimmen.« Deutlicher kann nicht die Individualität
als die allein zu Recht bestehende Quelle des Lebens bezeichnet,
entschiedener nicht dessen Gestaltung aus dem heraus abgelehnt werden, was
uns als der Individualität Äußerliches und deshalb Zufälliges umgibt.
Das gehört auch in den allgemeinen Sinn
der unmittelbar ganz anders orientierten Äußerung über die »unverhältnismäßigen«
Organe von Tieren: Hörner, lange Schweife, Mähnen, zu denen im Gegensatz
der Mensch alles in die genaue Harmonie seiner Gestalt einbezieht und »alles
was er hat, auch ist«.
Auch im Geistigen hängt so nichts am
Menschen als ein Fremdes, so dass man diesen Satz in Goethes Sinn durchaus
so variieren kann, dass der Mensch alles, was er erzeugt, auch ist.
Es ist sein eigenes Leben, das das so
gleichsam statisch Ausgedrückte in voller Bewegtheitsform zeigt.
Er war schon ein älterer Mann, als
Personen seines näheren Umganges sich darüber äußerten, wie bildsam
seine Ansichten waren, wie sie sich mit den Entwicklungen und Wandlungen
seiner Lebendigkeit dauernd umbildeten.
Im Unterschied gegen Schiller, bei dem
»immer alles fertig war«, bemerkte eine dieser Personen, dass bei Goethe
alles im Gespräch würde; eine zweite, dass seine Ansichten keineswegs
stabil gewesen wären, und dass er, wenn man ihn gefasst zu haben glaubte,
das nächste Mal, »in einer anderen Stimmung«, andere Meinungen geäußert
hätte.
Der Inhalt seines Lebens lag eben seinem
Prozesse an, wie einem lebendigen Körper seine Haut, die aufs genaueste
von seinen inneren Vorgängen jeweilig modifiziert wird.
Vielleicht erklärt es sich von hier aus
auch, dass er so oft von der Tatsache und Notwendigkeit des Wirkens und
Tuns, von der rastlosen Tätigkeit spricht, in der die »Monas« der Persönlichkeit
sich erhalten müsse, ohne doch anzugeben, wofür man wirken, wohin man
diese Tätigkeit richten solle.
Fast möchte man glauben, dass das Leben
eben nur lebt und leben soll, dass die formale Ausübung seiner Bewegtheit
der Wert seines Daseins ist, dass alle Inhalte und Zwecke in letzter
Instanz nur insoweit Wert besitzen, wie sie die Bewegtheit des Lebens
steigern; hat er doch unumwunden ausgesprochen: »der Zweck des Lebens ist
das Leben selbst.« Dennoch glaube ich nicht, dass dies seine eigentliche
Gesinnung ist.
Vielmehr nur, dass ihm die Erzeugung des
wertvollen Inhaltes in dem Maße, in dem das Leben immer mehr Leben, immer
mehr Bewegtheit ist, etwas ganz Selbstverständliches ist.
Darum braucht er allerdings nicht zu
sagen, was denn eigentlich Objekt und Zielwert der sich bewegenden Monas wäre.
Man hat manchmal gegenüber Goethes Äußerungen
über die Tätigkeit als letzte Forderung, über die Notwendigkeit des
rastlosen Wirkens ein beinah peinliches Gefühl, mit alledem im Leeren zu
stehen; denn man findet den wertvollen Inhalt nicht angegeben, als dessen
Träger all jenes Wirken und Sichbewähren doch erst selbst ein Wert wird,
während er sonst ein bloß Formales bleibt, dem Positiven und dem
Negativen des Wertes gleichmäßig offen.
Anders aber, wenn man erfasst, wie
organisch Goethe das Verhältnis zwischen Prozess und Inhalt meint, dass
das Leben prinzipiell nicht einen ihm fremden Wert als Inhalt aufnimmt, an
dessen Stelle es auch einen Unwert akzeptieren könnte, dass es vielmehr,
wenn es seinen reinen Sinn erfüllt, mit dem Vollzuge seines Prozesses den
ihm angemessenen Inhalt aus sich heraus erzeugt.
Dieser Inhalt liegt nicht als ein Objekt
und Zweck außerhalb seiner, sondern ist die Produktivität des Lebens,
von ihm nicht anders unterschieden, als das gesprochene Wort von dem
Sprechen des Wortes.
Eben diese Kraft des Lebens, das Rechte
und Wertvolle nicht erst zu bekommen, sondern mit seiner Bewegung selbst
zu erzeugen, wendet jene Äußerung nur praktisch: man solle doch nicht »Wünsche
erregen«, sondern »Triebe beleben«, und es sei das Wesen des Lebens,
das zu »sein«, was es »hat«.
Und daneben, dass das Leben seine
Inhalte so unmittelbar an seinen individuellen Verlauf angeschlossen hat,
steht nun die vorhin angedeutete Möglichkeit, dass diese Inhalte in ihrer
logischen, bezeichenbaren Bedeutung keineswegs singulär und nur für
dieses Individuum gültig, sondern mit vielen geteilt und für viele gültig
seien.
Mindestens eine Richtung von Goethes Überzeugungen
wird damit angegeben.
Alles Gescheite, so meint er, wäre
schon einmal gedacht worden, es käme nur darauf an, es noch einmal zu
denken - womit er denn die Individualität des Prozesses und die Überindividualität
des Inhaltes deutlich bezeichnet: er ermahnt: »das alte Wahre, fass es
an!« - und ist überzeugt, dass im Großen und Ganzen die Lebensinhalte
sich immer wiederholen.
Noch bedeutsamer aber sind die an sich
nicht so deutlichen Stellen, an denen er von der Geringfügigkeit der
Unterschiede zwischen den Menschen spricht: nicht einmal zwischen dem
Genie und dem ganz simplen Menschen sieht er eine wirklich wesentliche
Kluft; »wir sind eben alle von Adams Kindern« - womit er zur Duldung für
einzelne widerwärtige Äußerungen mahnt - und »in jedem Besondern«
sieht er, durch die »Persönlichkeit hindurch das Allgemeine immer mehr
durchleuchten«.
Unterschiede des Lebensprozesses selbst
nach seiner Dynamik, seinem Vitalitätsmaße erkennt er dabei in voller
Schärfe an, so sehr, dass er daraufhin sogar verschiedene Maße von
Unsterblichkeit voraussetzt.
Aber - so kann man diese Konstellation
wohl ausdrücken - die den verschiedenen Lebensmaßen entsprechenden, weil
von ihnen erzeugten Lebensinhalte zeigen, von andern Standpunkten aus
gesehen, keineswegs gleich große Unterschiede, ja vielleicht gar keine:
vom ethischen, intellektuellen, ästhetischen oder welchem Standpunkte aus
immer können sie sehr ähnlich oder ganz allgemein sein; werden sie so
oder gewissermaßen isoliert betrachtet, gelöst von der Unmittelbarkeit
des Lebens selbst, wie wir sie allerdings meistens oder unvermeidlich zu
werten gewohnt sind - so verschwinden die Individualisiertheiten, die sie
als unmittelbare Ausdrücke der einzelnen Lebensintensitäten und nur als
solche besitzen müssen.
So gedeutet erst scheinen mir die
Widersprüche zwischen den angeführten Gruppen der Goetheschen Äußerungen
aufgehoben.
Was der Mensch denkt, leistet,
darbietet, ist bei Einstellung in sachliche Ordnungen, als rein
inhaltliche Qualität, etwas ganz anderes, als innerhalb des schöpferischen
Lebens selbst - etwas anderes die Farben des Regenbogens als bloß
optische Erscheinungen und innerhalb der farbentheoretischen Anordnung und
Diskussion, etwas anderes eben dieselben in dem sprühenden Spiel des
Wasserfalls.
Der Lebensinhalt steht unter diesen
beiden Kategorien: er ist gleichsam als die Kristallisation des
Lebensprozesses, als die Formung der individuellen Bewegtheit, selbst
schlechthin individuell: und er kann dabei, als selbständiger und
sozusagen nach außen hin Bespiegelter, durchaus allgemein, ein ganz
durchgehender sein, er ist das gerade, sobald er aus dem echten Leben
kommt, und er soll es sein.
Darum kann Goethe, ganz nahe jenem
Ausspruch, dass poetischer Gehalt Gehalt des eigenen Lebens sei und dass
ein jeder doch nur sein Individuum zutage fördert, verkünden: »Der
Dichter soll das Einzelne - das heißt hier doch wohl: das einzelne eigne
Erlebnis - so zum Allgemeinen erheben, dass die Hörer es wiederum ihrer
eigenen Individualität anzueignen vermögen« - so dass bei diesen die
allgemeine Bedeutung der individuellen Produktion wieder aus ihrer
Allgemeinheit zurücktritt und als Individuelles erlebt wird.
Mit dieser Deutung hat der typische
Individualismus des 18. Jahrhunderts eine besondere Gestaltung gewonnen.
In diesem war das Individuum ganz auf
sich gestellt, seine Kräfte aus dem rätselhaften Punkte unbedingter
Spontaneität hergeleitet, das Leben eines jeden ausschließlich die
Entwicklung seiner selbst.
Dass aber dabei die Menschheit nicht in
atomisierte Splitter auseinander fällt und auseinanderfallen soll, weiß
diese Anschauung nur durch die behauptete Gleichheit all dieser Einzelnen
in ihrem eigentlichen Kern und Wesen zu erweisen: die liberté wird durch
die Égalité ergänzt.
Das Fundament der Goetheschen Äußerungen
lässt sich als eine tiefere und lebendigere Auffassung des Problems
auslegen: durch die zweifache Bedeutung der vom Leben gezeugten Inhalte.
Wenn er einmal von den »Eigenheiten«
des geistigen Wesens spricht und dass ihre Phänomene »irrtümlich nach
außen, wahrhaft nach innen« seien - so offenbart er das Prinzip dieser
Zweiheit, wenn auch in anderer als der hier fraglichen Richtung.
Die Eigenwurzelung, das individuell schöpferische
Leben der Einzelnen ist ihm nicht mit deren metaphysischer Gleichheit
verbunden; vielmehr, eine grenzenlose Unterschiedenheit trennt ihre
Lebensintensitäten, trennt den Sinn ihres Daseins.
Die Inhalte aber, die der Prozess dieses
Daseins unmittelbar und aus sich allein zeugt, die in ihm zentrieren und
die Unvergleichbarkeit seiner jeweiligen Gestalt zeichnen, haben zugleich
eine Bedeutung »nach außen«, sie fügen sich einer sachlichen Ordnung
und Deutbarkeit, einem menschheitlichen Gesamtleben ein und hier nun, ganz
andren Wert- und Ordnungskriterien unterstellt, können sie eine
prinzipielle Verwandtschaft oder Gleichheit zeigen, die für sie, insoweit
sie dem individuellen schöpferischen Leben anliegen, gar nicht in Frage
kommt.
Wie sie »wahrhaft nach innen, irrtümlich
nach außen« sein können, ebenso individuell nach innen, allgemein nach
außen.
Die bisher fragliche Unterschiedenheit
zwischen Individuum und Individuum scheint nach manchen seiner Äußerungen
nicht eigentlich in der qualitativen Färbung, sondern in dem Maße ihrer
Lebensintensität zu beruhen: in der Fülle der Bewegtheit, in der Kraft
des Sichbewährens und Sichbehauptens - gewissermaßen in quantitativen
Unterschieden.
In dieser Richtung meint er mit 62
Jahren: »Größere Menschen haben nur ein größeres Volumen; Tugenden
und Fehler haben sie mit den mindesten gemein, nur in größerer Quantität.«
Und quantitative Unterschiede geben sich ja auch am ehesten dazu her, die
Einzelexistenzen von einander zu differenzieren, ohne die Allgemeinheit
ihrer Inhalte aufheben zu müssen.
Und ganz entschieden äußert er sich,
fast ein Achtziger: »Man spricht immer von Originalität, allein was will
das heißen! - Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern
und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig.
- Was können wir denn unser Eigenes
nennen, als die Energie, die Kraft, das Wollen!« Dies gehört zu den
prinzipiellen Möglichkeiten, das menschliche Wesen aufzufassen, und unter
den großen Menschengestaltern scheint mir noch Velasquez ihr
Nahezustehen.
Auch an seinen Gestalten empfinden wir
vor allen Dingen ihr bestimmtes, individuelles Maß von Vitalität, von
Dynamik der Existenz; als liefe eine Skala bloßer Lebensintensitäten von
seinem Grafen Olivarez und dem Dresdner Jägermeister, die wie
kontinuierlich mit Lebenskraft ausgefüllt scheinen, bis zu den
ausgelaugten Habsburgern, in denen das Leben überhaupt keine Realität,
sondern nur noch ein Schemen ist, und als habe jede seiner Figuren auf
dieser Skala der Lebensquantitäten eine unzweideutige Stelle, an der die
Auffassung des Künstlers sie festlegt.
Aber neben dieser Gestaltung des
Individualismus, wie sie bei Goethe anklingt, entwickelte sich bei ihm die
spätere, die ich als den qualitativen Individualismus bezeichnete und für
die Wesen und Wert des Menschen in der Besonderheit oder Einzigkeit seines
Beschaffenseins, seiner Eigenschaften besteht.
Mit achtzehn Jahren schreibt er förmlich
rabiat: »Hätte ich Kinder und einer sagte mir: sie sehen diesem oder
jenem ähnlich, ich setzte sie aus, wenn's wahr wäre.« Und ganz wenig später
setzt sich diese Leidenschaft für das unbedingt Eigene, diese Wertung des
Unerhörten in die einzelnen Momente des persönlichen Lebens selbst fort:
»Macht mich was empfinden, was ich nicht gefühlt, was denken, was ich
nicht gedacht habe!«
Und dann lässt er im Meister den Abbé
offenbar seine eigene Meinung aussprechen: »Ein Kind, ein junger Mensch,
die auf ihrem eigenen Wege irre gehen, sind mir lieber als manche, die auf
fremdem Wege recht wandeln.« Für diesen ganzen, in der Romantik
aufgegipfelten Typus des Individualismus und seine geistesgeschichtliche
Bedeutung bedeuten wohl überhaupt die Lehrjahre den entscheidenden
Durchbruch.
Sehen wir zunächst von Shakespeare ab,
so ist wohl hier zum ersten Male in der Literatur eine Welt gezeichnet
(wenn es auch nur die kleine »Welt« bestimmter gesellschaftlicher Kreise
ist), die völlig auf die individuelle Eigenheit ihrer Elemente gestellt
ist und sich durch eben diese Eigenheiten in ihrer Weise organisiert und
entwickelt.
Man denkt hier natürlich an das größte
dichterische Beispiel eines Weltbildes aus scharf individualisierten
Einzelerscheinungen, an die Divina Commedia.
Allein so wenig sich die Menschen im
Meister an Intensität ihres Daseins und Gewalt des Umrisses mit den
Danteschen messen können, so besteht für diese doch nicht das Problem,
das der Individualistik jener erst ihr eigentliches Cachet gibt: durch
ihre Wechselwirkung eine Lebenswelt erwachsen zu lassen.
Dantes Gestalten stehen isoliert
nebeneinander, nur aufgereiht an der transzendenten Wanderung des Dichters
und ihre Einheit nicht durch eigene Beziehungen findend, sondern durch die
übergreifende, allumfassende göttliche Ordnung, die jener
Individualisationen sozusagen gar nicht als ihrer inneren Bedingung
bedarf.
In der Konfrontierung mit der
Individualistik Shakespeares rückt die Goethesche wieder unter ganz
andere Kategorien, die den letzten Fundamenten ihrer gegensätzlichen
Produktionsarten zugehören.
Shakespeares Schaffen, seiner reinen
Idee nach, findet sein Symbol an dem göttlichen Schöpfertum.
In der gestalteten Welt ist das Etwas,
woraus sie gestaltet wurde, das Chaos oder das unbenennbare Sein, nun
verschwunden, in die Summe der einzelnen Gestaltungen aufgegangen; ebenso
ist, gleichsam von der anderen Seite, der Schöpfer selbst von ihnen zurückgetreten,
und überlässt sie sich selbst und den ihnen eingeprägten Gesetzen und
steht nicht mehr als ein Greifbares und eindeutig Auffindbares hinter
ihnen.
Zu diesem Absoluten und Metaphysischen
zeigen Shakespeares Figuren die künstlerische Analogie.
Alle ihre »Naturhaftigkeit« besagt
nicht, dass eine allgemeine, einheitliche »Natur überhaupt« noch unter
der einzelnen fühlbar wäre, keine solche verbindet als ein gemeinsamer
Wurzelboden die einzelnen, sondern jede von diesen hat das Sein wie bis
zum letzten Tropfen in sich eingetrunken und es restlos in eben diese
individuelle Form übergeführt.
Und auf der anderen Seite: der Schöpfer
selbst hat sich hinter seinem Werk unsichtbar gemacht, seine einzelnen
Produkte weisen nicht auf ihn als Ergänzung oder Deutung, als Hintergrund
oder ideellen Brennpunkt hin.
Es ist mindestens ein sehr symbolischer
Zufall, dass wir von Shakespeares Persönlichkeit außer einigen Äußerlichkeiten
nichts wissen.
Seine Produktionen und Gestalten haben
sich von ihm abgelöst und - cum grano salis zu verstehen - es würde dem
Verständnis und dem Genuss keines seiner Werke etwas abbrechen, wenn ein
jedes einen anderen Schöpfer hätte.
Das Dasein, das jede seiner tragischen
Gestalten darstellt, geht bis in deren letzte Wurzelspitzen als
individuelles hinunter und löst sie in unerhörter Selbständigkeit und
geschlossener Plastik sowohl von der objektiven Zusammengehörigkeit aller
Wesen wie von der Zugehörigkeit zu der dahinterstehenden Subjektivität
des Dichters, die sie zusammenbinden sollte, los.
In beiden Hinsichten sind die Werke und
die einzelnen Gestalten Goethes anders orientiert.
Goethes dichterische Produktion steht
auf dem Gefühl eben derselben Natur, deren Begriff sein theoretisches
Weltbild fundamentiert.
Die Welt ist ihm Ausgestaltung eines
universellen einheitlichen Seins, das die Gestalten aus sich entlässt und
in sich zurücknimmt (»Geburt und Grab/Ein ewiges Meer«), aber sie in
keinem Augenblick aus dieser physisch-metaphysischen Grundsubstanz sich völlig
lösen lässt (»Das Ewige regt sich fort in allen«).
Die Verwandtschaft aller Gestalten, die
bei Shakespeare höchstens in einer gewissen Gleichheit ihrer künstlerischen
Formung, ihres Stils und Umrissgröße besteht, ist bei Goethe durch die
Fundierung in der Natureinheit gegeben, aus der sich die einzelne nur
hebt, wie aus dem Meere die einzelne Welle in ihrer vielleicht nie
wiederholten Form.
Die »Natur«, unter deren Bilde oder
als deren Erzeugnis Goethe die Erscheinungen sah, war sehr viel weiter,
metaphysischer, den Zusammenhang der Individuen lückenloser unterbauend,
als die »Natur«, die die Shakespeareschen Erscheinungen hervortreibt.
Aber darum war sie auch nicht so in die
einzelne konzentriert, nicht mit so vulkanischer Stoßkraft die einzelne
schaffend.
Bei Shakespeare handelt es sich um die
Natur der einzelnen Erscheinung, bei Goethe um die Natur überhaupt, die
als die immer gleiche jeder einzelnen zugrunde liegt.
Was er von sich selbst sagt: »Und so
spalt' ich mich, ihr Lieben, / Und bin immerfort der Eine« - gilt auch für
die Natur und ihre individuellen Erscheinungen.
Wir sind alle Kinder der einen göttlichen
Natur, deren »Genie« auch in der »plumpsten Philisterei« lebt und die
so alle Einzigkeiten der Individualitäten wie in einem einzigen, wenn
auch unaussprechbaren Grundgesetz wurzeln lässt.
Wie die typischen großen Menschen der
Renaissance haben sich die Shakespeareschen Individuen sozusagen von Gott
losgerissen, das Metaphysische ihrer Existenz findet Platz zwischen ihrem
Scheitel und ihrer Sohle, während die Goetheschen als Glieder eines
metaphysischen Organismus wirken, als Früchte eines Baumes - ohne dass
diese irgendwie in ihnen beharrende und sie wieder in sich zurücknehmende
»Natur« etwa eine qualitative Gleichartigkeit unter ihnen bewirkte.
Und nun sind diese Gestalten, gleichsam
nach der anderen Seite, mit der Einheit der dichterischen Persönlichkeit
verwachsen geblieben, sie sind als Äußerungen einer schöpferischen
Subjektivität miteinander verbunden - was auch seinerseits nicht die
Einzigkeit ihres Beschaffenseins alteriert.
Bei Shakespeare liegt der dichterischschöpferische
Persönlichkeitspunkt, in dem sich die Lebenslinien seiner Gestalten
treffen, sozusagen im Unendlichen, bei Goethe rückt er nie ganz außer
Sehweite.
Nicht so, als hätten sie alle, als
beschreibbare Phänomene, eine Familienähnlichkeit mit ihrem Erzeuger,
als wären in jeder Züge des Goetheschen Wesens feststellbar oder als wären
sie aus diesem, als aus fertigen Stücken seiner selbst, die er in der
Hand hatte, zusammengefügt.
Zwar, dieses Sich-selbst-Modell-Stehen,
diese Projizierung des eigenen, schon angebbar geformten Seins in die
Fantasiegestalt kommt bei Goethe oft genug vor, es liegt vor aller Augen
und ist oft genug hervorgehoben worden.
Allein statt dieses einigermaßen
Naturalistisch-Mechanischen meine ich hier etwas reiner Funktionelles und
einer tieferen Schicht Zugehöriges: nicht das Übertragensein von
Inhalten, sondern das dynamische Getragensein oder genauer:
Vorgetragensein der Gestalt durch den Gestalter, durch den Schöpfer steht
in Frage.
Die Figur steht nicht in demselben Sinne
wie bei Shakespeare für sich, sondern sie ist das vom Dichter dargebotene
Kunstwerk, sie ist zwar ebenso »gewachsen« wie jene, aber nicht ebenso
gleichsam aus sich selbst, sondern aus der Lebendigkeit, dem Welt- und
Kunstwollen Goethes, bei aller qualitativen Eigenheit und
Differenziertheit bleiben Mephisto und Ottilie, Gretchen und Tasso, Orest
und Makarie innerhalb der schöpferischen Lebenssphäre des Dichters und
der Lebenssaft, der diese aus einheitlicher Quelle tränkt, bleibt in
allen fühlbar - eine Rückbeziehung der Geschöpfe auf den Schöpfer
nicht auf Grund des Inhaltes, sondern des lebendigen, seine Kontinuität
von diesem zu jenen nicht lösenden Schöpfungsprozesses.
Am deutlichsten offenbaren dies die
Romane.
Im Werther wird es von vornherein
dadurch gedeckt und vielleicht überdeckt, dass hier jene inhaltliche
Identität von Erlebnis und Werk besteht.
Aber im Meister und in den
Wahlverwandtschaften wird der künstlerische Stil durchaus dadurch
bestimmt, dass wir überall den Erzähler fühlen.
Es fehlt hier der formal-künstlerische
Realismus (von der Entscheidung zwischen inhaltlichem Naturalismus oder
Stilisierung noch völlig unabhängig), der die Ereignisse und Menschen
auf sich selber stellt, so dass sie, wie von der Bühne, nur als ein
unmittelbares Dasein wirken; vielmehr, sie sind wirklich eine »Erzählung«,
die von dem dahinterstehenden, fühlbaren Erzähler getragen wird; bei
aller Selbständigkeit der Personen und all der Zerpflücktheit der
Komposition, die etwa die Wanderjahre zeigen, bleibt doch der Dichter die
»Einheit der Apperzeption«, die freilich hier einen eigenen Sinn hat.
Nicht den Kantischen, dem sie die
ideelle, objektive Beziehung von Erkenntnisinhalten bedeutet, unter
Ausschaltung des seelischen Lebensprozesses; nicht den subjektiven Sinn, für
den der einzelne Bewusstseinsinhalt eben nur als Lebensäußerung dieses
bestimmten Subjektes von Bedeutung ist; sondern in dem besonderen Sinn,
der vielleicht nur zwischen der Erzählung und dem Erzähler besteht.
Das Erzählte hat eine objektive
Einheit, einen für sich verständlichen Zusammenhang seiner Elemente; der
Erzählende hat in sich die Einheit seiner Person, die den psychologischen
Zusammenhang seiner Vorstellungen, seines Schaffens bedeutet oder trägt.
Bleibt nun aber dieses Subjekt in seiner
schöpferischen Aktivität in oder hinter jenem objektiven Gebilde spürbar,
so schiebt sich (und das eben will diese »Spürbarkeit« besagen) die
zweite Einheit in die erste hinein, das Gebilde bekommt einen neuen
einheitlichen Schöpfungspunkt; und es ist mit unserer, immer räumlich
orientierten Begriffssprache gar nicht recht möglich auszudrücken, dass
dieser mit der objektiven Einheit des Erzählten weder zusammenfällt noch
auseinander fällt.
Aber ausdrückbar oder nicht, die
Goetheschen Romane laufen innerhalb der Kategorien des »Erzählers« ab
und offenbaren damit das merkwürdige Verhältnis der objektiv gewordenen,
aber in dieser Objektivität sich nicht verlierenden Subjektivität, das
Goethes Geisteswesen durchgängig bezeichnet.
Sieht man von hier noch einmal auf
Shakespeare hin, so erscheint Goethe auch in seinen Dramen, von Iphigenie
an, sozusagen als der Berichtende, Erzählende.
Wenn Macbeth und Othello, Cordelia und
Porzia reden, so ist in der ideellen Welt dieses Geschehens und Sprechens
absolut nichts außer ihnen selbst vorhanden und spürbar, es gibt keinen
Shakespeare, der sie als ihr heimlicher König bewegte, er ist völlig in
ihr Eigenleben aufgelöst.
Aber bei allen Nuancierungen zwischen
der Redeweise Antonios und der Prinzessin, Fausts und Wagners, Pylades und
Orests, haben sie, gegen jene gehalten, einen relativ gleichen
Grundrhythmus, denn schließlich ist es immer Goethe, der sie reden lässt.
Vielleicht ist diese Unmittelbarkeit,
mit der Goethes Gestalten ihr Leben aus ihm selbst bezogen, die
Ununterbrochenheit der Säfteströmung zwischen ihnen, als wäre die
Nabelschnur nicht gelöst - vielleicht ist diese der Grund, weshalb Goethe
vor dem Unternehmen einer »eigentlichen Tragödie« zurückscheute und
meinte, dass »der bloße Versuch ihn zerstören würde«.
Aus eben diesem Zusammenhang ist die
Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität für Shakespeare etwas
ganz anderes als für Goethe: dort besteht sie sozusagen überhaupt nicht,
das Problem ist gar nicht auf sie eingestellt, hier ist sie überwunden,
die Pole sind fühlbar, die Distanz zwischen ihnen messbar und zwar gerade
dadurch, dass die lebendige Funktion sie einheitlich verbindet.
Niemals hätte Shakespeare daran
gedacht, sein Schaffen als »gegenständlich« zu bezeichnen, wie Goethe,
der sich offenbar durch diese Formulierung wie erlöst gefühlt hat.
Shakespeares Lebensfülle ergießt sich
im Augenblick ihres Aufquellens selbst wie an seinem Subjekt vorbei in die
Selbständigkeit der Umrisse seiner Gestalten.
Sie sind gegenständlich - eben in dem
absoluten Sinne des Wortes, der nicht erst durch ein Gegenüber-vom-Subjekt
bezeichnet wird.
Endlich muss mit diesen Strukturverhältnissen
der Goetheschen Gestalten ein Moment in Beziehung stehen, das wieder auf
unsere ursprüngliche Problemstellung des Individualismus zurückleitet.
Fast jede Gestalt in Goethes großen
Werken stellt eine Möglichkeit dar, die Welt anzuschauen, oder, anders
ausgedrückt, von ihrem besonderen Sein her ein inneres Weltbild zu
erbauen.
Diese Welt mag klein genug sein; aber
sie trägt doch den Charakter einer »Welt«: einen bestimmten Charakter
des Sehens und Fühlens, der nicht nur die vorgeführten Daseinsinhalte färbt,
sondern auch an allem Dazwischenliegenden eine eindeutig gestaltende Kraft
ausüben würde, eine zentrale Wesensart, um die das Bild einer lückenlosen
und durch sie in Aufbau und Tönung bestimmten Daseinstotalität erwachsen
könnte.
Dies ist, soweit ich sehe, unter allen
Shakespeareschen Gestalten nur auf Hamlet ohne weiteres anwendbar.
Weder nach Romeo noch nach Lear, weder
nach Othello noch nach Antonius lässt sich eine Welt aufbauen; wohl aber
auf Faustische oder Mephistophelische Art, auf die des Tasso oder Antonio,
auch auf die von Charlotte oder Ottilie; der Meister ist in diesem Sinne
eine Welt aus Welten.
Jede dieser hauptsächlichen Gestalten
ist das A priori für eine Welt - der Anschauung wie der Lebensgestaltung
-, während Shakespeares Gestalten die weltbildende Kraft ganz in ihr
Leben eingeschlossen haben.
Um dies ist wohl die Atmosphäre des
Lebens und ihres individuellen Lebens, aber nicht so, dass sie sich zu
einem in ihr nur zentrierten Bilde des Daseins überhaupt, auch außerhalb
ihres Schicksals und Willens, objektivierte.
Goethe hat seinen ersten Vorgänger in
der Leistung, den Mikrokosmos eines Kunstwerkes aus Gestalten erwachsen zu
lassen, deren jede das Zentrum einer individuellen geistigen Welt ist, in
Raffael.
Täusche ich mich nicht, so zeigt zum
ersten Male die Schule von Athen eine künstlerische, die Welt des Geistes
überhaupt symbolisierende Zusammenfassung von Persönlichkeiten, deren
jede die besondere Tonart für je eine Weltsymphonie darstellen soll.
Damit eben bestimmt sich für Goethe das
Verhältnis, das die dargebotenen Äußerungen der Figuren zu ihrem
Gesamtsein besitzen.
Dies Verhältnis ist für alle
Kunststile von großer Bedeutung.
Mit dem Lebens- und Kunstprinzip der
Antike hing es durchaus zusammen, dass die Figur im Drama der genau
umschriebene Träger eines bestimmten Handelns und Leidens, eines
bestimmten Schicksals und der Art, es zu tragen, ist; der Mensch mit all
seinen Beschaffenheiten und Kräften ist in die von dem Thema des
Kunstwerks gegebene Form hineingegangen - wie die Parthenonskulpturen
genau das Leben haben, das der Gegenstand und die Gestaltung des künstlerischen
Momentes verlangen, das Leben erfüllt diese Form genau, aber es ist kein
darunterweg in breiterem, vielleicht transartistischem Strome sich Ergießendes.
Erst im Hellenismus empfinden wir den
dargestellten Moment als herausgehoben aus einem weiten, flutenden Leben
der Persönlichkeit oder dieses in sich sammelnd, indem es aber doch nicht
in diesem Augenblick aufgeht, sondern nur von ihm aus sichtbar wird.
Den Geschöpfen aller großen
Menschenschilderer ist es eigen - in so verschiedenen Formen ihre
verschiedenen Stile dies zum Vortrag bringen -, dass alles was sie sagen
und tun, nur als der zufällig beleuchtete, zu Worte kommende, dem
Beschauer zugewandte Teil einer ganzen, gerundeten, eine Unendlichkeit
anderer möglicher Äußerungen einschließenden Persönlichkeit
erscheint.
Was uns an Schillerschen Figuren so oft
unerträglich theatralisch und papieren vorkommt, ist eben dies: dass sie
keine seelische Innerlichkeit und Leben haben, außer dem, das sie in den
Worten ihrer Rolle aussprechen.
Die Grenzen ihres seelischen Umfanges
fallen genau mit denen ihrer schauspielerischen Realität zusammen, sie
sind wie der Schauspieler selbst, der vor und nach seinem Auftreten
sozusagen nichts ist, nicht ist, und in dem von dem Leben der
dargestellten Figuren nichts ist, außer dem, was er auf der Bühne sagt.
Vielleicht hat von allen seinen
Gestalten nur Wallenstein jene geheimnisvolle, über alle einzelnen Äußerungen
hinausreichende Sphäre um sich, oder, anders ausgedrückt, diese Energie
des alle Äußerungen erzeugenden Persönlichkeitspunktes, die fühlbar
macht, zu wie viel mehr als eben diesen sie zureicht.
Goethes Gestalten aber sind von diesem
Mehr an jeder Stelle ihres erscheinenden Lebens erfüllt.
Was sind nicht Iphigenie und Tasso,
Faust und Natalie noch außer dem, was man von ihnen hört! Was sie sagen,
ist jedes mal nur der Strahl eines unendlich reichen inneren Gesamtlebens,
während Schillers Figuren immer nur aus diesem jeweiligen Strahl
bestehen.
Die Figuren aus Goethes Reifezeit haben
das Einzige, dass sie die volle klassische Rundung besitzen und dennoch
zugleich alles, was sie darstellen, nur der sammelnde und entscheidende
Abschnitt einer unermesslichen Lebenstotalität ist, auch ein farbiger
Abglanz, an dem wir ihr Leben haben.
Goethes Gestalten gleichen ihm selbst in
der nicht weiter auseinanderzulegenden Qualität, mit jeder noch so
objektiven oder zufälligen Äußerung die Ganzheit eines einheitlichen,
unmittelbar nicht ausgesprochenen und nicht auszusprechenden Lebens
mitklingen zu lassen. -
Dass aber dies Leben seiner Gestalten,
jede ihrer Einzeläußerungen unterbauend und übergreifend, sich zu je
einer »Weltanschauung« objektivierte oder objektivieren lässt - das
scheint mir mit seinem, Shakespeare gegenüber, immerhin
intellektualistischeren Wesen zusammenzuhängen.
Vergleicht man seine Menschen, die ich
oben anführte, mit den zuvor genannten Shakespeares, so haben sie alle
einen Hauch von Theoretischem, von einer Geistigkeit jenseits des
naturhaften Seins.
Und während das letztere in sich
beschlossen bleibt oder sich nur mit realen Wirkungen gleichsam strahlenförmig
in die Umwelt erstreckt, wirft das ideelle Schöpfertum des theoretischen
Menschen leicht den Kreis einer ganzen Welt aus sich heraus.
Oder, um die Beziehung zwischen dem
Erwachsen individuell bestimmter »Welten« und dem theoretischen
Charakter der Individuen in deren Zentrum noch in einer tieferen Schicht
zu fassen: die inneren Elemente des theoretischen Menschen haben von
vornherein eine, mindestens potentiell, logische Struktur.
Sie sind so geformt, dass sich aus den
einzelnen leicht andere ergeben, dass ein Zusammenhang unausgesprochener,
ja ungedachter aus den geäußerten sich bündig erschließen lässt.
An dem Seins-Charakter der
Shakespeareschen Gestalten macht es sich geltend, dass das Sein als
solches nichts Logisches ist und nicht logisch konstruierbar; nur seine
qualitativen Bestimmungen mag man begrifflich auseinander entwickeln, das
Sein selbst fordert eine ursprüngliche Setzung, es ist Sache des
Erfahrens und Erlebens, und je mehr in einem Wesen die alogische Tatsache
seines Seins dominiert, desto weniger darf man es, Gegebenes und
Nicht-Gegebenes auseinander folgernd, gleichsam zu der Ganzheit einer
Weltanschauung erweitern.
Es ist vielleicht nur der psychologische
Ausdruck hiervon, dass die Shakespeareschen Menschen Willensnaturen sind
und dass deshalb jene Unberechenbarkeit und Spontaneität in ihnen ist,
mit der der Wille sich von der intellektuellen Tendenz zum Zusammenhängenden,
Teil nach Teil berechenbar und kontinuierlich Erzeugenden unterscheidet.
Es ist kein Zufall, dass die eigentlich
einzige Gestalt Shakespeares, deren Wesensart einer Weltanschauung
Bildungsgesetz und individuelle Färbung geben könnte: Hamlet - eben kein
Willensmensch, sondern eine intellektualistische Natur ist.
Dieses Bezeichnende Goethescher
Gestalten: dass man auf ihre Namen ein Weltbild taufen kann, dass ihre
einzelnen Äußerungen nur Bruchstücke eines ideell geschlossenen
Gesamtanschauens, Gesamtfühlens sind - zeigt nun erst den ganzen Sinn, in
dem Goethes Menschengestaltung jener zweiten Form des Individualismus, die
ich den qualitativen nannte, angehört.
Sie bedeutete doch, dass das Anderssein
zwischen Mensch und Mensch als entscheidender Wert gilt; während Fichte
die erste Form des Individualismus damit festgelegt hat, dass »ein
Vernunftwesen schlechthin ein Individuum sein müsse, aber nicht eben
dieses oder jenes bestimmte« -rückt der Akzent nun gerade auf das
Bestimmtsein des Individuums, darauf, dass ein jedes jedem anderen gegenüber
ein Unverwechselbares, Einziges ist.
Gleichviel, ob die einzelne Figur als
Typus gemeint ist und ob die Zufälle der Wirklichkeit noch ein oder viele
genau gleiche Wesen erzeugen, der Sinn einer jeden ist doch, dass sie
unterschieden ist, dass sie das Dasein auf eine nur ihr zukommende Weise
ausdrückt, dass sie in dem Zusammenhange der Weltinhalte an einer Stelle
steht, die nur sie erfüllen kann.
Diese metaphysische Auffassung der
Individualität aber erreicht ihre ganze anschauliche Fülle und lebendige
Ausgestaltung dann, wenn die Grundfärbung, die das Individuum in seiner
Einzigkeit ausmacht, die Ganzheit des Daseins um das Individuum herum
durchströmen und auf sich abstimmen kann.
Das menschliche Wesen ist erst dann
wirklich ganz Individuum, wenn es nicht nur ein Punkt in der Welt, sondern
selbst eine Welt ist, und dass es sie ist, kann es nur damit beweisen,
dass seine Qualität sich als Bestimmung eines möglichen Weltbildes
zeigt, als der Kern eines geistigen Kosmos, von dessen ideeller Totalität
all seine einzelnen Äußerungen nur ganz partielle Verwirklichungen sind.
Und von der anderen Seite gesehen: wird
der Mensch so als der Quell einer Welt, gleichsam als der Name einer
Weltanschauung aufgefasst, wie es der Sinn der Goetheschen Gestalten ist,
so muss jeder von jedem im tiefsten individuell verschieden sein.
Die Gleichheit all dieser Welten wäre
bedeutungslos; denn dann genügte es sozusagen, wenn es nur eine einzige gäbe
und jeder Mensch eine punktuelle Existenz in ihr darstellte.
Die Unendlichkeit möglicher Weltbilder
und dass jeder Mensch das Zentrum und das Gesetz eines solchen ist, hat
nur einen Sinn, wenn keine von ihnen durch eine andere ersetzlich ist und
eine jede den Reichtum der Tonarten vermehrt, in die der Geist das Dasein
als ganzes transportieren kann.
Indem jede der großen Goetheschen
Figuren eine Art darstellt, wie nicht nur ein einzelnes Schicksal oder
eine einzelne Aufgabe, sondern eine Welt begriffen, erlebt, gestaltet
werden kann, offenbart sich erst ganz seine Auffassung des Individuums als
des qualitativ Einzigen, das niemandem »ähnlich ist«.
In einem eigentümlichen Verhältnis von
Getrenntheit und Verbundenheit zu diesem Individualismus steht nun Goethes
Schätzung des »Allgemein-Menschlichen« - und zwar in dem doppelten
Sinne, dass dies Allgemeine die eigentliche und tiefste Realität auch des
Individuellen ist (so dass eine vervollkommnte Einsicht es »durch
Nationalität und Persönlichkeit immer mehr durchleuchten« sehen würde)
- und dass es zugleich der Wert der Existenzen ist, dem durch
entgegenstehende Instanzen hindurch zur Verwirklichung zu verhelfen ist (»Sinn
und Bedeutung meiner Schriften, sagt er im hohen Alter, ist der Triumph
des Reinmenschlichen«).
Es ist zunächst sicher, dass das
Allgemein-Menschliche für Goethe nicht die gemeinsamen Züge der
individuellen Erscheinungen bedeuten kann, die von den jeweils besonderen
oder einzigartigen abgesondert und zu dem abstrakten Begriff des »allgemeinen
Menschen« zusammengefasst würden.
Dies Verfahren, eine nachträgliche
mechanische Zerlegung des fertigen Phänomens und ebenso mechanische
Synthese seiner Elemente, war das der rationalistischen Aufklärung.
Goethe kann, im Gegensatz dazu, gerade
nur den Grund der Erscheinungen meinen, der diese in all ihrer
Mannigfaltigkeit erzeugt und trägt.
Die Individualität erscheint ihm als
die Herstellung eines Typus oder einer Idee, deren Leben eben in ihrer
Ausgestaltung in unzählige besondere Formen besteht.
Die Einheit und die Vielheit
widersprechen sich weder ihrer Wirklichkeit noch ihrem Werte nach, da die
Vielheit die Existenzart der Einheit ist, und zwar auf den verschiedensten
Stufen des Seins: die Einheit der Natur überhaupt und die
Mannigfaltigkeit aller Erscheinungen überhaupt; die Einheit des
organischen Typus und die Besonderung der Individuen; die Einheit der Persönlichkeit
und der Reichtum ihrer differenten und gegensätzlichen Äußerungen.
Dass diese Einheit sich innerhalb der
Erscheinungen als etwas Allgemeines, als Gemeinbesitz gewisser Merkmale
zeigt, ist sozusagen etwas Akzidentelles, mindestens etwas Äußerliches;
das Wesentliche ist, dass sie die Individuen trägt und in diesen
besonderen Gestaltungen lebt, als reale Wurzel oder metaphysische Idee, in
vollkommenem Sichausdrücken im Individuellen oder in zufälliger
Unvollkommenheit und Abgebogenheit.
Von untermenschlichen Wesen spricht er
hier in der typischen Art, wie es ihm auch für menschliche Individuen
gilt; so über zwei Muschelarten, die bei ganz abweichenden Formen doch
die Identität gewisser hauptsächlicher Züge verraten: »Da ich nach
meiner Art zu forschen, zu wissen und zu genießen mich nur an Symbole
halten darf, so gehören diese Geschöpfe zu den Heiligtümern, welche die
nach dem Regellosen strebende, sich selbst immer regelnde, und so im
kleinsten wie im größten durchaus gott- und menschenähnliche Natur
sinnlich vergegenwärtigen«.
Ja, die partielle Gleichheit von
Erscheinungskomplexen ist eigentlich und prinzipiell gar nicht die
Bedingung, unter der diese einem gemeinsamen Allgemeinen zugehören:
Und es ist das ewig Eine, Das sich
vielfach offenbart; Klein der Große, groß der Kleine, Alles nach der
eignen Art.
»Die höchste und einzige Operation der
Natur und Kunst ist die Gestaltung und in der Gestaltung die
Spezifikation, damit ein jedes ein Besonderes, Bedeutendes werde, sei und
bleibe.« Wie er keinen Augenblick daran zweifelt, dass die sittliche
Forderung als Idee eine einzige, schlechthin allgemeine ist und dabei doch
überzeugt ist, dass sie sich schlechthin individuell ausgestaltet und
jedem ein für ihn und vielleicht für niemand sonst gültiges Verhalten
auferlegt - so verliert für ihn das Allgemein-Menschliche in keiner Weise
seine Einheit und fundamentale Identität dadurch, dass die Art seiner
Existenz eine in beliebig verschiedene, ja polar entgegengesetzte
Erscheinungen auseinandergehende ist.
Hier leuchtet ein Punkt auf, von dem aus
das, was an Goethes angeblich negativer Stellung zur »Geschichte« nicht
völlig sinnloses Gerede ist, Licht erhält.
Goethe begriff die Individualität als
Modifikation des Allgemein-Menschlichen, das in einer jeden gleichsam als
ihre Substanz oder Lebensdynamik besteht, völlig unabhängig von
Gleichheit oder Ungleichheit zwischen den Individuen.
Gegenüber diesem Aufsteigen der
Individualität aus dem Seinsgrunde des Menschlichen überhaupt, verlor
sie als historisches Zufallsprodukt allerdings für ihn an Interesse.
Denken wir an jene erste Form des
Individualismus zurück, mit der der Rationalismus die formale Freiheit
und Selbständigkeit aller Menschen und ihre natürliche Gleichheit
logisch entwickelte: so hatte von dorther Goethe das tiefe Gefühl
behalten, dass die Gestaltung der Erscheinungen aus einer inneren
Notwendigkeit quille, während die »Geschichte« nur eine äußerliche
Kausalität für diese Gestaltung anzuführen weiß.
Aber diese Selbständigkeit des Prinzips
band der Rationalismus eben noch ängstlich an einen homogenen Inhalt, er
konnte sich den innern Naturgrund, der die einzelnen Erscheinungen
hervortreibt, nur an der wesentlichen Gleichheit ihrer aller herstellen.
Für Goethe aber, der den Rationalismus
überwand, äußerte sich dieser gemeinsame Grund nicht weniger an der
Verschiedenheit der Erscheinungen.
Die Macht dieses Grundes erstreckte sich
nun lebendig und zeugend auch in diese Verschiedenheiten, die der
Rationalismus nur dem historischen Zufall zuzuschreiben wusste.
Die Motivierung der Gestaltungen wurde
damit für Goethe in einem noch tieferen und totaleren Sinne eine überhistorische,
als sie es selbst für den Rationalismus gewesen war.
Endlich erstreckte sich dies Motiv der
aus der Einheit herauswachsenden, das Leben der Einheit darstellenden
individuellen Mannigfaltigkeit in die Einzelpersönlichkeit hinein.
Niemals ist Goethe an der Einheit des
Typus Mensch und an der Einheit des einzelnen Menschen irre geworden.
Offenbar aber hat sich schon in seinen
zwanziger Jahren bei ihm die Anschauung ausgebildet, dass diese Einheit in
sich differenziert sei, dass sie sich in einer Polarität von
Eigenschaften oder Seiten der Persönlichkeit darstelle, dass der Mensch
sozusagen zugleich groß und klein, gut und böse, bewunderungswert und
verächtlich sei.
So sagt Prometheus über seine sehr
unzulänglichen Menschen:
Ihr seid nicht ausgeartet, meine
Kinder, Seid arbeitsam und faul, Und grausam, mild, Freigebig, geizig, Gleichet den - - - Tieren und den Göttern.
Und ersichtlich in demselben, nur auf
den Menschen bezüglichen Sinn heißt es im Ewigen Juden:
O Welt voll wunderbarer Wirrung, Voll Geist der Ordnung, träger Irrung, Du Kettenring von Worin' und Wehe.
Das Prinzipielle dieser Anschauung muss
durch sein eigenes Lebensgefühl getragen sein.
Denn wir wissen kaum von sonst jemandem,
der sich so einheitlich, so fraglos als ein beharrendes Ich gefühlt hätte
und doch für sein eigenes Bewusstsein in so viele Widersprüche und
entgegengesetzte Tendenzen, objektiv in so viele ganz verschiedene
Beanlagungen und Betätigungen auseinandergezogen wäre, deren jede er als
existenzberechtigt und in ihrer Besonderheit wesentlich empfand.
In jener fundamentalen Einheit des Typus
Mensch - von der dahingestellt bleibe, ob sie als ideeller Hilfsbegriff,
als biologische Realität, als metaphysischer Glaubensartikel zu fassen
ist -, liegt das »Allgemein-Menschliche«; also sozusagen in dem Leben
selbst, das sich in unzählige und mannigfaltigste Phänomene verzweigt,
in jedem von ihnen als das immer identische beharrend - nicht aber in
einzelnen Gleichheiten, die etwa in diesen Phänomenen selbst durch
Zerlegung und Abstraktion feststellbar wären.
Indem aber dies Allgemein-Menschliche
nicht nur ein Sein, sondern auch ein Seinsollendes ist, nicht nur das
eigentlich Lebendige in aller Individualität, sondern auch der Wert in
ihr, gehört es einer der tiefsten, am meisten grundlegenden Formen in der
Begriffswelt Goethescher Weltanschauung zu.
Wie kann eigentlich das schlechthin
Allgemeine wertvoll sein? Mag es auch einen absoluten Wert haben, also
einen solchen, der seinem Begriffe nach nicht von irgend einer Bedingung
und einem über ihn hinaus liegenden Zwecke abhängig ist, so ist doch
schwer begreiflich, wie das damit ausgestattete Stück des Daseins seine
Wertbedeutung auch dann bewahren soll, wenn jedes andere Stück eben
dieselbe in eben demselben Maße besitzt.
Dann fällt ja diese Qualität mit dem
Dasein überhaupt zusammen, und die Betonung und Auszeichnung, die jenem
durch das Prädikat des »Wertvollen« zukam, wird von der absoluten
Nivellierung mit allen andern verschlungen.
Welche Bedeutung auch ein Wert an und für
sich hat - sein Träger muss sich durch seinen Besitz irgendwie von
anderen abheben, damit er als ein wertvoller empfindbar werde; für unsern
Geist, dessen Funktionen an Unterschiede seiner Inhalte geknüpft sind,
scheint nur das irgendwie nach Maß oder Art Individuelle, nicht aber das
aller Unterschiedlichkeit Enthobene das Subjekt eines Wertes sein zu können.
Diese psychologische Relativität, an
die unsere Wertungen nicht minder geknüpft sind als unsere
Sinneswahrnehmungen und unsere Gedanken, hat dem Kantischen Denken - wenn
auch nicht in dieser Formulierung - seine Richtung vorgezeichnet.
Dass der vernünftige Wille sich von dem
eudämonistisch bestimmten abhebt, gibt ihm für Kant seinen spezifischen
Wert; die erfahrungbildenden Energien des Geistes haben nicht nur einen höheren,
sondern auch einen ganz andersartigen Wert als die spekulierende Vernunft;
der ästhetische Genuss ist seinem Wesen und seinem Wert nach dadurch
bestimmt, dass er sich von dem sinnlichen unterscheidet usw.
Die »Grenzsetzung«, die die Kantische
Geistesarbeit vollzieht, hat mit dieser Anknüpfung der Wertsetzung an
Unterschiede und Gegensätze eine weitere Provinz erobert, es offenbart
sich darin die Weltanschauung, die den Sinn und Inhalt jedes Einen nicht
ohne seine Differenz gegen ein Anderes zu denken vermag.
Hat damit die psychologische Erfahrung
der »Unterschiedsempfindlichkeit« dem Kosmos der Werte überhaupt seine
Form gegeben, so ist die Attitüde des Goetheschen Geistes zu diesem
Wertproblem sozusagen eine viel mehr metaphysische: er empfindet tatsächlich
die Einheit und Ganzheit des Seins als einen Wert, als das schlechthin
Wertvolle, das zu diesem Charakter keiner Vergleichung bedarf.
Hier gibt es kein So und Anderes, kein
Mehr oder Minder.
Gewiss meldet sich damit die
Schwierigkeit, die den Pantheismus bei jeder Entwicklung über seinen
Grundbegriff hinaus bedroht.
Wie die absolute Einheit des Seins auch
nur zu der erscheinenden oder scheinbaren Mannigfaltigkeit der Dinge
kommen, wie sie wechselnde Zustände aus sich hervorbringen soll, ist
schwer zu begreifen.
Denn unser Verstand ist so eingerichtet,
dass er Erzeugung und Änderung immer nur aus der Einwirkung je eines
Elementes auf ein anderes verstehen kann; an dem schlechthin Einen, das
kein Anderes neben sich hat, finden wir keinen Grund, weshalb es aus
seiner einmal gegebenen Form und Zustand herausgehen sollte, es bleibt in
sich in ewiger Starrheit, da nichts da ist, wodurch es zu einer Änderung
motiviert werden könnte.
Diese Schwierigkeit überwindet der
Pantheismus Goethes, indem ihm das Sein, in seiner Absolutheit und
Ganzheit, von vornherein ein Lebensprozess ist, ein ewiges Keimen und Gebären,
Sterben und Werden aus der Einheit heraus, oder vielmehr: als die
Existenzform dieser Einheit des Seins selbst.
Allein der Wert dieses Seins findet
nicht auf dem gleichen Weg seine Möglichkeit, er bedarf dazu einer noch
radikaleren Wendung, die unseren empirischen Wertungsweisen ganz absagt.
Denn diese sind daran gebunden, dass
jenseits des gewerteten Dinges ein anderes einen andern oder mehr oder
weniger oder keinen Wert hat, und nur aus einem ganz neuen, logisch gar
nicht begründbaren Grundgefühl hervor kann das ganze Sein, in seiner
alles Neben-Ihm und alle Vergleichung ausschließenden Einheit, seiner
Indifferenz enthoben werden, kann es als Ganzes den Akzent des Wertes
bekommen, der sonst nur aus dem Verhältnis seiner Teile untereinander erwächst.
Der Wert des Gesamtseins ist sozusagen
ein Dekret der Seele, für das es weder Beweis noch Widerlegung gibt, der
Ausdruck einer Lebensstimmung, die selbst ein Sein ist und als solches
weder richtig noch falsch.
Vielleicht kann man sagen, dass die künstlerische
Naturanlage Goethes ihn zu diesem Wertgefühl disponierte.
Die intellektualistische kann vielleicht
zu der Vorstellung einer Welteinheit, eines
eukairau führen,
in dem alle Differenzen der Einzelheiten untergegangen sind - aber sie
wird nicht zu dem Gefühl eines absoluten Wertes dieses Ganzen vordringen;
die moralische kann andererseits wohl zu einem absoluten Wert kommen, etwa
zu Kants »gutem Willen«, aber sie kann der Wertdifferenzen nicht
entbehren, ja, jener absolute Wert ist für sie weniger eine Realität,
als ein Ideal, hat also seine wesentliche Bedeutung als der Maßstab, an
dem sich die relativen Werte der Realität in ihrer Unterschiedenheit
markieren.
Nur die ästhetische Geistesart, die der
moralischen gegenüber eine größere Breite und sozusagen größere
Toleranz besitzt, der intellektuellen gegenüber die Leidenschaft des
Wertens, mag diese auch dem Seinsganzen gegenüber bewähren; sie reagiert
auf jeden Eindruck mit Gefühlen von Wert und Bedeutung - während das
Wertgebiet der ethischen Natur sich immer nur mit einem Ausschnitt der
Wirklichkeit decken kann - und wo sie, wie es bei Goethe geschah, jene
geheimnisvolle Beziehung zur Welttotalität besitzt, jene Fähigkeit, das
Ganze als Ganzes auf sich wirken zu lassen, da wird sie eben mit der
Wertreaktion, die sozusagen ihre natürliche Sprache ist, auch auf dieses
antworten.
Mehr als einmal kommt dieser übergreifende
Wertbegriff bei ihm zu Worte, die Absage an dessen relativistische
Bindung, die ihn innerhalb der empirischen Welt eigentlich immer nur je
einer ihrer Parteien zukommen lässt:
»Wie es auch sei, das Leben, es ist
gut!« »Ihr glücklichen Augen Was je ihr gesehen, Es sei wie es wolle, Es war doch so schön.«
Vielleicht ist das zutiefst Religiöse
in Goethe und der Charakter seiner Religiosität überhaupt damit
ausgesprochen: dass ihm das Absolute ein Wert ist, dass ihm Wert nicht an
Unterschiede geknüpft ist.
Alle Religionen der Massen sind
irgendwie durch die psychologisch-empirische Tatsache der
Unterschiedsempfindung bedingt.
Gott mag ihnen noch so sehr als das
Absolute, das ens realissimum, der alleinige Quell oder Sitz des Seienden
und des Guten gelten - sie brauchen doch für ihn ein Gegenüber; sie
kommen nicht hinaus über den Dualismus zwischen dem erlösungsbedürftigen
Menschen und dem Erlösung gewährenden Gotte, zwischen der Hässlichkeit
der Sünde und der Seligkeit des Heiligen, zwischen den gottverlassenen
und den gotterfüllten Stücken des Daseins.
Goethes religiöser »Natur«-Begriff,
in dem das ewig Allgesetzliche, das Absolute des Daseins schon an sich
selbst das zu Verehrende ist, das schlechthin Gütige, Vollkommene, Schöne
- ist offenbar seinem formalen Prinzip nach von allen kirchenbildenden
Religionen ausgeschlossen.
Sie können nicht das ganze Dasein, »es
sei wie es wolle«, anerkennen.
Der Dualismus all solcher Religionen
(selbst der buddhistischen, in der doch mindestens Leiden und Erlösung in
absoluter Antinomie stehen) ist unversöhnlich von der Goetheschen
Religiosität geschieden, in der die künstlerische Lebensstimmung am
deutlichsten entfaltet, was sie an religiöser Bedeutung besitzt.
Man kann die Goethesche Weltanschauung
als den gigantischsten Versuch bezeichnen, die Einheit des Gesamtseins
unmittelbar und in sich selbst als wertvoll zu begreifen: wenn er Gott so
weit reichen lässt wie die Natur und die Natur so weit wie Gott, beides
sich gegenseitig durchdringend und ineinander hegend - so ist ihm Gott der
Name für das Wertmoment des Seins, das mit seinem Wirklichkeitsmomente,
der Natur, in eines zusammenlebt.
In der produktiven Lebensanschauung des
Künstlers sind Pantheismus und Individualismus nicht mehr sich ausschließende
Gegensätze, sondern die beiden Aspekte eines und desselben Wertverhältnisses.
Er ist der Mensch der zartesten
Unterschiedsempfindlichkeit, des sichersten Wissens um die Einzigkeit und
die unvergleichliche Bedeutung jedes Daseinsstückes; das ethische
Prinzip: jeden Menschen als Selbstzweck anzusehen, erstreckt er -
innerhalb der ästhetischen Wertungssphäre - auf jedes Ding überhaupt.
Aber eben damit wird sein Weltbild
pantheistisch, der individuelle Wert jeder Einzelheit, die Möglichkeit,
einer jeden eine ästhetische Bedeutung, ebenso in ihr wurzelnd wie über
sie hinausreichend, zu entlocken - deutet sich als die jeweilige
Ausgestaltung einer Schönheit, die aus einheitlicher Quelle oder als
einheitliche Quelle das ganze Dasein durchflutet.
Damit ist nun endlich das formale
Prinzip gegeben, das für Goethe den Widerspruch zwischen seinem
qualitativen Individualismus, der leidenschaftlichen Schätzung dessen,
worin jeder einzig und anders als der andere ist - und der ebenso
leidenschaftlichen Schätzung aufhebt, die er für das »Allgemein-Menschliche«
empfindet.
Dieses letztere gehört der Kategorie
der wurzelhaften Einheiten zu, die keines Unterschiedes gegen Anderes bedürfen,
um Werte zu sein; sein Verhältnis zu den menschlichen Individuen
wiederholt in kleinerem Maßstabe dasjenige, das zwischen der Gott-Natur
überhaupt und allen Daseinseinzelheiten überhaupt besteht.
Damit aber wird der Wert des
Individuellen nicht applaniert, sondern er besteht als solcher weiter,
weil die Spezifikation ins Unendliche die Art ist, wie das ungebrochene
Eine, der Typus, lebt; so dass die Schätzung des Individuellen und die
des Allgemeinen die Schätzung eines Lebensprozesses ist.
Nur die mechanistische Auffassung trennt
beides, weil für sie das Allgemeine ein Abstraktum ist, gewonnen durch
die Aussonderung der gleichen Merkmale - als ob diese wie atomistisch und
abspaltbar neben den andern liegen.
Dies erst erschließt den wirklichen
Sinn von Goethes immer wiederholter Forderung, im Individuellen das
Allgemeine zu sehen.
»Wer nicht gewahr werden kann, dass ein
Fall oft Tausende wert ist und sie alle in sich schließt, der wird weder
sich noch andern jemals etwas zur Freude und zum Nutzen fördern können.«
Es handelt sich nicht darum, dass viele Erscheinungen, die ein äußeres
Merkmal teilen, durch eine von ihnen vertreten werden, sondern um die
Gleichheit des Lebens, das in ihnen allen fließt; um die schöpferische
Einheit, die ein jedes zum Symbol des Ganzen und also auch jedes andern
macht, nicht um die einzelnen Züge, die erst unsere nachträgliche
Betrachtung von einander trennt und in gleiche und ungleiche ordnet.
Und dies war eben möglich, weil er das
Dasein unter der Kategorie des Lebens erfasste und durch diesen Aspekt als
objektiven das Recht gewann, das Verhältnis zwischen dem Individuellen
und dem Allgemeinen ohne Anthropomorphismus nach der Formel seiner eigenen
Existenz zu deuten, wie jene Stelle sie ausspricht: »Und so teil' ich
mich, ihr Lieben - Und bin immerfort der Eine.« |