Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Soziologie der Sinne

ex: Die Neue Rundschau, 18. Jg., Heft 9, September 1907, (2. Teil des Jahresbandes) S. 1025-1036 (Berlin)

Der jetzige Entwicklungsmoment der Gesellschaftswissenschaft scheint demjenigen in der Wissenschaft vom organischen Leben zu entsprechen, den der Beginn der mikroskopischen Untersuchung bezeichnete.

War die Untersuchung bis dahin auf die großen, entschieden gesonderten Körperorgane beschränkt, deren Form- und Funktionsverschiedenheiten sich ohne weiteres darboten, so zeigte sich nun erst der Lebensprozess in seiner Bindung an seine kleinsten Träger, die Zellen, und in seiner Identität mit den zahllosen und unaufhörlichen Wechselwirkungen zwischen diesen.

Wie sie sich aneinander heften oder sich zerstören, sich assimilieren oder sich chemisch beeinflussen - dies erst lässt allmählich einsehen, wie der Körper seine Form bildet, sie erhält oder ändert.

Die großen Organe, in denen diese fundamentalen Lebensträger und ihre Wechselwirkungen sich zu makroskopisch wahrnehmbaren Sondergebilden und Leistungen zusammengefunden haben: Herz und Lunge, Magen und Niere, Gehirn und Bewegungsorgane - würden den Zusammenhang des Lebens niemals begreiflich gemacht haben, wenn nicht jene unzähligen, zwischen den kleinsten Elementen sich abspielenden Vorgänge, die von den makroskopischen gleichsam erst zusammengefasst werden, sich als das eigentliche, fundamentale Leben enthüllt hätten.

In diesem Stadium nun, nur die ganz großen und offensichtlichen sozialen Gebilde in ihre Betrachtung zu ziehen und aus ihnen die Erkenntnis des gesellschaftlichen Lebens in seiner Ganzheit herstellen zu wollen, befindet sich im allgemeinen heute noch die Gesellschaftswissenschaft.

Staaten und Gewerkvereine, Priesterschaften und Familienformen, Zunft- und Fabrikwesen, Klassenbildung und industrielle Arbeitsteilung - diese und die ähnlichen großen Organe und Systeme scheinen die Gesellschaft auszumachen und den Kreis der Wissenschaft von ihr zu erfüllen.

Tatsächlich indes sind dies doch schon Gebilde höherer Ordnung, in denen oder zu denen das reale, sozusagen von Fall zu Fall sich vollziehende Leben der vergesellschafteten Menschen kristallisiert ist.

Und dieses pulsierende, die Menschen miteinander verkettende Leben zeigt außer den Verbindungsformen, welche zu jenen umfassenden Organisationen aufsteigen, noch unzählige andre, die gleichsam im fließenden, verfließenden Zustand bleiben, aber nicht weniger den Zusammenhang der Individuen zu gesellschaftlichem Dasein tragen.

Dass die Menschen sich gegenseitig anblicken und dass sie auf einander eifersüchtig sind; dass sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen; dass sie sich, ganz jenseits aller greifbaren Interessen, sympathisch oder antipatisch berühren; dass einer den andern nach dem Wege fragt und dass sie sich für einander anziehen und schmücken - all die tausend, von Person zu Person spielenden, momentanen oder dauernden, bewussten oder unbewussten, vorüberfliegenden oder folgenreichen Beziehungen, aus denen diese Beispiele ganz zufällig gewählt sind, knüpfen uns unaufhörlich zusammen.

An jedem Tage, in jeder Stunde spinnen sich solche Fäden, werden fallen gelassen, wieder aufgenommen, durch andre ersetzt, mit andern verwebt.

Hier liegen die, nur der psychologischen Mikroskopie zugängigen Wechselwirkungen zwischen den Atomen der Gesellschaft, die die ganze Zähigkeit und Elastizität, die ganze Buntheit und Einheitlichkeit dieses so deutlichen und so rätselhaften Lebens der Gesellschaft tragen.

Aus jenen großen, objektiv gewordenen Gebilden, die die herkömmlichen Gegenstände der Gesellschaftswissenschaft bilden, ließe sich das wirkliche, in der Erfahrung gegebene Leben der Gesellschaft durchaus nicht zusammensetzen, es würde in eine Anzahl verschiedener Systeme auseinanderbrechen - wie wenn ein Mensch nur aus den großen, differenzierten, unmittelbar kenntlichen Organen bestände und all die unzähligen, mannigfaltigen und komplizierten Zellprozesse fortfielen, die erst das Mikroskop enthüllt hat.

In den historischen wie in den Naturwissenschaften ist allenthalben die Bestrebung aufgekommen, an die Stelle der katastrophenhaften Umwälzungen, der umfassenden einheitlichen Kräfte, die mit einem Schlage die Ganzheit der Zustände und ihrer Wandlungen bestimmten, vielmehr die allmähliche Summierung sehr mannigfaltiger und im einzelnen kaum wahrnehmbarer Einflüsse als die Ursachen der tatsächlichen Entwicklungen zu begreifen.

Auf dem Glauben, dass das entsprechende Verfahren auch in der Soziologie die Wirklichkeit ihres Gegenstandes tiefer und genauer nachzeichnen wird, als es der bloßen Behandlung der großen, schlechthin überindividuellen Totalgebilde gelingen kann, ruht die folgende Untersuchung.

Sie will den Bedeutungen nachgehen, die die gegenseitige sinnliche Wahrnehmung und Beeinflussung für das Zusammenleben der Menschen, für ihr Miteinander, Füreinander, Gegeneinander, besitzt.

Dass wir uns überhaupt in Wechselwirkungen verweben, hängt zunächst davon ab, dass wir sinnlich aufeinander wirken.

Während man dies aber im allgemeinen als eine selbstverständliche, einheitliche Tatsache, die keiner weiteren Diskussion bedürfte, hinnahm, zeigt eine schärfere Betrachtung, dass diese, von einem zum andern laufenden Sinnesempfindungen den sozialen Beziehungen keineswegs nur als gemeinsame Grundlage und Voraussetzung dienen, über der sich die Inhalte und Besonderheiten jener Beziehungen erst auf ganz andre Ursachen hin erheben; sondern jeder Sinn liefert nach seiner Eigenart charakteristische Beiträge für den Aufbau der vergesellschafteten Existenz, den Nuancierungen seiner Eindrücke entsprechen Besonderheiten der sozialen Beziehung, das Überwiegen des einen oder des andern Sinnes in der Berührung der Individuen verleiht oft dieser Berührung eine sonst nicht herstellbare soziologische Färbung.

Die Tatsache, dass wir überhaupt den Nebenmenschen sinnlich wahrnehmen, entwickelt sich nach zwei Seiten hin, deren Zusammenwirken von fundamentaler soziologischer Bedeutung ist.

In das Subjekt hineinwirkend löst der Sinneseindruck eines Menschen Gefühle von Lust und Unlust in uns aus, von eigner Gesteigertheit oder Herabgesetztheit, von Erregung oder Beruhigung durch seinen Anblick oder den Ton seiner Stimme, durch seine bloße sinnliche Gegenwart in demselben Raume.

Dies alles dient nicht zum Erkennen oder Bestimmen des andern; nur mir ist wohl oder das Gegenteil, wenn er da ist und ich ihn sehe und höre.

Ihn selbst lässt diese Reaktion des Gefühles auf sein sinnliches Bild sozusagen draußen.

Nach der entgegengesetzten Dimension streckt sich die Entwicklung des Sinneneindrucks, sobald er zum Mittel der Erkenntnis des andern wird: was ich von ihm sehe, höre, fühle, ist jetzt nur die Brücke, über die ich zu ihm als zu meinem Objekt gelange.

Der Sprachlaut und seine Bedeutung bilden vielleicht das deutlichste Beispiel.

Wie das Organ eines Menschen ganz unmittelbar anziehend oder abstoßend auf uns wirkt, gleichviel, was er sagt; wie andrerseits das, was er sagt, uns zur Kenntnis nicht nur seiner augenblicklichen Gedanken, sondern seines seelischen Seins verhilft - so ist es doch wohl mit allen Sinneseindrücken; sie führen in das Subjekt hinein, als dessen Stimmung und Gefühl, und zu dem Objekt hinaus, als Erkenntnis seiner.

Gegenüber den nicht-menschlichen Objekten pflegt dies beides weit auseinander zu liegen.

An ihrer sinnlichen Gegenwärtigkeit betonen wir entweder ihren subjektiven Gefühlswert: den Duft der Rose, die Lieblichkeit eines Klanges, den Reiz der Zweige, die sich im Winde biegen, empfinden wir als ein im Inneren der Seele sich abspielendes Glück.

Oder wir wollen die Rose oder den Ton oder den Baum erkennen - so setzen wir dafür völlig andre Energien ein, oft mit bewusster Abwendung von jenen.

Was hier, ziemlich zusammenhangslos, miteinander abwechselt, ist dem Menschen gegenüber meistens zu einer Einheit verwebt.

Unsre Sinneseindrücke von ihm lassen ihren Gefühlswert auf der einen Seite, ihre Verwendung zu einer instinktiven oder gesuchten Kenntnis seiner auf der andern - zusammenwirksam und praktisch eigentlich unentwirrbar zur Grundlage unsrer Beziehung zu ihm werden.

In sehr verschiedenem Maße natürlich baut beides, der Stimmklang und der Inhalt des Gesagten, das Aussehen und seine psychologische Deutung, das Anziehende oder Abstoßende seiner Atmosphäre und der instinktive Schluss aus ihr auf seine seelische Färbung und manchmal auch auf seinen Kulturgrad - in sehr verschiedenen Maßen und Mischungen bauen diese beiden Entwickelungen des Sinneseindruckes an unserem Verhältnis zu ihm.

Unter den einzelnen Sinnesorganen ist das Auge auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sichanblicken liegt.

Vielleicht ist dies die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht.

Wo sich sonst soziologische Fäden spinnen, pflegen sie einen objektiven Inhalt zu besitzen, eine objektive Form zu erzeugen.

Selbst das gesprochene und gehörte Wort hat doch eine Sachbedeutung, die allenfalls noch auf andre Weise überlieferbar wäre.

Die höchst lebendige Wechselwirkung aber, in die der Blick von Auge in Auge die Menschen verwebt, kristallisiert zu keinerlei objektivem Gebilde, die Einheit, die er zwischen ihnen stiftet, bleibt unmittelbar in das Geschehen, in die Funktion aufgelöst.

Und so stark und fein ist diese Verbindung, dass sie nur durch die kürzeste, die grade Linie zwischen den Augen getragen wird, und dass die geringste Abweichung von dieser, das leiseste Zurseitesehen, das Einzigartige dieser Verbindung völlig zerstört.

Es bleibt hier zwar keine objektive Spur zurück, wie doch sonst, mittelbar oder unmittelbar, von allen Beziehungsarten zwischen Menschen, die Wechselwirkung stirbt in dem Augenblick, in dem die Unmittelbarkeit der Funktion nachlässt; aber der ganze Verkehr der Menschen, ihr Sichverstehen und Sichzurückweisen, ihre Intimität und ihre Kühle, wäre in unausrechenbarer Weise geändert, wenn der Blick von Auge in Auge nicht bestünde - der, im Unterschiede gegen das einfache Sehen oder Beobachten des andern eine völlig neue und unvergleichliche Beziehung zwischen ihnen bedeutet.

Die Enge dieser Beziehung wird durch die merkwürdige Tatsache getragen, dass der auf den andern gerichtete, ihn wahrnehmende Blick selbst ausdrucksvoll ist, und zwar gerade durch die Art, wie man den andern ansieht.

In dem Blick, der den andern in sich aufnimmt, offenbart man sich selbst; mit demselben Akt, in dem das Subjekt sein Objekt zu erkennen sucht, gibt es sich hier dem Objekte preis.

Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben.

Das Auge entschleiert dem andern die Seele, die ihn zu entschleiern sucht.

Indem dies ersichtlich nur bei unmittelbarem Blick von Auge in Auge stattfindet, ist hier die vollkommenste Gegenseitigkeit im ganzen Bereich menschlicher Beziehungen erreicht.

Hieraus wird erst ganz verständlich, weshalb die Beschämung uns zu Boden blicken, den Blick des andern vermeiden lässt.

Sicher nicht nur, weil wir so mindestens sinnlich festzustellen vermeiden, dass und wie uns der andre in solch peinlicher und verwirrender Lage anblickt; sondern der tiefere Grund ist der, dass das Senken meines Blicks dem andern etwas von der Möglichkeit raubt, mich festzustellen.

Der Blick in das Auge des andern dient nicht nur mir, um jenen zu erkennen, sondern auch ihm, um mich zu erkennen; auf der Linie, die beide Augen verbindet, trägt er die eigne Persönlichkeit, die eigne Stimmung, den eigenen Impuls zu dem andern hin.

Die »Vogel-Strauß-Politik« hat in dieser unmittelbar sinnlich-soziologischen Beziehung eine tatsächliche Zweckmäßigkeit: wer den andern nicht ansieht, entzieht sich wirklich in gewissem Maße dem Gesehenwerden.

Der Mensch ist für den andern keineswegs schon ganz da, wenn dieser ihn ansieht, sondern erst, wenn er auch jenen ansieht.

Die soziologische Bedeutung des Auges hängt in allererster Reihe aber an der Ausdrucksbedeutung des Antlitzes, das sich zwischen Mensch und Mensch als das erste Objekt des Blickes bietet.

Man macht sich selten klar, in welchem Umfang auch das ganz Praktische unsrer Beziehungen von dem gegenseitigen Kennen abhängt - nicht nur in dem Sinne alles Äußerlichen, oder der augenblicklichen Absichten und Stimmung des andern; sondern was wir von seinem Sein, von seinen inneren Fundamenten, von der Unabänderlichkeit seines Wesens bewusst oder instinktiv erkennen, das färbt unvermeidlich unsre momentane wie unsre dauernde Beziehung zu ihm.

Das Gesicht aber ist der geometrische Ort aller dieser Erkenntnisse, es ist das Symbol all dessen, was das Individuum als die Voraussetzung seines Lebens mitgebracht hat, in ihm ist abgelagert, was von seiner Vergangenheit in den Grund seines Lebens hinabgestiegen und zu beharrenden Zügen in ihm geworden ist.

Indem wir das Gesicht des Menschen in solcher Bedeutung wahrnehmen, kommt, so sehr sie den Zwecken der Praxis dient, in den Verkehr ein überpraktisches Element: das Gesicht bewirkt, dass der Mensch schon aus seinem Anblick, nicht erst aus seinem Handeln verstanden wird.

Das Gesicht, als Ausdrucksorgan betrachtet, ist sozusagen ganz theoretischen Wesens, es handelt nicht, wie die Hand, wie der Fuß, wie der ganze Körper; es trägt nie das innerliche oder praktische Verhalten des Menschen, sondern es erzählt nur von ihm.

Die besondre, soziologisch folgenreiche Art des »Kennens«, die das Auge vermittelt, wird dadurch bestimmt, dass das Antlitz das wesentliche Objekt des interindividuellen Sehens ist.

Dieses Kennen ist noch etwas andres als Erkennen.

In irgend einem, freilich sehr schwankenden Maße wissen wir mit dem ersten Blick auf jemanden, mit wem wir zu tun haben.

Dass wir uns dieser Tatsache und ihrer fundamentalen Bedeutung meistens nicht bewusst werden, liegt daran, Dass wir über diese selbstverständliche Basis hinweg unsre Aufmerksamkeit sogleich auf die Erkennbarkeit besonderer Züge, singulärer Inhalte richten, die unser praktisches Verhalten zu jenem im einzelnen bestimmen.

Sucht man aber zum Bewusstsein dieses Selbstverständlichen vorzudringen, so ist es erstaunlich, wie viel wir von einem Menschen bei dem ersten Blick auf ihn wissen.

Nichts mit Begriffen Ausdrückbares, in einzelne Beschaffenheiten Zerlegbares; wir können vielleicht durchaus nicht sagen, ob er uns klug oder dumm, gutmütig oder bösartig, temperamentvoll oder schläfrig vorkommt.

Alles dies, im gewöhnlichen Sinn Erkennbare, vielmehr sind allgemeine Eigenschaften, die er mit unzähligen andern teilt.

Was aber jener erste Anblick seiner uns vermittelt, ist in solches Begriffliches und Ausdrückbares gar nicht aufzulösen und auszumünzen - obgleich es immer die Tonart aller späteren Erkenntnisse seiner bleibt -, sondern es ist das unmittelbare Ergreifen seiner Individualität, wie seine Erscheinung, zuhöchst sein Gesicht es unserm Blick verrät; wofür es prinzipiell belanglos ist, dass auch hierbei genug Irrtümer und Korrigierbarkeiten vorkommen.

Indem das Gesicht nun dem Blick die anschaulich vollendetste Symbolik der beharrenden Innerlichkeit und alles dessen bietet, was unsre Erlebnisse in unsern dauernden Wesensgrund haben sinken lassen, gibt es doch zugleich den wechselreichen Situationen des Augenblicks nach.

Es entsteht hier das im Bezirk des Menschlichen ganz Einzigartige: dass das allgemeine, übersinguläre Wesen des Individuums sich stets in der Sonderfärbung einer momentanen Stimmung, Erfülltheit, Impulsivität darstellt, dass das Einheitlich-Feste und das Fließend-Mannigfaltige unsrer Seele als absolutes Zugleich, sozusagen das eine immer in der Form des andern, sichtbar wird.

Es ist der äußerste soziologische Gegensatz zwischen Auge und Ohr: dass dieses uns nur die in die Zeitform gebannte Offenbarung des Menschen bietet, jenes aber auch das Dauernde seines Wesens, den Niederschlag seiner Vergangenheit in der substantiellen Form seiner Züge, so dass wir sozusagen das Nacheinander seines Lebens in einem Zugleich vor uns sehn.

Daher ist die soziologische Stimmung des Blinden eine ganz andre als die des Tauben.

Für den Blinden ist der Andere eigentlich nur im Nacheinander da, in der Zeitfolge seiner Äußerungen.

Das unruhige, beunruhigende Zugleich aller Wesenszüge, der Spuren aller Vergangenheiten, wie es in dem Gesicht der Menschen ausgebreitet liegt, entgeht dem Blinden, und das mag der Grund der friedlichen und ruhigen, gegen die Umgebung gleichmäßig freundlichen Stimmung sein, die so oft an Blinden beobachtet wird.

Grade die Vielheit dessen, was das Gesicht offenbaren kann, macht es oft rätselhaft; im allgemeinen wird das, was wir von einem Menschen sehn, durch das interpretiert, was wir von ihm hören, während das umgekehrte viel seltner ist.

Deshalb ist der, der sieht, ohne zu hören, sehr viel verworrener, ratloser, beunruhigter, als der, der hört, ohne zu sehn.

Eine soziologisch höchst zweckmäßige Ausgleichung dieser Leistungsdifferenz der Sinne liegt in der sehr viel stärkeren Erinnerungsfähigkeit für das Gehörte gegenüber der für das Gesehene - trotzdem das, was ein Mensch gesprochen hat, als solches unwiederbringlich dahin ist, während er dem Auge ein relativ stabiles Objekt ist.

Schon darum kann man das Ohr eines Menschen viel eher belügen als sein Auge, und es liegt auf der Hand, dass von dieser Struktur unsrer Sinne und ihrer Objekte, soweit der Mitmensch ihnen solche bietet, die ganze Art des menschlichen Verkehrs getragen wird: wenn unserm Ohr nicht die gehörten Worte unmittelbar entschwänden, die es aber dafür in der Form des Gedächtnisses festhält, wenn dem Gesichtssinn, dessen Inhalten diese Reproduktionsstärke fehlt, nicht das Beharren des Antlitzes und seiner Bedeutung sich darböte - so würde unser interindividuelles Leben auf einer absolut andern Basis stehen.

Es wäre eine müßige Spekulation, sich dieses Anderssein auszudenken; aber dass seine prinzipielle Möglichkeit eingesehen wird, befreit uns von dem Dogma, dass die menschliche Vergesellschaftung, die wir kennen, die ganz selbstverständliche und sozusagen indiskutable sei, für deren Art es eben besondere Veranlassungen nicht gebe.

In bezug auf die einzelnen großen Sozialformen hat die Geschichtsforschung dieses Dogma beseitigt: wir wissen, dass unsre Familienverfassung wie unsre Wirtschaftsform, unser Recht wie unsre Sitte Ergebnisse aus Bedingungen sind, die anderswo andere waren und deshalb auch andre Ergebnisse hatten; dass wir mit diesen Tatsächlichkeiten keineswegs auf dem tiefsten Grunde stehen, auf dem das Gegebne auch das unbedingt Notwendige ist, das nicht mehr als Sondergestaltung aus Sonderursachen begriffen werden kann.

In bezug auf die ganz allgemeinen, zwischen Mensch und Mensch spielenden soziologischen Funktionen aber ist diese Frage noch nicht gestellt.

Die primären, unmittelbaren Beziehungen, die dann auch alle höheren Gebilde bestimmen, erscheinen so solidarisch mit der Natur der Gesellschaft überhaupt, um übersehn zu lassen, dass sie nur mit der Natur des Menschen solidarisch sind; aus den besonderen Bedingungen dieser fordern sie daher ihre Erklärung.

Was ich hier vorlege, ist nur ein Versuch dieser Art, zu den alltäglicheinfachen wie zu den komplizierten Verhältnissen der Menschen gewisse formgebende Momente in der bloßen Struktur unsrer Sinnesfunktionen sichtbar zu machen.

Der eben angedeutete Gegensatz von Auge und Ohr in ihrer soziologischen Bedeutung ist ersichtlich die Weiterführung der Doppelrolle, zu der schon das Auge für sich allein designiert erschien.

Wie aller Sinn der Wirklichkeit immer in die Kategorien des Seins und des Werdens auseinandergeht, so beherrschen sie auch das, was der Mensch vom Menschen überhaupt wahrnehmen will und kann.

Wir wollen wissen: was ist dieser Mensch seinem Sein nach, was ist die dauernde Substanz seines Wesens? Und: wie ist er im Augenblick, was will er, denkt er, sagt er? Dies legt im großen und ganzen die Arbeitsteilung zwischen den Sinnen fest.

Viele Modifikationen abgerechnet, ist das, was wir am Menschen sehn, das Dauernde an ihm, in seinem Gesicht ist, wie in einem Querschnitt durch geologische Schichten, die Geschichte seines Lebens und das, was ihr als die zeitlose Mitgift seiner Natur zugrunde liegt, gezeichnet.

Die Schwankungen des Gesichtsausdrucks kommen an Mannigfaltigkeit der Differenzierung dem nicht nahe, was wir durch das Ohr feststellen.

Was wir hören, ist sein Momentanes, ist der Fluss seines Wesens.

Erst allerhand sekundäre Erkenntnisse und Schlüsse entschleiern uns auch in seinen Zügen die Stimmung des Momentes, in seinen Worten das Unveränderliche an ihm.

In der ganzen Natur sonst, wie sie sich dem unmittelbaren Sinneneindruck darbietet, ist das Dauern und das Fließen in sehr viel einseitigerem Maße verteilt, als beim Menschen.

Der dauernde Stein und der fließende Strom sind die polaren Symbole dieser Einseitigkeit.

Der Mensch allein ist schon für unsre Sinne immer zu gleicher Zeit ein Beharrendes und ein Verfließendes, beides hat bei ihm eine Höhe erreicht, in der eines sich immer am andern misst, am andern zum Ausdruck kommt.

Die Ausbildung dieser Zweiheit steht in Wechselwirkung mit der von Auge und Ohr; denn wenn sich auch keines von beiden den Wahrnehmungen beider Kategorien gänzlich verschließt, so sind sie im ganzen doch auf die gegenseitige Ergänzung angelegt, auf die Feststellung des bleibend-plastischen Wesens des Menschen durch das Auge, auf die seiner auftauchenden und versinkenden Äußerungen durch das Ohr.

In soziologischer Hinsicht scheidet sich weiterhin das Ohr vom Auge durch den Mangel jener Reziprozität, die der Blick zwischen Auge und Auge herstellt.

Das Auge kann seinem Wesen nach nicht nehmen, ohne zugleich zu geben, während das Ohr das schlechthin egoistische Organ ist, das nur nimmt, aber nicht gibt; seine äußere Formung scheint dies fast zu symbolisieren, indem es als ein etwas passives Anhängsel der menschlichen Erscheinung wirkt, das unbeweglichste aller Organe des Kopfes.

Es büßt diesen Egoismus damit, dass es nicht wie das Auge sich wegwenden oder sich schließen kann, sondern, da es nun einmal bloß nimmt, auch dazu verurteilt ist, alles zu nehmen, was in seine Nähe kommt - wovon sich noch soziologische Folgen zeigen werden.

Erst mit dem Munde, mit der Sprache zusammen erzeugt das Ohr den innerlich einheitlichen Akt des Nehmens und Gebens - aber auch dies in der Alternierung, dass man nicht recht sprechen kann, wenn man hört, nicht recht hören wenn man spricht, während das Auge beides in dem Wunder des »Blickes« verschmilzt.

Andererseits steht dem formalen Egoismus des Ohres sein eigentümliches Verhältnis zu den Gegenständen des Privatbesitzes gegenüber.

Im allgemeinen kann man nur das Sichtbare »besitzen«, während das nur Hörbare mit dem Moment seiner Gegenwart auch schon vergangen ist und kein »Eigentum« gewährt.

Es ist eine wunderliche Ausnahme, wenn im 17. und 18. Jahrhundert die großen Familien Musikstücke zu besitzen strebten, die nur für sie geschrieben waren und die nicht publiziert werden durften.

Eine Anzahl von Bachschen Konzerten sind auf solchen Auftrag eines Prinzen hin entstanden.

Es gehörte zur Vornehmheit eines Hauses, Musikstücke zu besitzen, die jedem andern vorenthalten waren.

Für unser Gefühl liegt hierin etwas Perverses, weil das Hören seinem Wesen nach überindividualistisch ist: was in einem Raume vorgeht, müssen eben alle hören, die in ihm sind, und dass der eine es aufnimmt, nimmt es dem andern nicht fort.

Daher stammt auch die besondere, einzigartige seelische Betonung, die ein Gesprochenes hat, wenn es dennoch ausschließlich für einen einzigen bestimmt ist.

Was der eine dem andern sagt, würden unzählige sinnlich hören können, wenn sie nur dabei wären.

Dass der Inhalt irgend eines Gesagten diese formal-sinnliche Möglichkeit ausdrücklich ausschließt, verleiht jeder solchen Mitteilung eine unvergleichliche soziologische Färbung.

Es gibt fast kein Geheimnis, das nur durch die Augen übermittelt werden könnte.

Die Übermittlung durch das Ohr aber schließt eigentlich einen Widerspruch ein.

Sie zwingt eine Form, die sich an und für sich und sinnlich an eine unbegrenzte Zahl von Teilnehmern wendet, dazu, einem Inhalt zu dienen, der diese alle völlig ausschließt.

Dies ist das merkwürdig Pointierte des mündlich mitgeteilten Geheimnisses, der Unterredung unter vier Augen, sie verneint ausdrücklich den sinnlichen Charakter des Sprachlautes, der die physische Möglichkeit unzählig vieler Hörer enthält.

Unter gewöhnlichen Umständen können überhaupt nicht allzu viel Menschen einen und denselben Gesichtseindruck haben, dagegen außerordentlich viele denselben Gehörseindruck.

Man vergleiche ein Museumspublikum mit einem Konzertpublikum; die Bestimmung des Gehörseindrucks, sich einheitlich und gleichmäßig einer Menschenmenge mitzuteilen, - eine keineswegs nur äußerlich-quantitative, sondern mit seinem innersten Wesen tief verbundene Bestimmung - schließt soziologisch ein Konzertpublikum in eine unvergleichlich engere Einheit und Stimmungsgemeinsamkeit zusammen, als die Besucher eines Museums.

Wo ausnahmsweise auch das Auge für eine große Menschenzahl solche Gleichheit des Eindrucks gewährt, tritt auch die vergemeinsamende soziologische Wirkung ein.

Dass alle Menschen gleichzeitig den Himmel sehen können und die Sonne, das ist, wie ich glaube, ein wesentliches Moment des Zusammenschlusses, den jede Religion bedeutet.

Denn jede wendet sich irgendwie, ihrem Ursprung oder ihrer Ausgestaltung nach, an den Himmel oder die Sonne, hat irgend eine Beziehung zu diesem Allumschließenden und Weltbeherrschenden.

Dass ein Sinn, der in der Praxis des Lebens so exklusiv ist, wie das Auge, der selbst das gleichzeitig Erblickte durch die Verschiedenheit des Augenpunktes für jeden irgendwie modifiziert, nun doch einen Inhalt hat, der absolut nicht exklusiv ist, der sich jedem gleichmäßig darbietet, den Himmel, die Sonne, die Gestirne - das muss einerseits jenes Transzendieren aus der Enge und Besonderheit des Subjekts nahe legen, das jede Religion enthält, und trägt oder begünstigt das Moment des Zusammenschlusses der Gläubigen, das gleichfalls jede Religion einschließt.

Die hervorgehobenen unterschiedlichen Verhältnisse von Auge und Ohr zu ihren Gegenständen stiften soziologisch sehr verschiedene Verhältnisse zwischen den Individuen, deren Vereinigungen auf dem einen oder auf dem andern ruhen.

Die Arbeiter in einem Fabriksaal, die Studenten in einem Auditorium, die Soldaten einer Abteilung fühlen sich irgendwie als Einheit.

Und wenn diese Einheit auch aus übersinnlichen Momenten quillt, so ist sie doch in ihrem Charakter dadurch mitbestimmt, dass der für sie wesentlich wirksame Sinn das Auge ist, dass die Individuen sich während der sie vergemeinsamenden Vorgänge zwar sehen, aber nicht sprechen können.

In diesem Falle wird das Einheitsbewusstsein einen viel abstrakteren Charakter haben, als wenn das Zusammensein zugleich auch mündlicher Verkehr ist.

Das Auge zeigt, neben dem Individuellen des Menschen, das in seiner Erscheinung investiert ist, in höherem Maße auch das Gleiche aller, als das Ohr es tut.

Das Ohr gerade vermittelt die Fülle der divergenten Stimmungen des Einzelnen, den Fluss und die momentane Aufgipfelung der Gedanken und Impulse, die ganze Polarität des subjektiven wie des objektiven Lebens.

Aus Menschen, die wir nur sehen, bilden wir unendlich viel leichter einen Allgemeinbegriff, als wenn wir mit jedem sprechen können.

Die gewöhnliche Unvollkommenheit des Sehens begünstigt diesen Unterschied.

Die wenigsten Menschen wissen mit Sicherheit zu sagen, auch nur welches die Augenfarbe ihrer Freunde ist oder können sich die Mundbildung der ihnen nächsten Menschen in der Phantasie anschaulich vorstellen.

Sie haben sie eigentlich gar nicht gesehen, man sieht offenbar an einem Menschen in viel höherem Maße das, was ihm mit andern gemein ist, als man dies allgemeine an ihm hört.

Die unmittelbare Herstellung sehr abstrakter, unspezifischer Sozialgebilde wird deshalb, soweit die Technik der Sinne wirkt, durch die Sehnähe, bei mangelnder Gesprächsnähe, am meisten begünstigt.

Diese Konstellation hat, nach dem oben angedeuteten, die Entstehung des modernen Begriffs des »Arbeiters« sehr gefördert.

Dieser unerhört wirkungsvolle Begriff, der das Allgemeine aller Lohnarbeiter, ob sie Kanonen oder Spielzeug machen, zusammenschließt, war den früheren Jahrhunderten unzugängig, deren Gesellenvereinigungen oft viel enger und intimer waren, weil sie wesentlich auf dem persönlichen und mündlichen Verkehr ruhten, denen aber der Fabriksaal und die Massenversammlung fehlte.

Hier erst, wo man unzählige sah, ohne sie zu hören, vollzog sich jene hohe Abstraktion dessen, was all diesem gemeinsam ist und was von all dem Individuellen, Konkreten, Variablen, wie das Ohr es uns vermittelt, in seiner Entwicklung oft gehemmt wird.

Gegenüber der soziologischen Bedeutung von Gesicht und Gehör tritt die der niederen Sinne zurück, wenngleich die des Geruches nicht so weit, wie die eigentümliche Dumpfheit und Unentwickelbarkeit seiner Eindrücke anzunehmen verleitet.

Es ist kein Zweifel, dass jeder Mensch die ihn umgebende Luftschicht in einer charakteristischen Weise parfümiert, und zwar ist es dem so entstehenden Geruchseindruck wesentlich, dass er von jenen beiden Entwickelungen der Sinnesempfindung: nach dem Subjekte hin, als dessen Lust oder Unlust, und nach dem Objekte hin, als dessen Erkenntnis - die erstere bei weitem überwiegen lässt.

Der Geruch bildet nicht von sich aus ein Objekt, wie Gesicht und Gehör es tun, sondern bleibt sozusagen im Subjekt befangen; was sich darin symbolisiert, dass es für seine Unterschiede keine selbständigen, objektiv bezeichnenden Ausdrücke gibt.

Wenn wir sagen: es riecht sauer, so bedeutet das nur: es riecht so, wie etwas riecht, das sauer schmeckt.

In ganz anderem Maße als die Empfindungen jener Sinne entziehen sich die des Geruches der Beschreibung mit Worten, sie sind nicht auf die Ebene der Abstraktion zu projizieren.

Um so weniger Widerstände des Denkens und Wollens finden die instinktmäßigen Antipathien und Sympathien, die sich an jene, den Menschen umgebende Geruchssphäre heften und die z. B. für das soziologische Verhältnis zweier auf demselben Territorium lebenden Rassen sicher oft folgenreich werden.

Die Rezeption der Neger in die höhere Gesellschaft Nordamerikas ist schon wegen der Körperatmosphäre des Negers ausgeschlossen, und die vielfache dunkle Aversion von Juden und Germanen gegeneinander hat man auf dieselbe Ursache geschoben.

Die für die soziale Entwicklung der Gegenwart oft so lebhaft befürwortete persönliche Berührung zwischen Gebildeten und Arbeitern, jene auch von den Gebildeten als ethisches Ideal anerkannte Annäherung der beiden Welten, »von denen die eine nicht weiß, wie die andre lebt« - scheitert einfach an der Unüberwindlichkeit der Geruchseindrücke.

Sicher würden viele Angehörige der oberen Stände, wenn es im sittlich-sozialen Interesse gefordert wird, erhebliche Opfer an persönlichem Komfort bringen, auf vielerlei Bevorzugungen und Genüsse zugunsten der Enterbten verzichten, und dass dies jetzt noch nicht in höherem Maße geschieht, liegt sicher daran, dass die recht geschickten Formen dafür noch nicht gefunden sind.

Aber alle solche Verzichte und Hingaben würde man sich tausendmal eher zumuten, als die körperliche Berührung mit dem Volke, an dem »der ehrwürdige Schweiß der Arbeit« haftet.

Die soziale Frage ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine Nasenfrage.

Es ist von einer noch gar nicht genug beachteten Bedeutung für die soziale Kultur, dass mit der sich verfeinernden Zivilisation offenbar die eigentliche Wahrnehmungsschärfe aller Sinne sinkt, dagegen ihre Lust- und Unlustbetonung steigt.

Und zwar glaube ich, dass die nach dieser Seite hin gesteigerte Sensibilität im ganzen sehr viel mehr Leiden und Repulsionen als Freuden und Attraktionen mit sich bringt.

Der moderne Mensch wird von Unzähligem schockiert, Unzähliges erscheint ihm sinnlich unaushaltbar, was undifferenziertere, robustere Empfindungsweisen ohne irgend eine Reaktion dieser Art hinnehmen.

Die Individualisierungstendenz des modernen Menschen, die größere Personalität und Wahlfreiheit seiner Bindungen muss damit zusammenhängen.

Mit seiner teils unmittelbar sensuellen, teils ästhetischen Reaktionsweise kann er sich nicht mehr ohne weiteres in traditionelle Einungen, in enge Bindungen begeben, in denen nach seinem persönlichen Geschmack, nach seiner persönlichen Empfindlichkeit nicht gefragt wird.

Und unvermeidlich bringt dies eine größere Isolierung, eine schärfere Umgrenzung der personalen Sphäre mit sich.

Vielleicht ist diese Entwicklung am Geruchssinn die bemerklichste: die hygienischen und Reinlichkeitsbestrebungen der Gegenwart sind davon nicht weniger Folge als Ursache.

Im allgemeinen wird mit steigender Kultur die Fernwirkung der Sinne schwächer, ihre Nahwirkung stärker, wir werden nicht nur kurzsichtig, sondern überhaupt kurzsinnig; aber auf diese kürzeren Distanzen hin werden wir um so sensibler.

Der Geruchssinn ist nun von vornherein schon ein auf größere Nähe, dem Gesicht und Gehör gegenüber, angelegter Sinn, und wenn wir mit ihm nicht mehr soviel objektiv wahrnehmen können, wie manche Naturvölker, so reagieren wir subjektiv um so heftiger auf seine Eindrücke.

Die Richtung, in der dies geschieht, ist auch bei ihm die vorhin angedeutete, aber auch dieses in höherem Maße als bei den andern Sinnen: ein Mensch mit besonders feiner Nase erfährt durch diese Verfeinerung sicher sehr viel mehr Unannehmlichkeiten als Freuden.

Dazu kommt, jene isolierende Repulsion, die wir der Sinnesverfeinerung danken, verstärkend, hier noch folgendes.

Indem wir etwas riechen, ziehen wir diesen Eindruck oder dieses ausstrahlende Objekt so tief in uns ein, in unser Zentrum, assimilieren es sozusagen durch den vitalen Prozess des Atmens so eng mit uns, wie es durch keinen andern Sinn einem Objekt gegenüber möglich ist - es sei denn, dass wir es essen.

Dass wir die Atmosphäre jemandes riechen, ist die intimste Wahrnehmung seiner, er dringt sozusagen in luftförmiger Gestalt in unser Sinnlich-Innerstes ein, und es liegt auf der Hand, dass bei gesteigerter Reizbarkeit gegen Geruchseindrücke überhaupt dies zu einer Auswahl und einem Distanznehmen führen muss, das gewissermaßen eine der sinnlichen Grundlagen für die soziologische Reserve des modernen Individuums bildet.

Es ist bezeichnend, dass ein Mensch von so fanatisch exklusivem Individualismus wie Nietzsche von den ihm verhassten Menschentypen auffallend oft sagt: »Sie riechen nicht gut.« Wenn die andern Sinne tausend Brücken zwischen den Menschen schlagen, wenn sie Abstoßungen, die sie bewirken, immer wieder durch Anziehungen versöhnen können, wenn die Verwehung ihrer positiven und ihrer negativen Gefühlswerte den konkreten Gesamtbeziehungen zwischen Menschen ihre Färbung gibt - so kann man im Gegensatz dazu den Geruchssinn als den dissoziierenden Sinn bezeichnen.

Nicht nur weil er unendlich viel mehr Abstoßungen als Anziehungen vermittelt, nicht nur weil seine Entscheidungen etwas Radikales und Inappellables haben, das sich nur schwer durch die Entscheidungen andrer Sinnes- oder Geistesinstanzen überwinden lässt, sondern auch weil grade das Zusammensein Vieler ihm niemals irgend welche Attraktionen gewährt, wie diese Situation sie doch wenigstens unter gewissen Umständen für die andern Sinne entfalten kann: ja im allgemeinen werden Chokierungen des Geruchssinnes im graden quantitativen Verhältnis der Masse steigen, in deren Mitte sie uns treffen.

Schon durch diese Vermittlung weist, wie gesagt, kulturelle Verfeinerung auf individualisierende Isolierung hin, mindestens in kälteren Ländern; während die Chance, das Zusammensein wesentlich im Freien, also ohne jene Unzuträglichkeit zu bewerkstelligen, den sozialen Verkehr in südlichen Ländern sicher beeinflusst hat. -

Indem ich meine Untersuchung hier abbreche, bin ich mir ihres fragmentarischen Charakters sehr wohl bewusst.

Allein vielleicht ist damit doch von einer Stelle aus ein Zugang zu der Schicht geöffnet, aus der die Erkenntnis die Bedingungen der konkreten, lebendigen Vergesellschaftung unter den Menschen heraufholen muss.

Die zarten, unscheinbaren Fäden, die sich zwischen Mensch und Mensch spinnen, wird man nicht länger der Beachtung für unwert halten dürfen, wenn man das Gewebe der Gesellschaft nach seinen erzeugenden, formgebenden Kräften begreifen will - dieses Gewebe, von dem die Soziologie bisher im ganzen nur das schließlich zustande gekommene Muster seiner obersten Erscheinungsschicht zu beschreiben bemüht war.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
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