Georg Simmel: Über das Wesen der Sozialpsychologie
ex: Archiv
für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, hrsg. von Edgar Jaffé, Werner
Sombart und Max Weber, 26. Jg., 2. Heft, ausgegeben am 25. März 1908, S.
285-291 (Tübingen)
Der Psychologie des Individuums hat man
die der »Gesellschaft« (der Massen, der Gruppen, der Nationalitäten,
der Zeiten) als ein dem Wesen und dem Träger nach heterogenes Gebilde
gegenübergestellt; wodurch sie aber gerade zu einem gleichwertigen
Gegenstück jener werden sollte.
Wenn ich diese Meinung nun für irrtümlich
halte, so genügt - bei der Bedeutung der Psychologie als Mittel und
Material der sozialwissenschaftlichen Forschung - als Beweis dafür nicht,
dass seelische Prozesse nur im Individuum und nirgends anders stattfinden.
Statt dieser unfruchtbar negativen
Kritik muss vielmehr klar werden, wieso es trotz der augenscheinlichen
Beschränkung des Seelenlebens auf individuelle Träger zu jenem Begriff
der Sozialpsychologie kommen konnte. -
Die Entwicklung der Sprache wie des
Staates, des Rechtes wie der Religion, der Sitten wie der allgemeinen
Geistesformen überhaupt weist weit über jede Einzelseele hinaus; an
solchen seelischen Inhalten können die Einzelnen wohl teilhaben, ohne
dass aber das wechselnde Maß dieses Teilhabens den Sinn oder die
Notwendigkeit jener Gebilde alterierte.
Weil sie nun aber doch in ihrer Ganzheit
einen Produzenten und Träger haben müssen, der kein Einzelner sein kann,
so scheint nur übrig zu bleiben, dass die Gesellschaft, die Einheit aus
und über den Einzelnen, dies Subjekt ist.
Hier könnte die soziale Psychologie
meinen, ihr spezifisches Gebiet zu haben: Produkte von unbestrittener
Seelenhaftigkeit, in der Gesellschaft existierend und doch nicht von
Individuen als solchen abhängig; sodass, wenn sie nicht vom Himmel
gefallen sind, nur die Gesellschaft, das seelische Subjekt jenseits der
Individuen, als ihr Schöpfer und Träger anzusehen ist.
Dies ist der Gesichtspunkt, von dem aus
man von einer Volksseele, einem Bewusstsein der Gesellschaft, einem Geist
der Zeiten als von realen, produktiven Mächten gesprochen hat.
Diesen Mystizismus, der seelische Vorgänge
außerhalb von Seelen, die immer einzelne sind, stellen will, beheben wir,
indem wir die konkreten geistigen Vorgänge, in denen Recht und Sitte,
Sprache und Kultur, Religion und Lebensformen entstehen und wirklich sind,
von den ideellen, für sich gedachten Inhalten derselben unterscheiden.
Von dem Wortschatz und den
Verbindungsformen der Sprache, wie sie in Wörterbuch und Grammatik
vorliegen, von den rechtlichen, im Gesetzbuch niedergelegten Normen, von
dem dogmatischen Gehalt der Religion, kann man sagen, dass sie gelten -
wenn auch nicht in dem überhistorischen Sinn, in dem Naturgesetze und die
Normen der Logik »gelten« -, dass sie eine innere Dignität, unabhängig
von den einzelnen Fällen ihrer Anwendung durch Individuen, besitzen.
Aber diese Gültigkeit ihres Inhalts ist
keine seelische Existenz, die eines empirischen Trägers bedürfte, so
wenig, den eben angedeuteten Unterschied vorbehalten, der Pythagoreische
Lehrsatz eines solchen bedarf.
Gewiss ist auch dieser geistigen Wesens
und in dem physisch bestehenden Dreieck liegt er nicht, denn er spricht
ein Verhältnis seiner Seiten aus, das wir an keiner derselben in ihrer
Existenz für sich finden.
Andrerseits ist diese Unkörperlichkeit
des Pythagoreischen Satzes aber auch nicht gleich seinem Gedachtwerden
durch einzelne Seelen; denn er bleibt gültig, völlig unabhängig davon,
ob er überhaupt von solchen vorgestellt wird oder nicht, wie die Sprache,
die Rechtsnormen, die sittlichen Imperative, die Kulturformen ihrem
Inhalte und Sinne nach bestehen, unabhängig von der Vollständigkeit oder
Unvollständigkeit, Häufigkeit oder Seltenheit, mit der sie in den
empirischen Bewußtseinen erscheinen.
Hier liegt eine besondere Kategorie vor,
die sich zwar nur historisch verwirklicht, aber in derjenigen Totalität
und Geschlossenheit ihrer Inhalte, in der sie einen überindividuellen Schöpfer
und Bewahrer zu fordern scheint, nicht historisch, sondern nur ideell
bestehend - während die psychologische Realität immer nur Bruchstücke
davon schafft und weiterträgt oder jene Inhalte als bloße Begriffe
vorstellt.
Der empirische Ursprung der einzelnen
Sprachteile und -formen, sowie ihre praktische Verwendung in jedem
einzelnen Falle; die Wirksamkeit des Rechtes als psychologischen Elementes
im Kaufmann, im Verbrecher, im Richter; Maß und Art, wie die
Kulturinhalte von einem Individuum dem andern überliefert und in jedem
weitergebildet werden - das sind durchaus Probleme der individuellen
Psychologie, die ihnen freilich nur sehr unvollständig gewachsen ist.
Aber in jener Gelöstheit von den
individuellen Realisierungsprozessen sind Sprache, Recht, allgemeine
Kulturgebilde usw. nicht etwa Produkte des Subjektes: Gesellschaftsseele,
weil die Alternative: wenn das Geistige nicht individuellen Geistern
einwohnt, so müsse es eben einem sozialen Geiste einwohnen - brüchig
ist.
Es gibt vielmehr ein Drittes: den
objektiv geistigen Inhalt, der nichts Psychologisches mehr ist, so wenig
wie der logische Sinn eines Urteils etwas Psychologisches ist, obgleich er
nur innerhalb und vermöge der seelischen Dynamik eine Bewusstseinsrealität
erlangen kann.
Nun aber lässt der absehbar nicht zu
behebende Mangel an Einsicht in jenes seelische Schaffen und Nachschaffen
diese individualpsychischen Aktionen zu einer undifferenzierten Masse
zusammenrinnen, zu der Einheit eines seelischen Subjekts, das sich verführerisch
nahe zum Träger jener, in ihrem Ursprung so dunkeln Gebilde darbietet.
In Wirklichkeit ist ihr Ursprung
individualpsychologisch, aber kein einheitlicher; umgekehrt, soweit sie
als Einheit betrachtet werden, haben sie überhaupt keinen Ursprung,
sondern sind ein ideeller Inhalt, wie der Pythagoreische Lehrsatz seinem
Inhalte nach keinen Ursprung hat.
Darum ist gegenüber ihnen als
Einheiten, in Abstraktion von ihrer zufälligen und teilweisen
Wirklichkeit in Einzelseelen, die Frage nach einem psychischen Träger überhaupt
falsch gestellt, und gilt nur wieder, wenn sie nachträglich zu Begriffen
in Einzelgeistern werden, wie jetzt, wenn wir von ihnen sprechen.
Das Motiv nun, das eine besondere
soziale Seelenhaftigkeit jenseits der individuellen aufzudrängen scheint,
wirkt nicht nur, wo sich objektiv geistige Gebilde als ein idealer
Gemeinbesitz bieten, sondern auch, wo eine unmittelbare, sinnliche Aktion
einer Masse die Verhaltungsweisen der Einzelnen in sich einzieht und zu
einer spezifischen, in diese Einzelakte nicht zerlegbaren Erscheinung
formt.
Dies Motiv ist, dass - nicht sowohl das
Handeln als - das Resultat des Handelns als ein einheitliches auftritt.
Wenn eine Menschenmenge ein Haus zerstört,
ein Urteil fällt, in ein Geschrei ausbricht - so summieren sich die
Aktionen der einzelnen Subjekte in ein Geschehnis, das wir als eines, als
die Verwirklichung eines Begriffes bezeichnen.
Und hier nun tritt die große
Verwechslung ein: das einheitliche äußere Ergebnis vieler subjektiver
Seelenvorgänge wird als das Ergebnis eines einheitlichen Seelenvorganges
gedeutet - nämlich eines Vorganges in der Kollektivseele.
Die Einheitlichkeit der resultierenden
Erscheinung spiegelt sich in der vorausgesetzten Einheit ihrer psychischen
Ursache! Das Trügerische dieses Schlusses aber, auf dem die ganze
Kollektivpsychologie in ihrem generellen Unterschied gegen die
Individualpsychologie beruht, liegt auf der Hand: die Einheit der
Kollektivhandlungen, die nur auf der Seite des sichtbaren Ergebnisses
liegt, wird daraufhin für die Seite der inneren Ursache, des subjektiven
Trägers, erschlichen.
Aber ein letztes Motiv scheint doch noch
eine soziale Psychologie als Gegenstück der individuellen unentbehrlich
zu machen: die qualitative Unterschiedenheit in den Gefühlen, Handlungen,
Vorstellungen der in einer Masse befindlichen Individuen von den
seelischen Vorgängen, die sich nicht innerhalb einer Menge, sondern im
individuellen Fürsichsein abspielen.
Unzählige Male kommt eine Kommission zu
andern Beschlüssen, als sie jedes Mitglied für sich gefasst haben würde,
wird der Einzelne, von einer Menge umgeben, zu Handlungen mitgerissen, die
ihm sonst ganz fern gelegen hätten, lässt sich eine Masse Behandlungen
und Zumutungen bieten, die sich kein Einzelner aus ihr gefallen ließe,
wenn sie gegen ihn allein gerichtet würden, entsteht die »in-corporeDummheit«
aus solchen, die, »sieht man sie einzeln, leidlich klug und verständig«
sind.
Hier scheint also aus den Einzelnen eine
neue, eigne Einheit zu entstehen, die in qualitativ von jenen
verschiedener Weise agiert und reagiert.
Genau angesehen indes handelt es sich in
solchen Fällen um die Handlungsweisen von Individuen, die dadurch
beeinflusst sind, dass das einzelne von andern umgeben ist; dadurch finden
nervöse, intellektuelle, suggestive, moralische Umstimmungen seiner
seelischen Verfassung andern Situationen gegenüber statt, in denen solche
Einflüsse nicht vorhanden sind.
Wenn diese nun, gegenseitig eingreifend,
alle Mitglieder der Gruppe in gleicher Weise innerlich modifizieren, so
wird ihre Totalaktion allerdings anders aussehen, als die Aktion jedes
Einzelnen, wenn er sich in anderer, isolierter Lage befände.
Darum aber bleibt dasjenige, was an der
Aktion psychisch ist, nicht weniger individuell-psychisch, die
Gesamthandlung nicht weniger aus rein individuellen Beiträgen
zusammengesetzt.
Wenn man hier eine qualitative Differenz
finden will, die überhaupt über den Einzelnen hinauswiese, so vergleicht
man zwei unter ganz verschiedenen Bedingungen stehende Dinge: das von
andern nicht beeinflusste mit dem von andern beeinflussten Verhalten des
Individuums - zwei Dinge, deren Verschiedenheit völlig in der Einzelseele
Platz hat, so gut wie jede andre Verschiedenheit von Stimmungen und
Handlungsweisen, und in keiner Weise zwingt, die eine Seite des
Gegensatzes in einer neuen, überindividuellen psychischen Einheit zu
lokalisieren.
Als sozialpsychologisches Problem also
bleibt legitimerweise dieses bestehen: welche Modifikation erfährt der
seelische Prozess eines Individuums, wenn er unter bestimmten
Beeinflussungen durch die gesellschaftliche Umgebung verläuft? Dies aber
ist ein Teil der allgemeinen psychologischen Aufgabe, die - was ein
identischer Satz ist - eine individualpsychologische ist.
Als Unterabteilung dieser ist die
soziale Psychologie etwa der physiologischen koordiniert, die die
Bestimmtheit der seelischen Vorgänge durch ihre Verbindung mit dem Körper,
wie jene durch ihre Verbindung mit anderen Seelen, untersucht.
Diese Tatsache der seelischen
Beeinflussung durch das Vergesellschaftet-Sein - der einzige, aber
freilich unermesslich ausgedehnte Gegenstand der Sozialpsychologie -
verleiht ein gewisses Recht auf diesen Begriff an einen Typus von Fragen,
denen an und für sich er nicht zukommt; ich bezeichne ihn, den
Hauptsachen nach, einesteils als den statistischen, andrerseits als den
ethnologischen.
Wo innerhalb einer Gruppe eine
psychische Erscheinung sich regelmäßig an einem Bruchteil des Ganzen
wiederholt, oder eine andre, etwa ein spezifischer Charakterzug, sich an
der ganzen Gruppe oder mindestens ihrer Majorität und ihrem Durchschnitt
vorfindet – pflegt man von sozialpsychologischen oder auch
soziologischen Phänomenen zu sprechen.
Dies ist indes nicht ohne weiteres
gerechtfertigt.
Wenn in einer bestimmten Epoche unter m
Todesfällen jedes Jahres sich n Selbstmörder finden, so ist dieser Satz,
so sehr er Wahrheit sein mag, doch nur durch eine Synopsis des Beschauers
möglich.
Die sozialen Zustände können zwar die
Kausalität der einzelnen Tat bestimmen oder mitbestimmen, aber sie
brauchen es nicht, diese kann vielmehr eine rein personale, innere sein.
Ebenso können die durchgehenden
seelischen Bestimmtheiten einer Gruppe - nationaler, ständischer oder
andrer Art - reine Parallelerscheinungen sein, die vielleicht auf die
Gemeinsamkeit der Abstammung zurückgehen, aber durch das soziale Leben
als solches nicht ausgewirkt sind.
Die angeführten Bezeichnungen solcher
Erscheinungen beruhen auf der Verwechslung des Nebeneinander mit dem
Miteinander.
Soziologisch wären sie nur dann, wenn
sie als ein Gegenseitigkeitsverhältnis der Subjekte - das natürlich
nicht auf beiden Seiten morphologisch gleiche Inhalte involviert -
betrachtet werden könnten, sozialpsychologisch nur, insoweit ihr
Auftreten an einem Individuum durch andre Individuen veranlasst wäre.
Aber dies braucht zunächst gar nicht
vorzuliegen; wenn etwa die fragliche Erscheinung sich nur an einem
einzigen Individuum fände, so würde man sie weder soziologisch noch
sozialpsychologisch nennen, obgleich sie vielleicht in diesem Falle die
genau gleiche Kausalität hätte, wie in dem andern, wo neben ihr in
derselben Gruppe hundert und tausende in derselben Art und Bewirktheit
auftreten.
Die bloße Multiplikation einer nur an
Individuen konstatierbaren Erscheinung macht sie doch noch nicht zu einer
soziologischen oder sozialpsychologischen! - obgleich diese Vertauschung
einer numerisch vielfachen Gleichheit mit einer dynamisch-funktionellen
Verwehung eine dauernd wirksame Vorstellungsweise ist.
Einen analogen Typus kann man den
ethnologischen nennen: wenn die Unfähigkeit, die individuellen
Geschehensreihen in ihrer Einzelheit zu erkennen oder der Mangel an
Interesse für diese Einzelheit nur einen Durchschnitt, eine ganz
generelle Bestimmtheit der psychischen Verfassungen oder Vorgänge in
einer Gruppe nachzeichnen lässt.
Dies liegt auch vor, wenn man z. B.
wissen will, wie sich in der Schlacht bei Marathon »die Griechen«
benommen haben.
Hier wird freilich nicht beabsichtigt -
selbst wenn es erreichbar wäre - den seelischen Prozess in jedem
einzelnen der griechischen Kämpfer psychologisch darzulegen.
Sondern ein ganz besonderes
Begriffsgebilde wird geschaffen: der durchschnittliche Grieche, der Typus
des Griechen, »der Grieche« schlechthin - ersichtlich eine ideelle
Konstruktion, von den Bedürfnissen des Erkennens her erwachsen und ohne
Anspruch, an irgend einem der konkreten griechischen Individuen ein genau
deckendes Gegenbild zu finden.
Dennoch ist der eigentliche Sinn dieser
Begriffskategorie kein sozialer, denn ihre Pointe liegt in keiner
Wechselwirkung, keiner praktischen Verwebung und funktionellen Einheit der
Vielen; sondern wirklich »der Grieche«, wenn auch nicht in singulärer
Benennbarkeit, soll damit beschrieben werden, die Stimmung und
Handlungsweise der bloßen Summe der Kämpfer, projiziert auf eine ideale
Durchschnittserscheinung, die so sehr ein Individuum ist, wie der
Allgemeinbegriff der in Rede stehenden Griechen, dessen Verkörperung
dieser typische »Grieche« ist, eben nur einer ist.
Was in all diesen Fällen, wo es sich um
eine Summe von Individuen als solchen handelt, wo die gesellschaftlichen
Tatsachen nur als Momente in der Bestimmung dieses Individuums, nicht
anders als physiologische oder religiöse, wichtig werden - was in diesen
dennoch als sozialpsychologisch gelten darf, ruht auf dem Schluss: dass
die Gleichmäßigkeit vieler Individuen, durch die sie einen Typus, einen
Durchschnitt, ein irgendwie einheitliches Bild zu gewinnen erlauben, nicht
ohne gegenseitige Beeinflussung zustande kommen kann.
Der Gegenstand der Untersuchung bleibt
immer das psychologische Individuum, die Gruppe als ganze kann auch für
diese Betrachtungskategorien keine »Seele« haben.
Aber die Homogenität vieler Individuen,
wie diese Kategorien sie voraussetzen, entsteht in der Regel nur durch
deren Wechselwirkungen, mit ihrem Erfolge der Anähnlichung, der
identischen Beeinflussung, der einheitlichen Zwecksetzungen, gehört also
der Sozialpsychologie an - die sich auch hier nicht als ein
nebengeordnetes Pendant der individuellen Psychologie, sondern als ein
Teilgebiet eben dieser offenbart. |