Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Zur Soziologie des Adels

Fragment aus einer Formenlehre der Gesellschaft

ex: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt (Neue Frankfurter Zeitung), 52. Jg., No. 358, 1. Morgenblatt vom 27. Dezember 1907, Feuilleton-Teil, S. 1-3 (Frankfurt)

Der Adel im alten Rom oder im Normannenreich, unter den Indianern oder im ancien régime besitzt bei aller Unvergleichbarkeit der Lebensinhalte eine Übereinstimmung der soziologischen Züge; und diese zeigen sich in rudimentärer, labiler, vorübergehender Art auch an irgendwelchen kleineren Gruppierungen, in denen sich ein Bruchteil als »die Aristokratie« zusammenfindet und abscheidet, sei es in grossen Familienkreisen, unter Arbeiterschaften, innerhalb von Geistlichkeiten.

Für den Adel im engeren Sinne hat man diese Gemeinsamkeit mit der Beobachtung illustriert, dass »Adlige sich oft an einem Abend besser kennen lernen, als Bürgerliche in einem Monat«.

Das liegt offenbar daran, dass die gemeinsamen Fundamente sich hier sehr weit in die personale Existenz hineinerstrecken und als die natürliche Voraussetzung der Beziehungen mitgebracht werden.

In Interessen, Weltanschauung, Persönlichkeitsbewusstsein, Gefühl für den Punkt, an dem sie innerhalb der Gesellschaftsordnung stehen, koinzidieren die Aristokraten offenbar so weitgehend, und dass sie darin koinzidieren, ist ihnen so bewusst und selbstverständlich, dass sie untereinander viel eher zu dem Personalen kommen können als andere, die sich erst vergewissern müssen, welche Basis denn ihnen gemeinsam ist.

Die Adligen brauchen, um »sich kennen zu lernen«, d. h. sich ihre Individualitäten zu offenbaren, nicht so viele Präliminarien wie diejenigen, die das Apriori erst zu suchen haben, von dem aus das Spezielle der Gedanken, Interessen, Wesensarten dargeboten werden kann.

Diese Homogenität der formal-soziologischen Stellung tritt in einer Reihe geschichtlicher Erscheinungen bedeutsam hervor.

Man hat auf die eigentümliche Tatsache aufmerksam gemacht, dass viele von den hochadligen Familien in den verschiedensten Ländern Europas fremdbürtig sind.

In England kommen die Fitzgerald und die Herzöge von Leicester aus Florenz, die Herzöge von Portland aus Holland, in Frankreich die Broglie aus Piemont, die Herzöge des Cars aus Perugia, die Luynes aus Arezzo, in Österreich die Clary aus Florenz, in Preussen die Lynar aus Faenza, in Polen die Poniatowski aus Bologna, in Italien die Rocca aus Kroatien, die Ruspoli aus Schottland, die Torlonia aus Frankreich usw.

Der Adel scheint eigentlich zu solchen Verpflanzungen besonders wenig disponiert zu sein: wegen seiner Bindung an den Grundbesitz und wegen seines traditionellen Nationalismus, mit dem seine konservative Weltanschauung verbunden zu sein pflegt.

Um so wirksamer müssen jene angleichenden Momente sein, die ein derartiges Changieren innerhalb dessen, was man die internationale Adelsrepublik genannt hat, nahe legen.

Dies setzt sich in besonderen Vereinheitlichungen des nationalen Adels fort.

Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts etwa hat der deutsche Adel untereinander eine sehr geringe Verbindung gehabt.

Die meisten Adligen sorgten für ihre Interessen innerhalb des engeren Kreises ihres Wohnsitzes bzw. ihres engsten Vaterlandes.

Als nun aber in den Kriegen gegen Napoleon sich die deutschen Adligen der verschiedensten Gegenden begegneten, stellte sich ein Kontakt zwischen ihnen her, der zu ganz eigentümlichen Bildungen geführt hat, z. B. zu der sogenannten Adelskette.

Die Adelskette war ein halb geheimer Verein, der wohl zur Zeit des Wiener Kongresses aufkam.

Der Adel fühlte, dass seit der französischen Revolution seine Rolle auch in Deutschland, namentlich durch die Bauernbefreiung gesunken war und versuchte nun durch die Ausnützung der Solidarität, welche zwischen allem Adel besteht, ein Gesamtgebilde zu schaffen, um die verlorene Bedeutsamkeit irgendwie wieder zu gewinnen.

Diese Adelskette betonte in ihrem Statut ausdrücklich, dass ihr alles Politische fremd bleiben sollte.

Mag das eine gewisse Täuschung oder Selbsttäuschung enthalten haben, es bringt doch das hier Wesentliche zum Ausdruck: die Gleichgültigkeit der politischen und geographischen Grenzen gegenüber dem, was allem Adel, bloss weil er Adel ist, gemeinsam ist; die Gleichheit der rein materiellen Interessen wäre nicht gross genug gewesen, diesen intergermanischen Adelsverein zustande zu bringen, wenn nicht die tiefere Verbundenheit durch die Form des Adels als solche - deren Deutung noch aussteht - wirksam gewesen wäre.

Endlich ein letztes Beispiel: Die grosse Bedeutung des Adels in Österreich und die erheblichen, ihm dort jederzeit eingeräumten Vorrechte hat man darauf zurückgeführt, dass in den ausserordentlich heterogenen und auseinanderstrebenden Bestandteilen der österreichischen Monarchie der Adel noch ein durchgehend gleichmässiges, qualitativ gemeinsames Element sei und damit dem Zusammenhalt des Ganzen erheblich nütze.

Die gleiche formale Stellung des Adels in den verschiedensten Teilen dieses zusammengewürfelten Landes ermögliche es, dass es einen österreichischen Gesamtadel geben kann, auch wenn es keine österreichische Gesamtnation gebe.

Die Einheit, die er in sich vermöge seiner immer gleichen soziologischen Position hat, disponiert ihn dazu, der Einheit des Ganzen als Kitt zu dienen.

Aber alles bisher Vorgebrachte ist mehr oder weniger äussere Erscheinung, die sich auf die innere soziologische Struktur des Adels gründet, sie aber noch nicht kenntlich macht.

Die soziologische Analyse des Adels zentriert darum, dass der sozial-allgemeine Inhalt des Lebens dieser Sondergruppe ein ganz einzigartiges Verhältnis zu dem individuellen Sein ihrer Mitglieder besitzt.

Das Individuum wird hier nicht nur in eine Einheit vor ihm, neben ihm und nach ihm seiender Individuen aufgenommen, die nach einer sonst nirgends wirksamen Formel miteinander verbunden sind, sondern das Spezifische ist: dass gerade das Beste und Wertvollste dieser ganzen Reihe jedem einzelnen Mitglied zugute kommt.

Es ist anderweitig hervorgehoben, dass das Gesamtniveau einer Gruppe, der Wert des wirklich allen Gemeinsamen, sehr nahe am Niveau des Tiefststehenden in ihr liegt; denn es kann in der Regel der Hohe zum Niederen hinuntersteigen, aber nicht der Niedere zum Hohen hinauf; was ihnen also gemeinsam sein soll, wird im ganzen der Besitz des Tieferen sein - wie etwa, wenn hundert Menschen in gleichem Tempo zusammen marschieren sollen, dieses Tempo von demjenigen angegeben wird, dessen Marschfähigkeit die geringste ist.

Beim Adel nun ist die Voraussetzung die umgekehrte, jede Persönlichkeit einer Adelsgruppe (sei dies im engeren Sinne die adlige Familie, sei es im weiteren der Adel eines Landes oder einer Epoche) hat in ihrem Werte teil an dem Glanz, den gerade die hervorragendsten Mitglieder dieser Gruppe erworben haben, sie tritt gleichsam die Standeserbschaft sub beneficio inventarii an.

Gerade die hier angehäuften positiven Werte von Verdiensten, Vorzügen, Ehren strahlen in einer unabgelenkteren Weise, als dies sonst in irgendwelchen Gruppen statthat, auf den Einzelnen über.

Dies ist das Präjudiz, das die anderen Stände dem Adel zugute kommen lassen, das er unter sich hegt, das endlich für jedes einzelne Mitglied sozusagen die Voraussetzung seines Selbstbewusstseins ist und für dieses einen ebenso starken individuellen Halt bildet, wie einen solchen sozialen für die Gesamtheit des ganzen Standes.

Der Adel hat eine eigentümliche, in seiner soziologischen Struktur gelegene Zähigkeit in der Konservierung seines »objektiven Geistes«, der in Tradition, fester Form, Arbeitsergebnissen usw. kristallisierten Leistung von Individuen.

Was so in der einzelnen Familie als ihr Vorzug, Ruhm, Wert besteht, das rinnt gewissermassen zu der allgemeineren Position des »Adels« zusammen, die insofern doch noch von seiner bloss äusseren Macht und Besitz zu unterscheiden ist.

Dies tritt sogar an einer eigentlich umgekehrt gerichteten Formung hervor.

Von den alten Gentilorganisationen hat man hervorgehoben, ein Adel wäre sehr häufig dadurch entstanden, dass der Vorsteher der Gens traditioneller Weise immer aus demselben Geschlecht gewählt worden wäre.

Dieses Geschlecht war also nicht von vornherein das bevorzugte, sondern es wurde dadurch erst bevorzugt, dass man erwartete, es würde immer einen für die Führung Qualifizierten aus sich hervorbringen.

Indem daraufhin die Gesamtfamilie zu einem Adel wurde, diskontierte sie das Verdienst und die Würde, die irgend ein Mitglied von ihr einmal Wahrscheinlicherweise erwerben würde, und die, gleichsam aus der Zukunft zurückstrahlend, dem ganzen Geschlecht die nobilitierende Substanz verschafften. –

Es ist ein belehrendes Gleichnis, wenn man von Edelmetallen, vom »Adel« von Gold und Silber spricht.

Dieser Adel des Metalls besteht, wie mir scheint, zunächst in seiner relativen Unzerstörbarkeit; es wird seines Wertes wegen dauernd konserviert, in seinen fortwährenden Umschmelzungen wechselt es nur die Form, während seine Wertsubstanz relativ unvergänglich ist.

Eine ähnliche Vorstellung liegt dem Gefühl des Adels und für den Adel zugrunde, als ob seine einzelnen Mitglieder gleichsam nur lauter verschiedene Formen einer dauernden Wertsubstanz sind, welche sich durch die ganze Reihe der Vererbungen hindurch erhält.

Damit gewinnt die Beziehung, welche der Einzelne zu seiner historisch auf ihn hinleitenden Gruppe hat, einen ganz besonderen Akzent.

Es ist sozusagen eine Unsterblichkeit des Wertes, die der Adel für sich beansprucht, und die seine soziologischen Verhältnisse zu realisieren suchen.

Dass sich in Russland keine Aristokratie als geschlossener Stand bildete, hat, mindestens bis zum Zaren Fedor, dem Vorgänger Peters des Grossen, folgenden Grund: Die Ehren und Würden eines jeden hängen ausschliesslich von seinem »Dienst«, seiner beamtenmässigen Leistung ab, von der eine Klassifikation der Familien ausging.

Es herrschte nämlich das eigentümliche Prinzip, dass niemand unter einem Vorgesetzten dienen dürfte, der seinerseits unter dem Vater des Kandidaten gedient hatte; um die eventuellen Rechte und Stellungen eines jeden nach diesem Prinzip festzustellen, wurden besondere Register geführt.

Der Erfolg davon waren unaufhörliche Konflikte über Tatsachen und Rechte unter den in Betracht kommenden Familien, offene und versteckte Konkurrenzen und Nebenbuhlerschaften.

Dadurch wurde die Bildung eines zentripetalen Standes, das Zusammenwachsen der einzelnen Kräfte und Vorzüge zu jener gemeinsam-einheitlichen und beharrenden Substanz, um die die ganze soziologische Struktur des Adels wächst, von vornherein unterbunden.

Diese Struktur, schon soweit sie bisher beschrieben ist, lässt ohne Weiteres erkennen, weshalb der Adel auf Ebenbürtigkeit halten muss.

Schon über die alte Clanverfassung hat man behauptet, dass die Adligen der verschiedenen Clane einem einzigen Stande angehörten, und dass, während der Clan als solcher in der Regel exogam ist (also keine Ehe unter seinen Angehörigen gestattet), jener Stand immer die Neigung hätte, endogam zu werden, d. h. nur unter sich zu heiraten.

Setzt der Adel gleichsam einen eisernen Fonds voraus, aus dem jeder ihm Angehörige ausgestattet wird und der der folgenden Generation ungeschmälert überliefert werden muss, so darf jedes Mitglied auch nur aus diesem Kreise hervorgegangen sein, kein Kreis, in dem die Vorzüge nicht erblich sind, welche jenen Fonds geschaffen haben, darf sich in ihn hineinmischen.

Nur so kann man im grossen und ganzen sicher sein, dass jedes Mitglied auch wirklich an der Kraft, Gesinnung, Bedeutung des Ganzen partizipiere, dass jenes eigentümliche Verhältnis, in dem der Wert des Ganzen durch jedes Individuum hindurchwächst, sich realisiere.

Diese Ergänzung aus sich selbst trägt die einzigartige Geschlossenheit und Selbstgenügsamkeit dieses Standes, der sozusagen nichts brauchen kann und nichts brauchen darf, was ausserhalb seiner selbst liegt.

Damit ist er notwendig wie eine Insel in der Welt, dem Kunstwerk vergleichbar, in dem auch jeder Teil seinen Sinn aus dem Ganzen erhält und das durch seinen Rahmen dokumentiert, dass die Welt nicht hineinkann, dass es sich absolut selbst genügt.

Diese Form gibt dem Adel sicher einen grossen Teil des ästhetischen Reizes, den er zu jeder Zeit ausgeübt hat.

Denn er gilt nicht nur den Individuen, so dass er nur an der guten Rasse und daran hinge, dass die Mitglieder des Adels lange Generationen hindurch ihren Körper und ihre gesellschaftlichen Formen besser gepflegt und ausgebildet haben, als es in anderen Ständen der Fall ist; sondern mit dem Gesamtbild des Adels schwebt ein derartiger Reiz mit, sicherlich abhängend von der ästhetisch befriedigenden Form des Für-sich-seins und In-sich-geschlossen-seins, der Solidarität der Teile, welches alles dem Kunstwerk analog ist.

Diese Erfüllung des individuellen Seins mit einer physiologisch und historisch tradierten Substanz kann freilich gerade zu einer dekadenten Leere führen.

Es scheint, als ob sozial überlieferte Inhalte und Bedeutsamkeiten erst dann zu einem wirklichen Lebenswert werden, wenn sie durch die aus dem Individuum quellende, formende Kraft in bestimmtem Masse balanciert werden.

In den vorzüglicheren Erscheinungen des Adels begegnet deshalb gerade ein selbstsicheres persönliches Dasein, ein Gefühl gleichmässig starker Unabhängigkeit, aber auch Verantwortlichkeit des Individuums.

Dies ist der Erfolg der unter den soziologischen Formungen einzigartigen Enge, mit der eine zuverlässige, nach den drei Dimensionen der Vergangenheit, des Nebeneinander und der Zukunft erstreckte Substanz mit der individuellen Existenz verwachsen ist und sich in das Bewusstsein eines sicheren Lebenswertes dieser umgesetzt hat.

Wo aber der individuelle Faktor zu schwach ist, um der überpersönlichen Substanz die persönliche Form zu schaffen, da kommt es, wie gesagt, zu Verfallserscheinungen: es wird dann unvermeidlich jene Substanz selbst zur Form, der Sinn des Lebens ist nichts, als die Bewahrung der spezifischen Standesehre und der »guten Haltung« - wie es etwa an dem Adel des ancien régime schliesslich eintrat.

Die Bedeutung des Stammbaums ist für dieses Verhältnis der Familien - und weiterhin der Adelsgruppe überhaupt - zu ihrem Individuum von tieferer Symbolik: die Substanz, die den Einzelnen bildet, muss durch den einheitlichen Stamm des Ganzen hindurchgegangen sein, wie die Substanz des Zweiges und der Frucht eben die ist, die auch den Stamm gebildet hat.

Vielleicht erklärt diese soziologische Konstitution die Abneigung gegen die »Arbeit«, die die Aristokratie durch die ganze Sozialgeschichte hindurch gezeigt hat, bis die neueste Zeit mit der Demokratisierung der Wirtschaft darin einen Wandel zu bewirken strebte.

Mit der eigentlichen Arbeit gibt sich jedes Mal das Subjekt an ein Objekt hin und, gleichviel ob der Ertrag der Arbeit wieder auf jenes zurückfliesst, so bleibt das Tun als solches doch auf ein unpersönliches Gebilde gerichtet und findet in einer Formung eben dieses seine Vollendung - mag es sich um Bildung und Umbildung von Begriffen in der Erkenntniswelt, um die pädagogische Formung eines Schülers oder um die Bearbeitung körperlicher Stoffe handeln.

Dies aber widerspricht dem fundamentalen Lebensgefühl der Aristokratie als solcher; denn dieses ist ein absolut persönliches, das sein Zentrum im Sein des Subjekts findet, in dessen Wert und in dem, was unmittelbar aus ihm, von dem terminus a quo bestimmt, hervorgeht - während die Arbeit das im eminenten Sinne Zweckmässige, auf ein Äusseres gerichtet, durch den terminus ad quem bestimmte Tun ist.

Darum unterscheidet Schiller von den gemeinen Naturen, die mit dem zahlen, was sie tun, die adligen, die mit dem zahlen, was sie sind.

Der Edelmann beschäftigt sich, aber er arbeitet nicht (welche Bestimmungen alle natürlich im empirischen einzelnen Falle tausendfach modifiziert und abgelenkt auftreten).

Krieg und Jagd, die historisch-typischen Beschäftigungen des Adels, sind, trotz aller damit verbundenen Mühsal, doch nicht im eigentlichen Sinne »Arbeit«, in ihnen hat der subjektive Faktor entschiedenes Übergewicht über den objektiven, das Resultat zeigt nicht wie bei der Arbeit ein von der Persönlichkeit gelöstes Objekt, das die Energie jener in sich eingesogen hat, sondern der Akzent liegt auf der Kraftbewährung des Subjekts selbst.

Eine gewisse Analogie mit dem Leistungstypus des Aristokraten könnte höchstens die künstlerische Arbeit bieten, die ja auch nicht eigentlich am Objekt schafft, für die vielmehr die Formung dieses nur das Ausströmen der rein von innen her bestimmten subjektiven Bewegung bedeutet.

Nur dass das Tun des Künstlers und dessen Wert ausschliesslich aus dem rätselhaften Einigkeitspunkte seiner Individualität fliessen, hinter dem keine weitere Instanz, die ihn trüge oder die sich darin umsetzte, auffindbar ist - während das spezifische Tun und Bewusstsein des Aristokraten auf jener überlieferten Substanz der Familie und des Standes ruht, das in ihm nur eine individuelle, und nun freilich ganz selbstsicher in sich ruhende Form gefunden hat.

Von dieser Charakteristik des Adels durch die Häufung oder ideelle Kristallisierung von Würden und Verdiensten, Vermögen und Ehren, Pflichten und Rechten, die innerhalb der Familie und des Standes erworben sind und an der jedes Mitglied teil hat - nicht pro rata, wie durch Aufteilung, sondern als eines unteilbaren Besitzes, der als die Voraussetzung jedes persönlichen Seins und Tuns wirkt - von dieser Charakteristik kommt eine eigentümliche Ausnahme vor.

In China herrscht die Bestimmung, dass der erbliche Adel allmählich abnimmt.

Es wird niemals der Adel schlechthin erteilt, der nun dauernd der Familie verbliebe und dadurch jene Akkumulierung seiner Bedeutung ermöglichte, sondern es besteht eine unendlich fein abgestufte Würdenreihe, für deren Grade wir gar keine entsprechenden Ausdrücke besitzen; und in dieser steht der Sohn stets eine Stufe niedriger als der Vater, so dass nach einer bestimmten Reihe von Generationen der Adel überhaupt erlischt.

Bin ich recht berichtet, so wird der höchste Adel, der Fürstenstand, auf 26 Generationen verliehen, so dass nach deren Ablauf - und das gilt auch für die Nachkommen der nicht zur Herrschaft kommenden Prinzen des kaiserlichen Hauses - die Familie wieder in den Bürgerstand zurücktritt.

Diese Anomalie, wie sie auch nur bei einem Beamten- oder Papieradel vorkommen kann, bedeutet sozusagen die normale Entwicklung mit negativem Vorzeichen.

Denn jene, wenn auch vielleicht von einer ursprünglichen Verleihung ausgehend, hat ihren Sinn in der allmählichen Häufung tradierter Werte, während hier diese Substanz gleichsam mit einem Male gegeben und allmählich verbraucht wird.

Dagegen zeigt eine in Tahiti gültige Ordnung die normale Form in einer sehr belehrenden Pointierung.

Wenn dort nämlich einem Adligen ein Sohn geboren wird, so addiziert der Vater seine soziale Würde zu Gunsten des Sohnes und zwar »weil dieser einen Ahnen mehr hat als der Vater«.

In einem satirischen Gedicht von Glasbrenner aus der Mitte des 19. Jahrhunderts wird die hohle Würde und aufgeblasene Nichtigkeit eines Adligen geschildert, mit der Schlusswendung, dass er doch einen Stolz mit Recht hätte: »Wenn er selig einst verstorben, Wird auch er ein Ahne sein.« Dies ist dasselbe Grundgefühl wie in dem Falle aus Tahiti, und auf der soziologischen Basis, die nun einmal der Adel mit dem grössten historischen Erfolge festgehalten hat, keineswegs so sinnlos wie gewisse Verfallstypen und soziale Gesamtverhältnisse, bei denen jene Basis nicht mehr bestehen kann, es erscheinen lassen.

Denn die Bestimmung dieser Basis lässt sich nun, nach den weitesten Lebenskategorien, etwa so vollziehen.

Jeder Mensch tritt auf als eine gewisse Kombination von Vorherbestimmtheit und Zufälligkeit, von mitgegebenem Stoff und einzigartiger Formung seines Lebens, von gesellschaftlicher Erbschaft und individueller Verwaltung ihrer.

In jedem sehen wir die Präjudizierungen seiner Rasse, seines Standes, seiner Traditionen, seiner Familie, kurz dessen, was ihn zum Träger vorherbestehender Inhalte und Normen macht - diese sehen wir kombiniert mit dem Unberechenbaren und Persönlichen, dem freien Fürsichsein; jenes gleichsam das Apriori, dieses die singuläre Gelegenheit, die mit jenem zusammen die empirische Erscheinung erzeugt.

Beides ist nun in den grossen gesellschaftlichen Typenbildungen mannigfaltig gemischt und zwar im Adel in einer ganz einzigen Weise, deren wissenschaftliche Festlegung in abstrakten Begriffen natürlich davon unabhängig ist, dass die Komplikationen der Wirklichkeit in diese reinen Verhältnisse stets trübende, ablenkende, besondernde Kräfte einwirken lassen.

Es sind hier jene mannigfaltigen Präjudizierungen wie in ein Strombett zusammengeflossen: indem die gesamten Lebensinhalte, die Erziehung wie die Ehe, die Beschäftigung wie der politische Standpunkt, die ästhetischen Neigungen wie der ökonomische Aufwand, »standesgemäss« sind, sind alle Normierungen, die dem Individuum das Material seines Lebens gleichsam als Halbprodukt übergeben, durch einen einzigen Kanal hindurchgeleitet.

Gewiss hat es in der Zunft und in Priesterschaften, in den erblichen Berufen und in dem Zwange des Kasten- und Klassenwesens überall bindende Präjudizierungen von derselben oder grösserer Strenge gegeben.

Allein das Unterscheidende des Adels ist nun, dass jenes andere Lebenselement: die Persönlichkeit, die Freiheit, das In-sich-ruhende - zugleich zu einem höheren Werte und Bedeutung, als in den anderen Gebilden gekommen ist, weil jene überlieferte Substanz bei ihr nicht die objektive, das Individuum gleichsam übergehende Gestalt angenommen hat; sondern die besondere Form und Kraft des Einzelnen macht diesen ganzen tradierten Stoff erst lebendig.

Mag das Individuum auch oft genug Zwang dadurch erfahren, - der Sinn der ganzen Konstellation ist doch, dass dieser Stoff von Werten, den der Stand und die Familie aufgehäuft haben, dem selbstherrlichen, individuell berechtigten Sein des Einzelnen zugute komme, und dadurch keine Minderung, sondern eine Mehrung erfahre; die auf sich ruhende, für sich verantwortliche und geniessende Existenz ist nicht, wie bei vielen anderen, stark sozialisierten Gebilden ein Abzug von dem Gemeinwohl und Gemeinbesitz, sondern dessen Ausgestaltung, Bewährung, Steigerung.

Zwischen den Extremen: dass das Individuum von seiner Gruppe eingeschluckt wird und dass es ihr mit oppositioneller Selbständigkeit gegenübertritt, steht die besondere Synthese des Adels.

Er hat durch die Strenge der standesgemässen Lebensform, die eine weiteste Berührungsfläche zwischen seinen Mitgliedern schuf; durch die Forderung der Ebenbürtigkeit, die eine physiologische Garantie der qualitativen und historischen Einheitlichkeit des Standes bewirkt; durch die Technik seiner Tradition, die die Werte und Errungenschaften der Familie und des Standes verlustlos wie in ein Sammelbecken einströmen lässt - durch diese soziologischen Mittel hat der Adel seine Individuen in einem sonst nicht erreichten Masse in die Gesamtgruppierung eingeschmolzen.

Aber das so entstandene überpersönliche Gebilde hat nun entschiedener als irgend sonst seinen Zweck und Sinn in der Existenz der Einzelnen, in ihrer Macht und Bedeutung, in der Freiheit und Selbstgenügsamkeit ihres Lebens.

Indem der Adel, in seinen reinsten historischen Erscheinungen, die Lebensweise der Individuen mit unvergleichlicher Kraft in sein Gesamtgebilde zusammenführt, und die Entwicklung dieses wiederum mit vorbehaltloser Gesammeltheit auf die Formung, Steigerung und Selbständigkeit des Einzelnen verwendet - hat der Adel der Gleichung zwischen dem Ganzen und dem Individuum, den vorbestimmenden Gegebenheiten und den persönlichen Ausgestaltungen des Lebens eine historisch einzigartige Lösung gegeben.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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