Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Das Erbamt

ex: Vossische Zeitung. Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, No.475, Morgenausgabe vom 10.Oktober 1907, Feuilleton-Teil (Berlin)

Eines der großen praktischen Probleme, die mit dem Wesen aller gesellschaftlichen Organisation gegeben sind, entsteht daraus, dass der Bau und die Interessen einer Gesellschaft führende Stellungen erwachsen lassen, mit genau bestimmten Anforderungen, sachlich festgelegten Funktionen - und dass zu ihrer Erfüllung nur Individuen mit der unermesslichen Verschiedenheit und Zufälligkeit ihrer Begabungen, mit den gar nicht auszusorgenden personalen Chancen der Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit zur Verfügung stehen.

Dass die Menschheit sich als ihre Lebensform die Gesellschaft ausgebildet hat, hat in ihr Fundament den tiefen Widerspruch eingefügt zwischen den objektiven Ansprüchen, den überpersönlichen Stellungen und Normen, die eine logische Gesetzlichkeit rein aus der Tatsächlichkeit der Lagen entfaltet - und der Subjektivität der Persönlichkeiten, die dem genügen sollen und die dem ganzen Sinn des vibrierenden, irrationalen Lebens nach nicht in die so vorgezeichneten festumschriebenen Umrisse passen.

Nicht nur darum handelt es sich, dass der Inhalt des einen nur durch jedesmaligen glücklichen Zufall dem Inhalt des anderen adäquat ist; sondern um das viel Tiefere, dass beide sich ihrer ganzen Form und inneren Bedeutung nach fremd sind, dass die Fluktuierungen des individuellen Daseins, dass der persönliche Lebensprozess als solcher sich gegen die Objektivität und stabile Unnachlasslichkeit der Forderungen aus der sozialen Formung heraus sträuben.

Mit den Folgen aus diesem Widerspruch und den Versuchen, ihnen vorzubeugen, geht ein unermesslicher Teil der Geschichte unserer Gattung hin.

Nun gibt es eine Bestimmtheit des persönlichen Lebens, die sich von sich aus jenem Überindividualitäts- und Fixiertheitscharakter der sozialen Formungen nähert: die Tatsache der Abstammung und Vererbung; und zwar in dem doppelten Sinn, dass der Nachkomme dem Vater qualitativ ähnlich ist und in dieser natürlichen Ähnlichkeit durch Erziehung und Tradition gesteigert wird, und dass reale Interessengemeinschaft, das Gefühl der inneren und äußeren Zugehörigkeit, die familiäre Einheit, den Vorfahren und Nachkommen auch ohne qualitative Gleichheit in eine Reihe stellt, sie zu den Stufen einer Skala macht.

Von beiden Seiten her greift die Tatsache der Elternschaft und Kindschaft über die Schwankungen und Zufälligkeiten des personalen Lebens hinaus.

Die vererbte wie die anerzogene Ähnlichkeit lässt eine Substanz ahnen, die gleichsam durch den Vater und den Sohn hindurchgeht und, an sich stabil, von diesen verschiedenen Subjekten nur irgendwie unterschiedlich modifiziert wird.

Die funktionelle Zusammengehörigkeit der Familie ihrerseits wird zu einem Gegenbild der Form der weiteren Gruppe, sie fixiert das isolierte und schwankende Individuum, insofern es, aber immer als dieses Individuum, jenen überpersönlichen Zusammenhang trägt und von ihm getragen wird.

Indem der Übergang einer sozialen Funktion von dem Vater auf den Sohn oder überhaupt ihr Verbleiben in einer und derselben Familie festgelegt wird, offenbart sich also diese typische Erscheinung in ihrer letzten, instinktiven Zweckmäßigkeit als ein Versuch, die prinzipielle Diskrepanz zwischen der objektiven sozialen Form und Forderung und der Subjektivität des sie erfüllenden Individuums zu mildern.

An der Erblichkeit eigentlicher Herrscherwürde wird dies vielleicht am klarsten.

Die Führerschaft in einer Gruppe wird ursprünglich durch Usurpation seitens einer hervorragenden oder gewalttätigen Persönlichkeit oder durch die Wahl des geeignet Erscheinenden gewonnen.

Diesen subjektiven Modus ersetzt der scheinbar irrationellere der Erblichkeit, der Kinder, Schwachsinnige, in jeder Beziehung Unpassende auf den Thron bringen kann.

Allein der jedesmalige Kampf oder die jedesmalige Abwägung vor der Erhebung des nur auf seine personalen Eigenschaften gestellten Subjekts enthält so viele Gefahren und Erschütterungen, so unmittelbar setzen sich alle Zufälligkeiten und Irrationalitäten des bloßen Individuums in dieses Verfahren fort, dass dies, mindestens in stabilen Verhältnissen, alle übeln Chancen der Erblichkeit überwiegt.

Die Überpersönlichkeit der Gruppe, ihre prinzipielle Festigkeit gegenüber den Schwankungen eines bloßen Lebensprozesses, spiegelt sich in der gleichen Überpersönlichkeit ihrer Führerschaft, in der der Sohn dem Vater folgt, gleichviel, wie er als Subjekt beschaffen ist.

Und so wesentlich ist diese objektive Festigkeit, dass sie eine andere Form überlebt, durch die man vielfach den Vorteil der Erblichkeit mit dem der persönlichen Auslese vereinigen wollte: indem nämlich der Herrscher gewählt wird, aber nur aus den Gliedern des Herrscherhauses.

Dies war vielfach altgermanische Sitte, ebenso wie die spanischen Chalifen,  ihren Nachfolger aus ihrer immer sehr zahlreichen Nachkommenschaft auswählten.

Von den Chaonern in Epirus berichtet Herodot, dass sie ihren obersten Magistrat stets aus einer Familie wählten, und die athenischen Archonten wurden lange aus dem königlichen Hause gewählt.

Auch die Polen wählten bis zum Aussterben der Jagellonen (1572) ihren König ohne jede Rücksicht auf persönliche Erbfolge, aber doch aus dem Herrscherhause.

Sehr deutlich treten die Motive dieses Verfahrens in einem Bericht über einige Horden australischer Eingeborener hervor.

Der Häuptling wird dort aus den Söhnen des verstorbenen Häuptlings gewählt, und zwar sei die allgemeine Ansicht, dass der zweite Sohn dem ältesten an Tüchtigkeit überlegen sei.

Trifft die Wahl nun jenen oder einen noch jüngeren, so kann der Älteste ihn zum Kampf herausfordern und, wenn er siegt, die Würde gewinnen: er beweist damit eben, dass er der Tüchtigere ist.

Das Motiv dieses Typus liegt auch da zu Grunde, wo die Fürstenwürde abgeschafft und in eine Anzahl einzelner Ämter aufgelöst wird, die dann aber von der früher fürstlichen Familie monopolisiert werden.

So geschah es vielfach im 7. und 8. Jahrhundert in Griechenland, wo nach dem Fall des Königtums die Bakchiaden Korinth regierten, die Penteleiden Mytilene, die Basileiden Ephesus usw.

Da die Vererbung des Amtes ihren Sinn im Zusammentreffen zweier Motive findet: in der Funktion der Persönlichkeit, deren individueller Kraft schließlich doch die Leistung obliegt und in der Aufhebung gleichsam des Überschusses an Individualität, ihrer Zuordnung zu einem überpersönlichen Niveau - so ergeben sich die mannigfaltigsten Kombinationen und Chancen positiver und negativer Art.

Manche Fürsten haben die Erblichkeit der Ämter direkt begünstigt: so Friedrich II., der Hohenstaufe, der die höchsten Richterstellen auf zwei Familien beschränkte, in denen das Rechtsstudium erblich war; so noch Ludwig XIV., der eine Zeitlang seine höchsten Ratgeber nur aus zwei Familien nahm, den Le Telliers und den Colberts.

In dem letzten Falle galt als Motiv, dass der König die Staatsgeheimnisse nur mit zwei Familien teilen wollte; aber darin liegt doch, dass ihm das einzelne Mitglied durch diese familiäre Beschränkung der Funktion als geeigneter für sie erschien; über seine rein persönliche Verantwortung erhob sich hier die als Familienmitglied, dieser Zusammenschluss der Vertrauten brachte einen Abschluss gegen alle Außenstehenden mit sich, der eine innere Schutzwehr gegen individuelle Unzuverlässigkeit und Verführbarkeit aufrichtete.

Aus diesem Motive heraus hat Sully sogar die käufliche Erblichkeit der Richterstellen gestattet; denn wenn das Amt in einer Familie fixiert wäre, so würde es damit dem Einflusse des Hofes und der gerade herrschenden Parteien entzogen.

Indem der Einzelne die Position von seinem Vater mit Sicherheit überkommt und sie für seinen Sohn zu bewahren hat, ist er einerseits unabhängiger als ein von irgendwo für das Amt hergenommenes Individuum, andererseits trägt er eine größere Verantwortlichkeit, als wenn er seine Amtsführung, mit den Grenzen seiner Person beginnend und schließend, nur mit sich abzumachen hätte.

Dies letztere Motiv wird besonders bei einigen Wahlämtern wichtig, die traditionellerweise in gewissen Familien verbleiben, wie es in der frühen englischen Geschichte begegnet und wovon äußerst günstige Folgen bemerkt worden sind: weder der Mann, der einen nicht vorherzusehenden, vielleicht unbesiegbaren Wettbewerb zu fürchten hat, noch der, der umgekehrt durch die bloße Geburt, ohne jedes eigene Verdienst, der Ehre und Stellung sicher ist, wird seine Kraft so entschieden und gesammelt einsetzen, als wer weiß, dass Untüchtigkeit ihn zwar von der Wahl und Wiederwahl ausschließt, Tüchtigkeit sie ihm aber mit Sicherheit verschafft.

Auch diese unscheinbare historische Tatsache belegt eine der tiefsten Lebensnormen.

Unser Leben ist so eingerichtet, dass wir uns in jedem Augenblick in einem Zwischenzustand von Sicherheit und Unsicherheit über den Erfolg unseres Tuns befinden. Über diesen Erfolg, absolute Gewissheit zu haben, würde unsere ganze innere wie äußere Existenz in einer ebenso völlig unberechenbaren Weise abändern, wie die absolute Ungewissheit darüber. Auf der Skala dieser Mischungen nimmt jede unserer Handlungen eine bestimmte Stufe ein, eine unendliche Mannigfaltigkeit von Situationen, Entschlüssen, Kraftbewährungen kann dem gleichen Inhalt unsere Tuns entwachsen, je nach dem Anteil, mit dem die Gewissheit und die Ungewissheit sich in der Erwartung seines Erfolg mischen.

Das eben angeführte Beispiel scheint zu zeigen, dass der Gewinn von Würde und Macht, nicht durch die Vererbung ohne irgendwelche Rücksicht auf die Individualität fest gelegt, aber bei subjektiver Zulänglichkeit mit objektiver Sicherheit eintretend - jene Elemente gerade so mischte, um ein Maximum von Bestrebung und Tüchtigkeit hervorzurufen.

Wo die Vererbung aber ein Höchstmaß von Sicherheit et er reicht, also überhaupt nicht mehr durch die subjektive Qualität des Inhabers bedingt wird, hat das Amt in vielen Fällen seine Bedeutung verlieren müssen.

Die großen kastilianischen Ämter, z. B. der Admiral und der Konnetable von Kastilien waren ursprünglich von größter Wichtigkeit, wurden aber nach Heinrich III., in bestimmten Adelshäusern erblich und sanken in kurzem zu bloßen Titularwürden herab.

Ganz dasselbe geschah mit den Hofämtern der normannischen König in England.

Die realen Pflichten, die mit ihnen verbunden waren, fielen, sobald die Ämter erblich wurden, an eine neu entstehende Kategorie von Beamten.

Nur diejenigen Ämter die dem Erblichwerden entgehen, behalten weiterhin eine Erheblichkeit für die Verfassung.

Es muss sich bei bedingungsloser Erblichkeit bemerkbar machen, dass das Einzige, was mit, Sicherheit vererbt werden kann, doch nur das Äußerliche des Amtes ist, der Titel, die Würde, sozusagen die bloße »Möglichkeit« der Funktion, die unvermeidlich zum leeren Schema wird, wenn sie nicht mehr von der ausgewählten Individualität getragen und von ihr wie mit frischem Blute durchströmt wird.

Es erschien als der tiefere soziologische Sinn der Ämtervererbung, dass die Objektivität der sozialen Gestaltung sich mit der Subjektivität der personalen Leistung verflocht.

In den eben erwähnten Fällen aber ist der letztere Faktor auf ein Bedeutungsminimum gesunken, womit denn der ganze auf das Zusammenwirken beider Faktoren gebaute Sinn dieses eigentümlichen sozialgeschichtlichen Gebildes verschwindet.

Diese und andere naheliegende Gefahren der Ämtervererbung gaben den kirchlichen Würden, deren Vererbung der Zölibat verschloss, eine besondere Bedeutung.

Während im deutschen Mittelalter die großen Reichsämter in einzelnen Familien erblich wurden, konnte der König durch das Bistum noch immer Persönlichkeiten, die sich ihm rein durch ihre individuellen Qualitäten empfahlen, in den Reichsdienst ziehen.

Und in der Zeit der Normannenherrschaft sind in England und gleichzeitig in Frankreich sogar die höchsten politischen Ämter oft auf Kleriker übertragen worden, von denen allein nicht befürchtet werden konnte, dass sie ihre Macht in ihrer Nachkommenschaft monopolisierten.

Bei der starken Tendenz auf Erblichkeit im Mittelalter war es von vornherein ein Vorteil der Krone, dass bei Erledigung eines Bischofssitzes kein Sohn da war, der Anspruch auf die Würde erhoben hätte - was dann freilich William Rufus z. B. benutzte, um die Bistümer lange unbesetzt zu lassen und ihre Einkünfte selbst einzuziehen.

Die Lösung, die die Funktionsvererbung dem Konflikt zwischen dem persönlichen und dem überpersönlichen Sein gibt, ist die Auskunft eines verhältnismäßig primitiven, wenig differenzierten Sozialzustandes.

Gewiss ist der Beamte, den die Familienehre und das Familieninteresse über seine persönliche Bindung hinaus engagiert, der durch die Tradition von den Vorfahren her für seine Tätigkeit vorgebildet ist, oft der tüchtigere und dem Staat zuverlässigere; aber ersichtlich setzt dies voraus, dass es einem solchen Staat mehr auf die generellen Eigenschaften seiner Funktionäre ankommt, auf die vererbbaren und anerziehbaren, als auf die des rein persönlichen Talentes, der Geeignetheit für sehr arbeitsteilige Aufgaben.

Es handelt sich dabei um die kulturelle Verfassung eines in sich nicht sehr differenzierten öffentlichen Wesens, in der man die Sonderart der Individuen noch nicht recht auszubilden und auszunutzen verstand, sondern eher die Zuspitzungen der Individualität zu nivellieren suchen musste.

Umgekehrt, von der Seite der Persönlichkeiten her, waren diejenigen besonderen Tüchtigkeiten und Kenntnisse, die der Dienst der Allgemeinheit doch schon forderte, noch nicht auf rein personale Art zu erwerben, sondern kamen nur oder am sichersten durch die Tradition des familiären Wesens zu stande.

Die Allgemeinheit und die Individualität mussten sich in einer gewissen Ungefügtheit und Undifferenziertheit begegnen, um dem Erbamt eine soziale Zweckmäßigkeit zu lassen und seine Gefahren aufzuwiegen.

Diese soziologischen Bedingungen und Folgen greifen über die eigentlichen Staatsämter hinaus.

Auch die erwerbenden Berufe sind in vielen früheren Sozialzuständen erblich, die Arbeit geht nicht nur tatsächlich vom Vater auf den Sohn über, sondern dies wird von der öffentlichen Macht teils verlangt, das Ergreifen eines anderen Berufes gar nicht gestattet, teils geschützt, indem die Konkurrenz ferngehalten und Begünstigungen an diese familienhafte Ausübung des Berufes geknüpft werden.

Der Beruf hat hier also den Charakter eines Amtes.

Das freie Spiel der persönlichen Kräfte ist noch nicht hinreichend von innen her zweckmäßig gestaltet, um die Gesamtheit mit den ihr nötigen Leistungen zu versorgen, sondern bedarf des Gebotes und einer gewissen Vorbestimmtheit; das Individuum seinerseits findet noch nicht in der bloßen Konstitution der Gesellschaft die Möglichkeiten der Ausbildung und der Verwertung seines Arbeitens, sondern bleibt dafür auf die erblichen Traditionen und die Gesamtkraft der Familie angewiesen.

Die Verfeinerung und Stärkung des öffentlichen Wesens auf der einen Seite, die größere Selbständigkeit des Individuums auf der anderen führte über die Erblichkeit des Berufes hinaus und zwar sogar da, wo diesem der Amtscharakter zunächst noch blieb.

Die Zugehörigkeit zur Zunft galt in deren Blütezeit, als mit dem Verfall des Feudalismus die Städte ihre große Entwicklung begannen, als ein öffentliches Amt und war damals durchaus unvererblich.

Dies war überhaupt die Zeit, in der die feudale Bindung amtlicher Funktionen an den Landbesitz - offenbar der entschiedenste Träger ihrer Vererbung - sich lockerte, in der die kräftigere und sozusagen abstraktere Ausgestaltung des politischen Wesens den Ämtern mehr und mehr den Charakter des öffentlichen Rechtes gab.

Und dem nun entsprach die prinzipielle Personalität des Amtes, die jede Vererbung ausschloss.

Denn alle soziologische Entwicklung scheint einem typischen Schema zu folgen: je reiner und allgemeiner sich der Geist oder das Zentrum einer Gruppe aufarbeitet, je höher die Kraft und der Umfang des Ganzen steigt, um so individueller werden die Persönlichkeiten, die dieses Ganze tragen.

Die Vergrößerung der gesellschaftlichen Gruppe geht überall Hand in Hand mit der Ausbildung der Individualität.

Jene Vergrößerung, das wachsende Gewicht des abstrakten Staats- oder Gesellschaftsbegriffes, das diesen von den engeren Konglomeraten familiärer oder lokal verbundener Gruppierungen unabhängig macht, designiert deshalb zu den sozialen Funktionen immer mehr die selbständig herausdifferenzierte Einzelpersönlichkeit.

Diese höhere gesellschaftliche Verfassung überlässt der Familie nur noch die ganz allgemeine Erziehung und Ausstattung des künftigen Funktionärs, stellt ihm aber für seine eigentliche Ausbildung die objektiv gewordenen Mittel des öffentlichen Wesens zur Verfügung.

Damit erkauft sie sich das Recht einer ganz individuellen, unpräjudizierten Auswahl, so dass familienhafte Erblichkeit kein Anspruchsrecht auf das Amt mehr begründet - ein Prozess, der ersichtlich noch lange nicht abgeschlossen ist; denn zwar nicht die bestimmten Einzelfamilien, aber die soziologisch verwandten Gruppen der Klasse, des Standes, des »Kreises« liefern doch heute noch die bestimmten Kategorien der öffentlichen Funktionäre.

Es offenbart erst die ungeheure sozialgeschichtliche Bedeutung dieser Entwicklung, dass dies nicht nur für die eigentlichen Beamten gilt, sondern für unzählige, durch die soziale Zweckmäßigkeit geformte »Stellungen«, die scheinbar durch privates Engagement und persönliche Zufälligkeiten ihre Inhaber erhalten; in Wirklichkeit aber pflegt ein ganz bestimmter Kreis diese zu liefern, die Gesellschaft hat noch nicht die rein individuelle Designierung gewonnen, sondern ist auf soviel Vorarbeit der Familie und des Standes an den Persönlichkeiten angewiesen, dass als Gegenleistung dafür eine gewisse erweiterte Erblichkeit dieser »Ämter« besteht.

Als Grundmotiv verbleibt immer die Proportion zwischen der objektiven Bestimmung und Leistung des gesellschaftlichen Ganzen und der subjektiven Besonderheit des Individuums, die nur jetzt in entschiedenerem Maße auseinander getrieben ist: was die Gesellschaft für ihren Funktionär tut, ist mehr geworden, dafür ist die differenzierende Auswahl und die individuelle Wahlfreiheit des Berufes größer geworden.

Aber beides ist noch nicht zu dem höchsten Grade entwickelt, in dem der Mischzustand, die Erblichkeit der Funktionen, ganz und gar überflüssig und aufgehoben wäre.

Manche Stellen der sozialen Entwicklung zeigen den Widerspruch, für jenes Auseinandertreten der Pole reif zu sein, während ein Beharrungsvermögen noch den Vererbungszustand aufrecht erhält.

Die Zunft verlor jene freiere Verfassung, die ich vorhin berührte, und wurde in dem Maße, in dem ihre Form überhaupt den wirtschaftlichen Ansprüchen nicht mehr genügte, zu einem erblichen Besitz ihrer Mitglieder, so dass sie zur Zeit ihrer schlimmsten Erstarrung und Unzulänglichkeit überhaupt nur noch den Söhnen, Schwiegersöhnen und Gatten der Witwen von Zunftmeistern zugängig war.

Jener Charakter des öffentlichen Amtes war zugleich mit der Personalität seiner Besetzung verloren gegangen, und es blieb nur der familiäre Egoismus zurück, der durch die Vererbung jede individuelle Selektion ausschloss.

Ersichtlich ist für die Gegenwart dieses Problem am brennendsten dem Adel gegenüber, dessen Wesen und Stärke vor allem auf dem Erbprinzip beruht, der aber eben durch dieses vielleicht den größeren Teil der Geschichte hindurch sich zu dem höheren zentralistischen Staatsprinzip feindlich gestellt hat.

Inwieweit seine mit dem Grundbesitz verbundenen Rechte und Pflichten, inwieweit seine erbliche Anwartschaft auf gewisse staatliche Positionen gerechtfertigt ist, hängt davon ob, ob Züchtung, Überlieferung, Erziehung in ihm die Geeignetheiten zu alledem so fortpflanzt, wie es der Staat noch nicht entbehren kann - indem dieser seine relative Unfähigkeit, die hier erforderlichen Funktionäre von sich allein aus vorzubilden, mit dem relativen Verzicht auf individuelle Wahl bezahlt und sich mit einem gewissen Typus seines Menschenmaterials, wie die biologische Vererbung und die historische Tradition ihn erzeugt, begnügen muss.

Die nicht allzu häufige, scheinbar isolierte Tatsache der eigentlichen Ämtervererbung bezeichnet, wie sich mit alledem ergibt, ein bestimmtes Stadium des großen Prozesses zwischen den individuellen und den kollektiven Elementen und Tendenzen der Geschichte.

Immer von neuem quillt die Lebendigkeit dieses Prozesses aus der doppelten Attitüde, die das gesellschaftliche Interesse der Einzelpersönlichkeit gegenüber einnimmt: der Gesellschaft liegt einmal daran, dass ihr Element ein individuell differenziertes sei, bestimmte Qualitäten besitze, die ihn von den andern unterscheiden; dann aber auch, dass es andern gleich oder ähnlich sei, dass es sich nicht heraushebe, sondern sich in eine Reihe von kontinuierlicher Qualität einfüge.

Dass der Einzelne seinen Eltern ähnlich ist und durch die familiäre Tradition ihnen angeähnlicht wird, dient beiden Forderungen; denn insoweit ist er einerseits in seinen Qualitäten festgelegt, für bestimmte Lebensrichtungen und Tätigkeiten designiert, aber diese personale Bestimmtheit ist andererseits doch wieder in dem Niveau einer sozialen Einordnung festgehalten.

Die Vererbung einer gesellschaftlichen Funktion, eines Amtes, drückt dieses subjektive Verhalten gleichsam in einer objektiven Spiegelung aus.

Sie setzt, um sozial zweckmäßig zu sein, ebenso eine persönliche Besonderheit voraus, wie eine Einschränkung dieser auf ein generelles, traditionell reguliertes Maß.

So fordert und fixiert sie ein gewisses Nahverhältnis zwischen dem individualistischen und dem gesellschaftlichen Faktor, freilich dessen Ablösung durch die höhere Form vorbereitend, in der beide Teile höhere Rechte gewinnen: das Individuum, indem es seine Tätigkeit auf seine persönliche Wahl und auf Qualitäten stellen kann, die von ihrer Beziehung zu der Generationenreihe vor ihm unabhängig sind; die Gesellschaft, indem sie für diese dem Individuum gestattete Freiheit ihrerseits die Freiheit der Wahl ihrer Funktionäre gewinnt.

Der Gleichmäßigkeit der Bindung beider Teile durch jene soziologische Form entspricht die Gleichmäßigkeit der Freiheit, die sich über sie hinaus entwickelt.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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