Georg Simmel: Die Überstimmung
Eine soziologische Studie
ex: Vossische Zeitung.
Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten
Sachen, No.91, Morgenausgabe vom 23.Februar 1907, Feuilleton-Teil
(Berlin)
Das Wesen der
Gesellschaftsbildung, aus dem die Unvergleichlichkeit ihrer Erfolge wie
die Ungelöstheit ihrer inneren Probleme gleichmäßig hervorgeht, ist
dies: dass aus in sich geschlossenen Einheiten - wie die menschlichen Persönlichkeiten
es mehr oder weniger sind - eine neue Einheit werde.
Man kann doch sonst nicht
ein Haus aus Häusern bauen, es entsteht doch kein Baum aus Bäumen; das
Ganze und Selbständige erwächst nicht aus Ganzheiten, sondern aus
unselbständigen Teilen.
Ganz allein die
Gesellschaft macht das Ganze und in sich Zentrierende zum bloßen Gliede
eines übergreifenden Ganzen.
All die ruhelose Evolution
der gesellschaftlichen Formen im großen wie im kleinen ist im letzten
Grunde nur der immer erneute Versuch, die nach innen hin orientierte
Einheit und Totalität des Individuums mit seiner sozialen Rolle als eines
Teiles und Beitrages zu versöhnen, die Einheit und Totalität der
Gesellschaft vor der Sprengung durch die Selbständigkeit ihrer Teile zu
retten.
Indem nun jeder Konflikt
zwischen den Gliedern einer Gesamtheit deren Weiterbestand zweifelhaft
macht, ist es der Sinn der Abstimmung, in deren Resultat auch die Minorität
sich zu fügen einwilligt, dass die Einheit des Ganzen über den
Antagonismus der Überzeugungen und Interessen unter allen Umständen Herr
bleiben soll.
Sie ist, in all ihrer
scheinbaren Einfachheit, eines der genialsten unter den Mitteln, den
Widerstreit der Individuen in ein schließlich einheitliches Resultat münden
zu lassen.
Aber diese Form, auch den
Dissentierenden einzuschließen, mit der jeder, an der Abstimmung
teilnehmend, ihr Resultat praktisch akzeptiert, es sei denn, dass er auf
dies Resultat hin überhaupt aus dem Kreise austritt - diese Form ist
keineswegs immer so selbstverständlich gewesen, wie sie uns heute
vorkommt.
Teils eine geistige
Ungelenkheit, die die Herstellung einer sozialen Einheit aus
dissentierenden Elementen nicht begreift, teils ein starkes Individualgefühl,
das sich keinem Beschluss ohne volle eigene Zustimmung fügen mag, haben
in vielerlei Gemeinschaften das Majoritätsprinzip nicht zugelassen,
sondern für jeden Beschluss Einstimmigkeit gefordert.
Die Entscheidungen der
deutschen Markgenossenschaft mussten einstimmig sein; was keine
Einstimmigkeit erreichen konnte, unterblieb.
Bis tief in das Mittelalter
hinein hat der englische Edle, der bei der Bewilligung einer Steuer
dissentiert hatte oder nicht anwesend war, sich oft geweigert, sie zu
bezahlen.
Wo für die Erwählung
eines Königs oder Führers Einstimmigkeit gefordert wird, ist jenes
Individualitätsgefühl wirksam; von dem, der den Herrn nicht selbst gewählt
hat, wird auch nicht erwartet oder verlangt, dass er ihm gehorche.
Im Stammesrat der Irokesen,
wie im polnischen Reichstag war kein Beschluss gültig, bei dem auch nur
eine Stimme dissentiert hatte.
Dennoch hat das Motiv: dass
es widerspruchsvoll wäre, eine Gesamtheitsaktion mitzumachen, der man als
Individuum widerspricht - solche Forderung von Einstimmigkeit noch nicht
zur logischen Folge, denn wenn ein Vorschlag bei nicht völliger
Stimmeneinheit als zurückgewiesen gilt, so ist damit zwar die
Vergewaltigung der Minorität verhindert, aber nun ist umgekehrt die
Majorität durch diese vergewaltigt.
Auch das Unterlassen einer
von einer Majorität gebilligten Maßregel pflegt etwas durchaus
Positives, von fühlbaren Folgen Begleitetes zu sein, und eben dies wird
der Gesamtheit, vermöge des Prinzips notwendiger Einstimmigkeit, durch
die Minorität oktroyiert.
Abgesehen von dieser
Majorisierung der Majorität, mit der das Einstimmigkeitsprinzip die
erstrebte individuelle Freiheit prinzipiell negiert, ist es grade im
Historisch-Praktischen oft genug in denselben Erfolg ausgelaufen.
Für die spanischen Könige
gab es gar keine günstigere Situation für die Unterdrückung der
aragonesischen Cortes als eben diese »Freiheit«: bis 1592 konnten die
Cortes keinen Beschluss fassen, wenn auch nur ein Mitglied der vier Stände
widersprach - eine Lähmung ihrer Aktionen, die deren Ersatz durch eine
weniger behinderte Instanz direkt forderte.
Wo nun das Fallenlassen
eines Antrages, der Verzicht auf ein praktisches Resultat nicht möglich
ist, sondern das letztere unter allen Umständen gewonnen werden muss, wie
bei dem Verdikt einer Jury, da ruht die Forderung ihrer Einstimmigkeit,
der wir z. B. in England und Amerika begegnen, auf der mehr oder weniger
unbewusst wirkenden Voraussetzung, dass die objektive Wahrheit auch immer
subjektiv überzeugend sein müsse, und dass umgekehrt die Gleichheit der
subjektiven Überzeugungen das Kennzeichen des objektiven
Wahrheitsgehaltes sei.
Ein bloßer Majoritätsbeschluss
enthalte also wahrscheinlich noch nicht die volle Wahrheit, da es ihm
sonst gelungen sein müsste, die Gesamtheit der Stimmen auf sich zu
vereinigen.
Der, trotz seiner
scheinbaren Klarheit, im Grunde mystische Glaube an die Macht der
Wahrheit, an das schliessliche Zusammenfallen des Logisch-Richtigen mit
dem Psychologisch-Wirklichen vermittelt hier also die Lösung jenes
prinzipiellen Konfliktes zwischen den individuellen Überzeugungen und der
Forderung an sie, ein einheitliches Gesamtresultat zu ergeben.
In seinen praktischen
Folgen biegt dieser Glaube nicht weniger als jene individualistische Begründung
der Stimmeneinheit seine eigne Grundtendenz um: wo die Jury eingesperrt
bleibt, bis sie zu einem einstimmigen Verdikt gelangt ist, liegt für eine
etwaige Minorität die Versuchung fast unüberwindlich nahe, entgegen
ihrer Überzeugung, die sie nicht durchzusetzen hoffen kann, sich der
Majorität anzuschließen, um damit das sinnlose und eventuell
unaushaltbare Verlängern der Sitzung zu vermeiden.
Wo umgekehrt Majoritätsbeschlüsse
gelten, kann die Unterordnung der Minorität auf zwei Motive hin
geschehen, deren Unterscheidung von äußerster soziologischer Bedeutung
ist.
Die Vergewaltigung der
Minorität kann nämlich, erstens, von der Tatsache ausgehen, dass die
vielen mächtiger sind als die wenigen.
Obgleich, oder vielmehr,
weil die einzelnen bei einer Abstimmung als einander gleich gelten, würde
die Majorität - mag sie sich durch Urabstimmung oder durch das Medium
einer Vertreterschaft als solche herausstellen - die physische Macht
haben, die Minorität zu zwingen.
Die Abstimmung dient dem
Zwecke, es zu jenem unmittelbaren Messen der Kräfte nicht kommen zu
lassen, sondern dessen eventuelles Resultat durch die Stimmzählung zu
ermitteln, damit sich die Minorität von der Zwecklosigkeit eines realen
Widerstandes überzeuge.
Es stehen sich also in der
Gruppe zwei Parteien wie zwei Gruppen gegenüber, zwischen denen die
Machtverhältnisse, repräsentiert durch die Abstimmung, entscheiden.
Die letztere tut hier die
gleichen methodischen Dienste wie diplomatische oder sonstige
Verhandlungen zwischen Parteien, die die ultima ratio des Kampfes
vermeiden wollen.
Schließlich gibt auch
hier, Ausnahmen vorbehalten, jeder einzelne nur nach, wenn der Gegner ihm
klar machen kann, dass der Ernstfall für ihn eine mindestens ebenso große
Einbuße bringen würde.
Die Abstimmung ist, wie
jene Verhandlungen, eine Projizierung der realen Kräfte und ihrer Abwägung
auf die Ebene der Geistigkeit, eine Antizipation des Ausgangs des
konkreten Kämpfens und Zwingens in einem abstrakten Symbole.
Immerhin vertritt dieses
die tatsächlichen Machtverhältnisse und den Unterordnungszwang, den sie
der Minorität antun.
Manchmal aber sublimiert
sich dieser aus der physischen in die ethische Form.
Wenn im späteren
Mittelalter oft das Prinzip begegnet: Minderheit soll der Mehrheit folgen,
so ist damit offenbar nicht nur gemeint, dass die Minderheit praktisch
mittun soll, was die Mehrheit beschließt; sondern sie soll, wenn auch
nachträglich, auch den Willen der Mehrheit annehmen, soll anerkennen,
dass diese das Rechte gewollt hat.
Die Einstimmigkeit herrscht
hier nicht als Tatsache, sondern als sittliche Forderung, die gegen den
Willen der Minorität erfolgte Aktion soll durch nachträglich
hergestellte Willenseinheit legitimiert werden.
Die altgermanische
Realforderung der Einstimmigkeit ist so zu einer Idealforderung
abgeblasst, in der freilich ein ganz neues Motiv anklingt: von einem
inneren Rechte der Majorität, das über das Übergewicht der Stimmenzahl
und über die äußere Übermacht, die durch dieses symbolisiert wird,
hinausgeht.
Die Majorität erscheint
als die natürliche Vertreterin der Gesamtheit und hat teil an jener
Bedeutung der Einheit des Ganzen, die, jenseits der bloßen Summe der
Individuen stehend, nicht ganz eines überempirischen mystischen Tones
entbehrt.
Wenn später Grotius
behauptet, die Majorität habe naturaliter jus integri, so ist damit jener
innerliche Anspruch an die Minorität fixiert; denn ein Recht muss man
nicht nur, sondern man soll es anerkennen.
Dass aber die Mehrheit das
Recht des Ganzen »von Natur«, d. h. durch innere, vernunftmäßige
Notwendigkeit habe, dies leitet die jetzt hervorgetretene Nuance des Überstimmungsrechtes
zu dessen zweitem, bedeutsamen Hauptmotiv über.
Die Stimme der Mehrheit
bedeutet jetzt nicht mehr die Stimme der größeren Macht innerhalb der
Gruppe, sondern das Zeichen dafür, dass der einheitliche Gruppenwille
sich nach dieser Seite entschieden hat.
Das Verhältnis zwischen
Majorität und Minorität erzeugt jetzt nicht mehr den Gruppenwillen,
sondern macht ihn nur kenntlich.
Die Forderung der
Einstimmigkeit ruhte durchaus auf individualistischer Basis.
Das war die ursprüngliche
soziologische Empfindung der Germanen: Die Einheit des Gemeinwesens lebte
nicht jenseits der einzelnen, sondern ganz und gar in ihnen; daher war der
Gruppenwille nicht nur nicht festgestellt, sondern er bestand überhaupt
nicht, solange noch ein einziges Mitglied dissentierte.
Aber auch wo Überstimmung
gilt, hat sie noch eine individualistische Begründung, wenn ihr Sinn ist,
dass die vielen mächtiger sind als die wenigen, und dass die Abstimmung
nur das eventuelle Ergebnis der realen Messung der Kräfte ohne diese
Messung selbst erreichen soll.
Demgegenüber ist es nun
eine prinzipiell neue Wendung, wenn eine objektive Gruppeneinheit mit
einem ihr eigenen einheitlichen Willen vorausgesetzt wird, sei es bewusst,
sei es, dass die Praxis so verläuft, als ob ein solcher für sich
seiender Gruppenwille bestünde.
Der Wille des Staates, der
Gemeinde, der Kirche, des Zweckverbandes besteht nun ebenso jenseits des
Gegensatzes der in ihm enthaltenen Individualwillen, wie er jenseits des
zeitlichen Wechsels seiner Träger besteht.
Er muss, da er nur einer
ist, in bestimmter, einheitlicher Weise agieren, und da dem die Tatsache
der antagonistischen Wollungen seiner Träger entgegensteht, so löst man
diesen Widerspruch durch die Annahme, dass die Majorität diesen Willen
besser kennt oder repräsentiert als die Minorität.
Die Unterordnung der
letzteren hat hier also einen ganz anderen Sinn als vorher, denn sie ist
prinzipiell nicht aus- sondern eingeschlossen, und die Majorität agiert
nicht im Namen ihrer eigenen größeren Macht, sondern in dem der idealen
Einheit und Gesamtheit, und nur dieser, die durch den Mund der Majorität
spricht, ordnet sich die Minorität unter, weil sie ihr von vornherein
zugehört.
Dies ist das innere Prinzip
der parlamentarischen Abstimmungen, insofern jeder Abgeordnete sich als
der Beauftragte des ganzen Volkes fühlt, im Gegensatz zu
Interessenvertretungen, für die es schließlich immer auf das
individualistische Prinzip der Kräftemessung herausläuft.
Wo dagegen der einheitliche
Gruppenwille supponiert wird, da dissentieren die Elemente der Minorität
sozusagen als bloße Individuen, nicht als Gruppenglieder.
Dies allein kann der
tiefere Sinn der Lockeschen Theorie über den Urvertrag sein, der den
Staat begründen soll.
Dieser muss, weil er das
absolute Fundament der Vereinigung bildet, durchaus einstimmig
abgeschlossen sein.
Allein er enthält nun
seinerseits die Bestimmung, dass jeder den Willen der Majorität als den
seinigen ansehen werde.
Indem das Individuum den
Sozialvertrag schließt, ist es noch absolut frei, kann also keiner Überstimmung
unterworfen werden.
Hat es ihn aber
geschlossen, so ist es nun nicht mehr freies Individuum, sondern
Gesellschaftswesen und als solches ein bloßer Teil einer Einheit, deren
Wille seinen entscheidenden Ausdruck in dem Willen der Mehrheit findet.
Es ist nur eine
entschiedenere Formulierung dafür, wenn Rousseau in der Überstimmung
deshalb keine Vergewaltigung erblickt, weil nur ein Irrtum des
Dissentierenden sie provozieren könne; er habe etwas für die volonté générale
gehalten, was sie nicht sei.
Es liegt dem eben auch die
Überzeugung zu Grunde, dass man als Gruppenelement nichts andres wollen könne
als den Willen der Gruppe, über den sich wohl der einzelne, aber nicht
die Mehrheit der einzelnen täuschen könne.
Darum trennt er sehr fein
die formale Tatsache der Stimmabgabe von deren jeweiligem Inhalt, und erklärt,
dass man schon durch jene an und für sich an der Bildung des
Gemeinwillens teilnähme.
Man verpflichtet sich
dadurch, so könnte man den Rousseauschen Gedanken explizieren, sich der
Einheit dieses Willens nicht zu entziehen, sie nicht zu zerstören, indem
man den Eigenwillen der Mehrheit entgegensetze.
So ist die Unterordnung
unter die Majorität nur die logische Konsequenz der Zugehörigkeit zu der
sozialen Einheit, die man durch die Stimmabgabe deklariert hat.
Die Praxis steht dieser
abstrakten Theorie nicht völlig fern.
Über die Föderation der
englischen Gewerkvereine sagt ihr bester Kenner, dass Majoritätsbeschlüsse
in ihnen nur in soweit berechtigt und praktisch möglich waren, als die
Interessen der einzelnen Konföderierten gleichartige wären.
Sobald aber die
Meinungsverschiedenheiten der Majorität und der Minorität aus einer
wirklichen Interessenverschiedenheit hervor gingen, so führte jeder durch
Überstimmung ausgeübte Zwang unvermeidlich zu einer Trennung der
Teilnehmer; d.h. also, dass eine Abstimmung nur dann Sinn hat, wenn die
vorhandenen Interessen zu einer Einheit zusammengehen können.
Verhindern
auseinandergehende Bestrebungen diese Zentralisierung, so wird es
widerspruchsvoll, einer Majorität die Entscheidung anzuvertrauen, da der
Einheitswille, den sie sonst freilich besser als die Minderheit zu
erkennen vermöchte, sachlich nicht vorhanden ist.
Es besteht der scheinbare
Widerspruch, der aber gerade das Verhältnis von seinem Grunde her
beleuchtet: dass gerade, wo eine überindividuelle Einheit besteht oder
vorausgesetzt wird, Überstimmung möglich ist; wo sie fehlt, bedarf es
der Einstimmigkeit, die jene prinzipielle Einheit durch die tatsächliche
Gleichheit von Fall zu Fall praktisch ersetzt.
Es ist ganz in diesem Sinn,
wenn das Stadtrecht von Leiden 1266 bestimmt, dass zur Aufnahme von Auswärtigen
in die Stadt die Genehmigung der acht Stadtschöffen erforderlich ist, für
Gerichtsurteile aber nicht Einstimmigkeit, sondern nur einfache Majorität
unter diesen verlangt wird.
Das Gesetz, nach dem die
Richter urteilen, ist ein für alle Mal einheitlich bestimmt, und es
handelt sich nur darum, das Verhältnis des einzelnen Falles zu erkennen;
was der Mehrheit voraussichtlich richtiger als der Minderheit gelingt.
Die Aufnahme eines neuen Bürgers
aber berührt all die mannigfaltigen und auseinanderliegenden Interessen
innerhalb der Bürgerschaft, so dass ihre Bewilligung nicht aus der
abstrakten Einheit derselben, sondern nur aus der Summe aller
Einzelinteressen heraus, d. h. bei Einstimmigkeit, ausgesprochen werden
kann.
Diese tiefere Begründung
der Überstimmung, nur den sozusagen ideell bereits bestehenden Willen
einer maßgebenden Einheit zu offenbaren, hebt indes praktisch die
Schwierigkeit nicht, die der Majorität als bloßem, vergewaltigendem
Machtplus anhaftete.
Denn der Konflikt darüber,
was denn nun der Willensinhalt jener abstrakten Einheit wäre, wird oft
nicht leichter zu lösen sein als der der unmittelbaren, realen
Interessen.
Die Vergewaltigung der
Minorität ist keine geringere, auch wenn sie auf diesem Umwege und unter
einem anderen Titel geschieht.
Wenigstens müsste dem
Begriff der Majorität noch eine ganz neue Dignität zugefügt werden:
denn es mag zwar plausibel sein, ist aber keineswegs von vornherein
sicher, dass die bessere Erkenntnis auf Seiten der Mehrheit ist.
Insbesondere wird dies da
zweifelhaft sein, wo die Erkenntnis und das ihr folgende Handeln auf die
Selbstverantwortlichkeit des einzelnen gestellt ist wie in den
vertiefteren Religionen.
Die ganze christliche
Religionsgeschichte hindurch lebt die Opposition des individuellen
Gewissens gegen die Beschlüsse und Aktionen der Majoritäten.
Als im zweiten Jahrhundert
die christlichen Gemeinden eines Bezirkes Versammlungen zur Beratung
religiöser und äußerer Angelegenheiten einführten, waren ausdrücklich
die Resolutionen der Versammlung für die dissentierende Minderheit nicht
verbindlich.
Allein mit diesem
Individualismus trat die Einheitsbestrebung der Kirche in einen nicht lösbaren
Konflikt.
Der römische Staat wollte
nur eine einheitliche Kirche anerkennen, sie selbst suchte sich durch
Imitation der staatlichen Einheit zu festigen - so wurden die ursprünglich
selbständigen christlichen Gemeinden zu einem Gesamtgebilde verschmolzen,
dessen Konzilien mit Stimmenmehrheit über die Glaubensinhalte
entschieden.
Dies war eine unerhörte
Vergewaltigung der Individuen oder mindestens der Gemeinden, deren Einheit
bisher nur in der Gleichheit der von jedem für sich besessenen Ideale und
Hoffnungen bestanden hatte.
Eine Unterwerfung in
Glaubenssachen mochte es aus inneren oder persönlichen Gründen geben;
dass aber die Majorität als solche die Unterwerfung forderte und jeden
Dissentierenden für einen Nichtchristen erklärte - das ließ sich nur,
wie ich andeutete, durch die Hinzunahme einer ganz neuen Bedeutung der
Majorität rechtfertigen: man musste annehmen, dass Gott immer mit der
Majorität wäre! Dieses Motiv durchzieht, als unbewusst grundlegendes Gefühl
oder irgendwie formuliert die ganze spätere Entwicklung der
Abstimmungsformen.
Dass eine Meinung nur
deshalb, weil ihre Träger ein größeres Quantum ausmachen als die einer
andern Meinung, den Sinn der überindividuellen Einheit aller treffen
sollte, ist ein ganz unerweisliches Dogma, ja, von vornherein so wenig
begründet, dass es ohne Zuhilfenahme einer mehr oder weniger mystischen
Beziehung zwischen jener Einheit und der Majorität eigentlich in der Luft
schwebt oder auf dem etwas kläglichen Fundament ruht, dass eben doch
irgendwie gehandelt werden muss, und dass, wenn man auch schon von der
Majorität nicht annehmen darf, sie wisse als solche das Richtige, doch
erst recht kein Grund vorliegt, dies von der Minorität anzunehmen.
Alle diese Schwierigkeiten,
die die Forderung der Einstimmigkeit wie die Unterordnung der Minorität
von verschiedenen Seiten her bedrohen, sind nur der Ausdruck für die
fundamentale Problematik der ganzen Situation: eine einheitliche
Willensaktion aus einer Gesamtheit zu extrahieren, die aus verschieden
gerichteten Individuen besteht.
Diese Rechnung kann nicht
glatt aufgehen, so wenig man aus schwarzen und weißen Elementen ein
Gebilde herstellen kann mit der Bedingung, dass das Gebilde als Ganzes
schwarz oder weiß sei.
Selbst in jenem günstigsten
Fall einer supponierten Gruppeneinheit jenseits der Individuen, für deren
Tendenzen die Stimmzählung nur Erkenntnismittel ist - bleibt es nicht nur
unausgemacht, dass die sachlich notwendige Entscheidung mit der aus der
Stimmzählung folgenden identisch sei; sondern, selbst angenommen, die
Elemente der Minorität dissentierten wirklich nur als Individuen, nicht
als Elemente jener Gruppeneinheit, so sind sie doch als Individuen
vorhanden, gehören doch jedenfalls der Gruppe im weiteren Sinne an und
sind nicht vor dem Ganzen schlechthin ausgelöscht.
Irgendwie ragen sie doch
auch als Individuen mit ihrem Dissens in das Ganze der Gruppe hinein.
Die Trennung des Menschen
als Sozialwesen von ihm als Individuum ist zwar eine nötige und nützliche
Fiktion, mit der aber die Wirklichkeit und ihre Forderungen keineswegs
erschöpft sind.
Es charakterisiert die
Unzulänglichkeit und das Gefühl des inneren Widerspruchs der
Abstimmungsmethoden, dass an manchen Stellen, zuletzt wohl noch im
ungarischen Reichstag bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts,
die Stimmen nicht gezählt, sondern gewogen wurden; so dass der
Vorsitzende auch die Meinung der Minorität als Ergebnis der Abstimmung
verkünden konnte! Es erscheint unsinnig, dass ein Mensch sich einer für
falsch gehaltenen Meinung unterwirft, bloß weil andre sie für richtig
halten - andre, von denen jeder einzelne, grade nach der Voraussetzung der
Abstimmung, ihm gleichberechtigt und gleichwertig ist; aber die Forderung
der Einstimmigkeit, mit der man diesem Widersinn begegnen will, hat sich
als nicht weniger widerspruchsvoll und vergewaltigend gezeigt.
Und dies ist kein zufälliges
Dilemma und bloß logische Schwierigkeit, sondern es ist nur eines der
Symptome der tiefen und tragischen Zwiespältigkeit, die jede
Gesellschaftsbildung, jede Formung einer Einheit aus Einheiten, in ihrem
Grunde durchzieht.
Das Individuum, das aus
einem inneren Fundament heraus lebt, das sein Handeln nur verantworten
kann, wenn seine eigene Überzeugung es lenkt, soll nicht nur seinen
Willen auf die Zwecke anderer einstellen - dies bleibt, als Sittlichkeit,
immer Sache des eigenen Willens und quillt aus dem Innersten der Persönlichkeit;
sondern es soll mit seinem auf sich ruhenden Sein zum Gliede einer
Gesamtheit werden, die ihr Zentrum außerhalb seiner hat.
Es handelt sich nicht um
einzelne Harmonien oder Kollisionen dieser beiden Forderungen; sondern
darum, dass wir innerlich unter zwei gegeneinander fremden Normen stehen,
dass die Bewegung um das eigene Zentrum, die etwas völlig anderes ist,
als Egoismus, ebenso etwas Definitives und der entscheidende Sinn des
Lebens zu sein verlangt, wie die Bewegung um das soziale Zentrum dieses
fordert.
In die Abstimmung über die
Aktion der Gruppe nun tritt der einzelne nicht als Individuum, sondern in
jener gliedmässigen, überindividuellen Funktion ein.
Aber der Dissens der
Stimmen verpflanzt auf diesen schlechthin sozialen Boden noch einen
Abglanz, eine sekundäre Form der Individualität und ihrer Besonderheit.
Und selbst diese
Individualität, die nichts als den Willen der überindividuellen
Gruppeneinheit zu erkennen und darzustellen verlangt, wird durch die
Tatsache der Überstimmung noch verneint.
Selbst hier muss die
Minorität, zu der zu gehören die unvermeidbare Chance eines jeden
bildet, sich unterwerfen, und zwar nicht nur in dem einfachen Sinne, in
dem auch sonst Überzeugungen und Bestrebungen von entgegengesetzten Mächten
verneint und ihre Wirkung ausgelöscht wird: sondern in dem sozusagen
raffinierteren, dass der Unterlegene, weil er in der Gruppeneinheit
befasst ist, die Aktion positiv mitmachen muss, die gegen seinen Willen
und seine Überzeugung beschlossen ist, ja, dass er durch die
Einheitlichkeit der schließlichen Entscheidung, die keine Spur seines
Dissenses enthält, als Mitträger derselben gilt.
Dadurch wird die Überstimmung,
über die einfache praktische Vergewaltigung des einen durch die vielen
hinaus, zu dem übersteigertsten Ausdruck des in der Erfahrung oft
harmonisierten, im Prinzip aber unversöhnlichen und tragischen Dualismus
zwischen dem Eigenleben des Individuums und dem des gesellschaftlichen
Ganzen.
|