Georg Simmel: Philosophie
des Abenteuers
ex: Der Tag. Moderne illustrierte
Zeitung Nr. 2 8 z, Morgenblatt vom 7. Juni 1910, Illustrierter Teil Nr.
130, S. 1-3 und Nr. 284, Morgenblatt vom B. Juni 1910, Illustrierter
Teil Nr. 131, S. 1-3 (Berlin)
Jedes Stück unseres Tuns
oder Erfahrens trägt eine doppelte Bedeutung: es dreht sich um den
eigenen Mittelpunkt, es hat so viel an Weite und Tiefe, an Lust und Leid,
wie sein unmittelbares Erlebtwerden uns gibt; und es ist zugleich der Teil
eines Lebensverlaufes, nicht nur ein umgrenztes Ganzes, sondern auch Glied
eines Gesamtorganismus.
Beide Werte bestimmen jeden
Lebensinhalt in mannigfacher Konfiguration; Ereignisse, die in ihrer
eigenen, mir sich selbst darbietenden Bedeutung einander sehr ähnlich
sein mögen, sind gemäß ihren Verhältnissen zum Ganzen des Lebens äußerst
divergent; oder, in jener ersteren Hinsicht vielleicht unvergleichbar, können
ihre Rollen als Elemente unserer Gesamtexistenz zum Verwechseln gleich
sein.
Wenn von zwei Erlebnissen,
deren angebbare Inhalte gar nicht weit unterschieden sind, das eine als »Abenteuer«
empfunden wird, das andere nicht - so ist es jene Verschiedenheit des Verhältnisses
zum Ganzen unseres Lebens, durch die dem einen das dem anderen versagte
Cachet zufällt.
Und zwar ist nun die Form
des Abenteuers, im allerallgemeinsten: dass es aus dem Zusammenhange des
Lebens herausfällt.
Mit Jener Ganzheit eines
Lebens meinen wir doch, dass in seinen einzelnen Inhalten, so krass und
unversöhnlich sie sich voneinander abheben mögen, ein einheitlicher
Lebensprozess kreist.
Dem Ineinandergreifen der
Lebensringe, dem Gefühl, dass sich mit all diesen Gegenläufen, diesen
Biegungen, diesen - Verknotungen doch schließlich ein kontinuierlicher
Faden spinnt, steht dasjenige, was wir ein Abenteuer nennen, gegenüber,
ein Teil unserer Existenz freilich, dem sich vorwärts und rückwärts
andere unmittelbar anschließen, und zugleich, in seinem tieferen Sinne,
doch außerhalb der sonstigen Kontinuität dieses Lebens verlaufend.
Und dennoch ist es
unterschieden von all dem einfach Zufälligen, Fremden, nur die Epidermis
des Lebens Streifenden.
Indem es aus dem
Zusammenhange des Lebens herausfällt, fällt es - dies wird sich allmählich
erklären - gleichsam mit eben dieser Bewegung wieder in ihn hinein, ein
Fremdkörper in unserer Existenz, der dennoch mit dem Zentrum irgendwie
verbunden ist.
In einem viel schärferen
Sinne, als wir es von den anderen Formen unserer Lebensinhalte zu sagen
pflegen, hat das Abenteuer Anfang und Ende.
Von den Ereignissen des
Tages und Jahres empfinden wir sonst, das eine sei zu Ende, indem oder
weil das andere einsetzt, sie bestimmen sich gegenseitig ihre Grenzen, und
damit gestaltet oder spricht die Einheit des Lebenszusammenhanges sich
aus.
Das Abenteuer aber ist,
seinem Sinne als Abenteuer nach, von dem Vorher und Nachher unabhängig,
ohne Rücksicht auf diese bestimmt es sich seine Grenzen.
Eben da, wo die Kontinuität
mit dem Leben so prinzipiell abgelehnt wird oder eigentlich nicht erst
abgelehnt zu werden braucht, weil von vornherein eine Fremdheit, Unberührsamkeit,
ein Ausser-der-Reihe-Sein vorliegt - da sprechen wir von Abenteuer.
Ihm fehlt jene Endosmose
und Exosmose mit den benachbarten Teilen des Lebens, durch die dieses ein
Ganzes wird.
Diese entschiedene
Begrenztheit, mit der das Abenteuer sich aus dem Gesamtverlauf eines
Schicksals heraushebt, ist keine mechanische, sondern eine organische: wie
der Organismus sich seine Raumform nicht einfach dadurch, dass ihm von
rechts und links eine Hemmung kommt, bestimmt, sondern aus der Triebkraft
eines von innen formenden Lebens - so ist das Abenteuer nicht zu Ende,
weil etwas anderes anfängt, sondern seine Zeitform, sein radikales
Zu-Ende-Sein, ist die genaue Ausformung seines inneren Sinnes.
Zunächst hierin liegt die
tiefe Beziehung des Abenteurers zum Künstler, vielleicht auch die Neigung
des Künstlers zum Abenteuer begründet.
Denn es ist doch das Wesen
des Kunstwerkes, dass es aus den endlos kontinuierlichen Reihen der
Anschaulichkeit oder des Erlebens ein Stück herausschneidet, es aus den
Zusammenhängen mit allem Diesseits und Jenseits löst und ihm eine
selbstgenugsame, wie von einem inneren Zentrum her zusammengehaltene Form
gibt.
Indem ein Teil des Daseins,
das in dessen Ununterbrochenheit verflochten ist, dennoch als ein Ganzes,
als eine geschlossene Einheit empfunden wird, entsteht die Form, die dem
Kunstwerk und dem Abenteuer gemeinsam ist.
Dass ein Isoliertes und Zufälliges
eine Notwendigkeit und einen Sinn enthalten könne - das bestimmt den
Begriff des Abenteuers in seinem Gegensatz zu allen Stücken des Lebens,
die die bloße Fügung der Geschicke in dessen Peripherie einstellt.
Zum Abenteuer wird ein
solches erst durch jene doppelte Sinngebung: dass es in sich eine durch
Anfang und Ende festgelegte Gestaltung eines irgendwie bedeutungsvollen
Sinnes ist, und dass es, mit all seiner Zufälligkeit, all seiner
Exterritorialität gegenüber dem Lebenskontinuum, doch mit dem Wesen und
der Bestimmung des Trägers in einem weitesten, die rationaleren
Lebensreihen übergreifenden Sinne und in einer geheimnisvollen
Notwendigkeit zusammenhängt.
Hier klingt die Beziehung
des Abenteurers zum Spieler an.
Der Spieler ist zwar der
Sinnlosigkeit des Zufalls preisgegeben; allein indem er auf dessen Gunst
rechnet, indem er ein durch diesen Zufall bedingtes Leben für möglich hält
und verwirklicht, stellt sich ihm der Zufall doch in einen Zusammenhang
des Sinnes ein.
Die typische Abergläubigkeit
des Spielers ist nichts anderes als die greifbare und vereinzelte, deshalb
aber auch kindische Form dieses tiefen und umfassenden Schemas seines
Lebens: dass in dem Zufall ein Sinn, irgendeine notwendige - wenn auch
nicht nach der rationalen Logik notwendige - Bedeutung wohne.
Durch den Aberglauben, mit
dem der Spieler den Zufall durch Vorzeichen und mystische Hilfsmittel in
sein Zwecksystem hineinziehen will, enthebt er ihn seiner unzugänglichen
Isoliertheit, sucht in ihm eine zwar nach phantastischen Gesetzen, aber
immerhin doch nach Gesetzen verlaufende Ordnung.
Und so lässt auch der
Abenteurer den außerhalb der einheitlichen, von einem Sinn gelenkten
Lebensreihe stehenden Zufall dennoch irgendwie von diesem umfasst sein.
Er bringt ein Lebensgefühl
auf, das sich durch die Exzentrizität des Abenteuers hindurchleitet, und
gerade in der Weite des Abstandes zwischen einem zufälligen, von außen
gegebenen Inhalt und dem zusammenhaltenden, sinngebenden Zentrum der
Existenz eine neue, bedeutungsvolle Notwendigkeit seines Lebens herstellt.
Zwischen Zufall und
Notwendigkeit, zwischen dem Fragmentarischen äußerer Gegebenheit und der
einheitlichen Bedeutung des von innen her entwickelten Lebens spielt ein
ewiger Prozess in uns, und die großen Formen, in denen wir die Inhalte
des Lebens gestalten, sind die Synthesen, die Antagonismen oder die
Kompromisse jener beiden Grundaspekte.
Das Abenteuer ist eine von
ihnen.
Wenn der professionelle
Abenteurer aus der Systemlosigkeit seines Lebens ein Lebenssystem macht,
wenn er die nackten äußeren Zufälle sucht, aus seiner inneren
Notwendigkeit heraus und jene in diese einbauend - so macht er damit nur
gleichsam makroskopisch sichtbar, was die Wesensform jedes »Abenteuers«,
auch des nicht abenteuerlichen Menschen, ist.
Denn immer meinen wir mit
dem Abenteuer ein Drittes, jenseits sowohl des bloßen abrupten
Geschehnisses, dessen Sinn uns schlechthin außen bleibt, wie es von außen
kam, als auch der einheitlichen Lebensreihe, in der jedes Glied das andere
zu einem Gesamtsinne ergänzt.
Das Abenteuer ist nicht ein
Gemengsel beider, sondern das unvergleichlich gefärbte Erlebnis, das sich
nur als ein besonderes Umfastsein jenes Zufällig-Äußeren durch dieses
Innerlich-Notwendige ausdeuten lässt.
Hier und da aber wird
dieses ganze Verhältnis noch von einer tieferen inneren Gestaltung
umgriffen.
So sehr das Abenteuer auf
einer Unterschiedlichkeit innerhalb des Lebens zu beruhen scheint, so kann
doch das Leben als Ganzes wie ein Abenteuer empfunden werden.
Es ist dazu weder nötig,
ein Abenteurer zu sein, noch viele einzelne Abenteuer durchzumachen.
Wer diese einzigartige
Attitüde zum Leben hat, muss über dessen Ganzem eine höhere Einheit,
gleichsam ein Über-Leben fühlen, das sich zu jenem verhält wie die
unmittelbare Lebenstotalität selbst zu den einzelnen Erlebnissen, die uns
die empirischen Abenteuer sind.
Vielleicht gehören wir
einer metaphysischen Ordnung an, vielleicht lebt unsere Seele ein
transzendentes Dasein, derart, dass unser irdisch bewusstes Leben nur ein
isoliertes Stück gegenüber einem unnennbaren Zusammenhange einer über
ihm sich vollziehenden Existenz ist.
Der Seelenwanderungsmythus
mag ein stammelnder Versuch sein, diesen Segmentcharakter jedes gegebenen
Lebens auszudrücken.
Wer durch alles reale Leben
hindurch eine geheime, zeitlose Existenz der Seele spürt, die mit diesen
Realitäten nur wie von der Ferne her verbunden ist - der wird das Leben
in seiner gegebenen und begrenzten Ganzheit jenem transzendenten und in
sich einheitlichen Schicksal gegenüber als ein Abenteuer empfinden.
Gewisse religiöse
Stimmungen scheinen dies zu bewirken.
Wo unsere irdische Laufbahn
als ein bloßes Vorstadium der Erfüllung ewiger Geschicke gilt, wo wir
auf der Erde nur einen flüchtigen Gastaufenthalt, aber keine Heimat
haben, da liegt offenbar nur eine besondere Färbung des allgemeinen Gefühls
vor, dass das Leben als Ganzes ein Abenteuer ist; womit eben nur ausgedrückt
ist, dass die Symptome des Abenteuers in ihm zusammenrinnen: dass es außerhalb
des eigentlichen Sinnes und stetigen Ablaufes der Existenz steht und
dieser doch durch ein Schicksal und eine geheime Symbolik verbunden ist,
dass es ein fragmentarischer Zufall ist und doch nach Anfang und Ende wie
ein Kunstwerk geschlossen, dass es wie ein Traum alle Leidenschaften in
sich sammelt und doch wie dieser zum Vergessenwerden bestimmt ist, dass es
wie das Spiel sich gegen den Ernst abhebt und doch wie das Va banque des
Spielers auf die Alternative eines höchsten Gewinns oder der Vernichtung
geht.
Die Synthese der großen
Lebenskategorien, als deren eine, besondere Formung sich das Abenteuer
verwirklicht, vollzieht sich weiterhin zwischen der Aktivität und der
Passivität, zwischen dem, was wir erobern, und dem, was uns gegeben wird.
Freilich macht die Synthese
des Abenteuers den Gegensatz dieser Elemente extrem fühlbar.
Wir reißen einerseits mit
ihm die Welt gewaltsam in uns hinein.
Der Unterschied gegen die
Art, wie wir ihr in der Arbeit ihre Gaben abgewinnen, macht das deutlich.
Die Arbeit hat sozusagen
ein organisches Verhältnis zur Welt, sie entwickelt deren Stoffe und Kräfte
kontinuierlich zu ihrer Zuspitzung im menschlichen Zwecke hin, während
wir im Abenteuer ein unorganisches Verhältnis zu ihr haben; es bringt die
Allüre des Eroberers mit sich, das rasche Ergreifen der Chance,
gleichviel ob wir damit ein zu uns, zu der Welt oder zum Verhältnis
beider harmonisches oder unharmonisches Stück für uns heraustrennen.
Andererseits aber sind wir
ihr im Abenteuer doch schutzloser, reserveloser preisgegeben als in allen
Verhältnissen, die mit der Gesamtheit unseres Weltlebens durch mehr Brücken
verbunden sind und rot
uns deshalb gegen Choks und
Gefahren besser durch vorbereitete Ausbiegungen und Anpassungen
verteidigen.
Die Verflechtung von
Handeln und Leiden, in der unser Leben verläuft, spannt hier ihre
Elemente zu einer Gleichzeitigkeit von Eroberertum, das alles nur der
eigenen Kraft und Geistesgegenwart verdankt, und völligem Sich-Überlassen
an die Gewalten und Chancen der Welt, die uns beglücken, aber in
demselben Atem auch zerstören können.
Dass die Einheit, zu der
wir in jedem Augenblick unsere Aktivität und unsere Passivität der Welt
gegenüber zusammenleben, ja die, in einem gewissen Sinne, das Leben ist,
ihre Elemente zu so äußerster Zuspitzung treibt und sich eben damit -
als wären diese nur die beiden Aspekte eines und desselben, geheimnisvoll
ungetrennten Lebens - um so tiefer fühlbar macht: das ist wohl einer der
wunderbarsten Reize, mit denen uns das Abenteuer verlockt.
Es ist noch mehr als die
Einstellung des gleichen Grundverhältnisses unter einen anderen
Gesichtswinkel, wenn uns das Abenteuer weiterhin als eine Kreuzung des
Sicherheits- mit dem Unsicherheitsmoment des Lebens erscheint.
Die Sicherheit, mit der wir
- berechtigt oder irrend - um einen Erfolg wissen, gibt dem Tun eine
qualitativ besondere Färbung; wenn wir umgekehrt unsicher sind, ob wir
dahin gelangen werden, wohin wir aufgebrochen sind, wenn wir das
Nicht-Wissen um den Erfolg wissen, so ist das nicht nur eine quantitativ
herabgesetzte Sicherheit, sondern bedeutet eine innerlich und äußerlich
einzigartige Attitüde der Praxis.
Der Abenteurer nun, um es
mit einem Worte zu sagen, behandelt das Unberechenbare des Lebens so, wie
wir uns sonst nur dem sicher Berechenbaren gegenüber verhalten.
Wo die Verwebung mit
unerkennbaren Schicksalselementen den Erfolg unseres Tuns zweifelhaft
macht, pflegen wir doch unseren Kräfteeinsatz zu begrenzen, uns Rückzugslinien
offen zu halten, den einzelnen Schritt nur wie probeweise zu tun.
Im Abenteuer verfahren wir
gerade entgegengesetzt: gerade auf die schwebende Chance, auf das
Schicksal und das Ungefähr hin setzen wir alles ein, brechen die Brücken
hinter uns ab, treten in den Nebel, als müsste der Weg uns unter allen
Umständen tragen.
Dies ist der typische »Fatalismus«
des Abenteurers.
Gewiss sind auch ihm die
Dunkelheiten des Schicksals nicht durchsichtiger als anderen, aber er verfährt
so, als ob sie es wären.
Die eigentümliche
Gewagtheit, mit der er sich immerzu aus den Festigkeiten des Lebens
herausbegibt, baut sich gewissermaßen zu ihrer eigenen Rechtfertigung ein
Gefühl von Sicherheit und Gelingen müssen unter, das sonst nur der
Durchsichtigkeit berechenbarer Ereignisse zukommt.
Von der fatalistischen Überzeugung,
dass unser Schicksal, das wir nicht kennen, uns unentrinnbar sicher ist,
ist dies nur die subjektive Wendung: dass der Abenteurer dieses
Unerkennbaren dennoch für sich sicher zu sein glaubt; darum erscheint dem
nüchternen Menschen das abenteuerliche Tun oft als Wahnsinn, weil es, um
einen Sinn zu haben, vorauszusetzen scheint, dass das Unwissbare gewusst
werde.
Der Abenteurer verlässt
sich zwar in irgendeinem Maße auf die eigene Kraft, vor allem aber auf
das eigene Glück, eigentlich auf eine sonderbar undifferenzierte Einheit
beider.
Wenn es das Wesen des
Genies ist, eine unmittelbare Beziehung zu den geheimen Einheiten zu
besitzen, die in der Erfahrung und durch die Zerlegungen des Verstandes in
ganz gesonderte Erscheinungen auseinandergehen - so lebt der geniale
Abenteurer, wie mit einem mystischen Instinkt, an dem Punkt, wo der
Weltlauf und das individuelle Schicksal sich sozusagen noch nicht
voneinander differenziert haben; darum hat überhaupt der Abenteurer
leicht einen »genialischen« Zug.
Aus dieser besonderen
Konstellation, in der er das Unsicherste, Unberechenbare seinem Handeln zu
derselben Voraussetzung macht, wie ein anderer nur das Berechenbare, wird
die »nachtwandlerische Sicherheit« begreiflich, mit der der Abenteurer
sein Leben führt und die durch ihre Unerschütterlichkeit gegenüber
jedem Dementi durch die Tatsachen beweist, wie tief jene Konstellation in
seinen Lebensvoraussetzungen wurzelt.
Ist das Abenteuer eine
Lebensform, die sich an einer unpräjudizierten Fülle von Lebensinhalten
verwirklichen kann, so machen diese Bestimmungen dennoch begreiflich, dass
ein Inhalt vor allen anderen sich in diese Form zu kleiden neigt: der
erotische - so dass unser Sprachgebrauch das Abenteuer schlechthin kaum
anders denn als ein erotisches verstehen lässt.
Zuvörderst enthält das
Liebesverhältnis in sich das deutliche Zusammen der beiden Elemente, die
auch die Form des Abenteuers vereinigt: die erobernde Kraft und die
unerzwingbare Gewährung, den Gewinn aus dem eigenen Können und das
Angewiesensein auf das Glück, mit dem ein Unberechenbares außerhalb
unser uns begnadet.
Eine gewisse Äquivalenz
dieser Richtungen innerhalb des Erlebnisses, gewonnen auf der Basis ihrer
scharfen Differenzierung, ist vielleicht nur auf seiten des Mannes zu
finden; vielleicht hat es darum eine beweisende Bedeutung, dass das
Liebesverhältnis in der Regel nur für den Mann als »Abenteuer« gilt, für
die Frau aber eben dasselbe unter andere Kategorien zu fallen pflegt.
Die Aktivität der Frau im
Liebesroman ist typischerweise schon von der Passivität durchwachsen, die
entweder die Natur oder die Geschichte ihrem Wesen zugeteilt hat;
andererseits, ihr Empfangen und Beglücktwerden ist doch unmittelbar ein
Gewähren und Beschenken.
Die beiden, in sehr
mannigfaltigen Färbungen ausdrückbaren Pole der Eroberung und der Gnade
stehen für die Frau enger zusammen, sie spannen sich für den Mann
entschiedner auseinander, und darum gibt ihr Zusammenschlag im erotischen
Erlebnis diesem viel unzweideutiger für den Mann das Cachet des »Abenteuers«.
Dass der Mann der werbende,
der angreifende, oft der stürmisch ansichreissende Teil ist, lässt oft
das Schicksalsmoment in jedem, wie immer gearteten erotischen Erlebnis übersehen,
die Abhängigkeit von einem Unberechenbaren, das sich jeder Nötigung
entzieht.
Damit ist nicht nur die Abhängigkeit
von der Gewährung seitens des anderen gemeint, sondern ein Tieferes.
Gewiss ist auch jede
Gegenliebe ein Geschenk, das nicht »verdient« werden kann, selbst durch
kein Maß von Liebe, weil sich die Liebe jeder Forderung und Begleichung
entzieht und prinzipiell unter einer ganz anderen Kategorie als der einer
gegenseitigen Aufrechnung steht.
Allein über das hinaus,
was wir vom andern als eine immer freie Gabe empfangen, liegt in jedem
Liebesglück - wie ein tiefer, unpersönlicher Träger jenes persönlichen
- noch eine Gunst des Schicksals, wir empfangen es nicht nur vom anderen,
sondern dass wir es von ihm empfangen, ist eine Gnade der unberechenbaren
Mächte.
In dem stolzesten,
selbstgewissesten Ereignis dieses Gebietes liegt etwas, was wir in Demut
hinzunehmen haben.
Indem sich aber nun die
Kraft, die ihren Erfolg sich selbst verdankt und die allem Gewinn von
Liebe irgendeinen Ton von Sieg und Triumph gibt, mit jenem anderen der
Schicksalsgunst vermählt, ist die Konstellation des Abenteuers gewissermaßen
präformiert.
In tieferen Gründen
wurzelt die Beziehung des erotischen Inhaltes zu der allgemeineren
Lebensform des Abenteuers.
Das Abenteuer ist die
Exklave des Lebenszusammenhanges, das Abgerissene, dessen Beginn und Ende
keinen Anschluss an die irgendwie einheitliche Strömung der Existenz
haben - während es dennoch, wie über diese Strömung hinweg und ihrer
Vermittlung unbedürftig, mit den geheimsten Instinkten und mit einer
letzten Absicht des Lebens überhaupt zusammenhängt und sich dadurch von
der bloß zufälligen Episode, dem, was uns bloß äußerlich »passiert«,
unterscheidet.
Wo nun das Liebeserlebnis
sich zeitlich kurz begrenzt, lebt es in ebendieser Verwebung eines bloß
tangentialen und eines dennoch zentralen Charakters.
Es mag unserem Leben einen
bloß momentanen Glanz geben, wie ein Strahl, den ein außen vorüberhuschendes
Licht in einen Innenraum wirft; dennoch wird damit ein Bedürfnis erfüllt,
oder es ist überhaupt nur durch ein Bedürfnis möglich, das - mag man es
als physisches oder als seelisches oder als metaphysisches ansprechen - in
dem Fundamente oder Zentrum unseres Wesens gleichsam zeitlos besteht und
mit dem flüchtigen Erlebnis so verbunden ist wie jene zufällige und
gleich verschwindende Helligkeit mit unserer Sehnsucht nach Licht überhaupt.
Solche Analogien und
gemeinsamen Formungen der Liebe und des Abenteuers legen es schon von sich
aus nahe, dass das Abenteuer nicht in den Lebensstil des Alters hineingehört.
Das Entscheidende für
diese Tatsache überhaupt ist, dass das Abenteuer seinem spezifischen
Wesen und Reize nach eine Form des Erlebens ist.
Der Inhalt, der vor sich
geht, macht das Abenteuer noch nicht: dass eine Lebensgefahr bestanden
oder eine Frau zu kurzem Glück erobert wird, dass unbekannte Faktoren,
mit denen man das Spiel gewagt hat, überraschenden Gewinn oder Verlust
gebracht haben, dass man in einer physischen oder seelischen Verkleidung
sich in Lebenssphären begibt, aus denen man wie aus einer fremden Welt
wieder in die heimische zurückkehrt - das alles braucht noch nicht
Abenteuer zu sein, sondern wird es erst durch eine gewisse Gespanntheit
des Lebensgefühls, mit dem solche Inhalte sich verwirklichen; erst wenn
ein Strom, zwischen dem Alleräußerlichsten des Lebens und seiner
zentralen Kraftquelle hin und her gehend, sie in sich hineinreißt, und
wenn diese besondere Färbung, Temperatur und Rhythmik des Lebensprozesses
das eigentlich Entscheidende, den Inhalt eines solchen gewissermaßen Übertönende
ist, wird das Ereignis aus einem Erlebnis schlechthin zu einem Abenteuer.
Dieses Prinzip der
Akzentuierung aber liegt dem Alter fern.
Nur die Jugend kennt im
allgemeinen solches Übergewicht des Lebensprozesses über die
Lebensinhalte, während es dem Alter, dem jener zu verlangsamen und zu
erstarren beginnt, auf die Inhalte ankommt, die in einer gewissen
zeitlosen, gegen das Tempo und die Leidenschaft ihres Erlebtwerdens
indifferenteren Art vorgehen oder beharren.
Das Alter pflegt entweder
ganz zentralisiert zu leben, die peripherischen Interessen sind abgefallen
und haben keine Verbindung mehr mit dem wesentlichen Leben und seiner
inneren Notwendigkeit; oder das Zentrum wird atrophisch, die Existenz geht
nur noch in isolierten Kleinlichkeiten und den Wichtigkeitsbetonungen des
bloß Äußerlichen und Zufälligen dahin.
In keinem von beiden Fällen
ist das Verhältnis zwischen dem äußeren Geschick und den inneren
Lebensquellen möglich, in dem das Abenteuer besteht, in keinem von beiden
kann es ersichtlich zu der Kontrastempfindung des Abenteuers kommen: dass
ein Tun ganz aus dem Gesamtzusammenhange des Lebens herausgerissen ist und
dennoch die ganze Kraft und Intensität des Lebens in sich einströmen lässt.
Mit dieser Verschiebung des
Akzentes entfällt die ganze dynamische Voraussetzung des Abenteuers.
Seine Atmosphäre ist
unbedingte Gegenwärtigkeit, das Aufschnellen des Lebensprozesses zu einem
Punkt, der weder Vergangenheit noch Zukunft hat und deshalb das Leben mit
einer Intensität in sich sammelt, der gegenüber der Stoff des Vorganges
oft relativ gleichgültig wird.
Wie für die eigentliche
Spielernatur gar nicht der Gewinn von soundso viel Geld das entscheidende
Motiv ist, sondern das Spiel als solches, die Gewaltsamkeit des von Glück
zu Verzweiflung und wieder zurückgerissenen Gefühles, die gleichsam
tastbare Nähe der dämonischen Mächte, die zwischen beiden entscheiden -
so ist der Reiz des Abenteuers unzählige Male nur die Intensität und die
Gespanntheit, mit der er uns gerade in diesem Falle das Leben fühlen lässt.
Dies eben verbindet die
Jugend dem Abenteuer.
Was man die Subjektivität
der Jugend nennt, ist nur dies, dass das Material des Lebens in seiner
objektiven Bedeutung ihr nicht so wichtig ist wie der Prozess, der es trägt,
wie das Leben selbst.
Dass das Alter »objektiv«
ist, dass es aus den Inhalten, die das entglittene Leben in einer
besonderen Art von Zeitlosigkeit übriggelassen hat, ein neues Gebilde
formt: der Beschaulichkeit, der sachlichen Abwägungen, der Freiheit von
der Unruhe, mit der das Leben Gegenwart ist - das eben ist es, was dem
Alter das Abenteuer entfremdet, was den alten Abenteurer zu einer widrigen
oder stillosen Erscheinung macht; es wäre nicht schwer, das ganze Wesen
des Abenteuers daraus zu entwickeln, dass es die dem Alter schlechthin
nicht gemäße Lebensform ist.
All solche Bestimmungen und
Lagen des Lebens, die seiner Abenteuerform fremd, ja feindlich sind,
verhindern nicht, dass für einen allerallgemeinsten Aspekt das Abenteuer
allem menschlich-praktischen Dasein beigemischt erscheint, ein überall
vorhandenes Element, das nur vielfach in der feinsten Verteilung,
gleichsam makroskopisch nicht sichtbar und von anderen in der Erscheinung
überdeckt, auftritt.
Unabhängig von jener, in
die Metaphysik des Lebens hinabreichenden Vorstellung, dass unser Dasein
auf Erden als Ganzes und als Einheit ein Abenteuer ist, vielmehr rein auf
das Konkrete und Psychologische angesehen, enthält jedes einzelne
Erlebnis irgendein Quantum der Bestimmungen, die es bei einem gewissen Maße
die »Schwelle« des Abenteuers erreichen lassen.
Die wesentlichste und
tiefste dieser Bestimmungen ist hier die Aussonderung des Ereignisses aus
dem Gesamtzusammenhange des Lebens.
Tatsächlich erschöpft die
Zugehörigkeit zu diesem die Bedeutung keines einzigen seiner Teile.
Sondern auch wo ein solcher
am engsten mit dem Ganzen verflochten ist, auch wo er wirklich ganz in das
weiterflutende Leben aufgelöst scheint, wie ein für sich unbetontes Wort
in den Verlauf eines Satzes - auch da lässt ein feineres Hinhören einen
Eigenwert dieses Existenzstückes erkennen, mit einer in ihm selbst
zentrierenden Bedeutung stellt es sich jener Totalentwicklung gegenüber,
der es doch, von anderer Seite her angesehen, unablösbar zugehört.
Von dem Zentrum der Persönlichkeit
aus gesehen, ist ein jedes Erlebnis sowohl ein Notwendiges, aus der
Einheit der Ich-Geschichte Entwickeltes, wie ein Zufälliges, zu dieser
fremd, unüberwindlich abgegrenzt und von einer ganz tiefgelegenen
Unbegreiflichkeit gefärbt, als stünde es irgendwo im Leeren und
gravitierte nirgends hin.
So liegt ein Schatten von
dem, was in seiner Verdichtung und Deutlichkeit das Abenteuer macht,
eigentlich über jedem Erlebnis, und steigt, oft zu unserem eigenen
Erstaunen, daraus auf.
Ebenso steht es mit der
Relation des Zufälligen und des Sinnvollen.
In jedem Vorkommnis, das
uns begegnet, steckt so viel bloß Gegebenes, Äußerliches,
Gelegentliches, dass es sozusagen nur eine Quantitätsfrage ist, ob das
Ganze als etwas Vernünftiges, einem Sinne gemäß Begreifliches gelten
kann, oder ob jenes, das nach der Vergangenheit hin unauflösbar, nach der
Zukunft hin unberechenbar ist, die Färbung des Ganzen bestimmen soll.
Von der gesichertsten bürgerlichen
Unternehmung führt bis zu dem irrationellsten Abenteuer eine
kontinuierliche Reihe von Lebenserscheinungen, in denen das Begreifliche
und das Unbegreifliche, das Erzwingbare und die Gnade, das Auszurechnende
und das Zufällige sich in einer Unendlichkeit von Graden mischen.
Indem das Abenteuer nur das
eine Extrem in dieser Reihe bezeichnet, hat eben deshalb auch das andere
an seinem Charakter teil.
Das Hingleiten unserer
Existenz auf einer Skala, auf der jeder Teilstrich durch eine Wirkung
unserer Kraft und eine Preisgegebenheit an undurchdringliche Dinge und Mächte
gleichzeitig bestimmt ist, diese Problematik unserer Weltstellung, die
sich in der unlösbaren Frage nach der Freiheit des Menschen und der göttlichen
Bestimmung religiös wendet - lässt uns alle zu Abenteurern werden.
Innerhalb der Proportion,
in die uns unser Lebensbezirk und die Aufgaben in ihm, unsere Ziele und
unsere Mittel stellen, könnten wir alle nicht einen Tag leben, wenn wir
nicht das eigentlich Unberechenbare so behandelten, als wäre es
berechenbar, wenn wir unserer Kraft nicht zutrauten, was doch nicht sie
allein, sondern nur ihre rätselhafte Zusammenwirksamkeit mit den
Schicksalsgewalten herbeiführen kann.
Die Inhalte unseres Lebens
werden dauernd von durcheinanderwebenden Formen erfasst, die so dessen
einheitliches Ganzes zustande bringen; allenthalben lebt künstlerische
Formung, lebt religiöse Auffassung, lebt die Färbung sittlichen Wertens,
lebt das Wechselspiel von Subjekt und Objekt.
Vielleicht gibt es keine
Strombreite dieser ganzen Flutung, in der nicht jede dieser und vieler
anderer Gestaltungsarten wenigstens einen Tropfen ihrer Wellen formten.
Aber erst wo sie aus dem
fragmentarischen und vermischten Maß und Zustande, in dem das
durchschnittliche Leben sie auf- und untertauchen lässt, zu einer
Herrschaft über den Stoff des Lebens gelangen, werden sie zu den reinen
Gebilden, mit denen die Sprache sie benennt.
Sobald die religiöse
Gestimmtheit rein aus sich heraus ihr Gebilde, den Gott, geschaffen hat,
ist sie »Religion«, sobald die ästhetische Form ihren Inhalt zu einem
Gleichgültigen gemacht hat, an dem sie ihr nur auf sich selbst hörendes
Leben lebt, wird sie zur »Kunst«, erst wenn die sittliche Pflicht nur,
weil sie Pflicht ist, erfüllt wird, gleichviel mit wie wechselnden
Inhalten, die vorher ihrerseits den Willen bestimmten, sie sich erfüllt,
wird sie »Sittlichkeit«.
Mit dem Abenteuer ist es
nicht anders.
Wir sind die Abenteurer der
Erde, unser Leben ist auf Schritt und Tritt von den Spannungen durchzogen,
die das Abenteuer ausmachen.
Allein erst wenn diese so
gewaltsam geworden sind, dass sie über den Stoff, an dem sie sich
vollziehen, Herr geworden sind, entsteht das »Abenteuer«.
Denn es besteht nicht in
den Inhalten, die dabei gewonnen oder verloren, genossen oder erlitten
werden: alles dies ist uns auch in anderen Lebensformen zugängig.
Sondern dass der
Radikalismus da ist, mit dem es als Lebensspannung, als das Rubato des
Lebensprozesses fühlbar wird, unabhängig von seiner Materie und ihren
Unterschieden; dass das Quantum dieser Spannungen groß genug wird, um das
Leben über jene Materie hinweg aus sich herauszureißen - das macht das
bloße Erlebnis zum Abenteuer.
Es ist freilich nur ein Stück
des Daseins neben andern, aber jenen Formen zugehörig, die, über ihren
bloßen Anteil am Leben und über alle Zufälligkeit ihres Einzelinhaltes
hinaus, die geheimnisvolle Kraft haben, für einen Augenblick die ganze
Summe des Lebens als ihre Erfüllung und ihren Träger, der nur zu ihrer
Verwirklichung da wäre, fühlen zu lassen. |