Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Metaphysik des Todes

ex: LOGOS. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, herausgegeben von Georg Mehlis, Band I, 1910/ II, I. Heft (April), S. 57-70 (Tübingen)

Die Kultur des innersten Lebens steht in jedem Zeitalter in enger Wechselwirkung mit der Bedeutung, die es dem Tode zuschreibt.

Wie wir das Leben auffassen und wie wir den Tod auffassen - das sind nur zwei Aspekte eines einheitlichen Grundverhaltens.

Die hier gebotenen Überlegungen, obgleich bemüht, ihre Abstraktionen aus ganz verschiedenen Todesbegriffen zu gewinnen, mögen in der Methode dieser Bemühung ein Beispiel dafür sein, wie eine der augenblicklichen Kulturlage entsprungene Denkweise sich zu diesen Problemen stellt.

I

Den unorganischen Körper scheidet vor Allem dies von dem lebendigen: dass ihm seine begrenzende Form von außen bestimmt wird - sei es in dem äußerlichsten Sinne, dass er aufhört, weil ein anderer anfängt, sich seiner Expansion entgegenstellt, ihn biegt oder bricht; oder sei es durch molekulare, chemische oder physikalische Einflüsse, wie etwa die Form des Felsens durch Verwitterung, die der Lava durch Erstarren fixiert wird.

Der organische Körper aber gibt sich seine Gestalt von innen her; er hört auf zu wachsen, wenn die mit ihm geborenen Formkräfte an ihre Grenze gekommen sind; und dauernd bestimmen diese die besondere Art seines Umfanges.

Die Bedingungen seines Wesens überhaupt sind auch die seiner erscheinenden Form, während für den unorganischen Körper die letzteren außerhalb seiner selbst wohnen.

Das Geheimnis der Form liegt darin, dass sie Grenze ist; sie ist das Ding selbst und zugleich das Aufhören des Dinges, der Bezirk, in dem das Sein und das Nichtmehrsein des Dinges Eines sind.

Und das organische Wesen ist, anders als das unlebendige, zu dieser Grenzsetzung keines zweiten bedürftig.

Nun aber ist seine Grenze nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich.

Dadurch, dass das Lebendige stirbt, dass das Sterben mit seiner Natur selbst (gleichviel ob aus begriffener oder noch nicht begriffener Notwendigkeit heraus) gesetzt ist, bekommt sein Leben eine Form - in der freilich der quantitative und der qualitative Sinn sich anders mischt als in der räumlichen.

Die Einsicht in die Bedeutung des Todes hängt durchaus daran, dass man sich von der »Parzen«-Vorstellung befreie, in der sein gewöhnlicher Aspekt sich ausdrückt: als würde in einem bestimmten Zeitmoment der Lebensfaden, der sich bis dahin als Leben und ausschließlich als Leben fortgesponnen, mit einem Male »abgeschnitten«; als setzte der Tod dem Leben seine Grenze in demselben Sinn, in dem der unorganische Körper dadurch räumlich zu Ende ist, dass ein anderer, mit dem er von sich aus gar nichts zu tun hat, sich gegen ihn schiebt und ihm seine Form - als »Aufhören« seines Seins - bestimmt.

Den meisten Menschen erscheint so der Tod als eine dunkle Prophezeiung, die über ihrem Leben schwebt, aber doch erst in dem Augenblick ihrer Verwirklichung irgend etwas mit dem Leben zu tun haben wird, wie über dem Leben des Ödipus die, dass er irgend wann einmal seinen Vater erschlagen wird.

In Wirklichkeit aber ist der Tod von vornherein und von innen her dem Leben verbunden.

Ich lasse die biologische Strittigkeit bei Seite: ob die einzelligen Wesen unsterblich sind, da sie sich nur in mehrere, wieder ganz und gar lebendige Wesen teilen und niemals, ohne Einwirkung äußerer Gewalt, eine Leiche hinterlassen, so dass der Tod nur eine, bei den vielzelligen Organismen zu dem Leben hinzugetretene Erscheinung wäre - oder ob auch von jenen ein Teil oder die ganze Körpersubstanz schließlich zu Grunde geht.

Hier gehen uns nur diejenigen Wesen an, die eben sterben und deren Leben darum in keiner weniger innigen Verbindung mit dem Tode steht, weil die Lebensform anderer Wesen diese Bedingtheit von vornherein nicht besitzt.

Eben sowenig wird das Abgestimmtsein unseres Lebens auf den Tod und seine durchgängige Bestimmtheit durch ihn von der Tatsache widerlegt, dass das normale Leben eine Zeitlang aufwärtsschreitet, immer mehr und sozusagen immer lebendigeres Leben wird; erst nach einem höchsten Punkt seiner Entwicklung, - der gewissermaßen dem Tode ferner zu sein scheint als jeder frühere - beginnen die ersten Zeichen des Abwärtsgehens.

Allein jenes voller und stärker werdende Leben steht doch in einem Gesamtzusammenhang, der auf den Tod angelegt ist.

Auch ohne dass, wie seit dem beginnenden Härterwerden der Gefäße, der Tod gleichsam pro rata in ihm feststellbar wäre, würde es doch ein anderes sein, wenn es nicht in jener eindeutig auf den Tod zugehenden Reihe stünde.

Wie die Ursache eines Erfolges in diesem doch nicht substanziell, in ihrem Eigenbestand und Eigenform fortzubestehen braucht, ein erstes Gebilde vielmehr die qualitativ völlig andere Bestimmtheit eines zweiten zur Wirkung haben kann, so kann, in anderer Richtung gesehen, der Tod dem Leben von vornherein einwohnen, ohne dass er, oder gleichsam ein Partikelchen von ihm, in jedem einzelnen Momente schon als Wirklichkeit feststellbar wäre.

Aber in jedem einzelnen Momente des Lebens sind wir solche, die sterben werden, und er wäre anders, wenn dies nicht unsere mitgegebene, in ihm irgendwie wirksame Bestimmung wäre.

So wenig wir in dem Augenblick unserer Geburt schon da sind, fortwährend vielmehr irgend etwas von uns geboren wird, so wenig sterben wir erst in unserem letzten Augenblicke.

Dies erst macht die formgebende Bedeutung des Todes klar.

Er begrenzt, d.h. er formt unser Leben nicht erst in der Todesstunde, sondern er ist ein formales Moment unseres Lebens, das alle seine Inhalte färbt: die Begrenztheit des Lebensganzen durch den Tod wirkt auf jeden seiner Inhalte und Augenblicke vor; die Qualität und Form eines jeden wäre eine andere, wenn er sich über diese immanente Grenze hinauserstrecken könnte.

Es gehört zu den ungeheuren Paradoxien des Christentums, dem Tod diese apriorische Bedeutung zu nehmen, das Leben von vornherein unter den Gesichtspunkt seiner eigenen Ewigkeit zu stellen.

Und zwar nicht nur als eine an den letzten irdischen Augenblick sich anschließende Verlängerung des Lebens; sondern von der gesamten Reihe der Lebensinhalte hängt das ewige Geschick der Seele ab, ein jeder setzt seine ethische Bedeutung als Bestimmungsgrund unserer transzendenten Zukunft in das Unendliche fort und durchbricht damit die ihm einwohnende Begrenztheit.

Der Tod kann hier als überwunden gelten, nicht nur weil das Leben, als eine durch die Zeit erstreckte Linie, über die Formgrenze seines Endes hinausreicht, sondern auch weil es den durch alle Einzelmomente des Lebens hin wirkenden und sie innerlich begrenzenden Tod vermöge der ewigen Konsequenzen eben dieser Momente verneint.

Und auch für den umgekehrt gerichteten Blick erscheint der Tod als der Gestalter des Lebens.

Die gegebene Stellung der Organismen innerhalb ihrer Welt ist die, dass sie sich in jedem Augenblick nur durch irgendwelche Anpassung - im weitesten Sinne des Wortes - am Leben erhalten können.

Das Versagen dieser Anpassung bedeutet den Tod.

Ebenso wie jede automatische oder willkürliche Bewegung als der Drang nach Leben, nach Mehr-Leben gedeutet werden kann, ebenso kann sie es als die Flucht vor dem Tode.

Jede unserer Bewegungen findet in dieser Hinsicht ihr Symbol an der arithmetischen Größe, die ebenso durch Addition von unten her, wie durch Subtraktion von oben her zustande gebracht werden kann.

Oder vielleicht ist das Wesen unserer Aktivität eine für uns selbst geheimnisvolle Einheit, die wir, wie soviel andere, nur durch Zerlegung in Lebenseroberung und Todesflucht erfassen können.

Jeder Schritt des Lebens zeigte sich nicht nur als eine zeitliche Annäherung an den Tod, sondern als durch ihn, der ein reales Element des Lebens ist, positiv und a priori geformt.

Und diese Formung wird also nun grade durch die Abwendung vom Tode mitbestimmt, dadurch, dass Erwerb und Genuss, Arbeit und Ruhe, und all unsere andern, naturhaft betrachteten Verhaltungsweisen - instinktive oder bewusste Todesflucht sind.

Das Leben, das wir dazu verbrauchen, uns dem Tode zu nähern, verbrauchen wir dazu, ihn zu fliehen.

Wir sind wie Menschen, die auf einem Schiff in der seinem Lauf entgegengesetzten Richtung schreiten: indem sie nach Süden gehen, wird der Boden, auf dem sie es tun, mit ihnen selbst nach Norden getragen.

Und diese Doppelrichtung ihres Bewegtseins bestimmt ihren jeweiligen Standort im Raume.

II

Diese Formung des Lebens in seinem ganzen Verlaufe durch den Tod ist bisher sozusagen etwas Bildhaftes, das von sich aus noch nicht zu irgend welchen Schlüssen vordringt; es handelte sich nur darum, die gewöhnliche Vorstellung, die den Tod nur, gleichsam unorganisch, als den lebenbeendigenden Parzenschnitt ansieht, durch die organischere zu ersetzen, für die er ein formendes Moment des kontinuierlichen Lebensverlaufes von Anfang an ist; ohne dass der Tod wäre, auch jenseits seiner ungemischten Sichtbarkeit in der Todesstunde, wäre das Leben ganz und gar und unausdenkbar anders.

Mag man aber seine enbiotische Verbreitung als eine Vorwirkung oder Vorschattung des singulären Todesereignisses, mag man sie als eine autochthone Formung oder Färbung jedes Lebensmomentes für sich ansehen- jedenfalls begründet erst sie, zusammen mit jener Akutheit des Todes, gewisse Reihen metaphysischer Vorstellungen vom Wesen und Schicksal der Seele.

Ich scheide die Modifikationen nicht ausdrücklich von einander, die der eine und die der andere Sinn des Todes in die folgenden Erwägungen hineinträgt; es wäre Sache leichten Überlegens, die Anteile jener beiden an diesen Vorstellungen zu sondern.

Die Hegelsche Formulierung, dass jedes Etwas seinen Gegensatz fordert und mit ihm zu der höheren Synthese zusammengeht, in der es zwar aufgehoben ist, aber eben damit »zu sich selbst kommt« - lässt ihren Tiefsinn vielleicht nirgends stärker als an dem Verhältnis zwischen Leben und Tod hervorleuchten.

Das Leben fordert von sich aus den Tod, als seinen Gegensatz, als das »Andere«, zu dem das Etwas wird und ohne das dieses Etwas überhaupt seinen spezifischen Sinn und Form nicht hätte.

Insoweit stehen Leben und Tod auf einer Staffel des Seins, als Thesis und Antithesis.

Damit aber erhebt sich über sie ein Höheres, Werte und Spannungen unseres Daseins, die über Leben und Tod hinaus sind und von deren Gegensatz nicht mehr berührt werden, in denen aber das Leben eigentlich erst zu sich selbst, zu dem höchsten Sinne seiner selbst kommt.

Die Basis dieses Gedankens ist, dass das Leben, wie es unmittelbar gegeben ist, seinen Prozess in voller Ungeschiedenheit von seinen Inhalten abrollt.

Diese tatsächliche Einheit kann nur gelebt werden und ist als solche intellektuell nicht zu bewältigen.

Die Analytik des Verstandes erst zerlegt sie in jene beiden Elemente, ohne dass die so gezogene Scheidelinie darum einer objektiven Struktur des Gegenstandes weniger zu entsprechen brauchte, als - freilich in einer anderen Realitätsebene - die im Gefühle gegebene Einheit des Erlebens.

Die sachliche wie die psychologische Möglichkeit der Scheidung aber scheint mir, insbesondere für gewisse höchste Werte, nur durch die Tatsache gegeben, dass ihr Träger, ihr Prozess, dem Tode unterworfen ist.

Lebten wir ewig, so würde das Leben voraussichtlich mit seinen Werten und Inhalten undifferenziert verschmolzen bleiben, es würde gar keine reale Anregung bestehen, diese außerhalb der einzigen Form, in der wir sie kennen und unbegrenzt oft erleben können, zu denken.

Nun aber sterben wir und erfahren damit das Leben als etwas Zufälliges, Vergängliches, als etwas, was sozusagen auch anders sein kann.

Dadurch erst wird der Gedanke entstanden sein, dass die Inhalte des Lebens ja das Schicksal seines Prozesses nicht zu teilen brauchen, erst so wird man auf die von allem Verfließen und Enden unabhängige, jenseits von Leben und Tod gültige Bedeutung gewisser Inhalte aufmerksam geworden sein.

Erst die Erfahrung vom Tode wird jene Verschmelzung, jene Solidarität der Lebensinhalte mit dem Leben gelöst haben.

Aber gerade mit diesen zeitlos bedeutsamen Inhalten gewinnt das zeitliche Leben seine eigene reinste Höhe; indem es sie, die mehr sind als es selbst, in sich aufnimmt oder sich in sie ergießt, kommt das Leben über sich hinaus, ohne sich zu verlieren, ja, sich eigentlich erst gewinnend; denn erst so kommt sein Ablauf als Prozess zu einem Sinn und Wert und weiß sozusagen, weshalb er da ist.

Es muss diese Inhalte erst ideell von sich sondern können, um sich bewusst zu ihnen zu erheben, und es vollbringt diese Sonderung im Hinblick auf den Tod, der zwar den Prozess des Lebens annullieren, aber die Bedeutung seiner Inhalte nicht angreifen kann.

Wenn diese Scheidung zwischen Leben und Inhalt, die durch den Tod geschieht, die Inhalte überleben lässt, so tritt derselbe Akzent doch auch auf die andere Seite der Trennungslinie.

Der seelische Lebensprozess als ganzer stellt mit steigender Entwicklung das Gebilde immer klarer und stärker heraus, das man das Ich nennen kann.

Es handelt sich um das Wesen und den Wert, um den Rhythmus und sozusagen den inneren Sinn, die unserer Existenz, als diesem besonderen Stück der Welt, zukommen; um dasjenige, was wir eigentlich von vornherein sind und doch wieder im vollen Sinne noch nicht sind.

Dieses Ich steht in einer eigentümlichen, näherer Darstellung noch bedürftigen Kategorie, die ein Drittes ist, jenseits der gegebenen Wirklichkeit und der irrealen, bloß geforderten Wertidee.

Nun ist aber das Ich am Anfang seiner Entwicklung, sowohl für das subjektive Bewusstsein, wie in seinem objektiven Sein, aufs engste mit den Einzelinhalten des Lebensprozesses verschmolzen.

Und wie dieser Lebensprozess - so sahen wir eben - seine Inhalte von sich sondert, wie sie eine Bedeutung jenseits ihres dynamisch-realen Erlebtwerdens erhalten, so entlässt er, gleichsam auf seiner anderen Seite, das Ich aus sich, das sich, in gewissem Sinn uno actu mit den Inhalten, aus ihm herausdifferenziert und sich damit auch von den Inhalten, die zunächst das naive Bewusstsein ausschließlich erfüllen, als eine besondere Bedeutung und Wert, Existenz und Forderung ablöst.

Je mehr wir erlebt haben, desto entschiedener markiert sich das Ich als das Eine und Kontinuierende in allen Pendelschwingungen des Schicksals und des Weltvorstellens; und zwar eben nicht nur in dem psychologischen Sinn, in dem die Wahrnehmung des Gleichen und Beharrenden in sonst differenten Erscheinungen durch deren numerisches Anwachsen leichter und unvermeidlicher wird; sondern auch im objektiven Sinne, derart, dass das Ich sich reiner in sich selbst sammelt, sich herausarbeitet aus all den fließenden Zufälligkeiten erlebter Inhalte, sich immer sicherer und von diesen unabhängiger seinem eigenen Sinn und Idee zu entwickelt.

Hier setzt der Unsterblichkeitsgedanke ein.

Wie in dem oben erörterten Fall der Tod das Leben versinken lässt, um die Zeitlosigkeit seiner Inhalte gleichsam freiwerden zu lassen, so beendet er nun, anders angesehen, die Erlebnisreihe der bestimmten Inhalte, ohne dass damit die Forderung des Ich, sich ewig zu vollenden oder weiterzuexistieren - das Gegenspiel jener Zeitlosigkeit - abgeschnitten wäre.

Die Unsterblichkeit, wie sie die Sehnsucht vieler tieferen Menschen ist, hat den Sinn: dass das Ich seine Lösung von der Zufälligkeit der einzelnen Inhalte ganz vollbringen könnte.

Religiöserweise pflegt die Unsterblichkeit einen anderen Sinn zu haben.

Sie gilt hier meistens einem Haben, die Seele will Seligkeit oder das Schauen Gottes oder vielleicht nur ein Weiterexistieren überhaupt; oder, bei stärkerer ethischer Sublimiertheit, will sie eine Qualität ihrer selbst: sie will erlöst sein, oder gerechtfertigt, oder gereinigt.

Aber alles das kommt nicht in Frage gegenüber dem jetzigen Sinn der Unsterblichkeit, als des Zustandes der Seele, in dem sie nichts mehr erlebt, in dem ihr Sein sich also nicht mehr an einem Inhalt vollzieht, der in irgend einem Sinn außerhalb ihrer selbst bestünde.

Solange wir leben, erleben wir Objekte, das Ich hebt sich zwar mit dem Vorschreiten der Jahre und ihrer Vertiefung mehr und mehr als der reine Prozess, als das Invariable und Durchhaltende aus allen Mannigfaltigkeiten der vor-überflutenden Inhalte heraus; aber irgendwie bleibt es doch jeweilig mit diesen verschmolzen, das Sich-Abheben, das Selbstsein der Seele bedeutet nur eine asymptotische Annäherung an das Ich, das nicht an irgend einem Etwas, sondern nur an sich selbst existiere.

Wo an Unsterblichkeit geglaubt wird und jeder materiale Inhalt, dem sie zum Zweck diene, abgelehnt wird, - sei es als das ethisch nicht hinreichend Tiefe, sei es als das schlechthin Unwissbare - wo sozusagen die reine Form der Unsterblichkeit gesucht wird, da wird der Tod wohl als die Grenze erscheinen, jenseits deren alle angebbaren Einzelinhalte des Lebens vom Ich abfallen und wo sein Sein oder sein Prozess ein bloßes Sich-selbst-Gehören, eine reine Bestimmtheit durch sich selbst ist.

III

Wenn das erste der hier behandelten Motive die Funktion des Todes am und im Leben zeigte, wenn das zweite seine das Leben zerlegende Rolle aufwies, mit der er einerseits den objektiven Inhalten, andererseits dem subjektiven Ich die Reinheit des Fürsichseins gewährt, so steht nun ein drittes Motiv gewissermaßen zwischen diesen: die Seelenwanderung, die den Tod zwar in die grenzenlose Existenz der Seele hineinsetzt, ihn aber doch zu der Zäsur macht, an der jeweilig völlig neue Inhaltsreihen, ja, ein anderes Ich beginnt.

An der Seelenwanderung scheint zunächst die Unsterblichkeit eine sozusagen begrifflich notwendige Ergänzung zu finden.

Denn die Unsterblichkeit fordert eigentlich die Präexistenz.

Dass eine Seele, bloß weil sie zufällig entstanden ist, auch gleich ins Unendliche weiterleben sollte, gibt keinen rechten Sinn.

Wohl aber ist die Unvernichtbarkeit das angemessene Korrelat der Unentstandenheit.

Das ist wie mit der »Unsterblichkeit« von Gedanken: der ganz große Gedanke ist nur wie ein Aktualisieren und Bewusstwerden von etwas, was die Menschheit von jeher besessen hat, was zu der Erbmasse ihres Wesens, zu ihrer ewigen Ausstattung gehört.

Darin liegt das Überzeugende der großen Gedanken, auch und insbesondere der nicht wissenschaftlich erweisbaren.

Sie würden nicht so unmittelbar - als hätte man es längst gewusst und jetzt würde es nur ausgesprochen - und bleibend wirken, wenn sie nicht in der Struktur der Seele präexistent gewesen wären.

Nur wenn das Leben prinzipiell nicht auf der Form empirischer Begrenztheit ruht, nicht als ein Einzelnes irdisch entstanden ist, sondern ein bloßer Ausschnitt aus einer ewigen Existenz ist, ist seine Unsterblichkeit nicht mehr ein unerträglicher Sprung aus einer Ordnung der Dinge in eine völlig heterogene.

Die Seelenwanderung stellt diese Ewigkeit des Lebens in einer gleichsam prismatischen Brechung in unzählige, verschieden gefärbte, individuell begrenzte Existenzen dar.

Der Tod ist dann nur das Ende der Individualität, aber nicht des Lebens.

Hiermit aber setzt die Schwierigkeit des Seelenwanderungsgedankens ein.

Welches Leben endet mit dem Tode? Das persönlich-individuelle? Dann ist es unverständlich, dass die nächste Existenz als die desselben, unzerstörten Subjekts gelten darf.

Wird aber gerade die Persönlichkeit in allen Wandlungen bewahrt, so dürfte das in dieser Selbigkeit Erhaltene schwer anzugeben sein, wenn sie jetzt als Fürst, dann als Tiger, dann als Bettler, dann als Schakal wiedergeboren wird.

Welcher Inhalt des Seins oder des Bewusstseins beharrt denn eigentlich, um die Bezeichnung all dieser Erscheinungen als der Erscheinungen eben desselben Subjekts zu rechtfertigen? Geschichtlich berichtete Vorstellungsweisen zeigen diese Alternative in polaren Entgegengesetztheiten.

Bei sehr verschiedenen primitiven Völkern herrscht der Glaube, das neugeborene Kind sei ein wiedergeborener früher Gestorbener.

Bei einem Negervolk werden dem Neugeborenen Sächelchen gezeigt, die verstorbenen Familienmitgliedern gehört haben.

Wird es dann bei einem besonders aufmerksam, so ist es der wiedergekommene Besitzer dieses.

»Es ist Onkel John, er erkennt seine Pfeife!« Bei den Maoris zählt der Priester dem Neugeborenen die Namen der Vorfahren auf: bei welchem es niest oder schreit, der ist in ihm wiedergeboren.

Dies ist offenbar die roheste und äußerlichste Form der Wiederkunft, die man kaum als Seelenwanderung bezeichnen kann, weil es sich um eine Wiederholung des Gestorbenen in seiner ganzen leiblich-seelischen Wirklichkeit handelt.

Aber es zeigt das äußerste Extrem des Individualismus, der in vielen Abstufungen eine Form der Seelenwanderung bildet.

Das Extrem der anderen Richtung hat die tiefere Lehre des Buddhismus, besonders in der neueren Zeit, zu vollem Bewusstsein gebracht.

Auf die ethische Bedenklichkeit der Strafe, mit der die Sünden eines früheren Ich an einem neuen, das seinerseits gar nicht gesündigt habe, heimgesucht werden, erwidert der Buddhist: die Frage sei von vornherein falsch gestellt, da ein Ich, ein sündigendes und ein gestraftes, gar nicht bestehe.

Es gäbe nur Gedanken und Taten, sozusagen naturhaft-unpersönliche, die sich in einem gegebenen Moment zu einem Aggregat zusammenfinden; an einem späteren Aggregat, durch kausale Übertragungen mit jenem zusammenhängend, erscheinen eben die sich fortsetzenden Wirkungen jener früheren Elemente oder Elementzustände.

Sünde und Strafe bestünden also nicht an zwei gesonderten Subjekten, die durch ein kontinuierendes Ich verbunden wären, sondern verhielten sich einfach wie ein Geschehen und seine, vielleicht viel spätere, Wirkung, die sich an zwei subjektlosen Komplexen physisch-psychischer Elemente abspielten.

Auch diese höchste Steigerung der Unpersönlichkeit gestattet offenbar keine eigentliche Seelenwanderung, weil eine jenseits ihrer jeweiligen Tuns- und Leidensinhalte stehende Seele von vornherein abgeleugnet wird und also auch nicht durch mehrere, mit einer Verschiedenheit solcher Inhalte verknüpfte leibliche Existenzen hindurch beharren kann.

Zwischen diesen beiden Extremen liegen die möglichen Vorstellungen von Seelenwanderung, deren Arten also durchaus von dem jeweiligen Begriff der »Persönlichkeit« abhängig sind.

Diese muss sich, um als die identische in verschiedenen Körpern zu wohnen, aus all den Bestimmungen zurückgezogen haben, die ihr aus der Verbundenheit der Seele mit der Körperlichkeit kommen.

Aristoteles indes spottet über die Seelenwanderungslehre, die beliebige Seelen in beliebige Körper eingehen lasse: ebenso gut könne die Zimmermannskunst in Flöten eingehen; in Wirklichkeit sei diese bestimmte Seele nur diesem bestimmten Körper verbunden und verbindbar.

Dennoch macht selbst die aristotelische Voraussetzung hierfür: dass die Seele, kurz gesagt, die Lebendigkeit des lebenden Wesens sei - jene Ablehnung noch nicht unbedingt erforderlich, und zwar gerade dann nicht, wenn man die Seele als mit der Individualität des Wesens identisch setzt.

Man könnte diese als die Form des seelischen Verhaltens verstehen, die von jedem Einzelinhalt des seelischen Lebens unabhängig ist und sich deshalb in den inhaltlich allerverschiedensten seelischen Komplexen als die identische wiederholen kann.

Wie sich diese Individualität, dieser besondere Rhythmus, Organisiertheit, Färbung, von einem Wesen auf das andere überträgt, muss freilich dahingestellt bleiben.

Die Individualität ist eine Kategorie, die weder in das Körperhafte noch in das Seelenhafte aufgeht, ein höheres Drittes, das sich in dem einen wie in dem andern findet oder der Generalnenner für den Dualismus dieser beiden.

Mag Aristoteles also recht haben, dass dieselbe (d. h. im existentialen Sinne dieselbe) Seele nicht in verschiedenen Körpern wohnen könne: darum können doch sehr verschiedenartige Gesamtgebilde, ein jedes körperhaft und seelenhaft, die Bestimmung, diese und diese Individualität zu sein, mit einander teilen.

So paradox es klingt: ein Fürst und ein Tiger, ein Bettler und ein Schakal können die gleiche »Individualität« haben.

Nicht ein einziger angebbarer Inhalt ihrer körperlichseelischen Existenz mag hier oder dort der gleiche sein; dennoch kann eine Gesamtfärbung, die etwa in der Relation der Wesenselemente zueinander besteht, in ihnen übereinstimmen.

Die Individualität im Verhältnis zu diesen einzelnen Elementen gleicht dem Werte eines Bruchs, der der identische sein kann, auch wenn die Faktoren, die ihn bilden, keinerlei Gleichheit besitzen.

Das Übergehen der »Seele« des Fürsten in den Tiger begegnet vielleicht der Schwierigkeit, die Aristoteles hervorgehoben hat; aber dennoch kann er als Fürst »dasselbe« sein, was der Tiger als Tiger ist.

Dieses innere Gesetz des Wesens, das gegen die Materie seiner Verwirklichung indifferent ist, mag man als seine »Individualität« bezeichnen, und wenn der phantastische Gedanke der Übertragung einer Wesenheit auf eine völlig anders aussehende Erscheinung überhaupt akzeptiert werden soll, so brauchte man ihn also an der Gebundenheit jeder bestimmten Seele an einen bestimmten Körper nicht scheitern zu lassen.

Diese vielmehr völlig zugebend, könnte man ihn an diese Beziehungsgesetze - deren es unendlich mannigfaltige geben mag - sei es zwischen Körper und Seele, sei es zwischen den Wesenselementen überhaupt, knüpfen, an die Individualität, die in keinem dieser Elemente für sich, auch nicht pro rata, auffindbar ist und doch der Ganzheit des Wesens ein zwar unverwechselbares, aber wegen seines sozusagen formalen Charakters auf beliebig differente Materien übertragbares Cachet gibt.

Was den Tod überdauerte, wäre dann nicht die Seele in ihrer historisch-realen Substantialität, sondern ein zeitloses Wesensgesetz, das sich bald in diesem, bald in jenem Wirklichkeitskomplex darstellt und nur die besondre Bestimmung hätte, dass diese Komplexe nur eine, in der Zeit verlaufende und durch den Tod der einzelnen Realitäten in Perioden gegliederte Reihe bilden - wie auch der Prozess unserer Welt als ganzer eine Individualität besitzt (nach Raumbedingtheit, Kausalordnung, begrifflichem Gefüge etc.), die sich auch nur an dem einen Verlauf einer einreihigen Zeit verwirklicht.

Im übrigen fände dieser Gedanke an der empirisch-psychologischen Wirklichkeit seine Analogie.

Die Seele jedes Menschen wandert zwischen Geburt und Tod durch unabmeßbar viele Schicksale, Stimmungen, extrem entgegengesetzte Epochen, die, auf ihren Inhalt angesehen, gegeneinander ganz fremde Gesamterscheinungen bieten.

Allein die Individualität des Subjekts lässt sie doch zu einem einheitlichen Bilde zusammengehen: wie der Stimmklang eines Menschen derselbe und unverwechselbare bleibt, wie wechselnde Worte er auch spreche, so bleibt eine Grundfärbung, ein Grundrhythmus, ein Grundverhältnis für all das, was dieses Leben je erlebt, ein gleichsam apriorisches Formgesetz seines Tuns und Leidens, das das Zu-Ende-Sein jedes einzelnen Inhaltes überlebt und, als die Individualität des Ganzen, sich auf den nächsten überträgt.

Hiermit ist das Motiv angedeutet, aus dem heraus auch die Individualität als Träger der Metempsychose noch abgeworfen werden kann und dieser wunderlichsten aller Unsterblichkeitslehren ein noch unbeschränkterer Sinn kommen mag - nicht eigentlich ein teleologischer, der sie dem modernen Menschen irgendwie plausibel machte, aber doch ein kausaler, der ihrem Entstehen eine sozusagen ideelle Basis gibt.

Die durch viele Körper und Leben wandernde Seele ist nichts, als die Seele des einzelnen Lebens, »mit großen Buchstaben geschrieben«; die Seelenwanderung nichts als eine groteske Verbreiterung, ein Radikal- und Absolutwerden gewisser Erfahrungen des täglichen, relativischen Lebens.

Machen wir uns die Veränderungen klar, die dessen Verlauf zwischen Geburt und Tod an uns hervorbringen, so scheint deren Spannweite manchmal kaum geringer, als sie zwischen mancher menschlichen und mancher tierischen Existenz besteht.

Keinem erheblich bewegten Leben wird das gelegentliche Gefühl mangeln, dass seine Ausschlagspole die Grenzen nicht nur des menschlichen, sondern des überhaupt ausdenkbaren Daseins berührt haben, dass es nicht nur Widersprüche - ein solcher enthält noch immer eine korrelative Zusammengehörigkeit seiner Seiten-, sondern Entferntheiten, berührungsunfähige Gleichgültigkeiten einschließt, die am Ende nur von einer rein formalen Lebenseinheit und von der Tatsache umgriffen sind, dass sich diese Inhalte in einem kontinuierlichen Fließen, in der zeitlichen Stetigkeit eines Lebensprozesses aneinander reihen.

Zunächst in den Abständen der typischen Entwicklung: das stammelnde Kind, der Mann auf der Höhe seiner Schaffenskraft, der verfallene Greis - woraufhin werden diese Erscheinungen als eine Einheit angesprochen, als weil ein Lebensstrom sie durchfließt, der aber ihren Inhalten keinerlei Einheit und Vergleichbarkeit zu geben vermag und der, angenommen, die Seelenwanderung bestünde als Tatsache, sozusagen keine größere Anstrengung, mindestens keine fundamental anders gerichtete, brauchte, um die noch etwas distanteren Inhalte von Menschlichem und Tierischem in seine formale Kontinuität aufzunehmen.

Zwischen der einen Geburt und dem einen Tode fühlen wir uns unzählige Male als ein »Andersgewordener« - körperlich, seelisch, schicksalsmäßig - und fühlen dabei freilich dieselbe »Seele«, die durch dies alles hindurchgeht, ohne durch ein Einzelnes in ihrer Beschaffenheit als Seele überhaupt abgefärbt zu werden; sonst wäre es unbegreiflich, dass sie morgen das genau entgegengesetzte Einzelne in dasselbe seelische Leben ruft.

Es beharrt etwas in uns, während wir Weise und dann wieder Toren, Bestien und dann wieder Heilige, Selige und dann wieder Verzweifelte sind.

Ein mechanisch bestimmtes Gebilde freilich ist ein anderes, sobald irgend eine seiner Bestimmungen geändert ist; denn es besitzt keine reale innere Einheit, die diese zusammenhielte; wird es, auch wenn seine Bestimmungen nicht mehr die genau identischen sind, aus begriffstechnischen Gründen noch als »eines« bezeichnet, so ist es in Wirklichkeit nicht mehr dieses eine, sondern ein anderes.

Aber das lebende, genau genommen nur das beseelte Wesen, verhält sich anders.

Von ihm stellen wir uns vor, dass es auch anders hätte handeln, bestimmt werden, ja sein können, ohne seine Identität zu verlieren, weil all dies Angebbare an ihm von einem beharrenden, jenseits seiner einzelnen Bestimmungen und Aktionen stehenden Ich getragen wird.

Darum kann man vielleicht nur von einem Menschen sagen, dass er hätte ein anderer sein können, als er ist - während jedes sonstige Wesen in diesem Falle eben nicht mehr »er« wäre.

An diesem Punkte liegt offenbar die Verknüpftheit des Freiheitsgedankens mit dem Ichgedanken, durch ihn wird begreiflich, wieso jene Polarität und Fremdheit mannigfaltiger Stimmungen und Schicksale, Entscheidungen und Gefühle die auseinanderstrebenden Schwingungen eines Pendels sind, das schließlich an einem unverrückbaren Punkte hängt.

Sieht man von diesem Bilde unserer Wirklichkeit auf die Seelenwanderung, so erscheint es in ihr nur wie in einem Vergrößerungsspiegel aufgefangen.

Die rätselhafte Grundtatsache des Lebens, insbesondere des in der Seele gesammelten: dass ein Wesen immer ein anderes und doch immer dasselbe ist, wird mit der Seelenwanderung nur in einen gröberen Abstand der Momente auseinandergezogen.

Oder, von dem Glauben an Seelenwanderung her blickend, ist das einzelne Leben eine Abbreviatur des durch unermessliche Zeiten und Formen erstreckten Daseins der Seele, etwa wie man das individuelle Leben als eine kursorische Darstellung des Gattungslebens gedeutet hat oder wie der einzelne Tag in den mannigfachen Anklängen von Lust und Leid, den Vibrierungen zwischen Kraft- und Schwächeempfindungen, der Erfülltheit und Leerheit der Stunden, den Abwechslungen von Schaffen und Aufnehmen ein Miniaturbild des Gesamtlebens ist.

Die verschiedenen Leiber, durch die die Seele passiert, sind nur wie Materialisationen und Fixierungen der verschiedenen Zustände, die die Seele, rein als Seele, in sich erzeugt und erfährt - wie man die Martern der Schattenleiber in der Danteschen Hölle als die Sinnbilder der Qualzustände interpretiert hat, die die sündige Seele in ihrer irdischen Existenz durchmacht.

Das Schicksal der Seele zwischen der einzelnen Geburt und dem einzelnen Tode und das zwischen der ersten Geburt und dem letzten Tode, wie die Seelenwanderungslehren sie schildern, sind gegenseitig Symbole von einander.

Mit dieser Auffassung des Mythus erscheint als sein tieferer Sinn, dass er die Absolutheit von Leben und Tod gewissermaßen in eine Relativität aufhebt.

An die Stelle des einmaligen Gegeneinander von beiden, dessen Härte sozusagen in kein übergreifendes Gesamtbild zu fassen ist, tritt eine einheitliche, unendliche Existenz, in der Leben und Tod sich wie die Glieder einer Kette verschlingen, jedes Anfang und Ende des andern, der Tod fortwährend die Existenz abteilend, formend, überleitend.

Die Seelenwanderung wird dem modernen Menschen im allgemeinen als eine solche Paradoxie, ja, als eine so wüste Fantastik erscheinen, dass ihre Gefolgschaft unter gebildeten und hochstehenden Volksstämmen, unter ganz hervorragenden Individuen unserer Kultur schlechthin unbegreiflich wäre, wenn nicht Instinkte für tiefgelegene Lebensbestimmtheiten in ihr zu einer, wie auch wunderlichen und über alles Wissen hinausliegenden Äußerung kämen.

Und sollte sich unter diesen Zusammenhängen auch die zuletzt angedeutete Symbolik befinden, so würde dies an die Erwägung schließen, von der diese Blätter ausgingen.

Wenn es das Schicksal der Seele ist, unendlich oft zu sterben und in unendlich vielen, immer neuen Formen zu erstehen, und wenn dies das Symbol des individuellen Lebens ist, dessen Teile damit nur zu Totalexistenzen verbreitert werden - so erscheint damit der Tod so in alle diese Teile eingesenkt, wie es unsere ganz anders orientierte Betrachtung dort ergab.

Wenn die Existenzen der ewig wandernden Seele den Tagen oder Minuten einer von ihren begrenzten Existenzperioden entsprechen, so ist der Tod jedem Tage und jeder Minute des Tages so als Grenze und Form, als Element und Bestimmung gegenwärtig, wie er den Rhythmus und die Gestaltung des Gesamtverlaufes bestimmt und gliedert.

In ihrer etwas plumpen und sozusagen materialistischen Art führt die Seelenwanderung in die beiden Richtungen, in denen jene Todesvorstellung des »Parzenschnittes« überwindbar ist: sie entfernt einerseits die Absolutheit des Todes überhaupt aus dem Leben, das Leben als Ganzes wird zu dem absoluten Begriff, der von dem Wechselspiel des relativen einzelnen Lebens und des relativen einzelnen Todes konkretisiert wird, und sie senkt andererseits den Tod in den Lebensverlauf hinein, als das Gleichnis dafür, dass das Leben sozusagen in jedem Augenblick die Zäsur des Todes zu überwinden hat, dass er ein positives Moment des Lebens ist und es ununterbrochen durchflicht und formt.

Jenen rohen Symbolen gleich, mit denen primitive Völker doch die tiefsten naturerkennenden und metaphysischen Ideen entwickelter Geistigkeit antizipieren, deutet die Seelenwanderung darauf hin, dass es vielleicht ein Schritt ist, der den Tod zu einem Momente des Lebens selbst macht und der ihn überwindet, der den Tod schon vor den Parzenschnitt und das Leben noch hinter ihn verlegt.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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