Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Vom Wesen der Philosophie

ex: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt Nr. 36, 54. Jg., Sonntag, 6. Februar 1910, I. Morgenblatt, S. 1-2 (Frankfurt a. M.)

Den Bezirk einer jeden Wissenschaft umschreibt ihr allgemeines Problem, das durch einander widerstreitende oder einander ergänzende Sonderfragen und Lösungen erfüllt wird, ohne dass all dies Mannigfaltige die Gültigkeit jener gemeinsamen Aufgabe strittig machte.

Die Philosophie allein stellt sich außerhalb dieses Typus.

Hier entsprechen die Besonderheiten der Antworten nicht einer Allgemeinheit der Frage, sondern jede originelle Lösung entspricht einem originell gestellten Grundproblem: in der ganz prinzipiellen Frage, was denn Philosophie überhaupt sei und was sie solle, pflegen die großen Denker sich nicht oder nur sehr partiell zu berühren.

So etwa bestimmt Epikur als ihre Aufgabe, durch Gründe und Überlegungen zu einem glückseligen Leben zu gelangen, Schopenhauer aber das Bestreben, durch Vorstellungen zu dem zu gelangen, was nicht Vorstellung ist, d. h. zu dem Jenseits der empirischen Erscheinung, mit der die andern Wissenschaften sich beschäftigen; für das Mittelalter ist die Philosophie die Magd der Theologie, die Begründung der religiösen Wahrheiten, für den Kantianismus die kritische Besinnung der Vernunft auf sich selbst; während sie einerseits rein ethisch bestimmt wird, als die Untersuchung dessen, was für die praktischen Lebensideale der Menschheit bedeutsam ist, erscheint sie anderswo als eine logische Bearbeitung des Weltbildes, um dessen ursprünglich vorgefundene Widersprüche zu überwinden.

Ersichtlich stellt der einzelne Philosoph das scheinbar ganz allgemeine, unparteiliche Problem von vornherein so, wie es der Antwort, die er geben will, entspricht.

Man könnte fast sagen, die philosophische Produktivität des originellen Denkers sei in sich so einheitlich, so sehr der intellektuelle Ausdruck eines in sich geschlossenen Seins, dass Frage und Antwort erst eine nachträgliche Spaltung des Denkbildes bedeuteten.

Was aber bleibt, wenn jede Definition nur für die besondre Philosophie des besondern Denkers gilt, noch übrig, um die Gemeinsamkeit des Namens für so auseinandergehende Bestrebungen zu rechtfertigen? Vielleicht wird man, um hier zu einer Antwort zu kommen, die Frage aus ihrer bisherigen Richtung herausdrehen müssen.

Solange Zweck und Inhalt der Philosophie ihre Definitionen bestimmen, scheint ihr Gesamtgebiet keinen Generalnenner zu besitzen; aber noch könnte dieser in dem Verhalten der Philosophen selbst liegen - nicht in den Resultaten ihres Denkens, sondern in einer Grundbedingung, unter der all jene, in ihren Verzweigungen nicht mehr zusammenzubiegenden Resultate allein gewonnen werden können.

Man kann den Philosophen vielleicht als denjenigen bezeichnen, der das aufnehmende und reagierende Organ für die Ganzheit des Seins hat.

Der Mensch ist im allgemeinen - dafür sorgt schon die Praxis des Lebens - immer auf irgend welche Einzelheiten gerichtet; mögen sie sehr klein oder sehr groß sein: der tägliche Broterwerb oder die Kirche, ein Liebesabenteuer oder die Entdeckung der Periodik der chemischen Elemente - es bleiben immer Einzelheiten, die das Sinnen, das Interesse, die Betätigung erwecken.

Der Philosoph aber hat, natürlich in sehr verschiedenen Maßen und niemals in absolut vollkommenem, einen Sinn für die Gesamtheit der Dinge und des Lebens, und - insoweit er produktiv ist - die Fähigkeit, diese innere Anschauung oder dieses Gefühl des Ganzen in Begriffe und ihre Verknüpfungen umzusetzen.

Er braucht nicht immer vom Ganzen zu sprechen, ja vielleicht kann er das im genauen Sinne gar nicht; aber welche Spezialfrage der Logik oder der Moral, der Ästhetik oder der Religion er auch behandle - als Philosoph tut er es nur, wenn jene Beziehung zu der Totalität des Seins irgendwie darin lebt.

Nun ist natürlich die Ganzheit des Daseins in ihrer Vollständigkeit niemandem zugängig und kann auf niemanden wirken.

Sie muss erst aus den allein gegebenen Fragmenten der Wirklichkeit zustandegebracht werden - wenn man will: als »Idee« oder auch nur als Sehnsucht, - um so erst die Reaktion des philosophischen Intellekts hervorzurufen.

So ist freilich damit ein Wechsel diskontiert, der mit seinem vollen Betrag nie eingelöst werden wird.

Aber dies philosophische Produzieren eines Ganzen aus den Bruchstücken der Objektivität und der Weiterbau auf das so Produzierte ist nur die äußerste Steigerung eines allgemeinen Verfahrens.

So leuchtet z. B. dem Historiker aus der immer fragmentarischen Oberlieferung die Ganzheit eines Charakters entgegen, auf die er seine Darstellung aufbaut; ja selbst die vollständigste Überlieferung kann jene innere Anschauung des Gesamtwesens nicht enthalten, sondern diese bleibt die spontane, wenn auch durch äußere Einzelheiten angeregte und gelenkte Tat einer merkwürdigen Energie, die man, um nur einen Namen dafür zu haben, das Totalisierungsvermögen der Seele nennen mag.

Und dieses wird, jenseits einer gewissen Größenschwelle, zur gemeinsamen Voraussetzung alles Philosophierens überhaupt, zu so individuellen - schon in jenen Definitionen der Philosophie ihre Individualität ausdrückenden - Gebilden es sich auch entwickle.

Es sind nun zwei prinzipielle Versuche geschehen, die Ganzheit des Seins dennoch in einer realeren Weise zu ergreifen, und - so wenig sie von dahin gehendem Bewusstsein und Absicht gelenkt waren - eine Verständlichkeit dafür zu schaffen, dass der Philosoph von dieser Ganzheit irgendwie berührt ist und intellektuell darauf antwortet.

Das eine ist der Weg der Mystik, der andre der Kants. - Ich lasse hier dahingestellt, ob die Mystik (ich meine hier im wesentlichen die des Meisters Eckhart) ohne Vorbehalt der Philosophie zuzurechnen ist; vielleicht ist sie ein für sich stehendes geistiges Gebilde, jenseits von Wissenschaft wie von Religion; aber Eckharts Spekulation bewegt sich sozusagen in einer so allgemein menschlichen letzten Tiefe, dass die Philosophie seine Motive ohne weiteres in ihre Formen übertragen kann.

Das erste Glied der Reihe, in die seine Gedanken für unsern jetzigen Zweck zu ordnen sind, ist die absolute Eingeschlossenheit aller Dinge in Gott; insoweit sind sie alle ein Wesen, der Einzelne ist nichts Individuelles für sich.

Erst durch das Geschehen, das Eckhart mit dem mystischen Symbole bezeichnet: dass Gott in Ewigkeit den Sohn gebiert - werden die Dinge in ihrer Mannigfaltigkeit.

Aber sie bleiben, ihrer Wurzel wie ihrer Substanz nach, des göttlichen Wesens.

Gott fließt in alle Kreaturen aus, und darum ist alles Geschaffene Gott; kehrte sich Gott einen Augenblick ab, so würden sie zunichte.

Dieses Göttliche aber ist in sich schlechthin Einheit-Gott, der alles ist, ist »weder dies noch das«, sondern »ein und einfältig in sich selber«.

So ist also zunächst die Ganzheit der Welt in einen Punkt gesammelt.

Dies aber gibt Eckhart die Möglichkeit, sie in die Seele überzuführen.

Die Seele selbst hat zwar mannigfache Fähigkeiten, aber es ist ein Mittelpunkt in ihr, der von keiner kreatürlichen Mannigfaltigkeit berührt wird; Eckhart nennt ihn »das Fünkchen« - ein schlechthin »Eines und Einfältiges«, der eigentliche Geist der Seele.

In diesem spricht Gott unmittelbar, ja es ist überhaupt nicht mehr von Gott geschieden, es ist mit ihm »eines und (nicht nur) vereint«.

»Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund«.

An diesem Punkt erkennen wir alle Dinge in ihrem wahren Wesen, weil wir ihre Einheit in Gott haben, oder richtiger: sind; »mein Auge und Gottes Auge ist ein Auge und ein Gesicht«.

Hier ist vielleicht das innerste Motiv der Verbindung, das von je zwischen Religion und Philosophie bestanden hat, am klarsten ausgesprochen.

An der Vorstellung Gottes hat der Gläubige das Ganze der Welt, auch wenn ihm all ihre unzähligen Einzelheiten fehlen.

Die Mystik sucht dies gewissermaßen anschaulich zu machen, indem sie das Wesen der Seele in einen letzten, einfachen Lebenspunkt sammelt, der von jener Einheit des göttlichen Wesens nicht mehr getrennt ist.

In den verschiedensten Formen geht dies Motiv durch die religiöse Mystik und die philosophische Spekulation aller Zeiten hindurch: dass die tiefste, alle Mannigfaltigkeit überwindende Versenkung in uns selbst zugleich in die absolute Einheit der Dinge führt; es gäbe einen Punkt, an dem diese Einheit, in der Idee Gottes ausgesprochen, sich als das Wesen und die Einheit unser selbst offenbarte.

Die philosophische Attitüde, die ein Verhältnis des Geistes zum Ganzen der Welt bedeutet und angesichts der Maße des Individuums und der Welt als ein Widersinn, ja ein Irrsinn erscheinen könnte, erhält damit eine metaphysische Rechtfertigung, sie erweist sich als die intellektuelle Wendung jenes, wie es scheint, in allen Epochen des tieferen Menschheitslebens auftauchenden Gefühls: dass wir in den Grund der Welt gelangen, wenn wir uns in den Grund der eignen Seele versenken.

Von der entgegengesetzten Seite her gibt das Grundmotiv der Philosophie Kants eine Möglichkeit, jenes im Weltgefühl des Philosophen vorweggenommene Wissen um die Ganzheit der Dinge zu begründen.

Kants Hauptwerk findet seinen Gegenstand nicht an dem Dasein, das als Ganzes gedacht wird oder das unmittelbar erlebt wird; sondern an ihm, insoweit es Wissenschaft geworden ist.

Dies ist die Form, in die jene Ganzheit der Dinge für ihn eingeht, um nach ihrem Wesen und nach ihren Bedingungen befragt zu werden, die Welt ist ihm Realität, insofern sie Inhalt der - schon gewonnenen oder möglichen - Wissenschaft ist; was den Bedingungen dieser nicht entspricht, ist nicht »wirklich«.

Und hierüber bedarf es einer weiter ausholenden Besinnung, ehe der Kantische Weg zu dem jetzt fraglichen Ziel weiter verfolgt werden kann.

Es gibt vielleicht keine Notwendigkeit des Denkens, deren wir uns - obgleich sie weder logischen Zwang noch den der fühlbar gegebenen Tatsächlichkeit enthält - so wenig entschlagen können, als der Zerlegung der Dinge in Inhalt und Form.

In unzähligen, so und anders benannten Modifikationen durchzieht diese Scheidung unser Weltbild, als eine der Organisationen und Gelenkigkeiten, mit denen der Geist die in ihrer unmittelbaren Einheit ungefüge Masse des Daseienden sich gefügig macht.

Schließlich erhebt sich über alle einzelnen Inhalte und variierenden Formen ein höchstes Gegensatzpaar: die Welt als Inhalt, als das in sich bestimmte, in seiner Unmittelbarkeit indes uns nicht ergreifbare Dasein - aber dadurch ergreifbar gemacht, dass es in einer Mannigfaltigkeit von Formen ausgestaltet ist, deren jede prinzipiell seine Ganzheit zum Inhalt gewinnt.

Die Wissenschaft und die Kunst, die Religion und die gefühlsmäßig-innerliche Verarbeitung der Welt, die sinnliche Auffassung und der Zusammenhang der Dinge nach Sinn und Wert - dies und vielleicht noch andere sind die prinzipiellen Formen, durch die jeder einzelne Teil des Weltinhalts sozusagen hindurchpassieren kann oder soll.

Denn denselben Inhalt meint unsere Reflexion bald unter dieser, bald unter jener Kategorie zu erblicken: eben denselben Menschen können wir zum Objekt des Erkennens wie der künstlerischen Formung haben, eben dasselbe Ereignis als Episode unseres inneren Schicksals und als Erweis eines göttlichen Eingreifens ansehen, eben denselben Gegenstand als rein sinnlichen Eindruck und als Moment einer metaphysischen Konstruktion des Daseins.

Es ist nun der Sinn dieser großen Formen, jeden überhaupt vorhandenen Inhalt in sich aufnehmen zu können; die Kunst kann es ihrem Prinzip nach beanspruchen, den ganzen Umfang des Daseins zu gestalten, ebenso kann sich der Erkenntnis kein Stück der Welt entziehen, jedes Ding kann man nach seiner Stellung in irgend einer Wertreihe fragen, auf ein jedes muss ein vollkommnes Gefühlsleben reagieren können usw.

Allein, wenn der Idee dieser Formen nach eine jede die ganze Welt in ihre Sprache übersetzen kann, so ist dies in dem Maße, in dem die Wirklichkeit sie zu Worte kommen lässt, keineswegs der Fall.

Und zwar deshalb, weil jene Formen niemals in abstrakter Reinheit und absoluter Vollendung wirksam sind, sondern nur in den Grenzen und Besonderheiten, die die jeweilige Geisteslage ihnen lässt.

Wir haben keine Kunst schlechthin, sondern nur die in der Zeitkultur gegebenen Künste, Kunstmittel und Stile.

Und da diese heute andere sind, als gestern und als sie morgen sein werden, so reichen sie nur aus, bestimmte Inhalte künstlerisch auszugestalten, während andere in diesen jetzt verfügbaren artistischen Formungen kein Unterkommen finden - grundsätzlich aber allerdings zum Inhalt der Kunst werden könnten.

Eben sowenig haben wir die absolute Religion, die es gestatten würde, jedem Dinge, dem niedrigsten und zufälligsten, wie dem höchsten einen religiösen Sinn, einen Zusammenhang mit allen in der Einheit des religiösen Grundmotivs zu geben; sondern wir haben nur historische Religionen, deren jede einen gewissen Teil von Welt, Seele, Schicksal religiös durchdringt, während ein anderer Teil draußen bleibt und sich der religiösen Ausgestaltung entzieht.

Es ist immer dasselbe: das ideelle Recht jeder dieser Formationen, aus der Gesamtheit der Inhalte je eine ganze Welt aufzubauen, realisiert sich nur in der unvermeidlichen Unvollkommenheit des historischen Gebildes, als welches allein sie lebendig ist.

Mit der wissenschaftlichen Erkenntnis kann es sich nicht anders verhalten.

Die Begriffsbildung und die Art, Erfahrungen zu sammeln und zu ordnen, die Umbildung der sinnlichen Gegebenheiten in ein naturgesetzliches oder geschichtliches Bild, die Kriterien von Wahrheit und Irrtum, kurz all die Formen und Methoden, in die aufgenommen die Weltinhalte zu Wissenschaftsinhalten werden, haben sich im Laufe der menschlichen Geistesgeschichte entwickelt und entwickeln sich zweifellos weiter.

Allen Wahrscheinlichkeiten, allen Analogien, unzähligen tatsächlichen Hinweisen würde die Annahme widersprechen, dass die von unübersehlichen historischen Umständen bedingten Kategorien irgend einer aktuellen Wissenschaft auch nur imstande wären, die Ganzheit des Daseins in sich aufzunehmen.

Wenn Fichte sagt, was für eine Philosophie jemand habe, hänge davon ab, was für ein Mensch er sei - so gilt dies weit über die Philosophie und weit über den einzelnen Menschen hinaus.

Was für eine Wissenschaft die Menschheit in einem gegebenen Augenblick hat, hängt davon ab, was für eine Menschheit sie in diesem Augenblick ist; und wie sich die Unvollendetheit und geschichtliche Zufälligkeit ihres Seins zu der Idee ihrer Vollendung verhält, so ersichtlich die Formen und Kategorien, die für sie in jedem Augenblick Wissenschaft bedeuten, zu jenen, die für die Gestaltung des gesamten Weltinhalts zur Wissenschaft zulänglich wären.

Dies nun steht mit der Überzeugung Kants insofern im Widerspruch, als ihm die Grundformen, mit denen die bestehende Wissenschaft den Stoff des Daseins erfasst, für dessen ganzen Inhalt zuzureichen und keiner Evolution unterworfen scheinen.

Dennoch ist auch der jetzige Standpunkt nur auf Grund des seinigen möglich, für den er den gesammeltsten, freilich auch parodoxesten Ausdruck damit findet: dass der Verstand der Natur ihre Gesetze vorschreibt; das Grundmotiv ist, dass die Erkenntnisvorstellungen der Dinge nicht in uns hineingeschüttet werden, wie Nüsse in einen Sack, dass wir als Erkennende nicht die passiv Aufnehmenden gegenüber den Sinnesempfindungen sind, wie die indifferente Wachsplatte durch den Eindruck des Stempels von außen her geformt wird.

Sondern alles Erkennen ist eine Aktivität des Geistes, die Sinneseindrücke, denen gegenüber wir uns rezeptiv verhalten, sind noch nicht Erkenntnis, und der Komplex ihrer Inhalte ist nicht »die Natur«.

Vielmehr müssen diese Eindrücke Formen und Verbindungen erhalten, die in ihnen selbst nicht liegen, sondern die eben von dem erkennenden Geist an ihnen ausgeübt werden.

Dadurch wird aus dem Chaos oder dem bloßen Nebeneinander und Nacheinander von sinnlichen Erscheinungen erst das, was wir Natur nennen: ein sinnvoller, verständlicher Zusammenhang, in dem alle Mannigfaltigkeit als prinzipielle, durch Gesetze verbundene Einheit erscheint.

Sobald diese Gesetze sich auf einzelne, gegebene Dinge beziehen, geben sie sich uns freilich nur durch Erfahrung, d. h. durch ein Zusammenwirken der sinnlichen Empfänglichkeit mit dem ausgestaltenden Verstande.

Die allgemeinsten Regeln aber, die überhaupt die Vielheit der Erscheinungen zu der einheitlichen Natur formen (z. B. das Kausalgesetz), stammen nicht aus den Erscheinungen, sondern aus der dem Geiste eignen Fähigkeit, zu verbinden, zu vereinheitlichen.

Diese Fähigkeit nennt Kant den Verstand, und dieser also ist es, der der Natur ihre Gesetze vorschreibt, da ja diese Gesetze - die Verbindungsformen des Geistes selbst für die gegebenen Weltinhalte - aus den letzteren erst »die Natur« zustandebringen.

Dieser genauere Sinn der populären Formulierung von Kants Lehre: dass »die Welt meine Vorstellung ist« - gibt dem Geist eine Beziehung zur Welt, die deren ganzen Umfang, trotz aller Unerschöpflichkeit ihrer Einzelheiten, in sich sammelt.

Wir wissen absolut nichts von den Dingen, außer soweit sie in unserm Bewusstsein sind, d. h. von der Aktivität unseres Geistes zu Gegenständen unserer Erkenntnis gestaltet werden; dadurch sind die Gesetze des Geistes die Gesetze der Dinge, kein Erkenntnisinhalt, von dem wir überhaupt sprechen können, kann sich der Zentrierung in den Formen des Geistes entziehen.

Und dies mag für die wissenschaftliche Erkenntnis vollkommen richtig sein - nur dass die Formen dieser Erkenntnis selbst eben historische Gebilde sind, die deshalb die Totalität der Weltinhalte nie völlig adäquat aufnehmen.

Wäre ihre Entwicklung aber so vollendet, wie Kant es ohne weiteres annimmt, und wie sie gemäß der prinzipiellen Idee der Erkenntnis allerdings sein könnte, so würde damit eine geistige Berührungsmöglichkeit zwischen dem Menschen und der Totalität des Daseins gegeben sein.

Der Widersinn, mit dem die quantitative Diskrepanz zwischen einem einzelnen seelischen Sein und der Unermesslichkeit des Daseins überhaupt diese Berührung und damit die ganze philosophische Attitüde zu schlagen schien, hebt sich durch die unerhörte Kühnheit der Kantischen Wendung: dass dieses ganze Dasein seine Form als Gegenstand der Erkenntnis eben jenem seelischen Sein verdankt.

Seine inhaltlichen Einzelheiten mögen sozusagen in der Welt verbleiben und ihrer allmählichen Aufnahme in die Erfahrung warten; aber die Formen, die die Erfahrung und Natur überhaupt zustande bringen, in denen also der Gesamtumfang der erkannten Welt potentiell enthalten ist, liegen im Geiste und nur in ihm bereit und sind seine Funktionen, die sein Erkennen heißen, er hat eine Beziehung zum Ganzen der Welt, da grade ihre Ganzheit sein Erzeugnis ist.

Eigentümliche Relationen also bestehen zwischen den Begründungen, die die Mystik dem Prinzip des philosophischen Verhaltens gibt, und der Begründung, die dafür aus dem Kantischen Motiv zu schöpfen ist.

Dort wird der Inhalt der Welt gewissermaßen in einem Punkt gesammelt, insofern seine Differenzen als unwesenhaft gelten und nur die Einheit des göttlichen Seins eigentlich existiert, so dass die Seele, dieser gleichfalls zugehörig, in ihr die unmittelbare Durchdringung mit der Welt gewinnt, die sich dann in der philosophischen Gedankenentwicklung sozusagen expliziert.

Diese Anschauungsweise hat etwas Formloses, es steht nur die Substanz des Seins und das Eingesenktsein in sie in Frage, wobei die Wirklichkeit alle Individualität, d. h. alle Form einbüßt.

Die Kantische Reflexion dagegen hat ihren Angelpunkt im Formbegriff.

Es gibt einige wenige, das Weltmaterial zu einer Welt bildende Formen, die sich einer Unendlichkeit mannigfaltiger Inhalte darbieten.

Und da es sich für Kant nur um die Welt der Erkenntnis handelt, das Erkennen aber nirgends anders als im Bewusstsein vor sich geht, so sind es die Formen des Bewusstseins, die die Welt nach allem, was als Prinzip für sie gilt, nach allem, was sie zu einem Gegenstand des Erkennens macht, präjudizieren oder in sich fassen.

Es ist verständlich, dass das philosophische Ergreifen des Weltganzen sich entweder in dessen Reduktion auf die bloße formlose Substanz oder auf die inhaltlose Form vollzieht.

Denn die konkrete Erscheinung, d. h. der geformte Stoff, ist das Unabsehliche, ist die Unendlichkeit des Seins, die kein Gedanke umfassen, von deren Ganzheit er sich nicht mit einem Male berührt wissen kann.

Nur wo der Geist den Inhalt für sich oder die Form für sich abstrahiert und damit eine gestaltende Eigentätigkeit am Dasein ausübt, scheint er durch eben diese einen Zugang zu dessen Totalität zu gewinnen.

Die Analogie, die so zwischen den beiden, nach Gesinnung und Inhalt unendlich differenten Weltanschauungen dennoch in Hinsicht des gegenwärtigen Problems besteht, wird ersichtlich durch die gemeinsame Bedeutung des Wissens um uns selbst für das Wissen um die Welt getragen.

Alle Formen, die die Erkenntniswelt bilden, laufen für Kant in einer zentralen, der eigentlich schöpferischen und normgebenden zusammen: in der Einheit.

Die mannigfaltigen Vorstellungen werden zu objektiven Erkenntnissen, indem sie zu der Einheit eines Gegenstandes, eines Satzes, einer Gedankenreihe, eines Weltbildes zusammengehen.

Für die Ordnung des chaotischen Nebeneinander, Durcheinander, Nacheinander der Elemente, d. h. für das Gestaltungsprinzip einer verständlichen Welt haben wir keinen andern Ausdruck, als: Einheit des Mannigfaltigen.

Dass dies aber die Form unsrer Erkenntniswelt ist, wird einerseits bedingt, andrerseits realisiert durch die Form des Bewusstseins, durch das und für das diese Welt besteht: diese Form ist Einheit, die Inhalte meines Bewusstseins sind mir eben als einer Persönlichkeit zugehörig bewusst, als Empfindungen und Gedanken, Impulse und Leiden eines Ich, das sich an jedem Punkte dieser Mannigfaltigkeit als das identische weiß, das durch die Diskordanz seiner Inhalte und Produkte nicht zerrissen werden kann, oder vielmehr, dessen Zerrissenheitsgefühl, wo es auftritt, grade nur durch das Bestehen seiner Einheit möglich ist - sonst würde keine Zerrissenheit, sondern ein gleichgültiges Nebeneinander dieser Inhalte bestehen.

Dieser letzte Punkt des Ich in uns, in den die Welt eingeht und von dem, anders angesehen, jene Strahlen ausgehen, die die Welt in sich fassen und sie damit überhaupt erst zu einer Welt machen - besitzt für das Problem, das uns hier angeht, die gleiche Bedeutung, wie das »Fünklein« bei Eckhart. 

In beiden Fällen ist es grade die zentrale Einheit des Geistes, durch die er sich der Beziehung zu der Ganzheit des Daseins öffnet.


 

Editorial:

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