Georg Simmel: Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik
ex: Nord
und Süd. Eine deutsche Monatsschrift, 129. Band, 33. Jg. 1909, Heft 386,
Mai 1909, S. 189-196 (Berlin)
Rodin hat öfters betont, dass seine
Kunst nur den großen Prinzipien der Antike und der Renaissance nachleben
wolle.
Angesichts der weltweiten
Unterschiedenheit zwischen diesen Stilen und gerade den bedeutendsten
Werken Rodins kann diese Äußerung ein Doppeltes bedeuten.
Einmal, dass er den seelischen Rhythmus
und das Lebensgefühl der Gegenwart ebenso treu und ebenso vernehmlich
ausdrückt, wie jene großen Epochen der Plastik es für ihre Zeit taten,
mit demselben unmittelbaren Herauswachsen aus den Wurzeln, aus denen die
Zeit als ganze ihre Früchte treibt.
Und dann dieses: dass seine Kunst die
Linie fortsetzt, deren Richtung von jenen Erscheinungen festgelegt ist,
dass diese die Stationen einer Entwicklung sind, in der seine eigne eine
spätere markiert - so dass sie ihnen angegliedert ist, gerade weil sie in
einer dadurch bestimmten Art eine andre ist.
Um beider Gesichtspunkte willen wird es
der Konfrontierung Rodins mit den großen Leistungen der früheren Plastik
bedürfen, um ihre seelischen Fundamente und die Absicht ihres Stiles
darzulegen und die Stelle zu bestimmen, die Rodin in der Geschichte der
Kunst deshalb zukommt, weil er sie in der Geschichte des Geistes einnimmt.
Die griechische Plastik, in ihren echten
und klassischen Gestaltungen, ist dadurch bestimmt, dass die ganze
Idealbildung des griechischen Geistes auf ein festes, geschlossenes,
substantielles Sein ging.
Die Unruhe des Werdens, die
Unbestimmtheit des Gleitens von Form zu Form, die Bewegung als das fortwährende
Zerbrechen der festgefügten, in sich befriedigten Gestaltung - das war
dem Griechen das Böse und Hässliche, vielleicht gerade, weil die
Wirklichkeit des griechischen Lebens unruhig, zerrissen, unsicher genug
war.
So suchte denn die griechische Plastik,
in ihrer besten Zeit, das Beharrende, die substantielle Form des Körpers,
jenseits aller Sonderattitüden, die ihm durch die Bewegung des Körpers
kommen, und seine anatomisch-physikalische Gestaltung, die eigentlich eine
Abstraktion ist, weil in Wirklichkeit der Körper immer in irgend einer
einzelnen, individuellen Bewegung ist.
Nur ein Minimum von Bewegung hatte in
diesem Ideal der Antike Platz, weil jede Bewegung den Leib in der Ruhe
seiner Festgeformtheit zu entstellen, ihn zu etwas Zufälligem und
Vereinzeltem zu machen schien.
Anderthalb Jahrtausende später hat dann
die plastische Kunst der Gotik zum erstenmal den Körper zum bloßen Träger
der Bewegtheit gemacht, hat die substantielle Sicherheit seiner Form
aufgelöst.
Sie entsprach damit der
Leidenschaftlichkeit der religiösen Seele, die sich ihm, und zwar gerade
seiner festen Materialität und selbstgenügsamen Geformtheit, eigentlich
nicht zugehörig fühlte.
Durch oft unnatürliches Strecken,
Beugen, Dehnen drückte die Seele die Tatsache aus, dass sie sich eben
nicht ausdrücken konnte und wollte, dass der Körper nur da war, damit
die Seele sich von ihm entferne - und so entfernte er sich gleichsam von
sich selbst.
Ghiberti erst und vor allem Donatello
bringen beides zusammen.
Die Bewegung ist jetzt ihrem Sinne und
ihrer Tendenz nach in den Körper übergegangen, sie ist nicht mehr das
Symbol einer Verneinung des Körpers, sondern die Seele, die sich in ihr
ausdrückt, ist durchaus die Seele des Körpers, der diese Bewegung trägt.
Allein auch bei Donatello kommt die
Zweiheit und Einheit der beiden Momente: der substantiell-plastischen Körperform
und der passionellen Bewegtheit - noch nicht in der freistehenden Figur
zum entschiedenen, starken Ausdruck, sondern nur im Relief, wo die
Bewegung sich nach außen, in die Umgebung des Körpers hin, ausleben
kann.
Der Körper, als die dauernde Materialität
in drei Dimensionen, ist noch nicht individuell und nicht gehalten genug,
um die Bewegtheit - die Bewegtheit des Seelischen - in sich allein
ausschwingen, in sich zurücklaufen zu lassen.
Die Seele greift freilich nicht mehr,
gleichsam an der Bewegung entlang, über den Körper hinaus ins
Transzendente, aber sie ist noch nicht mit dem individuellen Sein gerade
dieses Körpers ausschließlich und unverkennlich verbunden, man fühlt
noch nicht die einheitliche Wurzel, die gerade diese organisch-plastische
Gestaltung der Körpersubstanz und die momentane Bewegung als die Ausdrücke
eines und desselben Seins aus sich hervorgehen lässt.
Wenn man - mit allen Vorbehalten solcher
allgemeinen Schlagworte - als den Sinn der Renaissance bezeichnen kann,
dass sie Natur und Geist, die das Christentum auseinandergerissen hatte,
wieder als Einheit zu empfinden und zu leben suchte, so ist nun die
besondere Ausgestaltung dieses Problems, die in dem Verhältnis der
plastischen Körperform zur Bewegung liegt - denn jene ist mehr naturhaft,
diese mehr geistig -, erst durch Michelangelo endgültig gelöst worden.
Die Bewegtheit des Körpers, die
Unendlichkeit eines ruhelosen Werdens, das seine Gestalten verkünden, ist
hier zum Mittel geworden, die substantielle, plastische Form des Körpers
zum vollkommensten Ausdruck zu bringen: und diese Form erscheint von sich
aus in jedem Falle als der einzig angemessene Träger eben dieser
Bewegung, dieses unvollendbaren Werdens.
Dies ist die Tragik der Figuren
Michelangelos: dass das Sein in das Werden hineingerissen ist, die Form in
die unendliche Auflösung der Form.
Aber auf dieser Höhe der Künstlerschaft
ist der Kampf zum Stehen gekommen, das antike Ideal und das der Bewegtheit
haben ihr Gleichgewicht gefunden.
Gegenüber den Körpern Michelangelos
kommt einem gar nicht der Gedanke, dass sie sich auch anders bewegen könnten;
und umgekehrt: der seelische Vorgang, sozusagen der Satz, den die Bewegung
aussagt, kann kein andres Subjekt haben als eben diesen Körper.
Trotz aller Gewalt, ja Gewalttätigkeit
der Bewegung weist sie doch nirgends über die geschlossene Umrisslinie
des Körpers hinaus.
Er hat eben das, was dieser Körper
seiner materialen Struktur nach, seiner Formung als ruhende Substanz nach
ist, zugleich in der Sprache der Bewegung ausgedrückt.
Von hier aus gesehen, rückt nun bei
Rodin der Akzent durchaus auf die Bewegtheit des Körpers: das
Gleichgewicht zwischen dieser und der Körpersubstanz, das er gewinnt, ist
auf einer andern Waage gemessen, auf einer, die erst bei einem viel größeren
Maß von Bewegtheit einsteht.
Die Voraussetzung oder der Grundton der
erreichten Harmonie, der doch noch bei Michelangelo der »reine Körper«,
die abstrakt-plastische Struktur war, ist bei Rodin die Bewegung.
Sie ergreift bei ihm ganz neue
Herrschaftsgebiete und Ausdrucksmittel.
Er hat durch eine neue Biegsamkeit der
Gelenke, ein neues Eigenleben und Vibrieren der Oberfläche, durch ein
neues Fühlbarmachen der Berührungsstellen zweier Körper oder eines Körpers
in sich, durch eine neue Ausnutzung des Lichts, durch eine neue Art, wie
die Flächen aneinander stossen, sich bekämpfen oder zusammenfließen -
dadurch hat er ein neues Maß von Bewegung in die Figur gebracht, das
vollständiger, als es bisher möglich war, die innere Lebendigkeit des
ganzen Menschen, mit allem Fühlen, Denken, Erleben anschaulich macht.
Ebenso ist das Sichherausheben der Figur
aus dem Stein, den Rodin oft noch Teile von ihr umfangen lässt, die
unmittelbare Versinnlichung des Werdens, in dem jetzt der Sinn ihrer
Darstellung liegt.
Jede Figur ist auf einer Station eines
unendlichen Weges erfasst, durch die er ohne Aufenthalt hindurchgeht - oft
auf einer so frühen, dass sie nur in schwer erkennbaren Umrissen aus dem
Block herausragt.
Und hiermit besonders greift das
Bewegungsprinzip aus dem Werk auf den Beschauer über.
Es wird ein Äußerstes an »Anregung«
gegeben, indem die Versagtheit der vollen Form die Eigentätigkeit des
Betrachtenden aufs stärkste herausfordert.
Wenn die Kunsttheorie: dass der Genießende
den Schaffensprozess in sich wiederholt - irgend eine Wahrheit hat, so
kann dieses nicht energischer geschehen, als indem die Phantasie das
Unvollständige selbst zu vollenden hat und ihre produktive Bewegtheit
zwischen das Werk und seinen Endeffekt in uns schiebt.
Zweifellos ist die Bewegung dasjenige an
uns, was dem Ausdruck am vollkommensten dient; denn keine andre Bestimmung
unsres Seins ist dem Körper und der Seele gemeinsam, die Beweglichkeit
ist gleichsam der Generalnenner für diese beiden, sonst einander unberührbaren
Welten, die gleiche Form für das unvergleichbare Leben ihrer Inhalte.
Und ebenso innerhalb der Seele selbst:
gerade weil das Fühlen und das Vorstellen, das Wollen und die Phantasie
Bewegungen der Seele sind, ist die Bewegung des Körpers geeignet, den
Ausdruck abzugeben, der sie alle in sich sammelt.
Man kann die Bewegtheit der plastischen
Figur, in ihrem Verhältnis zu deren beharrender Form, mit dem
musikalischen Faktor der Lyrik und ihrem Verhältnis zu dem
Gedankengehalte des Gedichtes vergleichen.
Hier mag Goethes Lyrik jenes
Gleichgewicht der Elemente zeigen, das der Plastik Michelangelos
entspricht.
Man möchte sagen, dass in seinen
vollkommensten Gedichten oder in der Lyrik von Fausts Verklärung der
Gedanke und der Klang deshalb eine so absolute Einheit bilden, weil jedes
von beiden für sich auf seiner letzterreichbaren Höhe steht; der
zeitlose Inhalt und die Bewegung, in der er sich sinnlich gibt, sind hier
aus einer so harmonischen Vollendung des Schöpfers herausgewachsen, dass
auch im Geschaffenen ein Jedes das Andre bis zu seiner Grenze durchdringt,
nichts leerlassend und nicht darüber hinausragend, keines das Erste und
keines das Letzte.
Dieselbe Entwicklung aber des modernen
Geistes wie bei Rodin verratend, wird in der Lyrik Stefan Georges die
Musik des Gedichts - nicht nur die äußerlich-sinnliche, sondern auch die
innere - zum beherrschenden Ausgangspunkt.
Nicht als ob der Inhalt darüber zu kurz
kommen müsste; aber das Gedicht wirkt, als ob ihn die Musik, die
rhythmisch-melodische Bewegtheit, von sich aus erwachsen ließe.
So also scheint bei Rodin das
Bewegungsmotiv das erste zu sein und die plastische Struktur ihres
materialen Trägers gewissermaßen zu kooptieren.
Rodin erzählte, dass er oft ein Modell
auffordere, vielfache, willkürlich wechselnde Stellungen einzunehmen;
dann interessiere ihn plötzlich die Wendung oder Biegung irgend eines
einzelnen Gliedes: eine bestimmte Drehung der Hüfte, ein gehobener Arm,
der Winkel eines Gelenkes - und diesen Teil allein in seiner Bewegung
halte er im Ton fest, ohne den übrigen Körper.
Dann, oft nach langer Zeit, stehe die
innere Anschauung eines ganzen Körpers in charakteristischer Pose vor
ihm, und er wisse dann sogleich mit Sicherheit, welche von den auf jene
Weise entstandenen Studien in diesen gehöre.
Es hat also unzweifelhaft diese einzelne
Gebärde, im Unbewussten weiterwachsend, sich den zu ihr gehörigen Körper
sozusagen erzeugt, die Bewegung hat sich ihren Leib gebaut.
Deutlicher kann der Unterschied gegen
die Antike nicht bezeichnet werden, aber auch nicht gegen Michelangelo.
Denn eine so vollkommene Einheit und
Gleichgewicht der Elemente er erreicht - so ist sein Ausgangspunkt doch
das klassische Ideal, die Substantialität und Geschlossenheit der
anatomischen Form, die er nun erst mit der Glut und Impulsivität seines Fühlens
in Fluss bringt, mit Bewegung durchdringt, bis beides sich ineinander
restlos aufgenommen hat.
Auch nähert Michelangelo, indem er der
Bewegung den Dauerwert, das zeitlos Bedeutsame zu geben sucht, sie wieder
dem Stabilen.
Bei aller verzehrenden Leidenschaft in
seinen Bewegungen sind sie doch immer in einem relativen Ruhepunkt
erfasst, in einer Ausbalanciertheit, in der die Figur eine Weile
verbleiben kann.
Darauf aber verzichten gerade die
bedeutsamsten Gestalten Rodins, ihre Bewegungen sind wirklich die eines
vorüberfliegenden Momentes.
Aber in diesen ist der ganze Lebenssinn
der Wesen so gesammelt, sie sind ihrem übermomentanen Sein so völlig
verbunden, wie es sonst nur die substantielle, sich nicht ändernde Form
der Körpererscheinung ist.
Wie nun bei Michelangelo die Koinzidenz
der beiden Arten, auf die wir uns körperlich darstellen: des Seins und
des Bewegens - auf ihren letzten Wurzelpunkt, auf die Seele hinweist, auf
die Renaissanceseele, mit ihrem Ideal harmonischer Ausgeglichenheit aller
Wesenselemente - gleichviel, in wie weitem Abstand von diesem Ideal die
Sehnsucht seiner Gestalten sich fühlt - so ist die Seele, die bei Rodin
den Brennpunkt des Körperlich-Sichtbaren bildet, eben die moderne Seele,
die so viel labiler, in ihren Stimmungen und selbsterzeugten Schicksalen
wechselnder und deshalb dem Bewegungselement verwandter ist als die Seele
des Renaissancemenschen.
Das trasmutabile per tutte guise, das
Dante von sich aussagt, und das gewiss für die ganze italienische
Renaissance gilt, ist mehr ein Hin- und Herpendeln zwischen verschieden
gefärbten Seinszuständen, von denen aber jeder in sich substantiell und
eindeutig ist: zwischen Melancholie und Rausch, Verzagtheit und Mut,
Glaube und Unglaube - während die moderne trasmutabilità ein
kontinuierliches Gleiten ohne feste Ausschlagspole und Haltpunkte ist,
weniger ein Wechseln zwischen dem Ja und dem Nein, als eine
Gleichzeitigkeit von Ja und Nein.
Die hier fragliche Bewegtheit ist eine völlig
andre als die im Barock oder in der japanischen Kunst.
Im Barock ist die Bewegung nur dem äußerlichsten
Anschein nach eine größere.
Denn die Erscheinung hat den festen
Punkt in sich - kantisch zu reden: das Ich der Apperzeption - verloren,
das auch der leidenschaftlichsten Bewegung erst den Gegenwurf gibt, an dem
sie ermessen werden kann, und das an der räumlichen Geschlossenheit des
Umrisses anschaulich wird.
Dieses Entgleiten des Ichpunktes ist für
eine Zeit begreiflich, die den Persönlichkeitsbegriff der Renaissance
verloren und den modernen, durch Kant und Goethe ausgebildeten, noch nicht
gewonnen hatte; die entsprechend auch in dem theoretischen Weltbild den
Mechanismus, das bloß kausale Fließen, das substanzlose und
impersonalgesetzliche Spiel der Naturkräfte zu ihrem Schiboleth machte.
So sind die Barockfiguren Konglomerate
von Bewegungen, aber sozusagen nicht Bewegungen dieser einen bestimmten
Person.
In der japanischen Kunst - von der
freilich hier die Malerei als Analogie heranzuziehen ist - bewegt sich überhaupt
nicht der Körper, sondern nur die Linie des Körpers, der Zweck und
Inhalt der Darstellung ist nicht der bewegte Körper um seiner selbst
willen und aus sich heraus, sondern eine von dekorativen Gesichtspunkten
aus bewegte Umrisslinie des Körpers.
Erst wenn die Seele sich der Schwere des
Körpers entgegensetzt, ihr Impuls seine Materialität nach aufwärts
zieht, das bloß Naturhafte seines Bewegtwerdens ablenkt - kann sie in die
Erscheinung treten; indem die japanische Kunst auf die Stoffsubstanz des Körpers
verzichtet, findet die Seele nichts zum Beherrschen und Bewegen, was ihre
Bewegtheit offenbarte.
Das Maß der inneren Bewegtheit ist bei
Michelangelo gewiss kein kleineres als bei Rodin, aber sie ist
eindeutiger, weniger problematisch, in einer Richtung höchster Intensität
konzentriert; und diese Form verlangt zu ihrem Ausdruck kein so großes Maß
äußerer Bewegung wie die vielspältige, vibrierende der modernen Seele,
für die das einzelne Schicksal, das für Michelangelo ein definitives
ist, vielmehr ein Durchgangspunkt einer aus dem Unbestimmten kommenden und
ins Unbestimmte gehenden Wanderung ist, die die Wege ohne Ziele liebt und
die Ziele ohne Wege.
Die antike Plastik suchte sozusagen die
Logik des Körpers, Rodin sucht seine Psychologie.
Denn das Wesen der Moderne überhaupt
ist Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen
unsres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der
festen Inhalte in das flüssige Element der Seele, aus der alle Substanz
herausgeläutert ist, und deren Formen nur Formen von Bewegungen sind.
Darum ist Musik, die bewegteste aller Künste,
die eigentlich moderne Kunst.
Darum ist die spezifisch moderne
Errungenschaft der Malerei die Landschaft, die ein état d'âme ist, und
deren Farbigkeits- und Ausschnittscharakter der festen logischen Struktur
mehr entbehrt als der Körper und die figurale Komposition.
Und innerhalb des Körpers bevorzugt die
Moderne das Gesicht, die Antike den Leib, weil jenes den Menschen in dem
Fluss seines inneren Lebens, dieser ihn mehr in seiner beharrenden
Substanz zeigt.
Aber diesen Charakter des Gesichts hat
Rodin dem ganzen Leib verliehen, die Gesichter seiner Figuren sind oft
wenig ausgeprägt und individuell, und alle seelische Bewegtheit, alle
Kraftstrahlen der Seele und ihrer Leidenschaft, die sonst am Gesicht den
Ort ihrer Äußerung fanden, werden in dem Sichbiegen und Sichstrecken des
Leibes offenbar, in dem Zittern und Erschauern, das über seine Oberfläche
rinnt, in den Erschütterungen, die sich von dem seelischen Zentrum aus in
all das Krümmen oder Aufschnellen, in das Erdrücktwerden oder
Fliegenwollen dieser Leiber umsetzen.
Diese Bewegtheitstendenz ist die tiefgründigste
Beziehung der modernen Kunst überhaupt zum Realismus: die gestiegene
Bewegtheit des wirklichen Lebens offenbart sich nicht nur in der gleichen
der Kunst, sondern beides: der Stil des Lebens und der seiner Kunst,
quellen aus der gleichen tiefen Wurzel, deren Wachstumsformel freilich das
unergründliche Geheimnis der Geschichte ist.
Die Kunst spiegelt nicht nur eine
bewegtere Welt, sondern ihr Spiegel selbst ist beweglicher geworden.
Vielleicht ist dieses Gefühl, dass
seine Kunst unmittelbar ihrem Stile nach und nicht nur wegen der Objekte,
an die sie gewiesen ist, den Sinn des gegenwärtigen wirklichen Lebens
lebt - vielleicht ist dies der Grund, weshalb Rodin selbst sich als »naturaliste«
bezeichnet.
Empfindet man aber als das durchgehende
Ziel der Kunst die Erlösung von den Trubeln und Wirbeln des Lebens, die
Ruhe und Versöhntheit jenseits seiner Bewegungen und Widersprüche, so
mag man bedenken, dass die künstlerische Befreiung von einer Beunruhigung
oder Unerträglichkeit des Lebens nicht nur durch die Flucht in ihr
Gegenteil, sondern auch gerade durch die vollkommenste Stilisierung und
gesteigertste Reinheit ihres eignen Inhaltes gelingt.
So ist es doch auch gegenüber der
Natur: von der inneren und äußeren Unruhe und Gejagtheit des Lebens erlöst
uns nicht nur die Starrheit der Alpen, sondern auch das unaufhörliche
Wogen und Branden des Meeres.
Die Antike hebt uns über die Fieber und
die problematischen Schwingungen unsrer Existenz, weil sie deren absolute
Verneinung, die absolute Unberührtheit durch sie ist.
Rodin erlöst uns, weil er gerade das
vollkommenste Bild dieses in der Leidenschaft der Bewegtheit aufgehenden
Lebens zeichnet; wie ein Franzose von ihm sagt: c'est Michelange avec
trois siécles de misère de plus.
Indem er uns unser tiefstes Leben noch
einmal in der Sphäre der Kunst erleben lässt, erlöst er uns von eben
dem, was wir in der Sphäre der Wirklichkeit erleben. |