Georg Simmel:
Goethe und die Frauen
ex: Ostseezeitung
und Neue Stettiner Zeitung, 78. Jg., Nr. 456 vom 28. September 1912 (Stettin)
Goethe gehört zu dem Typus
von Männern, die aus dem Grunde ihrer Natur heraus ein Verhältnis zu den
Frauen haben.
Keineswegs besagt das eine
besondere Ausdehnung erotischer Leidenschaften und Erfahrungen.
Gerade den beiden Typen, für
die die realen Verhältnisse zu Frauen im Vordergrund des Erlebens stehen:
dem Frauenknecht und dem Don Juan - stand Goethe fern.
Es war immer nur ein Faden,
den die Frauen in das Gewebe seiner Existenz knüpften, wenn dieser Faden
auch kaum je ganz abriss.
Aber mit der stärksten
Betonung verwirft er es, dass ein Leben sich ganz mit den Beziehungen zu
Frauen erfülle: dies führe »zu gar zu viel Verwicklungen und Qualen,
die uns aufreiben, oder zu vollkommener Leere«.
Von diesen
Wirklichkeitsbeziehungen also unabhängig besteht bei gewissen Männern
ein eigentümliches Wissen um die Frauen, ein Bild und eine Bedeutsamkeit
des weiblichen Wesens für sie ist gewissermaßen ein Element ihrer
eigenen Natur.
Nietzsche, der, soviel man
weiß, nie ein erotisches Verhältnis hatte, der nach seinem eigenen Geständnis
»sich nie um Weiber bemüht hat«, sagt doch an derselben Stelle: »Darf
ich die Vermutung wagen, dass ich die Weiblein kenne? Das gehört zu
meiner dionysischen Mitgift!« Und wohl von der gleichen Grundlage her hat
Raffael auf die Frage, wo er denn die Modelle zu all seinen schönen
Frauengestalten hernehme, geantwortet: er nähme sie gar nicht von
Modellen, sondern bediene sich »einer gewissen Idee, die in seinem Geiste
entsteht«.
Und so gesteht Goethe im höchsten
Alter: »Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erscheinungen der
Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir angeboren oder in mir
entstanden, Gott weiß wie.«
Dass Goethe den Frauen
gegenüber, die er in Wirklichkeit vor sich hatte, ein Kenner im Sinne
praktischer Psychologie war, scheint mir keineswegs sicher.
Auf Lotte Buff, deren künstlerisches
Bild er mit aller Tiefe und erschütternder Wahrheit gezeichnet hat,
gesteht er, niemals »acht gehabt zu haben« - dazu habe er sie zu sehr
geliebt.
Und dass er, mehr als 40
Jahre später, sich Ottilie von Pogwisch zur Schwiegertochter wählte,
scheint einen merkwürdigen Mangel an psychologischem Blick zu verraten.
Wenn dieser begnadetste und
fast dauernd erotisch bewegte Mensch dennoch so wenig eigentliches Glück
in der Liebe genossen hat- im Rückblick auf 80jähriges Leben spricht er
von »Schlägen und Püffen«, mit denen Schicksal und »Liebchen« ihn
geprüft haben - so mag dies außer in anderen Tiefen seines Wesens sich
auch in dieser praktischen Täuschbarkeit seiner Frauenkenntnis gründen.
Männer dieser Art pflegen
in der Tat gar kein erhebliches Beobachtungswissen um die einzelnen Frauen
zu haben.
Vielmehr die »Idee« von
den Frauen ist in ihnen eine »Gott weiß wie entstandene« Kenntnis des
Typus Frau, den jede einzelne vielleicht nur unvollkommen verwirklicht,
der aber doch die eigentliche Wahrheit, das tiefste Wesen des Geschlechts
bedeutet.
Darum ist für die
dichterische, die einzelne Erfahrung überfliegende Darstellung gerade
dieses Wissen um die Frauen gewissermaßen prädestiniert, und darum
konnte gerade mit ihm Goethe es begründen, dass seine Frauengestalten »alle
besser wären als sie in Wirklichkeit anzutreffen sind«.
Es ist für mich kein
Zweifel, dass in ihm auch von den Frauen, rätselhaft entstanden, ein »Urphänomen«
bestand, das Urbild, wie er es in jedem organischen Wesen erblickt und
beschreibt als das »Gesetz, von dem in der Erscheinung nur Ausnahmen
aufzuweisen sind«.
Es ist deshalb gar kein
Widerspruch, wenn er immer an den Frauen tadelt, dass sie »keiner Ideen fähig«
wären, und doch ausspricht, dass er das Ideelle nur in weiblicher Gestalt
darstellen könne, dass die Frauen »das einzige Gefäß« wären, in das
er seine Idealität hineingießen könne.
Denn offenbar vermisst er
den Idealismus an den einzelnen empirischen Frauen; aber der Typus Frau,
wie er in ihm lebt und freilich den letzten Sinn und die Norm auch jener
wirklichen und unvollkommenen ausmacht - kann durchaus, wie er es einmal
ausdrückt, die silberne Schale sein, in die wir die goldenen Äpfel
legen.
Und dies Gleichnis
symbolisiert, was der Kern seiner Intuition über die Frauen zu sein
scheint: dass die Frauen etwas Geschlosseneres, in sich Einheitlicheres,
sozusagen Totaleres sind als die um Sonderinteressen zentrierenden Männer,
deren jeder bestenfalls in sich die Vielspältigkeit des ganzen
Geschlechts wiederholt.
Darum meint er die Frauen
am schönsten so zu loben: »Eure Neigungen sind immer lebendig und tätig
und Ihr könnt nicht lieben und vernachlässigen«.
Für all seine
Frauengestalten, von denen des Götz über Iphigenie und Natalie bis zur
Makarie, gilt gleichsam diese Grundform, die sie mit mannigfaltigstem
Inhalt füllen: die innere Versöhntheit und Wesenseinheit der Elemente,
die die männliche Art in Besonderung und oft im Kampf zeigt.
Deshalb bezeichnet Ottilie
ihre Schuld, die sie aus dem Leben treibt, nicht mit ihrem unmittelbaren
Inhalt, sondern nur: »Ich bin aus meiner Bahn geschritten.« Und in
weitestem Abstande des Inhaltes begründet eben dies seine Erklärung der
weiblichen Eifersucht: »Jede Frau schließt die andere aus, ihrer Natur
nach; denn von jeder wird alles gefordert, was dem ganzen Geschlecht zu
leisten obliegt.«
Begreiflich also wechselt
seine geistige Attitüde zu den Frauen nach dem Verhältnis, das seine
jeweilige Entwicklungsepoche gerade zu der Einheitsform hat, in der die
weibliche Existenz sich vollzieht.
Als er nach Weimar kam, ein
Chaos durcheinander und auseinander fließender Strebungen in der Seele,
offenbar leidenschaftlich verlangend, seine Kräfte zu organisieren und in
eine Stromrichtung zu leiten, da war, - was die letzte Tiefe seiner
Beziehung zu Frau von Stein ihm an Glück und Reichtum bot, - doch wohl
gerade an die harmonische Einheit dieser Natur gebunden, an die ruhige
feste Form, in die diese Frau alle exzentrischen und dissonierenden
Lebenselemente versöhnte.
Dieses Bild geschlossener
Ganzheit, das sie bot, zeigte allem Wilden und Divergierenden seiner Natur
den Erlösungsweg.
Ausdrücklich spricht er
gerade dies aus: er brauche sie, um ein selbständiges, ein ganzes Wesen
zu werden.
Sie war ihm das Symbol der
Ganzheit und Einheit, wie Michelangelo es in Vittoria Colonna gefunden
hatte.
»Du Einzige«, schreibt er
an sie, »in die ich nichts zu legen brauche, um alles in ihr zu finden.«
Darum preist er als das Glück, das ihm von ihr kam, dass er zu ihr völlig
offen sein könne, während bei den anderen Menschen »die Mitteltöne
fehlen, die bei Dir alle anschlagen«.
Was er als die tiefste
Wesenheit der Frauen empfand, schien ihm hier in einer Vollendung jenseits
ihrer sonstigen fragmentarischen Verwirklichung entgegenzutreten und in
einer Epoche, in der er für seine eigene Entwicklung des Haltes und
Vorbildes an dieser Lebensform bedurfte.
Sein Alter aber wendet dies
innere Verhältnis zu dem weiblichen Prinzip.
In seinen höheren Jahren
begegnen vielerlei kritisch absprechende Urteile über die Frauen im
allgemeinen; sieht man diese genauer an, so laufen sie fast alle auf den
sogenannten »weiblichen Mangel an Objektivität« hinaus.
Und dies hängt vielleicht
so zusammen: Goethes Jugend ist von einem gefühlsmäßigen Ideal
beherrscht, es scheint ihn zu einer gleichsam umweglosen Vollendung des
persönlichen Seins in seiner Ganzheit zu drängen, deren Bewusstsein
nicht ein Wissen oder ein Handeln, sondern ein Gefühl ist.
Diese Lebenstendenz geht,
ganz entschieden nach der italienischen Reise, gleichsam nach zwei Seiten
auseinander: in die Hingebung an wissenschaftliches Erkennen und die Bewährung
im Schaffen und Wirken.
Damit war sein Leben vom
Subjektiven weg ins Objektive gewandt.
Während dies aber sonst
die spezifisch männliche Zerspaltung mit sich bringt, die Lösung des
einzelnen Interesses und Tuns von dem Zentrum und der Einheit der inneren
Existenz - war es Goethe beschieden, dass all das Objektive seines Denkens
und Tuns ein völlig persönliches blieb, Pulsschläge eines einheitlich
innersten Lebens.
Aus dieser, in ihrer
Vollendetheit einzigen Daseinsform heraus zeigen seine späteren Jahre
jene heftige Abneigung gegen allen Subjektivismus, die wir im allgemeinen
gegen überwundene Entwicklungsstadien richten.
Die endlich errungene
Einheit seiner inneren Existenz hatte sich nun mit einem Sachgehalt von
Weltwissen und Weltwirken erfüllt, dem gegenüber ihm alles bloß
subjektive, um sich selbst kreisende, die objektiven Normen ablehnende
Dasein gewissermaßen als das böse Prinzip erschien.
Der Typus Frau hatte ihm
vermittelst jener tiefen innerlichen Beziehung, durch die er ihm gleichsam
offen war, geleistet, was er ihm leisten konnte, vor allem seit er ihm in
der Gestalt der Frau von Stein in anschaulicher Reinheit begegnet war.
Nun aber war ihm die
subjektive Einheit und Ganzheit der selbstverständliche Zustand, von dem
die große Wendung zum Objekt erst forderte, sich mit neuen Inhalten,
neuen Spannungen zu erfüllen.
Hier konnte ihn der Typus
Frau nicht mehr fördern, ja, er musste von ihm als dem Symbol einer überschrittenen
Entwicklungsepoche entschieden abrücken, und darum rügte er immer wieder
an den Frauen den Mangel an der Objektivität, mit deren Gewinn er die
neue Epoche gewonnen hatte; so, dass es ihnen vollkommen genügt, wenn
ihnen etwas »gefällt«, ohne dass sie die Motivierung des Gefallens
unterschieden und sachlich werteten; dass sie verlangen, in besonderen
Weisen verstanden zu werden, ohne an andere dasselbe Verständnis zu
wenden; dass sie leicht von einem Standpunkt auf den andern zu verlocken
sind und, wenn sie leiden, eher die Objekte als sich selbst darum schelten
- und dass sie, als notwendige Ergänzung dieser Subjektivitäten, dem
Dogmatiker zum Opfer fallen und sich der bloßen Konvention verschreiben.
Es scheint, als ob Goethes
reale Beziehungen zu Frauen von dieser Wendung nicht beeinflusst wären.
Auch damit offenbart sich
jene eigentümliche Getrenntheit, dass er ein tiefes, in einem
Wesensinstinkt gelegenes Wissen um die Frauen hatte, das aber nur den
weiblichen Typus, sozusagen die Idee Frau traf - und das jenseits seiner
empirischen, im Praktischen keineswegs sicheren Kenntnis der einzelnen
Frau stand.
Die große, rein geistig
erfasste Linie seiner Entwicklung zeigt nur die Bedeutung jenes überindividuellen,
seinen letzten Wesensgründen verhafteten Bildes der Frau.
Wie er sich diesem Bild -
in eigentümlicher Sonderung von den einzelnen realen Beziehungen, in
denen er seinem erotischen Temperamente folgte - bald zu -, bald abwandte,
das entsprach der ungeheuren Sicherheit, mit der er nur das dieser
Entwicklung jeweils Gemäße in sich einließ; und er ermöglicht uns
damit, an dem rhythmischen Schicksal auch dieses Lebenselementes von dem
großen Rhythmus dieser Entwicklung einen Abglanz zu haben. |