Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Religiöse Grundgedanken und moderne Wissenschaft - eine Umfrage

ex: Nord und Süd. Eine deutsche Monatszeitschrift 33. Jg. Heft 383, Febr. 1909; 366-369

Der augenblicklichen Lage des religiösen Wesens kommen ihre Schwierigkeiten durch die Spannung, die sich zwischen der Religiosität, als einem inneren Sein oder Bedürfnis des Menschen, und all den überlieferten Vorstellungen ergibt, die sich als Inhalte dieses Seins, als Befriedigungen dieser Bedürfnisse anbieten. 
Dass die dogmatischen Inhalte der Religion dem Unglauben verfallen sind, ist nicht eigentlich der Erfolg der Wissenschaft, im Sinne der methodischen, exakten Erforschung von Tatsachen und Möglichkeiten. 

Dass ein Kind von einer Jungfrau geboren wird, dass Wasser in Wein verwandelt wird, dass ein Toter aufersteht und gen Himmel fährt - das alles ist durch die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts nicht unwahrscheinlicher geworden, als es schon durch die Erfahrungen der Menschen des 13. Jahrhunderts war. 
Nicht sowohl einzelne wissenschaftliche Ergebnisse, die hierfür eigentlich gar nicht in Frage kamen, als die allgemeine, wissenschaftlich-intellektualistische Stimmung der Zeit lässt mit der Unwahrscheinlichkeit jener Dogmen Ernst machen. 

Wenn die Geschichtswissenschaft uns belehrt hat, dass die jungfräuliche Geburt des Erlösers, seine Gotteskindschaft, die Symbolik des Abendmahls und vieles andre, angeblich spezifisch christliche - uralte, ethnische Vorstellungsweise ist, so vernichtet dies keineswegs die subjektive, ja nicht einmal die objektive religiöse Bedeutung dieser Überlieferungen. 

Denn die historische Begreiflichkeit der Entwicklung verhindert durchaus nicht, dass sie an einer ihrer Stellen, deren empirische Erscheinung sich von den andern gar nicht merklich unterscheidet, einen ganz einzigartigen tanszendenten Sinn besässe - so gut, wie aus demselben Wortmaterial, mit äusserlich ganz geringfügigen Änderungen, ein ganz gleichgültiger und ein unendlich bedeutsamer Gedanke ausgedrückt werden kann. 

Auch ist es längst anerkannt, dass der Begriff Gottes für die Wissenschaft nicht angreifbar ist. Dass der Komplex des Daseins als ein ganzer - von dem wir allein die Relationen seiner Teile wissenschaftlich erkennen - von einer übergreifenden Instanz geschaffen und geformt ist, dass neben oder unter allen uns erkennbaren Energien des Weltprozesses noch ein konstanter Faktor: der göttliche Wille, zur Erhaltung des Seins mitwirkt - das ist nicht nur unwiderleglich, sondern es wird überhaupt von der wissenschaftlichen Interessensphäre nicht berührt. 

Abgesehen von Einzelheiten, die den Kern des Christentums nicht treffen, ist ein logisch entscheidender Gegenbeweis gegen die religiösen Überlieferungen durch die Ergebnisse der exakten Wissenschaft nicht zu führen. 

Wohl aber schliesst, wie angedeutet, der wissenschaftliche Geist als ganzer, die Übertragung der wissenschaftlichen Gesinnung auch auf das nicht Untersuchbare, die Beschränkung aller glaubhaften Realität auf das wissenschaftlich Wahrscheinliche - dies schliesst das Festhalten an den überlieferten religiösen Inhalten aus.

Völlig verblendet aber wäre es, die inneren Bedürfnisse, die bisher von solchen Inhalten befriedigt worden sind, zugleich mit diesen für ausgelöscht zu halten. 

Es kann gar keine Rede davon sein, dass sie anders als ganz vorübergehend zum Schweigen gebracht oder abgelenkt werden können: dazu zeigt sie unsere historische Kenntnis zu lange und zu tief in den Wurzelgrund der menschlichen Natur eingesenkt. 

So befindet sich ein jedenfalls ausserordentlich grosser Teil der Kulturmenschheit in der problematischen Lage, dass sich Bedürfnisse in ihr mit erneuter Macht melden, die mit ihren bisherigen Befriedigungen solidarisch und durch die Einsicht in deren Illusionscharakter momentan verschwunden schienen - und mit denen sie nun völlig im Leeren steht.

Wie sich hiergegen Abhilfe finden wird, ist heute noch gar nicht abzusehn - wo einerseits noch soundso viele Menschen meinen, dass der Sieg des wissenschaftlichen Geistes über die religiösen Inhalte auch die religiösen Bedürfnisse beseitigt hätte, und wo andrerseits die Vertreter jener Inhalte sie mit verzweifelten Kraftanstrengungen und mit Unterstützung aller offiziellen Instanzen zu behaupten suchen. 

Es wird vielleicht vor allem der Einsicht bedürfen, dass Religiosität ein bestimmtes  Sein, sozusagen eine funktionelle Qualität der Menschen ist, manche völlig bestimmend, in andern nur rudimentär vorhanden, und dass die Entwicklung dieser Beschaffenheit zu  Glaubensartikeln, zur Annahme einer transzendenten Realität, zwar meistens stattfinden wird, aber mit dem religiösen Sein und Gestimmtsein nicht unbedingt verbunden ist. 

Wie die erotische Natur unter allen Umständen erotisch ist, gleichviel ob sie schon einen Gegenstand der Liebe kreiert hat, oder überhaupt kreiert, so ist die religiöse Natur unter allen Umständen eben religiös, gleichviel, ob sie an einen Gott glaubt oder nicht. 

Das Entscheidende für den religiösen Menschen ist die besondere Art, in der er auf die Gesamtheit der Lebensinhalte reagiert, die besondere Einheit, zu der ihm all die Einzelheiten der theoretischen wie der praktischen Welt zusammenwachsen - wie der Künstler auf eben dies Gesamtsein in  seiner  Weise antwortet und  seine Welt daraus formt, und der Philosoph wiederum in seiner besonderen. 

Versteht man in dieser Art die Religiosität als eine Form, in der die menschliche Seele lebt und sich und das Dasein erfasst - eine Form übrigens von so strengen Forderungen und übersubjektiven Idealen, wie naivere Denkweise sie nur aus äusserer Gesetzgebung begreifen will -so kann ersichtlich ein Konflikt mit der Wissenschaft überhaupt nicht stattfinden. 

Denn einerseits ist auch diese nur ein geistiges Verhalten gegenüber Welt und Leben, die Totalität dieser ist prinzipiell von der Wissenschaft wie von der Religiosität restlos aufzufassen und zu gestalten, und beide können einander so wenig bekämpfen oder auch nur berühren, wie in dem System Spinozas das Denken und die Körperlichkeit, da jedes von beiden schon das ganze Dasein je in seiner besonderen Sprache ausdrückt. 
Andrerseits kann alle wissenschaftliche Kritik nur die einzelnen, inhaltlich bestimmten Glaubensvorstellungen zerstören, die das religiöse Sein und Bedürfen, hier so und dort anders, aus sich hervortreibt. 

Zweifellos hat sie dies in dem oben bezeichneten Masse bewirkt und damit die jetzt herrschende Ratlosigkeit des religiösen Wesens erzeugt. Solange die Religiosität  besondere  Inhalte für sich produziert, die eigentlich erkenntnismässigen Wesens sind, und deren Formung sie irgendwie mit dem theoretischen Denken in Wettbewerb setzt, ist hier keine entscheidende Wendung zu erhoffen; insbesondre davon nicht, dass man sich auf gewisse, angeblich letzte, wesentlichste, inalterable Vorstellungen der Religion zurückzieht und deren historisch bestimmte, zufälligere Ausgestaltungen der Kritik preisgibt. 

Denn solange es Vorstellungen konkreter Realitäten bleiben, Objektivierungen des religiösen Seins, die ausserhalb desselben liegen, solange wird die Kritik ihnen auf den Fersen sein. 

Eine Lösung dieser Schwierigkeiten ist nur von Evolutionen des religiösen Wesens zu erhoffen, die, wie gesagt, heute niemand mit irgend überzeugender Wahrscheinlichkeit voraussehen kann. 
Unter diesem Vorbehalt gesprochen, scheint mir die Lösung davon abzuhängen, dass die Religion sich, statt in der transzendenten Vorstellungswelt, die sie aus sich gebildet hat, wie die reinen Denkformen die rationalistischen Metaphysiken, wieder in dem besondern, aber unmittelbaren Leben findet, das dem religiösen Menschen eben sein Sein, die selbstverständliche Färbung und Formung seiner inneren und äusseren Existenz ist. 
In diese werden freilich auch alle einzelnen Inhalte, an denen das Leben sich vollzieht, aufgenommen, und insofern kann man allerdings von einem religiösen Weltbild sprechen. 

Allein dieses enthält durchaus keine Erkenntnisse der Dinge, Erlebnisse, Schicksale, sondern eine Ordnung ihrer nach eignen Werten und Bedürfnissen, eine eigne Reaktion des Gefühles auf sie, eine eigne, unmittelbar in sie hineingelebte Sinngebung. 

Wenn die Religion nicht eine Summe von Behauptungen, sondern ein bestimmtes So-Sein der Menschen ist, und erst  dadurch  eine Charakterisierung und Rangierung der Weltinhalte, so ist sie der Wissenschaft so wenig widerlegbar, wie überhaupt ein Sein widerlegt werden kann. 

Sie wird dies erst, wenn sie ihre Bilder der Dinge von dem wesenhaften inneren Sein ablöst und zu einer Erkenntniswelt erstarren lässt, die die Denkformen der Wissenschaft irgendwie nachahmt und darum mit dieser in denselben Wettbewerb treten muss, wie die Kirche es mit dem Staate muss, wenn sie sich selbst nach dessen Formen bildet.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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