Georg Simmel: Der Siebente Ring
ex:
Münchner Neueste Nachrichten
Nr. 315. Einzige Tagesausgabe, Literarische Rundschau vom Sonntag, 11.
Juli 1909 (München)
Wenn die zeitliche Folge im
Gesamtwerke eines Künstlers als eine Entwicklung begriffen wird, das heißt,
wenn wir in dem Vorher und Nachher, in der zeitlichen Stelle jedes Werkes
einen Sinn sehen, eine innere Notwendigkeit, die diese Reihe aus dem
Zufall der durcheinanderwirbelnden Welterscheinungen heraushebt - so lebt
in solcher Entwicklung eine Norm und Kraft von nicht leicht
beschreiblicher Art.
Es ist weder das einfach
organische, pflanzenhafte Wachstum, wie es etwa in unserem Triebleben
herrscht - dazu ist der künstlerische Wille zu bewusst, zu sehr von
Zielen geleitet : noch ist es die planmäßige Bestimmtheit, mit der oft
die ganze Periodenreihe eines Lebens sich in ein wissenschaftliches oder
praktisches Programm einfügt.
Die künstlerische
Entwicklung ist ein drittes jenseits dieser Alternative: sie wirkt, wie
getrieben durch dunkle, von keinem Wohin wissende Wurzelkräfte, und
zugleich, als wären diesen von einer noch tieferen Schicht her ein klar
ideales Ziel und ein unablenkbares Wissen um den Weg mitgegeben; oder als
stünde dem Künstler in jedem Augenblick jedes nächste und übernächste
Sollen klar vor Augen - aber diese Klarheit selbst sei von rein
naturhaften, sozusagen unverantwortlichen Wachstumstrieben genährt.
Nun ist aber keineswegs -
mindestens für unsere Augen nicht- jeder künstlerische Lebensverlauf
eine derartig wirkliche Entwicklung, auch wo eine Kraft hohen Ranges
mannigfaltige Epochen durchläuft, fehlt oft jener Sinn des Ganzen, mit
der ihn die wie aus einer höheren Einheit quellende Planmäßigkeit
begabt.
Seit Stefan Georges letztes
Gedichtbuch 1 vorliegt, ist an seinem Gesamtwerk eine solche Linie und
Wachstumseinheit unverkennlich, ist vor allem sicher, dass das
Nacheinander seiner Schöpfungen eine Entwicklung ist. 1)
Nicht darum handelt es
sich, dass das Spätere etwa vollkommener, reicher, reifer ist als das Frühe
und jugendliche - was oft fälschlich schon als die eigentliche
Entwicklung gilt.
Sondern dass jene
geheimnisvolle »Planmäßigkeit« des Ganzen, jenseits von Bewusstsein
und Unbewusstsein stehend, dem einzelnen Werk noch einen anderen Sinn
gibt, als er aus seiner unmittelbar eigenen Bedeutung abzulesen ist.
Was man, platonisch zu
reden, die »Idee« nennen könnte, zu deren zeitlicher Verwirklichung
diese Werke bestimmt sind und die deren Folge zu einer Entwicklung macht,
ist vielleicht so zu beschreiben.
Stefan Georges Lyrik quillt
aus dem Einheits- und Einzigkeitspunkt der Seele, in einem schärferen,
absoluteren Sinne, als die lyrische Kunst es in jedem Falle bedingt.
Denn bei allem
subjektivischen Wesen der Lyrik kann doch auch in ihr das Schicksal oder
die Stimmung der Landschaft, das Du oder die Dinge des religiösen
Glaubens sehr wohl eine Art von Eigenleben gewinnen; oder alles dieses
kann dem Leben der Seele so assimiliert werden, dass sie in der eigenen
Sprache die der Dinge redet.
Die dichterische Seele in
George aber singt nur sich selbst, nicht die Welt, nicht die Überwelt.
Wo die Dinge, die außerhalb
des Erlebens seiner selbst liegen, in seinen Versen zu Worte kommen,
irgend ein geschichtlich oder sonst Gegebenes - da wirkt es nur oft wie
ein Fremdkörper, das inkohärente Hineinragen einer Welt, die die seine
nicht ist und nicht werden kann.
Ist aber all dieses dennoch
einmal in den organischen Prozess seiner Kunst aufgegangen, so ist es zum
reinen Symbol geworden, immer bleibt die Seele in sich beschlossen und
spiegelt nur sich selbst zurück in den Formen der Dinge.
Darum ist es zumeist die
Landschaft, in deren Bilde er sich ausspricht; denn es scheint, als ob von
allem, was der Seele äußerlich gegeben ist, die Landschaft die
nachgiebigste Bildsamkeit ihr gegenüber besäße, und als entfernten wir
uns nicht aus uns selbst, wenn wir uns in der Landschaft ergehen.
Ich kenne keinen Lyriker,
der in so ausschließlichem, ich möchte sagen, metaphysischem Sinne nur
aus sich heraus lebte, und der es so zwingend fühlbar machte, dass alles
objektive Sein, in sein Werk hineingenommen, nur die verteilten Rollen
sind, in denen seine Seele sich selbst spielt.
Die entscheidende »Idee«
aber, deren immer vollere Realisierung eben seine Entwicklung bedeutet,
ist diese: dass jene Subjektivität, jener Solipsismus der Seele in seinem
Ausdruck monumentale Gestalt gewinnt.
Denn gerade nur so ist die
Form zu bezeichnen, nur dies charakterisiert die Linie, mit der das tiefst
Persönliche, das mit sich abschließende Beisichsein des innersten Lebens
ihm zum Gedicht wird.
Die Monumentalisierung des
durchaus und rein lyrischen Erlebnisses ist die Synthese, die sich in der
Kunst Georges und als deren Prinzip vollzieht.
Er führt sie gleichsam
durch ein Zwischenglied hindurch, durch eine allgemeinere Form, die die
unmittelbare Innerlichkeit annimmt, um an ihr in die Dimension des
Monumentalen hineinzuwachsen: die Strenge und Absolutheit der rein
artistischen Gestaltung, die sich alles naturalistische Heraussprudeln des
unmittelbaren Erlebnisses versagt; das Gesetz unverbrüchlich
eingehaltener Kunstform gibt dem Gedicht zuerst Objektivität, überindividuelle
Gültigkeit, ohne dass es darum seinen Quellpunkt in der Innerlichkeit der
Seele, die nichts als ihre eigenen Schicksale kennt, zu verlassen braucht.
Ich selbst habe früher in
diesem Kunstwerden der lyrischen Äußerung, dieser Herrschaft des
artistischen Gedankens gegenüber der Darbietung des durch seinen Inhalt
wirksamen Affekts, das Wesentliche der Georgeschen Lyrik gesehen.
Allein das letzte Werk
macht deutlich, dass dies sozusagen nur die Vorform und Bedingung ist, mit
der jene für die Geschichte des Geistes tiefer bedeutsame Entwicklung
sich vollzieht.
In Sonetten Shakespeares,
in der Trilogie der Leidenschaft, in einigen Gedichten Hölderlins hat die
Lyrik den monumentalen Stil gewonnen.
Hier aber ist dies zur
Sehnsucht und Erreichtheit eines ganzen Lebenswerkes geworden, von den
ersten »Hymnen« über die »Hirtengedichte« und die »Hängenden Gärten«
zum »Teppich des Lebens« und nun endlich zum siebenten Ring, mit dem die
Richtung der ganzen Linie sich unzweideutig festlegt.
Das »Jahr der Seele«
erscheint nun als ein Seitenweg, der, nach einer anderen Idee hin
orientiert, die Hauptlinie um so mehr als unablenkbar offenbart.
Der Stil, der sich sonst
nur an der Form der großen Plastik oder Musik, der Architektur oder des
Dramas darstellt, hat nun hier, ganz prinzipiell und mit immer weiter
ausgreifendem Können, jene letzten Innerlichkeiten des nicht aus sich
heraustretenden Lebens ergriffen, dessen Dimensionen sonst nur in
Ausnahmefällen für den monumentalen Stil Raum hatten.
Das Ungeheure der Leistung
liegt in der Spannung zwischen der Weiträumigkeit und der hochaufatmenden
Größe dieses Stils, durch die er gleichsam das Schema aller Kräfte von
Welt und Schicksal zu enthalten scheint -und der unbedingten
Geschlossenheit des rein seelischen Erlebens, der Kreisung der
Innerlichkeit in sich selbst, die nun dennoch diesen Stil bis an seine
Grenze erfüllt.
Es ist bedeutsam, dass der
Teil des siebenten Ringes, in dem große geschichtliche Gestalten und
Ereignisse den Stoff hergeben, dieses Spezifische des Stils - wie mir
wenigstens scheinen will - nicht zeigt.
Nicht wenn diese Seele
irgend eine Materie der Welt in sich hineinnimmt, auch wenn, und gerade
wenn es die größte ist: sondern nur in ihrem Selbstsein und
Mit-sich-Reden findet der monumentale Stil an ihr seinen reinsten, fügsamsten
Inhalt.
Es ist das Wunder jeder
Kunst, dass sie Werte und Reihen des empirischen Lebens, die sonst
beziehungslos und unversöhnt nebeneinander liegen, als zu einander gehörig
und Glieder einer Einheit schauen lässt: erst unter der Gesetzgebung der
künstlerischen Welt rücken die Gegensätze so an- und ineinander, dass
an der Bedeutung eines jeden eine neue des anderen fühlbar wird.
Wenn nun die unbedingte
Zentripetalität des Erlebnisses in der Georgeschen Dichtung - ein mehr
als irgend sonst auf sich allein vertrauendes, mehr mit sich allein
lebendes Leben - die ganze Weite und Macht des monumentalen Stils ausfüllt
- wird das Gegeneinander von beiden zum Ineinander und erlotet der Sinn
eines jeden seine letzte Tiefe.
Dass die lyrische Kunst dem
intimsten Eigenleben der Seele diesen Stil gewonnen hat - und nicht nur in
einem gelegentlichen Gelingen, sondern in der zielsicheren Entwicklung
eines Gesamtwerkes - das ist nicht nur Sache der Kunst.
Es zeigt vielmehr an, dass
die Aufgabe der Menschheit, der Unendlichkeit ihres Seins auch eine
Unendlichkeit von Formen, in denen es lebe und wirke, zu schaffen, mit
einer neuen Lösung belohnt ist.
Anmerkung
1)
Der siebente Ring. Verlag der Blätter für die Kunst. 1909. |