Georg Simmel: Das Erbamt
ex: Vossische Zeitung.
Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten
Sachen, No.475, Morgenausgabe vom 10.Oktober 1907, Feuilleton-Teil (Berlin)
Eines der großen
praktischen Probleme, die mit dem Wesen aller gesellschaftlichen
Organisation gegeben sind, entsteht daraus, dass der Bau und die
Interessen einer Gesellschaft führende Stellungen erwachsen lassen, mit
genau bestimmten Anforderungen, sachlich festgelegten Funktionen - und
dass zu ihrer Erfüllung nur Individuen mit der unermesslichen
Verschiedenheit und Zufälligkeit ihrer Begabungen, mit den gar nicht
auszusorgenden personalen Chancen der Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit
zur Verfügung stehen.
Dass die Menschheit sich
als ihre Lebensform die Gesellschaft ausgebildet hat, hat in ihr Fundament
den tiefen Widerspruch eingefügt zwischen den objektiven Ansprüchen, den
überpersönlichen Stellungen und Normen, die eine logische Gesetzlichkeit
rein aus der Tatsächlichkeit der Lagen entfaltet - und der Subjektivität
der Persönlichkeiten, die dem genügen sollen und die dem ganzen Sinn des
vibrierenden, irrationalen Lebens nach nicht in die so vorgezeichneten
festumschriebenen Umrisse passen.
Nicht nur darum handelt es
sich, dass der Inhalt des einen nur durch jedesmaligen glücklichen Zufall
dem Inhalt des anderen adäquat ist; sondern um das viel Tiefere, dass
beide sich ihrer ganzen Form und inneren Bedeutung nach fremd sind, dass
die Fluktuierungen des individuellen Daseins, dass der persönliche
Lebensprozess als solcher sich gegen die Objektivität und stabile
Unnachlasslichkeit der Forderungen aus der sozialen Formung heraus sträuben.
Mit den Folgen aus diesem
Widerspruch und den Versuchen, ihnen vorzubeugen, geht ein unermesslicher
Teil der Geschichte unserer Gattung hin.
Nun gibt es eine
Bestimmtheit des persönlichen Lebens, die sich von sich aus jenem Überindividualitäts-
und Fixiertheitscharakter der sozialen Formungen nähert: die Tatsache der
Abstammung und Vererbung; und zwar in dem doppelten Sinn, dass der
Nachkomme dem Vater qualitativ ähnlich ist und in dieser natürlichen Ähnlichkeit
durch Erziehung und Tradition gesteigert wird, und dass reale
Interessengemeinschaft, das Gefühl der inneren und äußeren Zugehörigkeit,
die familiäre Einheit, den Vorfahren und Nachkommen auch ohne qualitative
Gleichheit in eine Reihe stellt, sie zu den Stufen einer Skala macht.
Von beiden Seiten her
greift die Tatsache der Elternschaft und Kindschaft über die Schwankungen
und Zufälligkeiten des personalen Lebens hinaus.
Die vererbte wie die
anerzogene Ähnlichkeit lässt eine Substanz ahnen, die gleichsam durch
den Vater und den Sohn hindurchgeht und, an sich stabil, von diesen
verschiedenen Subjekten nur irgendwie unterschiedlich modifiziert wird.
Die funktionelle
Zusammengehörigkeit der Familie ihrerseits wird zu einem Gegenbild der
Form der weiteren Gruppe, sie fixiert das isolierte und schwankende
Individuum, insofern es, aber immer als dieses Individuum, jenen überpersönlichen
Zusammenhang trägt und von ihm getragen wird.
Indem der Übergang einer
sozialen Funktion von dem Vater auf den Sohn oder überhaupt ihr
Verbleiben in einer und derselben Familie festgelegt wird, offenbart sich
also diese typische Erscheinung in ihrer letzten, instinktiven Zweckmäßigkeit
als ein Versuch, die prinzipielle Diskrepanz zwischen der objektiven
sozialen Form und Forderung und der Subjektivität des sie erfüllenden
Individuums zu mildern.
An der Erblichkeit
eigentlicher Herrscherwürde wird dies vielleicht am klarsten.
Die Führerschaft in einer
Gruppe wird ursprünglich durch Usurpation seitens einer hervorragenden
oder gewalttätigen Persönlichkeit oder durch die Wahl des geeignet
Erscheinenden gewonnen.
Diesen subjektiven Modus
ersetzt der scheinbar irrationellere der Erblichkeit, der Kinder,
Schwachsinnige, in jeder Beziehung Unpassende auf den Thron bringen kann.
Allein der jedesmalige
Kampf oder die jedesmalige Abwägung vor der Erhebung des nur auf seine
personalen Eigenschaften gestellten Subjekts enthält so viele Gefahren
und Erschütterungen, so unmittelbar setzen sich alle Zufälligkeiten und
Irrationalitäten des bloßen Individuums in dieses Verfahren fort, dass
dies, mindestens in stabilen Verhältnissen, alle übeln Chancen der
Erblichkeit überwiegt.
Die Überpersönlichkeit
der Gruppe, ihre prinzipielle Festigkeit gegenüber den Schwankungen eines
bloßen Lebensprozesses, spiegelt sich in der gleichen Überpersönlichkeit
ihrer Führerschaft, in der der Sohn dem Vater folgt, gleichviel, wie er
als Subjekt beschaffen ist.
Und so wesentlich ist diese
objektive Festigkeit, dass sie eine andere Form überlebt, durch die man
vielfach den Vorteil der Erblichkeit mit dem der persönlichen Auslese
vereinigen wollte: indem nämlich der Herrscher gewählt wird, aber nur
aus den Gliedern des Herrscherhauses.
Dies war vielfach
altgermanische Sitte, ebenso wie die spanischen Chalifen, ihren
Nachfolger aus ihrer immer sehr zahlreichen Nachkommenschaft auswählten.
Von den Chaonern in Epirus
berichtet Herodot, dass sie ihren obersten Magistrat stets aus einer
Familie wählten, und die athenischen Archonten wurden lange aus dem königlichen
Hause gewählt.
Auch die Polen wählten bis
zum Aussterben der Jagellonen (1572) ihren König ohne jede Rücksicht auf
persönliche Erbfolge, aber doch aus dem Herrscherhause.
Sehr deutlich treten die
Motive dieses Verfahrens in einem Bericht über einige Horden
australischer Eingeborener hervor.
Der Häuptling wird dort
aus den Söhnen des verstorbenen Häuptlings gewählt, und zwar sei die
allgemeine Ansicht, dass der zweite Sohn dem ältesten an Tüchtigkeit überlegen
sei.
Trifft die Wahl nun jenen
oder einen noch jüngeren, so kann der Älteste ihn zum Kampf
herausfordern und, wenn er siegt, die Würde gewinnen: er beweist damit
eben, dass er der Tüchtigere ist.
Das Motiv dieses Typus
liegt auch da zu Grunde, wo die Fürstenwürde abgeschafft und in eine
Anzahl einzelner Ämter aufgelöst wird, die dann aber von der früher fürstlichen
Familie monopolisiert werden.
So geschah es vielfach im
7. und 8. Jahrhundert in Griechenland, wo nach dem Fall des Königtums die
Bakchiaden Korinth regierten, die Penteleiden Mytilene, die Basileiden
Ephesus usw.
Da die Vererbung des Amtes
ihren Sinn im Zusammentreffen zweier Motive findet: in der Funktion der
Persönlichkeit, deren individueller Kraft schließlich doch die Leistung
obliegt und in der Aufhebung gleichsam des Überschusses an Individualität,
ihrer Zuordnung zu einem überpersönlichen Niveau - so ergeben sich die
mannigfaltigsten Kombinationen und Chancen positiver und negativer Art.
Manche Fürsten haben die
Erblichkeit der Ämter direkt begünstigt: so Friedrich II., der
Hohenstaufe, der die höchsten Richterstellen auf zwei Familien beschränkte,
in denen das Rechtsstudium erblich war; so noch Ludwig XIV., der eine
Zeitlang seine höchsten Ratgeber nur aus zwei Familien nahm, den Le
Telliers und den Colberts.
In dem letzten Falle galt
als Motiv, dass der König die Staatsgeheimnisse nur mit zwei Familien
teilen wollte; aber darin liegt doch, dass ihm das einzelne Mitglied durch
diese familiäre Beschränkung der Funktion als geeigneter für sie
erschien; über seine rein persönliche Verantwortung erhob sich hier die
als Familienmitglied, dieser Zusammenschluss der Vertrauten brachte einen
Abschluss gegen alle Außenstehenden mit sich, der eine innere Schutzwehr
gegen individuelle Unzuverlässigkeit und Verführbarkeit aufrichtete.
Aus diesem Motive heraus
hat Sully sogar die käufliche Erblichkeit der Richterstellen gestattet;
denn wenn das Amt in einer Familie fixiert wäre, so würde es damit dem
Einflusse des Hofes und der gerade herrschenden Parteien entzogen.
Indem der Einzelne die
Position von seinem Vater mit Sicherheit überkommt und sie für seinen
Sohn zu bewahren hat, ist er einerseits unabhängiger als ein von irgendwo
für das Amt hergenommenes Individuum, andererseits trägt er eine größere
Verantwortlichkeit, als wenn er seine Amtsführung, mit den Grenzen seiner
Person beginnend und schließend, nur mit sich abzumachen hätte.
Dies letztere Motiv wird
besonders bei einigen Wahlämtern wichtig, die traditionellerweise in
gewissen Familien verbleiben, wie es in der frühen englischen Geschichte
begegnet und wovon äußerst günstige Folgen bemerkt worden sind: weder
der Mann, der einen nicht vorherzusehenden, vielleicht unbesiegbaren
Wettbewerb zu fürchten hat, noch der, der umgekehrt durch die bloße
Geburt, ohne jedes eigene Verdienst, der Ehre und Stellung sicher ist,
wird seine Kraft so entschieden und gesammelt einsetzen, als wer weiß,
dass Untüchtigkeit ihn zwar von der Wahl und Wiederwahl ausschließt, Tüchtigkeit
sie ihm aber mit Sicherheit verschafft.
Auch diese unscheinbare
historische Tatsache belegt eine der tiefsten Lebensnormen.
Unser Leben ist so
eingerichtet, dass wir uns in jedem Augenblick in einem Zwischenzustand
von Sicherheit und Unsicherheit über den Erfolg unseres Tuns befinden. Über
diesen Erfolg, absolute Gewissheit zu haben, würde unsere ganze innere
wie äußere Existenz in einer ebenso völlig unberechenbaren Weise abändern,
wie die absolute Ungewissheit darüber. Auf der Skala dieser Mischungen
nimmt jede unserer Handlungen eine bestimmte Stufe ein, eine unendliche
Mannigfaltigkeit von Situationen, Entschlüssen, Kraftbewährungen kann
dem gleichen Inhalt unsere Tuns entwachsen, je nach dem Anteil, mit dem
die Gewissheit und die Ungewissheit sich in der Erwartung seines Erfolg
mischen.
Das eben angeführte
Beispiel scheint zu zeigen, dass der Gewinn von Würde und Macht, nicht
durch die Vererbung ohne irgendwelche Rücksicht auf die Individualität
fest gelegt, aber bei subjektiver Zulänglichkeit mit objektiver
Sicherheit eintretend - jene Elemente gerade so mischte, um ein Maximum
von Bestrebung und Tüchtigkeit hervorzurufen.
Wo die Vererbung aber ein Höchstmaß
von Sicherheit et er reicht, also überhaupt nicht mehr durch die
subjektive Qualität des Inhabers bedingt wird, hat das Amt in vielen Fällen
seine Bedeutung verlieren müssen.
Die großen kastilianischen
Ämter, z. B. der Admiral und der Konnetable von Kastilien waren ursprünglich
von größter Wichtigkeit, wurden aber nach Heinrich III., in bestimmten
Adelshäusern erblich und sanken in kurzem zu bloßen Titularwürden
herab.
Ganz dasselbe geschah mit
den Hofämtern der normannischen König in England.
Die realen Pflichten, die
mit ihnen verbunden waren, fielen, sobald die Ämter erblich wurden, an
eine neu entstehende Kategorie von Beamten.
Nur diejenigen Ämter die
dem Erblichwerden entgehen, behalten weiterhin eine Erheblichkeit für die
Verfassung.
Es muss sich bei
bedingungsloser Erblichkeit bemerkbar machen, dass das Einzige, was mit,
Sicherheit vererbt werden kann, doch nur das Äußerliche des Amtes ist,
der Titel, die Würde, sozusagen die bloße »Möglichkeit« der Funktion,
die unvermeidlich zum leeren Schema wird, wenn sie nicht mehr von der
ausgewählten Individualität getragen und von ihr wie mit frischem Blute
durchströmt wird.
Es erschien als der tiefere
soziologische Sinn der Ämtervererbung, dass die Objektivität der
sozialen Gestaltung sich mit der Subjektivität der personalen Leistung
verflocht.
In den eben erwähnten Fällen
aber ist der letztere Faktor auf ein Bedeutungsminimum gesunken, womit
denn der ganze auf das Zusammenwirken beider Faktoren gebaute Sinn dieses
eigentümlichen sozialgeschichtlichen Gebildes verschwindet.
Diese und andere
naheliegende Gefahren der Ämtervererbung gaben den kirchlichen Würden,
deren Vererbung der Zölibat verschloss, eine besondere Bedeutung.
Während im deutschen
Mittelalter die großen Reichsämter in einzelnen Familien erblich wurden,
konnte der König durch das Bistum noch immer Persönlichkeiten, die sich
ihm rein durch ihre individuellen Qualitäten empfahlen, in den
Reichsdienst ziehen.
Und in der Zeit der
Normannenherrschaft sind in England und gleichzeitig in Frankreich sogar
die höchsten politischen Ämter oft auf Kleriker übertragen worden, von
denen allein nicht befürchtet werden konnte, dass sie ihre Macht in ihrer
Nachkommenschaft monopolisierten.
Bei der starken Tendenz auf
Erblichkeit im Mittelalter war es von vornherein ein Vorteil der Krone,
dass bei Erledigung eines Bischofssitzes kein Sohn da war, der Anspruch
auf die Würde erhoben hätte - was dann freilich William Rufus z. B.
benutzte, um die Bistümer lange unbesetzt zu lassen und ihre Einkünfte
selbst einzuziehen.
Die Lösung, die die
Funktionsvererbung dem Konflikt zwischen dem persönlichen und dem überpersönlichen
Sein gibt, ist die Auskunft eines verhältnismäßig primitiven, wenig
differenzierten Sozialzustandes.
Gewiss ist der Beamte, den
die Familienehre und das Familieninteresse über seine persönliche
Bindung hinaus engagiert, der durch die Tradition von den Vorfahren her für
seine Tätigkeit vorgebildet ist, oft der tüchtigere und dem Staat zuverlässigere;
aber ersichtlich setzt dies voraus, dass es einem solchen Staat mehr auf
die generellen Eigenschaften seiner Funktionäre ankommt, auf die
vererbbaren und anerziehbaren, als auf die des rein persönlichen
Talentes, der Geeignetheit für sehr arbeitsteilige Aufgaben.
Es handelt sich dabei um
die kulturelle Verfassung eines in sich nicht sehr differenzierten öffentlichen
Wesens, in der man die Sonderart der Individuen noch nicht recht
auszubilden und auszunutzen verstand, sondern eher die Zuspitzungen der
Individualität zu nivellieren suchen musste.
Umgekehrt, von der Seite
der Persönlichkeiten her, waren diejenigen besonderen Tüchtigkeiten und
Kenntnisse, die der Dienst der Allgemeinheit doch schon forderte, noch
nicht auf rein personale Art zu erwerben, sondern kamen nur oder am
sichersten durch die Tradition des familiären Wesens zu stande.
Die Allgemeinheit und die
Individualität mussten sich in einer gewissen Ungefügtheit und
Undifferenziertheit begegnen, um dem Erbamt eine soziale Zweckmäßigkeit
zu lassen und seine Gefahren aufzuwiegen.
Diese soziologischen
Bedingungen und Folgen greifen über die eigentlichen Staatsämter hinaus.
Auch die erwerbenden Berufe
sind in vielen früheren Sozialzuständen erblich, die Arbeit geht nicht
nur tatsächlich vom Vater auf den Sohn über, sondern dies wird von der
öffentlichen Macht teils verlangt, das Ergreifen eines anderen Berufes
gar nicht gestattet, teils geschützt, indem die Konkurrenz ferngehalten
und Begünstigungen an diese familienhafte Ausübung des Berufes geknüpft
werden.
Der Beruf hat hier also den
Charakter eines Amtes.
Das freie Spiel der persönlichen
Kräfte ist noch nicht hinreichend von innen her zweckmäßig gestaltet,
um die Gesamtheit mit den ihr nötigen Leistungen zu versorgen, sondern
bedarf des Gebotes und einer gewissen Vorbestimmtheit; das Individuum
seinerseits findet noch nicht in der bloßen Konstitution der Gesellschaft
die Möglichkeiten der Ausbildung und der Verwertung seines Arbeitens,
sondern bleibt dafür auf die erblichen Traditionen und die Gesamtkraft
der Familie angewiesen.
Die Verfeinerung und Stärkung
des öffentlichen Wesens auf der einen Seite, die größere Selbständigkeit
des Individuums auf der anderen führte über die Erblichkeit des Berufes
hinaus und zwar sogar da, wo diesem der Amtscharakter zunächst noch
blieb.
Die Zugehörigkeit zur
Zunft galt in deren Blütezeit, als mit dem Verfall des Feudalismus die Städte
ihre große Entwicklung begannen, als ein öffentliches Amt und war damals
durchaus unvererblich.
Dies war überhaupt die
Zeit, in der die feudale Bindung amtlicher Funktionen an den Landbesitz -
offenbar der entschiedenste Träger ihrer Vererbung - sich lockerte, in
der die kräftigere und sozusagen abstraktere Ausgestaltung des
politischen Wesens den Ämtern mehr und mehr den Charakter des öffentlichen
Rechtes gab.
Und dem nun entsprach die
prinzipielle Personalität des Amtes, die jede Vererbung ausschloss.
Denn alle soziologische
Entwicklung scheint einem typischen Schema zu folgen: je reiner und
allgemeiner sich der Geist oder das Zentrum einer Gruppe aufarbeitet, je höher
die Kraft und der Umfang des Ganzen steigt, um so individueller werden die
Persönlichkeiten, die dieses Ganze tragen.
Die Vergrößerung der
gesellschaftlichen Gruppe geht überall Hand in Hand mit der Ausbildung
der Individualität.
Jene Vergrößerung, das
wachsende Gewicht des abstrakten Staats- oder Gesellschaftsbegriffes, das
diesen von den engeren Konglomeraten familiärer oder lokal verbundener
Gruppierungen unabhängig macht, designiert deshalb zu den sozialen
Funktionen immer mehr die selbständig herausdifferenzierte Einzelpersönlichkeit.
Diese höhere
gesellschaftliche Verfassung überlässt der Familie nur noch die ganz
allgemeine Erziehung und Ausstattung des künftigen Funktionärs, stellt
ihm aber für seine eigentliche Ausbildung die objektiv gewordenen Mittel
des öffentlichen Wesens zur Verfügung.
Damit erkauft sie sich das
Recht einer ganz individuellen, unpräjudizierten Auswahl, so dass
familienhafte Erblichkeit kein Anspruchsrecht auf das Amt mehr begründet
- ein Prozess, der ersichtlich noch lange nicht abgeschlossen ist; denn
zwar nicht die bestimmten Einzelfamilien, aber die soziologisch verwandten
Gruppen der Klasse, des Standes, des »Kreises« liefern doch heute noch
die bestimmten Kategorien der öffentlichen Funktionäre.
Es offenbart erst die
ungeheure sozialgeschichtliche Bedeutung dieser Entwicklung, dass dies
nicht nur für die eigentlichen Beamten gilt, sondern für unzählige,
durch die soziale Zweckmäßigkeit geformte »Stellungen«, die scheinbar
durch privates Engagement und persönliche Zufälligkeiten ihre Inhaber
erhalten; in Wirklichkeit aber pflegt ein ganz bestimmter Kreis diese zu
liefern, die Gesellschaft hat noch nicht die rein individuelle
Designierung gewonnen, sondern ist auf soviel Vorarbeit der Familie und
des Standes an den Persönlichkeiten angewiesen, dass als Gegenleistung
dafür eine gewisse erweiterte Erblichkeit dieser »Ämter« besteht.
Als Grundmotiv verbleibt
immer die Proportion zwischen der objektiven Bestimmung und Leistung des
gesellschaftlichen Ganzen und der subjektiven Besonderheit des
Individuums, die nur jetzt in entschiedenerem Maße auseinander getrieben
ist: was die Gesellschaft für ihren Funktionär tut, ist mehr geworden,
dafür ist die differenzierende Auswahl und die individuelle Wahlfreiheit
des Berufes größer geworden.
Aber beides ist noch nicht
zu dem höchsten Grade entwickelt, in dem der Mischzustand, die
Erblichkeit der Funktionen, ganz und gar überflüssig und aufgehoben wäre.
Manche Stellen der sozialen
Entwicklung zeigen den Widerspruch, für jenes Auseinandertreten der Pole
reif zu sein, während ein Beharrungsvermögen noch den Vererbungszustand
aufrecht erhält.
Die Zunft verlor jene
freiere Verfassung, die ich vorhin berührte, und wurde in dem Maße, in
dem ihre Form überhaupt den wirtschaftlichen Ansprüchen nicht mehr genügte,
zu einem erblichen Besitz ihrer Mitglieder, so dass sie zur Zeit ihrer
schlimmsten Erstarrung und Unzulänglichkeit überhaupt nur noch den Söhnen,
Schwiegersöhnen und Gatten der Witwen von Zunftmeistern zugängig war.
Jener Charakter des öffentlichen
Amtes war zugleich mit der Personalität seiner Besetzung verloren
gegangen, und es blieb nur der familiäre Egoismus zurück, der durch die
Vererbung jede individuelle Selektion ausschloss.
Ersichtlich ist für die
Gegenwart dieses Problem am brennendsten dem Adel gegenüber, dessen Wesen
und Stärke vor allem auf dem Erbprinzip beruht, der aber eben durch
dieses vielleicht den größeren Teil der Geschichte hindurch sich zu dem
höheren zentralistischen Staatsprinzip feindlich gestellt hat.
Inwieweit seine mit dem
Grundbesitz verbundenen Rechte und Pflichten, inwieweit seine erbliche
Anwartschaft auf gewisse staatliche Positionen gerechtfertigt ist, hängt
davon ob, ob Züchtung, Überlieferung, Erziehung in ihm die
Geeignetheiten zu alledem so fortpflanzt, wie es der Staat noch nicht
entbehren kann - indem dieser seine relative Unfähigkeit, die hier
erforderlichen Funktionäre von sich allein aus vorzubilden, mit dem
relativen Verzicht auf individuelle Wahl bezahlt und sich mit einem
gewissen Typus seines Menschenmaterials, wie die biologische Vererbung und
die historische Tradition ihn erzeugt, begnügen muss.
Die nicht allzu häufige,
scheinbar isolierte Tatsache der eigentlichen Ämtervererbung bezeichnet,
wie sich mit alledem ergibt, ein bestimmtes Stadium des großen Prozesses
zwischen den individuellen und den kollektiven Elementen und Tendenzen der
Geschichte.
Immer von neuem quillt die
Lebendigkeit dieses Prozesses aus der doppelten Attitüde, die das
gesellschaftliche Interesse der Einzelpersönlichkeit gegenüber einnimmt:
der Gesellschaft liegt einmal daran, dass ihr Element ein individuell
differenziertes sei, bestimmte Qualitäten besitze, die ihn von den andern
unterscheiden; dann aber auch, dass es andern gleich oder ähnlich sei,
dass es sich nicht heraushebe, sondern sich in eine Reihe von
kontinuierlicher Qualität einfüge.
Dass der Einzelne seinen
Eltern ähnlich ist und durch die familiäre Tradition ihnen angeähnlicht
wird, dient beiden Forderungen; denn insoweit ist er einerseits in seinen
Qualitäten festgelegt, für bestimmte Lebensrichtungen und Tätigkeiten
designiert, aber diese personale Bestimmtheit ist andererseits doch wieder
in dem Niveau einer sozialen Einordnung festgehalten.
Die Vererbung einer
gesellschaftlichen Funktion, eines Amtes, drückt dieses subjektive
Verhalten gleichsam in einer objektiven Spiegelung aus.
Sie setzt, um sozial zweckmäßig
zu sein, ebenso eine persönliche Besonderheit voraus, wie eine Einschränkung
dieser auf ein generelles, traditionell reguliertes Maß.
So fordert und fixiert sie
ein gewisses Nahverhältnis zwischen dem individualistischen und dem
gesellschaftlichen Faktor, freilich dessen Ablösung durch die höhere
Form vorbereitend, in der beide Teile höhere Rechte gewinnen: das
Individuum, indem es seine Tätigkeit auf seine persönliche Wahl und auf
Qualitäten stellen kann, die von ihrer Beziehung zu der Generationenreihe
vor ihm unabhängig sind; die Gesellschaft, indem sie für diese dem
Individuum gestattete Freiheit ihrerseits die Freiheit der Wahl ihrer
Funktionäre gewinnt.
Der Gleichmäßigkeit der
Bindung beider Teile durch jene soziologische Form entspricht die Gleichmäßigkeit
der Freiheit, die sich über sie hinaus entwickelt.
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