Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Beiträge zur Philosophie der Geschichte

ex: »Scientia«. Rivista di scienza. Organo internazionale di sintesi scientifica - Revue internationale de synthèse scientifique - Internationale Zeitschrift für wissenschaftliche Synthese - International Review of Scientific Synthesis, herausgegeben von G. Bruni, A. Dionisi, F. Enriquez, A. Giardina und E. Rignano, Vol. VI. Anno III, 1909, Numero XII-4, S. 345-351 (Bologna, London, Paris, Leipzig)

Die hier vorgelegten Studien sind Ergänzungen zu meiner Schrift: »Die Probleme der Geschichtsphilosophie« (3.Aufl. Leipzig 1907). Sie sollen an einzelnen Punkten das Unternehmen dieses Buches weiterführen: die Voraussetzungen, deren sich die historische Betrachtung dauernd bedient und durch die diese Betrachtung überhaupt erst möglich wird, in das wissenschaftliche Bewusstsein zu erheben.

1. 

Das fundamentale Problem für die Erkenntnistheorie der Geschichte ist dies: wie aus dem realen Geschehen das wissenschaftliche Gebilde wird, das wir Geschichte nennen.

Indem man den empirischen und exakten Charakter dieses Gebildes unkritisch und mechanisch verstand, hat man meistens übersehn, durch wie viele Umformungen, Weglassungen, Ergänzungen des unmittelbaren Lebens es allein zustande kommen kann.

Es gehört zu den Begründungen dieser Gedankenreihe, dass wir die Kategorien, unter denen wir ein Bild von uns selbst gewinnen, in ihrem Unterschiede gegen diejenigen betrachten, durch die uns die eigentlich geschichtlichen Bilder zustande kommen.

Zunächst zeigt die Erkenntnis des eigenen Lebens, verglichen mit der des fremden, einen eigentümlichen Gegensatz.

Jeder kennt sich selbst tausendmal besser, weiss tausendmal mehr von sich, als von irgend einem andern, auch vom nächsten; und dennoch erscheint uns der andre niemals so fragmentarisch, so lückenhaft, sowenig ein Ganzes und in sich Zusammengehöriges, wie wir oft uns selbst erscheinen.

Man möchte die paradoxe Vermutung wagen, dass wir von uns zuviel wissen, um all die Deutungen und Umdeutungen, Überbrückungen, Hinzufügungen, vorzunehmen, die allein aus dem Lebensbild eines Menschen eine Einheit machen können; von den andern wissen wir grade wenig genug, um aus ihnen kohärente Bilder zu formen.

Der Erscheinung nach hierzu irgendwie gegensätzlich, im Tiefsten aber doch damit zusammenhängend, bietet sich eine andre Differenz der historischen Betrachtung unser selbst und der andern dar.

Die Kontinuität, mit der wir unser Dasein erleben, das lange Sich-Vorbereiten, weite Hinwirken, langsame Abklingen unsrer Lebensinhalte, die Erfülltheit der kontinuierlichen Zeit mit bewussten und gefühlten Momenten - dies gibt dem eignen Leben im Rückblick ein Gleiten und Fliessen, durch das seinem Bilde das eigentliche Relief vorenthalten wird.

In dem Bilde einer Person, wie sie im historischen Bewusstsein existiert, treten die wesentlichen oder überhaupt beachteten Momente scharf beleuchtet hervor, gewissermassen isoliert gegen das Unwesentliche oder das zufällig damit Verbundne, gegen all das Vor- und Nachklingen der Erlebnisse, das für die eigne Überschau das Für-sich-Stehen, das charakteristische Aufragen der Höhepunkte abflacht und in eine Allmählichkeit überführt.

Die Kontinuität des Erlebens, sozusagen nur durch den Schlaf unterbrochen, die psychologische und sachliche Vermitteltheit jedes aktuellen Inhaltes durch andre Inhalte, die dem Fluss der Zeit folgend zu ihm hin und von ihm wegführen, gibt dem Blick auf das eigne Leben und dem Gefühl für seine Totalität etwas Absatzloses, ein Ineinander-Übergehen seiner Valeurs, das für den historischen Aufbau gar nicht zu brauchen ist.

In diesem muss der Parallelismus der inhaltlichen Entwicklung unsres Lebens mit der Form der Zeit, wie er im subjektiven Bewusstsein gegeben ist, durchbrochen werden, die historische Persönlichkeit lebt als solche, durch die Isolierung der Wichtigkeits- und Höhepunkte ihres Daseins, in einer besonders konstruierten, diskontinuierlichen Zeit.

2.

Die Frage der Stetigkeit oder des ruckweisen Charakters in aller Kulturentwicklung ist nicht objektiv zu entscheiden.

Was wir feststellen können, ist niemals ein wirkliches Gleiten, sondern immer nur einzelne Punkte, die dadurch eine Reihe bilden, dass der betrachtende Geist sich mit kontinuierlichem Bewusstsein vom einen zum andern bewegt.

Andrerseits ist nicht zu leugnen, dass die Forschung keinen Abstand zwischen zwei Tatsachen derselben Reihe als den kleinsten ansehen darf, dass ihr Weg in der Verringerung dieser Abstände verläuft, dass man für jede geistige Tat eine immer grössere Anzahl zeitlich voranliegender Bedingungen und in den Geist des Urhebers übergegangener Elemente entdecken kann, die das Originale seiner Tat immer enger an das Bestehende anschliessen.

Allein wie minim dieses Originale auch sei - obgleich der Massstab, an dem es minim erscheint, sehr willkürlich ist - dies wenigstens ist ein Sprung, setzt sich ohne Kontinuität an das Frühere und Gegebne an, selbst wenn es nur in einer Synthesis eben dieses bestehen sollte.

Ob man nun die Kontinuität oder die Diskontinuität betont, ist Sache der freien oder zweckmässigen Wahl, man kann die Geschichte mit demselben Recht auf die Verwandtschaft wie auf die Besonderheit ihrer Erscheinungen hin ansehen.

Wem es wesentlich auf die Sachgehalte der Kultur ankommt, der wird die Entwicklung eher als eine kontinuierliche ansehen, als wer die Träger derselben im Auge hat, da die Individualität ein fester umschriebenes, weniger in seine Komponenten auflösbares Bild gibt.

Andrerseits kann man grade in der Persönlichkeit eine Kontinuität sehn, die die Sachen nie erreichen können.

Denn es ist doch jene, in der die Antezedentien einer Erfindung, einer Tat sich zusammenfinden, um das Neue aus sich hervorwachsen zu lassen, das dann, als fertiges, eine singuläre, von sich aus mit nichts anderem verbundne Tatsache darstellt.

Die Persönlichkeiten untereinander sind zwar diskontinuierlicher als die Sachen, weil diese in eine logische Reihe geordnet werden können, der sich die Seelen entziehen, in denen tausend Elemente ausser den logisch erreichbaren spielen und je eine, als ganzes unvergleichliche Erscheinung ergeben; aber die einzelne Persönlichkeit ist etwas Kontinuierliches und vermittelt dadurch die historisch vorliegenden Antezedentien mit dem Neuen, das auf jene hin von ihr geschaffen ist.

Auch hier aber wird die Frage, ob Kontinuität oder Diskontinuität, nicht eine objektiv zu entscheidende Alternative sein, sondern je nachdem man innerhalb der Persönlichkeit den Prozess, der den Sachgehalt produziert, oder diesen selbst in seiner logisch-sachlichen Bedeutung ins Auge fasst, wird man die Entwicklung unter jenen oder unter diesen Begriff einstellen.

3.

Was wir Überlieferung nennen, erscheint als das Gegenstück der eigentlich sozialen Wechselwirkung.

Denn während in die Wechselwirkung die gleichzeitig existierenden Individuen eingesponnen sind, und die Aktion oder Qualifizierung des einen durch den andern und des andern durch den einen bestimmt ist, wie von zwei gegen einander schweren Materienmassen die Bewegung der einen durch die der andern wechselseitig veranlasst wird - zeigt die Überlieferung innerhalb der Gesellschaft grade das Gegenteil.

Denn für diese ist das Bezeichnende, dass derjenige, auf den die Wirkung erfolgt, nicht wieder auf den zurückwirkt, von dem sie ausgeht.

Die Überlieferung geht nach einer Richtung fort, während die Wechselwirkung hin und hergeht.

Die Gesamtheit des tatsächlichen gesellschaftlichen Lebens aber ist nun eine Verwebung dieser beiden Bewegungsrichtungen, welche in ihr stattfinden.

Es wird die Wirksamkeit, welche von dem einen auf den andern und von dem andern auf den einen erfolgt, welche also die Individuen in ihrem Nebeneinandersein verwebt - fortwährend gekreuzt durch das, was man als Überlieferung bezeichnet, wo also ein bestimmter Inhalt von einem Individuum auf ein andres übertragen wird, ohne dass dieses Individuum, auf das es übertragen wird, wieder auf jenes zurückwirkt.

Dies macht die Gesellschaft zu einem, seinem inneren Wesen nach, historischen Gebilde, d. h. sie ist nicht nur ein Gegenstand der Geschichte, sondern die Vergangenheit hat in ihr noch wirksame Realität, in der Form der gesellschaftlichen Überlieferung wird das Geschehene zum Bestimmungsgrunde des Gegenwärtigen.

Hier ist eine einreihige Wirkung und dort eine Wechselwirkung, und aus diesen beiden setzt sich tatsächlich das gesellschaftliche Leben zusammen.

Dass die Überlieferung keine Wechselwirkung bedeutet, das wird, ausser von der Form des Zeitablaufs, im wesentlichen davon getragen, dass man in der Wechselwirkung überhaupt nicht nur den rein persönlichen Einfluss des einen auf den andern zu konstatieren hat, dass dies gar nicht das Wesen der Überlieferung erschöpft; sondern dieses Wesen ist: dass ein objektiv-geistig bestehender Inhalt durch die Reihe der Individuen tradiert wird.

Es gibt einer dem andern sozusagen nicht sich selbst, wie es in jeder Wechselwirkung der Fall ist, sondern er gibt einen Inhalt, der sich schon von der Persönlichkeit in irgend einer Art losgelöst hat.

Und weil dies der Fall ist, wird hier auch keine rückwirkende Aktion des Empfangenden vorausgesetzt; sondern die Tradition ist die merkwürdige und eigentlich die ganze Kultur und Geistigkeit des Menschengeschlechts schaffende Tatsache, dass sich ein Inhalt des Denkens, des Tuns, des Schaffens, auch des Fühlens, seinem ursprünglichen Träger gegenüber verselbständigt hat und von ihm weitergegeben werden kann, sozusagen wie ein körperlicher Gegenstand.

Diese Lösung des Geistesproduktes von seinem Schöpfer - auch wenn es rein geistig ist, wenn es nur in Lehren, in religiösen Ideen, in der Möglichkeit von Gefühlsexpansionen oder Gefühlsausdrücken besteht - ist die eigentliche Bedingung für das Aufsteigen aller Kultur.

Denn vor allen Dingen bewirkt sie die Möglichkeit einer Summierung der Erwerbungen der Menschheit, bewirkt, wie man es ausgedrückt hat, dass der Mensch nicht nur Nachkomme, sondern auch Erbe ist.

Die Überlieferung ist sozusagen der Träger des Geistig-Substantiellen in der Gesellschaft, während die Wechselwirkung zunächst das Funktionelle bedeutet - aber die Verwebung von beiden findet so merkwürdig statt, dass die funktionellen Wechselwirkungen zwischen Menschen substantielle Ergebnisse schaffen, welche nun ihrerseits tradiert werden.

Diese Einreihigkeit in der Vereinheitlichung, diese Ausschaltung des zuerst wirksamen Subjekts aus dem weiteren Verlauf, weil dieses Subjekt keine Rückwirkung empfängt, - dies entspricht der Vererbung.

Die Vererbung ist die physiologische bzw. wirtschaftliche Form dessen, was man im Geistigen als Tradition bezeichnet.

Die Vererbung und die Tradition schaffen aus den nach einander auftretenden Generationen eine Gruppe und ein Menschengeschlecht, gerade wie die gesellschaftliche Wechselwirkung zwischen den neben einander lebenden Individuen das Band spinnt, durch welches sie zur Gesellschaft werden.

Vererbung und Tradition bewirken die Vereinheitlichung nach der Längendimension, die Wechselwirkung bewirkt sie nach der Breitendimension.

Und man wird wohl die wesentlichsten geschichtlichen Formen des Lebens der Gesellschaft beschreiben können nach den verschiedenen Massen, in denen Vererbung und Tradition auf der einen Seite sich mit der nach der Breite gehenden Wechselwirkung auf der andern Seite verweben.

Eine eigentümliche Art dieser Synthese stellt z. B. die Erziehung dar.

Die Erziehung des jüngeren Geschlechts durch das ältere ist zwar auf den ersten Blick wesentlich Tradition.

Sie bedeutet, dass Resultate, welche entweder in Normen, in Lebensregeln, in Prinzipien fixiert sind, oder welche in der rein persönlichen Erfahrung, Bestimmtheit und Überzeugtheit der Einzelnen bestehen, dem nächsten Geschlecht übergeben werden.

Insofern ist Erziehung im wesentlichen Tradition.

Allein es ist nicht zu leugnen, dass die Erziehung doch auch auf die Erzieher zurückwirkt.

Die Art, wie der tradierte Erziehungsstoff oder -form von der jüngeren Generation aufgenommen wird, modifiziert das Verhalten der älteren Generation; und zwar kann man wahrscheinlich den ganzen Fortschritt in der Geschichte der Erziehung danach bemessen, wie stark die Rückwirkung ist, welche seitens des Erzogenen auf den Erzieher stattfindet.

Je schematischer, je konservativer, je eingeschränkter die Erziehung ist, desto mehr wird in ihr das bloss nach vorwärts gehende Element, die blosse Tradition wirksam werden, das blosse Formen des Späteren durch den Früheren.

Mit der steigenden Verfeinerung, Individualisierung und Kultivierung wird der Erziehende selbst wieder erzogen; d. h. er wehrt sich nicht gegen die Einfügung in den Prozess der Wechselwirkung mit dem Schüler, er passt sich der jeweiligen Aufgabe an, wie sie durch die typische und die individuelle Art des Schülers gestellt ist - was früher vollkommen gegen die »Autorität« gewesen wäre, die sozusagen die Substanz der Erziehung war, jetzt aber nur noch ihre Technik sein sollte.

Von der andern Seite her ausgedrückt, ist der Fortschritt der, dass der Erziehende selbst ein bestimmt qualifizierter Mensch, nicht nur der Überlieferer eines bestimmten intellektuellen oder moralischen Stoffes ist.

Die Rückwirkung, die der Erziehende vom Erzogenen empfindet, bestimmt die Art der weiteren Erziehung, so dass ein dauerndes Hin- und Widerspiel entsteht - was die frühere Erziehung gleichfalls als einen Verrat an der Autorität empfunden hätte.

Die Evolution der Erziehung vollzieht sich grossenteils mit dieser Stärkung der Wechselwirkung, mit dieser Beimischung des Elementes der Breitendimension zu dem der Längendimension, in der die Erziehung ursprünglich stattfindet.

4.

Für die naturhafte Betrachtung gibt es einerseits in der Welt nichts Neues, sondern nur ein ewiges Beharren der Stoffe und der Energien, ein Verstehen des Späteren aus der Äquivalenz mit dem Früheren, alle Begreiflichkeit drückt sich in Gleichungen aus.

Andrerseits gibt es nur Neues, keine Form gleicht der andern völlig, die Erkenntnis geht auf immer genauere Feststellung von Unterschieden, der Weltprozess ist die Kontinuität von Formänderungen.

Diese Polarität, dieses eigentlich fremde Nebeneinander der naturhaften Standpunkte geht für die historische Betrachtung einheitlicher zusammen.

Das historische Gebilde ist das schlechthin Einzige, das nun doch, als Historisches, aus der Vergangenheit hergeleitet werden muss, in dem also nur eine Umformung der äquivalent gebliebenen Elemente der Vergangenheit vorliegt.

Die historische Betrachtung bringt das Sich-Erhalten und das Sich-Neuformen des Daseins zu einer andern, engeren Synthese als die naturhafte.

Nun gibt es aber auch eine Art von Äquivalenz der historischen Elemente, die sich von der natürlichen völlig unterscheidet: die Tradierung geistiger Elemente von einem Individuum auf ein andres.

Hier allein geht der Sinn des Vorgangs auf eine wirkliche Identität der früheren mit der späteren Erscheinung, während selbst in der Umsetzung physikalischer Energie nur eine rechnerische Gleichheit der Energiequanten inhaltlich ganz verschiedner Erscheinungen vorliegt.

Andrerseits ist aber der spätere Prozess von dem Individuum in dynamisch völlig eigner Produktivität und aus dem Einheitspunkte des Ich heraus vollzogen.

Die Identität des Inhalts und die Spontaneität seiner funktionellen Erzeugungen setzen sich hier mit einer solchen Entschiedenheit von einander ab und wirken dennoch in dem Akt zu einer solchen Einheit zusammen, zu der der physische Akt gar keine Analogie besitzt.


 

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