Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Fragmente eines Goethe-Buches

ex: Österreichische Rundschau, herausgegeben von Alfred Frhr. von Berger, Karl Glossy, Leopold Frhr. von Chlumecky und Felix Frhr. von Oppenheimer, Band XVIII, Heft I vom 1. Januar 1909, S. 40-48 (Wien)

Goethe ist das größte historische Beispiel des Menschen, der nur von innen heraus, nach seinen eigenen Entwicklungsnotwendigkeiten lebt, von dort aus die Forderungen des Objektes erfüllt und zu einem reinen Bilde der Objekte gelangt.

Kant umgekehrt steht von vornherein unter der Herrschaft objektiver Ideen, der Erkenntnis oder der Moral, die von sich aus sein subjektives Wesen zu ihnen adäquaten Formen und Inhalten gestalten.

»Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher«, lautet eine in seinem Nachlasse gefundene Notiz.

»Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bei jedem Fortschritte.

Es war eine Zeit, da ich glaubte, dieses alles könnte die Ehre der Menschheit machen und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß.

Rousseau hat mich zurecht gebracht.

Dieser verblendete Vorzug verschwindet: ich lerne die Menschen ehren und würde mich viel unnützer finden, als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, dass diese Betrachtung allen übrigen einen Wert geben könnte, die Rechte der Menschheit herzustellen.« So echt und fundamental diese Leidenschaft des Erkennens ist, so ist damit der Wert des subjektiven Lebens von einem Kriterium abhängig, das gegen dieses Leben prinzipiell ganz gleichgültig ist: Kant will das Gefäß der Erkenntnis werden, die sich aus ihrer ideellen Existenz heraus in ihm realisiert.

Und die Wendung, zu der ihn Rousseau veranlasst, richtet seine Wertbetonungen von dem ab, was er »aus Neigung« ist, unterstellt sein Tun einer Ordnung, die völlig jenseits seiner selbst steht.

Es sind immer die objektiven Inhalte seines geistig-innerlichen Lebensprozesses, von denen diesem Form, Bewegung, Wert kommt - während bei Goethe der Lebensprozess das erste ist und von ihm, seinen Normen und Kräften aus, erst die Inhalte nach Art, Schicksal und Bedeutung bestimmt werden.

Die Einheit des Daseins, das sich in Prozess und Inhalt erschöpft, wurde so bei beiden von entgegengesetzten Seiten her gewonnen.

Weil aber in der Jugend der Prozess des Lebens das Übergewicht über seine Inhalte hat, im Alter die Inhalte über den Prozess, darum ist in Goethe etwas von ewiger Jugend, während Kant von vornherein etwas altes hat.

Nun vollziehen sich natürlich die seelischen Lebenswirklichkeiten nicht in solcher prinzipieller Eindeutigkeit und reinlicher Schematik.

Für Goethe scheint jene Einheit zwischen spontan-persönlicher Entwicklung und demjenigen, was die Natur der Dinge uns zu denken und zu bilden veranlasst, zwar immer vorhanden und instinktiv gefühlt zu sein; allein als klares Bewusstsein und abschließende Lebensmaxime tritt es doch vielleicht erst als die Lösung einer Spannung auf, die die innere Entwicklung Goethes mit einer gewissen Tragik bedrohen könnte.

Aus der Betrachtung der inneren und äußeren Attitüde des Goetheschen Lebens bis nach der italienischen Reise, insbesondere aus dem ersten Teil des Faust, gewinne ich den Eindruck, dass er von einem Ideale des persönlichen Seins ausgegangen ist.

Er mochte noch so selbstlos hingegeben denken, handeln und schaffen - der Wertakzent seiner Bestrebungen lag in der Vollendung seiner Existenz.

Und so wenig er diesem Ideal je untreu geworden ist, so wenig es je seine Kraft als innerstes Lebensmotiv verlor, so hat es sich doch sozusagen gespalten und seinen Akzent an das Erkennen auf der einen Seite, das Handeln auf der anderen abgegeben, oder ihn wenigstens mit diesen Idealen geteilt - alles natürlich auf der Basis seiner künstlerischen Produktion, oder auch äußerlich von ihr unabhängig.

Von der Innenseite gesehen, stellt sich die Lebensrichtung, die wir mit dem Ausdruck: sie gehe auf das Ideal des Seins, bezeichnen, als die wesentlich gefühlsmäßige dar.

Im Gefühl spiegeln sich Gesamtzustände, der Gesamtsinn und Gesamtwert unserer Existenz viel unmittelbarer, ungespaltener, als in den seelischen Energien des Denkens oder des Wollens.

So steht Goethes Jugend durchaus im Zeichen des: Gefühl ist alles! Indem sich dies einerseits in Intellektualität: Begreifen, Wissen, Weisheit, anderseits in Aktivität auseinanderentwickelte, wiederholte sich an ihm gewissermaßen das Schicksal der Seele überhaupt - denn deren erste Zustände sind doch wohl Gefühle, und »Wille und Vorstellung« sind sekundäre, vielleicht pari passu ausgebildete - und zugleich die Kantische Lehre vom Gefühl, als einem Mittleren zwischen Denken und Wollen.

Goethe gibt sich davon in sehr merkwürdiger Weise Rechenschaft, wenn er, schon 1805, die Erinnerung an bedeutende Gegenstände, besonders an charakteristische Naturszenen, mit ihrem Eindruck nach langer Zwischenzeit vergleicht.

»Da werden wir denn bemerken, dass das Objekt immer mehr hervortritt, dass, wenn wir uns früher an den Gegenständen empfanden, Freud und Leid, Heiterkeit und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr, bei gebändigter Selbstigkeit, ihnen das gebührende Recht widerfahren lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen wissen.

Jene Art des Anschauens gewährt der künstlerische Blick: diese eignet sich dem Naturforscher und ich musste mich, zwar anfangs nicht ohne Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen, dass, indem jener Sinn mich nach und nach zu verlassen drohte, dieser sich in Aug und Geist desto kräftiger entwickelte.«

Und etwa 20 Jahre später: »Fürs Ästhetische, wo alles vom Gefühl abhängt, bin ich eigentlich geboren, doch jetzt zu alt dazu, wende ich mich den Naturstudien immer mehr zu.« Dem geht die mit seinem Älterwerden immer wachsende Betonung des Handelns parallel, aber auch dies vielleicht, wie jenes, nicht ohne ein Etwas von Schmerz und Verzicht.

Denn wenn man den Höhepunkt dieser Entwicklungsreihe im Schluss des Faust - vor der Verklärung - sehen darf, so ist doch wohl das: »Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss« - mit all seiner ethischen und dichterischen Schönheit, schließlich eine Banalität neben dem metaphysischen Ideale des ersten Monologs und dem sozusagen vitalistischen des Spazierganges mit Wagner, wo alle Sehnsucht der gefühlten Fülle des Erlebens zudrängt.

Jenes Ideal einer einheitlich-subjektiven Seinsvollendung gibt dem Bilde des jungen Goethe einen Zauber, eine Ahnung menschheitlicher Vollendung, ein unerhörtes Versprechen, denen gegenüber alle Wunder seines späteren Seins und Leistens, obgleich sie die Kraft der Wirklichkeit gegenüber der bloßen Möglichkeit haben, ein leises Abblassen bedeuten.

Indem nun seine frühere, im Zeichen des Gefühles verlaufende und auf die Lebenseinheit als ganze gerichtete Entwicklung in Denken und Handeln auseinander ging, vollzog sich dieser Prozess, der bei den meisten Menschen einen inneren Bruch und eine Vereinseitigung bedeutet, bei ihm so, dass in jedem der beiden Zweige seiner Idealbildung nun doch die Einheit des Gesamtlebens in einer immerhin einzig glücklichen Weise erhalten blieb.

Im Gebiete der Vorstellung, des objektiven Weltbildes, ist die Einheit von Ich und Natur sein metaphysischer Ausdruck dafür, dass die Leidenschaft des Sichauslebens, der Vollendung des persönlichen Daseins, doch in der objektiven Wendung, in der Formung eines theoretischen Naturbildes, weiterlebte, die Versachlichung und Intellektualisierung hat jene früheren Impulse nicht atrophisch gemacht, ihn nicht zu einer Entselbstung geführt; sondern so wurden diese in jene hinübergerettet, dass das unvergleichliche Bild eines Menschen entstand, der nur die Forderungen der eigenen Existenz zu erfüllen, nur die gleichsam mitgebrachten Energien seines Geistes zu entfalten brauchte, um eine Theorie der Natur, um ein geschlossenes, die letzten Tiefen ausschöpfendes Weltbild zu erzeugen.

Ein letztes psychologisches, oder, wenn man will, metaphysisches Fundament teilt der große Dichter mit dem großen Philosophen.

Während der alltägliche Mensch nur auf die Einzelheiten der Welt reagiert und an sie seine Stimmungen und die Attitüde seines Lebensverlaufes knüpft, werden jene innerlich von der Ganzheit des Seins betroffen, ihre Seele antwortet nicht nur auf dieses oder jenes, sie fühlen die Welt oder das Leben als ein Allumfassendes, Einheitlich-Gesamtes, mit derselben Unmittelbarkeit, mit der die Durchschnittsnaturen singuläre Dinge und Ereignisse aufnehmen.

Dieses innerliche und fundamentale Verhalten drängt den Künstler dazu, es an der stilisierten, zu selbstgenugsamer Einheit sich schließenden Formung einzelner Erscheinungen und Vorgänge auszuleben; den Philosophen veranlasst es, den Weltinhalt durch logische Verknüpfungen einem einheitlichen Begriffe unterzuordnen.

Aber daraus nun, dass beide Geistesarten in der seelischen Beziehung zu der Einheit und Ganzheit des Daseins wurzeln, ergibt sich für sie ein eigentümliches Problem.

Es scheint nämlich, als ob die natürliche Gabe dieser Beziehung, da sie sich nur an der Singularität und Mannigfaltigkeit des empirischen Denk- und Anschauungsmateriales ausgestalten kann, diesem Ausdruck nur schwer den Charakter eigentlich strenger Konsequenz gestattete.

So lange die Arbeit sich an die umgrenzte Einzelerscheinung und an deren unmittelbare Normen hält, ist es relativ leicht, konsequent zu bleiben.

Wo aber jedes Einzelne aus dem Bilde oder Gefühl des Ganzen heraus begriffen oder die absolute Einheit durch die relativen Erscheinungen gedeutet werden soll, offenbart sich, mindestens für unsere geistigen Möglichkeiten, eine tiefe Inkommensurabilität zwischen beiden.

Wir sind oft genug von der Wahrheit gewisser letzter und höchster Sätze und Normen durchdrungen und doch völlig außerstande, sie an jeder, ja, manchmal sie überhaupt nur an einer Einzelheit, die logisch darunter gehörte, restlos durchzuführen; als wäre uns der Weg von der allbefassenden Einheit zu den Einzelheiten und ihrer Summe zu lang, um von dem einen, ohne die Richtung zu verlieren, zu dem anderen hinzufinden.

Daher die paradoxe Erscheinung, dass Geister, die aus dem tiefsten Zusammenhang mit der Einheit des Seins heraus schaffen, oft viel widerspruchsvoller sind, als solche, die sich schlechthin mit der Singularität ihrer Probleme begnügen.

An dem einzelnen Kunstwerk, das in seinem übersehbaren Rahmen beschlossen ist, tritt das zwar kaum hervor; bei dem großen Künstler offenbart es sich mehr an den Wandlungen und oft polaren Gegensätzlichkeiten seiner Entwicklungsepochen, oft auch an den Widersprüchen und Zerrissenheiten seines Gesamtlebens oder zwischen seinem persönlichen Leben und seiner Kunst.

Goethe, bei dem jener Zusammenhang mit der metaphysischen Totalität des Seins von unerhörter Stärke und bewusster Wirksamkeit war, redet unzählige Male von den Widersprüchen in sich selbst und zwischen seinen Äußerungen; und wenn bei ihm, wie bei anderen Erscheinungen von verwandten Größenmaßen, die Vieldeutigkeit, die scheinbare Möglichkeit, ihn für beide Parteien unversöhnlicher Gegensätze in Anspruch zu nehmen, gerade die Weite seiner Wirkung und die unerschöpfliche Fruchtbarkeit seiner Anregungen bedingt, so ruht das auf der tiefen Beziehung, mit der die Inkonsequenz und das Sichwidersprechen hier der Beeindruckbarkeit durch die Gesamtheit des Seins und der Einwurzelung in dessen Einheit verbunden sind.

Bei den Philosophen wären die Inkonsequenzen und logischen Fehler, wie sie bei den größten, mit den gewaltigsten Denkmitteln begabten sichtbar werden, etwas ganz unbegreifliches, wenn es nicht auf jene typische, ich möchte sagen, sachlich notwendige Diskrepanz zurückginge: zwischen der Beziehung des seelischen Seins zu der Einheit und Ganzheit der Welt auf der einen Seite und dem Ausdruck dieses metaphysischen Grundverhältnisses in den diskursiven, vereinzelten Tatsachen und Begriffen des aussprechbaren Daseins auf der anderen.

Wenn Kant deshalb betont, konsequent zu sein, wäre die unerlässlichste Eigenschaft des Philosophen und würde doch am seltensten angetroffen, so ist dies nicht nur kein Widerspruch gegen den Begriff des Philosophen, sondern eine Bestätigung des Fatums der Inkonsequenz, das gerade diese Geister bei dem Versuche verfolgt, ihr tiefstes Sein an relativen Oberflächenelementen auszuleben.

Kant, den offenbar das Gefühl dieser Gefahr zu ihrer Vermeidung um jeden Preis antrieb, hat oft genug auf die künstlichste und wahrhaft verzweifelte Weise die Konsequenz seines Systems zu wahren gesucht und selbst um diesen Preis ist es ihm nicht durchgehends gelungen.

Im ganzen ist es ein bezeichnender und in die letzten Wesenstiefen hinabreichender Unterschied zwischen dem Künstler und dem Gelehrten, besonders dem Philosophen, dass das einzelne Kunstwerk nach Sinn und Wert für sich steht, in sich geschlossen ist, nach Verständnis und Genuss unabhängig davon, ob sein Schöpfer noch andere Werke produziert hat oder ob es sein einziges wäre.

Ja, wie der Genießende sozusagen mit dem Kunstwerk allein auf der Welt ist und alles, was ihn umgibt oder was sonst noch sein Bewusstsein okkupiert, an diese Betrachtung, ihrem eigentlichen Sinne nach, nicht rührt - so ist auch das Kunstwerk seinerseits etwas so völlig für sich Seiendes, als ob es das einzige auf der Welt wäre.

Die biographische oder aus ästhetischen Interessen höherer Ordnung entstandene Synthese des einzelnen Werkes mit anderen ist etwas durchaus Sekundäres und greift in die zentrale Bedeutung des Kunstwerkes für uns nicht ein.

Das Werk des wissenschaftlichen Denkers dagegen besitzt diese inselhafte Selbstgenugsamkeit nicht.

Seinem Wesen haftet unabstreifbar an, dass es ein Teil eines ideellen Ganzen der Wahrheitserkenntnis ist.

Für die philosophischen Prinzipienfragen tritt an die Stelle einer Reihe, die ihrem Ziele ins Unendliche zuwächst, gleichsam ein Kreis, in dessen Mittelpunkt das Ziel liegt; dieser wird Punkt für Punkt von Theorien besetzt, deren jede die gleiche Nähe oder Entferntheit zu jenem Ziele zeigt.

Erst alle überhaupt möglichen Philosophien zusammen würden den Kreis schließen und von jeder einzelnen werden wir, nicht nur psychologisch, sondern um der logischen Ergänzung willen, an eine andere, ja, an alle anderen gewiesen - wie eine Farbe einerseits mit ihrer Komplementärfarbe, anderseits aber mit der Gesamtheit aller anderen Spektralfarben das weiße Licht ergibt.

In keinem Falle also besitzt die Leistung das abgerundete Fürsichsein des Kunstwerkes.

Und dieses Schicksal des einzelnen Werkes, das ihm das Wesen des Wissens überhaupt auferlegt, wiederholt sich in engerem Maße an seinem Verhältnis zu der gesamten Produktion seines Urhebers.

In ganz anderem Sinne bilden alle Produktionen eines Gelehrten ein Lebenswerk, reihen sich zu einer ihrem Inhalt nach zusammenhängenden Kette, als die Werke eines Künstlers es tun.

Jene streben alle einem oder wenigen spezifizierten Zielen zu, sie ergänzen sich zu einem, seinem Grundmotiv nach festliegenden Erkenntnisganzen, eines setzt inhaltlich das andere voraus oder verbessert es - während das einzelne Kunstwerk innerhalb der Produktionsreihe seines Schöpfers mit souveräner Selbständigkeit steht.

Es ist sehr merkwürdig, dass das Kunstwerk zwar von der Subjektivität seines Schöpfers in viel höherem Maße abhängt und sie in viel höherem Maße zum Ausdruck bringt, als die wissenschaftliche Forschung die des ihrigen, dass es aber aus der Gesamtheit seiner Schöpfungen viel gelöster ist und ihnen insofern viel mehr als ein geschlossenes, objektives Ganzes gegenübersteht, als entsprechend ein Werk des Gelehrten.

Gegenüber diesem allgemeinen Unterschiede des Künstlers vom Gelehrten nimmt Goethe eine Ausnahmestellung ein.

Tatsächlich ist bei ihm das einzelne Werk, in seiner Bedeutung für den Aufnehmenden, weit weniger aus der Gesamtheit der Lebensleistung gelöst, als es sonst bei irgendwelchen Kunstwerken vorkommt.

Zum mindesten bildet er den entschiedensten und markantesten Fall innerhalb eines Typus von Künstlern, deren Werke jene absolut in sich selbst zusammengezogene Bedeutung für den Genießenden zugunsten der Gesamtheit der künstlerischen Persönlichkeit und ihres Gesamtwerkes abdiziert haben.

Den äußersten Gegenpol zu diesen bildet vielleicht Shakespeare.

Den Genuss von Romeo und Julie berührt es in keiner Weise, dass es auch König Lear gibt, unser Verständnis Hamlets fördert es nicht, dass derselbe Dichter auch den Sturm gedichtet hat.

Ebenso gleichgültig ist es für den Eindruck, den jedes Fresko Giottos oder jedes Porträt Tizians auf uns macht, dass der eine noch mehr Fresken, der andere noch mehr Porträts hinterlassen hat.

Etwas anders scheint es mir schon bei Beethoven zu stehen.

Die ungeheure Skala der Schicksale, die aus dieser Seele in musikalischer Gestalt wiederklingen, umgeben tatsächlich, wie eine irgendwie mitschwingende Atmosphäre, auch das einzelne Stück, es ist für unseren Eindruck von der 5. Symphonie oder vom Cis-Moll-Quartett wahrscheinlich nicht bedeutungslos, dass sie einer Seele entquollen sind, deren Gesamtwerk uns verrät, dass sie alles überhaupt Erlebbare durchempfunden hat.

Dieses Hinausgreifen des Kunstwerkes über seinen unmittelbaren Rahmen auf die subjektive Totalität des Schöpfers ist eine innere, geheimnisvolle Qualität des Werkes selbst, die mit ihm ohne Rücksicht auf seine sonstigen Werte verbunden oder nicht-verbunden sein kann.

Denn bei aller unausschöpflichen Weite und Tiefe der Empfindung in der Musik Bachs scheint mir diese Rückbeziehung hier nicht vorhanden, hier hat das einzelne Stück dasselbe abgelöste Fürsichsein, wie bei Shakespeare.

In partiellem Maße dagegen liegt jenes Phänomen bei Rembrandt vor.

Seine ganze Alterskunst, am meisten die späten Selbstporträts, gewinnen noch eine viel tiefere und er schütterndere Wirkung, wenn wir sie als das letzte Wort eines Lebens betrachten, dessen frühere Epochen sich in der Nachtwache und in den Saskiabildern ausgedrückt haben.

In der Bedeutung Goethes für uns ist diese Beziehung des einzelnen Werkes auf die Gesamtpersönlichkeit und ihre Gesamtleistung zu einem Maximum gestiegen.

Der Wert Goethes für unsere Kultur ist nicht damit erschöpft, dass Faust und Wilhelm Meister, die Wahlverwandtschaften und der westöstliche Divan da sind, sondern außerdem und wesentlich liegt er darin, dass all dieses einem Geiste entsprungen ist, die Elemente eines Ganzen, die Stadien einer Entwicklung bildet.

Das Gesamtkunstwerk Goethes greift über die einzelnen Goetheschen Kunstwerke hinüber, mit all ihrer Geschlossenheit und ihrem Eigenwerte sind sie wie Akte eines Dramas, dessen Gesamtsinn sie noch einmal zusammenfasst.

Shakespeare ist für uns gleich der Summe seiner Werke, Goethe aber ist die organische Einheit der seinigen und damit mehr als die Summe der Teile.

Das Geheimnis der Persönlichkeit, die etwas jenseits aller ihrer einzelnen Äußerungen und durch diese nicht aussprechbar ist, hat, wenn wir von der Gestalt Jesu absehen, die in dieser Hinsicht freilich das Unerhörte und Absolute ist, in Goethe sein anschaulichstes und kulturell wirksamstes Beispiel gefunden.

***

Goethe hat die Welt organisch verstanden.

Ihm dominiert Idee und Wirksamkeit des Ganzen, als einer Einheit, so sehr alles einzelne und die Wechselwirksamkeiten innerhalb des Einzelnen, wie eben in dem Organismus jeder Teil von dem Ganzen bestimmt wird und das Leben jedes Teiles nichts anderes ist, als das in ihm sich vollziehende Leben des Ganzen.

Nun kann man freilich auch den Organismus rein auf die mechanische Beziehung je eines Teiles zu dem anderen ansehen, ohne die Gesamtform, das Gesamtleben des Ganzen als eine über die Einzelelemente hinweggreifende und für sich wirksame Einheit herbeizuziehen; und dies mag der Weg der auf singuläre Tatsachen und Gesetze ausgehenden Wissenschaft sein.

Allein einer anderen Betrachtungsweise erscheint das Ganze nicht so als eine nachträgliche und sozusagen zufällige Zusammenfassung, sondern umgekehrt bestimme seine Einheit von sich aus alles einzelne oder auch dieses einzelne trage in seiner Formung und Tätigkeit unmittelbar das Ganze - so wenig unsere Erkenntniskategorien ausreichen mögen, diese Einheit von Teil und Ganzem mit genaueren Begriffen zu analysieren.

Jedenfalls hält sich Goethe an diese Vorstellung des Organismus und in ihrer Form erblickt er die Totalität des Daseins überhaupt.

Seine All- und Einheit, die Natur als Ganzes, ist eine beseelte, pulsierende, lebendige Entwicklung, keineswegs das starre e u k a i p a u , auch nicht die innerlich tote, absolute Substanz Spinozas, die ihre Bewegtheit nur am Mechanismus ihrer Teile gewinnt; ich bin überzeugt, dass Goethes Auffassung von sich aus die Spinozische Naturvorstellung mit einer ihr selbst fremden Lebendigkeit ausgestattet hat.

Er selbst stellt seinen Pantheismus in einen völligen Gegensatz zu dem unlebendig-mechanischen Monismus: »Durch die Alleinheitslehre«, sagt er, »wird so viel gewonnen als verloren und zuletzt bleibt das so tröstliche als untröstliche Zero übrig.« Im Lebensprozess, nicht im Mechanismus, hat er die Vereinigung der Einheit mit der Bewegtheit gefunden.

Und so vollkommen und seinem tiefsten Wesenszuge nach erscheint ihm die Welt als eine Lebenseinheit, in jedem Einzelwesen das Ewige, d. h. das Über-Einzelne sich regend, dass man vielleicht tiefergreifend sagen kann: nicht die Welt ist ihm wie ein Organismus, sondern der Organismus wie die Welt.

An der Welt hat er die Existenzform gefunden oder gefühlt, die für weniger umfassende Anschauungsweise nur am Organismus hervortritt; dieser erscheint gewissermaßen als ein Mikrokosmos, als eine Analogie in engen Maßen für die Form, in der die Welt als eine Einheit und sozusagen von ihrem metaphysischen Zentrum aus lebt.

Die organische Form, d. h. das Leben des Teiles aus dem Ganzen heraus, ist ihm der Sinn der Welt überhaupt.

- Es zeigt sich damit die ganze Rohheit und Oberflächlichkeit der Kritik, die die großen Denker der Vermenschlichung der Welt, eines atavistischen Fetischismus beschuldigt, wenn sie die Gesamtheit des Daseins nach den Kategorien des Menschlichen, des Lebendigen, des Seelischen deuten.

Wenn Schopenhauer das Wesen der Welt als Wille bezeichnet, so macht er damit nicht den kleinen Weltausschnitt des menschlichen Willens zum Maße der Unendlichkeit, sondern umgekehrt: jene oben berührte, geheimnisvolle Beziehung des großen Philosophen zur Ganzheit des Seins gibt ihm eine bestimmte, seiner seelischen Artung entsprechende Empfindung und Deutung dieses Ganzen; und erst von dieser her wird der Punkt innerhalb des seelisch-menschlichen Daseins ergriffen, an dem solcher Sinn des Seins sich etwa am anschaulichsten und unzweideutigsten für uns darstelle.

Und so ist Goethes Bild der organischen Welteinheit seiner Bedeutung nach nicht eine mythologische Übertragung der empirischen Vorstellung vom Organismus auf das Dasein überhaupt, sondern ein metaphysisch-künstlerisches Gefühl für dieses, das nur am Organismus seine Aussprechbarkeit, vielleicht auch nur sein Symbol gewinnt.

Von außen betrachtet, scheint die Kantische Auffassung der Welteinheit dieser Goetheschen nicht unähnlich zu sein: »Die Einheit des Weltganzen«, sagt er, »in welchem alle Erscheinungen verknüpft sein sollen, ist offenbar eine bloße Folgerung des insgeheim angenommenen Grundsatzes der Gemeinschaft aller Substanzen, die zugleich sind.« Dieser Grundsatz besagt, dass alle zugleich existierenden Substanzen in realer Wechselwirkung stehen.

Gewiss würde Goethe mit diesem tatsächlichen Bilde einverstanden sein: »Wie ein Tritt tausend Fäden regt, die Schifflein hinüber herüber schießen, ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.« Dennoch ist die metaphysische Richtung in beiden völlig entgegengesetzt.

Für Kant ist, wie es der mechanistisch-wissenschaftlichen Überzeugung entspricht, die Einheit des Weltganzen nichts anderes, als die Wechselwirkung seiner Teile, »eine bloße Folgerung«, oder, wie wir ebenso in seinem Sinne sagen können, ein bloßer Name für die von Teil zu Teil gehende Verknüpfung der Elemente.

Für Goethe dagegen besteht die Einheit als das Erste, Absolute, Schöpferische, aus dem die Beziehungen der Teile erst als sein Lebensprozess folgen.

Wenn er fortfährt: »Das hat sie nicht zusammengebettelt«, so kann das direkt als eine Absage an die der Kantischen analogen Auffassungen gelten; dass die Einheit überhaupt erst zustande kommt, nicht als der Grund alles Wechselgeschehens vorangeht, das erscheint ihm als das »Zusammenbetteln«.

Sogar dem Organismus gegenüber sehnt sich Kant doch schließlich nach einem mechanistischen Verständnis, wenn er auch zugeben muss, dass es unseren Erkenntnismöglichkeiten unerreichbar ist - während Goethe das Prinzip des Organischen: »Alles ist Frucht und alles ist Samen« für den Gesamtzusammenhang der Welt, der auch alles Unorganische einschließt, gelten lässt.

Darum braucht er auch nicht den Zweckbegriff, unter dem Kant den Organismus erfasst.

Denn wenn in diesem, wie Kant anerkennt, »die Idee des Ganzen die Form und Verbindung aller Teile bestimmt« - so sei das eben nur nach der Analogie menschlicher Zwecktätigkeit vorzustellen: nur in dieser gehe das Ganze, nämlich als Zweckidee, der Existenz der Teile voran, z. B. der Gedanke einer Maschine bestehe zunächst und werde die Veranlassung, aus der sie Teil für Teil erzeugt werde.

Indem Kant die Annahme einer metaphysisch bildenden Kraft, die den Organismus in seiner Realität geschaffen hätte, unbedingt ablehnt, ist ihm die Zweckmäßigkeit doch das Prinzip unseres allein möglichen Verständnisses der Organismen: wir könnten ein Lebewesen überhaupt nur so beurteilen, als ob die Idee des Ganzen die Ursache für die Gestaltung der Teile wäre.

Für Goethe wäre schon diese Scheidung ausgeschlossen, wonach die Maxime, die uns für die Auffassung eines Objektes unentbehrlich ist, in diesem selbst kein Gegenbild findet, sondern rein subjektiv bleibt; macht ihn doch der Kant-Schillersche Satz, dass der Idee niemals eine Erscheinung (also die Realität) entsprechen könne, »ganz unglücklich«.

Wenn er zu der Kritik der Urteilskraft, die jene Lehre von der Zweckmäßigkeit der Organismen vorträgt, seine Verehrung und Übereinstimmung erklärt, so möchte ich glauben, dass er Kant nicht verstanden hat, sondern auf Grund der äußerlichen Analogie - da auch Kant das mechanistische Prinzip den Lebewesen gegenüber für undurchführbar erklärt - die Kantischen Begriffe von vornherein in seinem eigenen, der Grundtendenz nach völlig entgegengesetzten Sinne aufgefasst hat.

Für ihn ist der Zweckbegriff etwas viel zu Klein-Menschliches, um ihn zur Deutung der Natur zu verwenden; viel eher, als dass man die Natur aus ihm erklärte, kann der Zweck selbst eine einzelne Ausgestaltung oder Auffassung der Struktur des Daseins überhaupt sein, die jedes Element aus dem absoluten Ganzen heraus bestimmt.

Gerade dieses Ganze ist für Kant rein mechanistisch geordnet und die Betrachtung des Organismus als einer zweckbestimmten Struktur ist ein notgedrungener Ersatz des Mechanismus für einen kleinen Teil des Daseins, an dem er versagt; wenn Kant den Zweckgedanken dann über diese Rolle hinaus, in moralisch-metaphysischer Spekulation, zu einer teleologischen Einheit des Naturganzen weiterführt - so ist das so gequält, so wenig überzeugend, dass die Unmöglichkeit, mittels solcher »Beurteilung nach Zwecken« eine formgebende Einheit der Natur zu gewinnen, gerade daran einleuchtet.

Man hat fast den Eindruck, als hätte Kant mit dem Zweckbegriff als Deutungsmittel für den Organismus absichtlich etwas recht Anthropomorphes, aller Objektivität Fernes gewählt, um das Übermechanische um so unzweideutiger als etwas bloß Subjektives zu denunzieren, um recht deutlich an den Tag zu legen: wo der Mechanismus nicht ausreicht, bleibt nur das schlechthin Subjektive, Unsachliche übrig.

Von dem gleichen Ausgangspunkt her: die Erscheinungen, in denen die Teile durch das Ganze bestimmt werden, reicht die mechanistische Erklärung nicht aus - geht Kant gleichsam abwärts und schließt, dass sie infolgedessen überhaupt nicht objektiv begriffen werden können, sondern nur in dem Subjekt und seiner Reflexion eine Art geistigen Unterkommens finden; Goethe aber geht aufwärts, zu dem, was über den Lebewesen, als einem einzelnen Zweige des allgemeinen Daseins liegt, zu der Einheit der Natur überhaupt, deren Sinn die organische Form ist, das Durchdrungenwerden des Teiles durch das Ganze.

Dort deutet sich der Organismus durch das, was weniger als das unmittelbar Objektive ist, hier durch das, was mehr ist als dieses.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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