Georg Simmel: Schopenhauers Aesthetik und die moderne Kunstauffassung
ex: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt
(Neue Frankfurter Zeitung), No. 237, 1. Morgenblatt vom 28. August 1906,
Feuilleton-Teil, S.1-3 und No. 238 1. Morgenblatt vom 29. August 1906,
Feuilleton-Teil, S.1-2 (Berlin)
Der Kern der
Schopenhauerschen Philosophie ist wie bekannt: daß wir an unserm Willen
die deutlichste, bewußte Offenbarung dessen besitzen, was der ganzen
Erscheinung der Welt als ihr wahrhaftes Wesen zu Grunde liegt.
Das rastlose Fluten und Drängen,
das in der ziehenden Wolke und den Lebensvorgängen der Organismen, den zu
einander gravitierenden Körpern und der zuckenden Flamme lebt, ist nur
die dumpfe, unbewußte Form desselben Willens, der jeden Augenblick
unseres Daseins füllt - ob wir leiden oder handeln, genießen oder
verzichten.
Und dies verurteilt das
Leben zu seiner dauernden Qual und Unbefriedigtheit, die der Pessimismus
Schopenhauers formuliert: weil der Wille nichts außer sich hat, woran er
sich dauernd befriedigen könnte, sondern immer nur sich selbst, in
tausend Verkleidungen, greift; er kann, dem tiefsten metaphysischen Sinn
unserer Existenz und der der Welt nach, immer nur an sich selbst zehren
und seinen Durst nicht löschen, weil er selbst das Absolute und
Definitive alles Daseins ist, jenseits dessen Nichts ist.
Das Leben selbst ist nur
eine seiner Manifestierungen; und darum muß innerhalb des empirischen
Menschenlebens alles Denken und Erkennen der Willensfunktion, in der das
eigentliche Wesen unserer Seele lebt, untertan sein.
Gleichviel welchen idealen
Wert die Wahrheit als selbständig gewordene Wissenschaft besitze - daß
wir sie ergreifen, ist Sache der praktischen Impulse des Lebens und des
Wollens, sie erst durchströmen die Inhalte des Verstandes mit Blut und Wärme;
damit freilich verlieren diese ihre Selbstgenügsamkeit, ihren Eigenwert,
und werden zu Mitteln des Willens; die Willensform unserer Existenz: das
Hasten und Drängen, das Ergreifen um loszulassen, Loslassen um zu
ergreifen, bemächtigt sich unseres Intellekts, um sich mittels seiner zu
Einzelzwecken zu gestalten, um sich von ihm die einzelnen Wege ihres
formlosen Dranges vorzeichnen zu lassen.
Neben diesem aber nun lehrt
Schopenhauer, daß der Intellekt die Möglichkeit hätte, sich zeitweilig
von dem Frondienst des Willens zu befreien; wobei er unter Intellekt
keineswegs das logische verbindende Denken versteht, sondern die Bewußtseinssphäre,
in der sich überhaupt das gegenständliche Anschauungsbild der Welt
formt.
Als eine Tatsache, die er
nicht weiter zu begründen versucht, schildert er, wie wir uns in die
Anschauung, in die bloße Vorstellung eines Objekts so völlig zu
versenken im Stande wären, daß alle Regungen, die sich sonst in uns
geltend machen und die immer offene oder verhüllte Willensimpulse sind, völlig
zum Schweigen kommen.
Wir sind in solchen
Augenblicken der absoluten Kontemplation ganz und gar von dem Bilde des
Dinges ausgefüllt, so daß die Bedingung des Willens und seiner Qual: daß
das Ich und sein Gegenstand sich gegenüberstehen, durch die eigentlich unüberbrückbaren
Klüfte räumlicher und zeitlicher Art von einander getrennt sind - daß
diese Bedingung verschwindet.
Vielmehr, wir fühlen, der Betrachtung einer Erscheinung völlig
hingegeben, kein Ich mehr, das von seinem Inhalt gesondert wäre, wir
haben uns in diesen »verloren«.
Damit ist aller Egoismus
aufgehoben, denn das Ich, das ihn tragen könnte, ist versunken, und mit
ihm alles Haben-Wollen, denn in solcher vollendeten Anschauung haben wir
alles von dem Ding, was wir jetzt wollen und wollen können.
Glück und Unglück, die
Attribute des Willens, bleiben jenseits der Grenze, an der die reine
Anschauung beginnt, wo die Dinge nur noch als Vorstellungen, nicht mehr
als Reize unseres Begehrens für uns bestehen.
Dies ist der Kern der ästhetischen
Verfassung: daß sich in uns, kurz gesagt, die Weit als Vorstellung gänzlich
von der Weit als Wille ablöst, von der sie sonst getragen, durchflutet,
getrieben ist; das Dasein der Dinge in unserem Intellekt, sonst den
Zwecken des Lebens dienend, reißt sich von dieser Wurzel im Willen los
und schwebt als reines Bild in eigenem Raum, ohne auch nur dem Ich eine
Sonderexistenz zu lassen; auch dieses muß völlig in dem Bilde, in der
Vorstellung aufgehen.
Dies ist die radikale
Wendung des inneren Menschen, die Erlösung durch den ästhetischen
Zustand, der sich jedem beliebigen Objekt gegenüber einstellen kann,
sobald dessen reiner, vorstellungsmäßiger Inhalt, keinem
Willensinteresse mehr dienend, uns erfüllt: was wir schön nennen, sind
nur solche Objekte, die uns die von dem Willensgrunde in uns gelöste
Betrachtung erleichtern, das künstlerische Genie ist ein Mensch, dem
diese vollständiger und umfassender gelingt als allen anderen, das
Kunstwerk ist ein Gebilde, das uns gewissermaßen zu ihr zwingt; mit ihm
ist der aus allen Verflechtungen mit dem Begehren und dem bloß
Praktischen herausgewonnene Vorstellungsinhalt der Dinge und Geschicke zu
einem eigenen Dasein gelangt - die Kunst, so drückt Schopenhauer es
einmal wundervoll aus, »ist überall am Ziele«.
Zwischen dem schöpferischen
Genie und dem aufnehmenden Individuum stehend ist sie die Wirkung wie die
Ursache jener Emanzipation des reinen Intellekts vom Willen, aus der sich
nun ihre ganze Bedeutung innerhalb der Metaphysik Schopenhauers entfaltet.
Die Wandlung, die sie zunächst
im Subjekt erzeugt, habe ich schon angedeutet: die Individualität, die
qualitative und raum-zeitliche Besonderheit des Menschen sinkt vor ihr
unter.
Wie der ästhetische Zustand vor einem Sonnenuntergang der gleiche ist, ob
man ihn aus dem Fenster eines Kerkers oder eines Palastes erblickt, so
schwebt das Auge, das ein Bild genießt, das Ohr, das sich den Tönen der
Musik ergibt, in einem Reiche, in dem es gleichgültig ist, ob dieses
Auge, dieses Ohr einem Könige oder einem Bettler angehört.
Ebendieselbe Erlösung aber
aus der Individualität, der raumzeitlichen Bestimmtheit, den kausalen und
dem Fluß der Lebenselementen eigenen Relationen, die das Subjekt der ästhetischen
Anschauung gewinnt, kommt auch ihrem Objekt zu; in ihr heben wir den
Gegenstand aus seiner Verflechtung mit seinen Umgebungen, die nicht in
eben diese ästhetische Anschauung mit eintreten, absolut heraus und wie
er so seine Relativität verliert, so auch seine Individualität, die auch
ihm nur vermöge der beziehenden Unterscheidung gegen anderes, und vermöge
des Bestimmtwerdens durch Elemente außerhalb seiner zukommt.
Was aber so übrig bleibt
oder entsteht, das nennt Schopenhauer mit Berufung auf Plato die Idee des
Dinges, die den eigentlichen Gegenstand der Kunst ausmacht.
Alle in Zeit und Raum
wirklichen Einzeldinge besitzen außer ihren kausalen und sonstigen, ihre
Realitäten verbindenden Relationen noch eine Beziehung völlig anderer
Art: wir empfinden oft, daß Individualerscheinungen nur ein Beispiel
eines Allgemeinen sind, das von dem Auftauchen und Verschwinden, dem Oft
und Selten, dem Hier und Dort jener Wirklichkeiten nicht getroffen wird,
sondern jenseits all dieses eine eigentümliche Bedeutung bewahrt,
freilich aber von keiner einzelnen Wirklichkeit in voller, ungetrübter
Reinheit dargestellt wird.
Indem wir dieses mit einer
besonderen Art von Anschauung in jedem einzelnen Dinge erblicken, erschöpft
es doch in diesem einzelnen nicht, sondern bleibt in seiner überindividuellen
Bedeutsamkeit davon ganz unberührt, in welcher Vollständigkeit oder
Gebrochenheit es durch die zufällige Verwirklichung hindurchleuchtet.
Es gibt also
Vorstellungsobjekte, welche, sozusagen formal, genau dem Subjekte der ästhetischen
Vorstellung entsprechen. Indem wir den Gegenstand auf seine »Idee«
hin ansehen, die zugleich sein innerstes Wesen und sein nie völlig
realisiertes Ideal ist, entheben wir ihn ebenso seiner Einzelheit, der bloßen
Relativität seiner zeit-räumlichen Stellung, der Verflochtenheit in das
physische Sein, wie wir selbst, ästhetisch betrachtend, all diesem
enthoben sind.
Dies nun begründet für
Schopenhauer den Schluß - freilich nur durch eine Art von Indizienbeweis
-, daß der Gegenstand unserer ästhetischen Anschauung eben diese »Idee«
ist, dieses durch sie hindurch schimmernde Allgemeine, das wir zwar in dem
Einzelnen schauen, das aber seinem Wesen nach gegen diese einzelne
Konfiguration ganz indifferent ist.
Aesthetisch betrachtend
sehen wir in dem individuellen Ding sein Allgemeines, während wir es in
dem logischen Allgemeinbegriff nur denken.
Das Kunstwerk bedeutet: daß
der ideelle Kern, den die ästhetische Betrachtung in jedem Objekt
erblickt, wie in reiner Kristallisierung dargestellt wird, sich gleichsam
seinen eigenen, keinen fremden Bestandteil mehr tragenden Körper baut.
Indem das Objekt durch das geniale Subjekt hindurch geht und nur seinem
Ideenwerte nach aus ihm wieder heraustritt, wird dieser Wert für alle
anderen Subjekte nur greifbarer, begreifbarer.
Ein solcher als Anschauung
lebender Typus, die Formstufe, in deren Umrisse die Wirklichkeit, den
Gesetzen des raum-zeitlichen Geschehens gemäß, eine Unendlichkeit ihrer
Geschöpfe gießt, ist schlechthin einzig, für sich bestehend, in ihrem
Sinne gegen alles Vorher und Nachher und Daneben gleichgültig.
Es mag eine endlose Zahl
solcher Stufen geben, endlose Möglichkeiten, sie durch die Kunst zu
deuten - aber jede kann es nur einmal geben, dieselbe zum zweiten
Male würde mit dem ersten Male zusammenfallen; während die einzelnen
realen Dinge, die gleichsam nach diesem Muster gebildet sind, in unermeßlicher
Vielheit nebeneinander und nacheinander existieren.
Die Forderung des ästhetischen
Gebildes: selbstherrliche Einheit und Einzigkeit, verbunden mit überindividueller
Gültigkeit und Normierungskraft für eine Unendlichkeit von Einzelnem -
wird durch die metaphysische Konstruktion jener Ideen eingelöst, indem
der ideale Sinn und Inhalt jeder Stufe nur einmal und in völliger
Autonomie existiert, aber durch jedes der zahllosen Gebilde, durch die die
Natur diese Stufe verwirklicht, als ihr nur unvollkommen erreichtes Urbild
für den ästhetischen, genießenden oder schöpferischen Blick
hindurchleuchtet.
Daß die Idee, der Gegenstand der ästhetischen Anschauung, nicht in Zeit
und Raum ist, könnte angesichts des Zeitverlaufs in Drama und Erzählung,
angesichts der Raumdarstellung in der bildenden Kunst ganz unbegreiflich
erscheinen.
Wenn Schopenhauer in Bezug
auf die Unräumlichkeit des Aesthetischen sagt - »Nicht die mir
vorschwebende räumliche Gestalt, sondern der Ausdruck, die reine
Bedeutung derselben, ihr innerstes Wesen - ist die Idee und kann ganz
dasselbe sein, bei großem Unterschied der räumlichen Verhältnisse der
Gestalt« - so offenbart sich darin allerdings sein Abstand von der
modernen Auffassung der Kunst, die er sonst vielfach antizipiert.
Gewiß hat er für seine
Kunstphilosophie ein intimeres Verhältnis zur Anschaulichkeit
mitgebracht, als vielleicht irgend ein Philosoph vor ihm; allein der
goethische Klassizismus auf der einen Seite, die - trotz aller
prinzipiellen Klarheit über den Gegensatz von Begriff und Idee - noch
bestehende abstrakt-Intellektuelle Färbung der Idee auf der andern
hinderten ihn an der rein artistischen Auffassung der Kunst, die zwar eine
weitere und metaphysische Ausdeutung durchaus zuläßt, aber nicht das
Eingreifen dieser in den immanenten Zusammenhang des Aesthetischen, so
wenig wie in den der Naturwissenschaft.
Dennoch handelt es sich
sich zwischen ihm und uns nur noch um eine um eine genauere
Differenzierung, um eine sozusagen nur quantitative Entwicklung.
Daß die Räumlichkeit ein
absolut wesentlicher Inhalt des Bildwerkes ist, läßt sich mit seiner
Erhebung aus der realen räumlichen Bestimmtheit durchaus vereinen.
Denn wenn auch der Raum im
Kunstwerk ist, so ist doch das Kunstwerk nicht im Raum.
Die Leinwand mit ihrem
Farbenauftrag oder das Stück Marmor steht zwar im Raume.
Aber der Raum, den das Bild
darstellt, die räumliche Konfiguration der Gestalt, die den Inhalt der
Plastik bildet - diese sind durchaus nicht realer Raum, sind durchaus
nicht von den Grenzen umfaßt, die die Leinwand und der Marmor als
Materienstücke im realen Raum umfassen und bestimmen.
Mit dem Zeitbegriff steht
es ersichtlich ebenso: die Zeit, in der das Drama verläuft, ist eine rein
ideelle, und völlig damit verträglich, daß es der Zeit als einer Form
des realen Lebens gänzlich entrückt ist.
Der Raum und die Zeit, in
denen wir leben, umgeben jedes Ding und jedes Schicksal, machen es dadurch
zu einer bloß individuellen Existenz, geben ihm Grenzen von außen her.
Das Kunstwerk aber hebt nur
den reinen Inhalt solcher heraus und stellt diesen ganz jenseits jeder
Stelle, die ihm von einer Begrenzung durch anderes kommen könnte.
Der Raum und die Zeit, die
in einem Kunstwerk in die Erscheinung treten, werden also tatsächlich gar
nicht von anderen Räumen und Zeiten begrenzt, sondern ein jedes von ihnen
bildet seine Welt - die des betreffenden Kunstwerkes - für sich allein.
Vom Standpunkt der Realität aus gesehen bleibt also das Kunstwerk völlig
unräumlich und unzeitlich, auch wenn es selbst zeitliche und räumliche
Bestimmungen einschließt, die aber nicht weniger als alle seine sonstigen
in der Sphäre der Idee leben.
Daß Schopenhauer diese
beiden Räume nicht unterscheidet: den Raum innerhalb des Kunstwerks, der
seiner Idee als Element zugehört, und den Raum um das Kunstwerk herum,
von dem jener
überhaupt nicht berührt
wird -, läßt ihn zu dem ganz aus-sichtslosen Versuch greifen, den Raum
aus dem Kunstwerk als etwas dafür Irrelevantes hinwegzudeuten.
Eine tiefere als diese,
durch eine gewisse Verschärfung der Begriffe lösbare Diskrepanz zwischen
der Schopenhauerschen und der modernen Kunstanschauung besteht in Hinsicht
des allgemeinen Gegenstandes der Kunst.
Mit großer Entschiedenheit
lehnt Schopenhauer ab, was wir heute Naturalismus und Impressionismus
nennen.
Alle Nachahmung der
Wirklichkeit hat mit Kunst nichts zu schaffen; man kann seine Argumente
dafür so zusammenfassen, daß die bloße Nachahmung uns nur das gäbe,
was wir ja sowieso schon haben, und daß ihr deshalb die Erlösung und der
Übergang zu einer anderen Welt, die uns die Kunst schafft, nicht gelingen
kann.
Ebensowenig aber wie ein
herausgeschnittenes Stück Natur kann eine Zusammensetzung natürlicher
Elemente - die in der Wirklichkeit an viele individuelle Erscheinungen
verteilt sind - den eigentlichen Gegenstand der Kunst ausmachen.
Denn ein solcher Empirismus
der Kunst würde seine eigene Voraussetzung unerklärt lassen: das
Kriterium nämlich, nach dem unter den einzelnen, von der Natur
dargebotenen Erscheinungen, die Auswahl der Teile getroffen werde, aus
denen das Kunstwerk erwachsen soll.
Auf dem Wege des
Naturalismus und des Empirismus ist also das Wesen der Kunst nicht zu
finden, weil sie nicht ein Gegebenes aufzunehmen und weiter-zugeben hat,
sondern einerseits durch das Gegebene gleichsam hindurchgreifend von der
Idee lebt, andererseits die tieferen Schichten unseres Seins jenseits der
bloß rezeptiven, erfahrungbildenden in Tätigkeit setzt.
So sehr nun mit alledem
abgelehnt ist, daß die Kunst die Schleppenträgerin der Wirklichkeit sei,
so ist dennoch ihre Autonomie im Sinne der modernen Auffassung damit noch
nicht erreicht; denn es stellt sich ihr Verhältnis zur »Idee« doch als
eine vielleicht nicht geringere Abhängigkeit dar.
Niemand wehrt sich so
dagegen, daß die Kunst einen »Zweck« habe, als Schopenhauer. Und nun
hat sie doch einen Zweck: Die Idee darzustellen, von der ihr Reiz und
Bedeutung kommt. Denn solange wir im rein Aesthetischen bleiben, mag die
Idee nur ein Name für den Gegenstand der Kunst sein; innerhalb des
metaphysischen Weltbildes Schopenhauers aber ist sie eine selbständige
Wirklichkeit und die Kunst nur ein Mittel, sie darzustellen.
Hätte die Menschheit etwa
Formen zur Verfügung, die Idee adäquater auszudrücken, als durch die
Kunst, so müßte Schopenhauer diese konsequenterweise für überflüssig
erklären.
Mag Kunst nicht anders denkbar sein, als indem die Ideen ihren Inhalt
bilden - die eigentüm-liche Art, in der gerade die Kunst ihn formt,
besitzt für das moderne Gefühl einen Wert und einen Sinn, der von dem
Wert und dem Sinn dieses Inhalts unabhängig ist; wie vielleicht der Reiz
des menschlichen Körpers ein ganz anderer oder minderer wäre, wenn er
nicht der Träger einer Seele wäre, aber nun doch als dieses eigentümliche
Gebilde einen Wert für uns hat, der bestehen bliebe, auch wenn die Seele
sich etwa in anderen Gestaltungen viel adäquater ausdrücken könnte.
Es ist sehr schwierig, bei
zwei in der Tatsächlichkeit unbedingt verbundenen Elementen das
Sonderrecht des einen herauszustellen, das er freilich nur in der
Verbindung mit dem anderen realisieren kann; aber es bleibt das Verdienst
der Formel des l'art pour l'art, die Eigenbedeutung der Kunstform als
solcher zu pointieren, gleichviel ob sie historisch, psychologisch,
metaphysisch nur mit, vielleicht sogar aus andersartigen Bedeutsamkeiten
besteht.
Man mag mit Recht subjektiv
ein l'art pour le sentiment, objektiv ein l'art pour l'idee fordern; jene
erste Formel aber bezeichnet ein Drittes, das der Kunst erst ihr eigenes
Reich zuweist, wie die Erkenntnis, wie die Religion, wie die Moral solche
besitzen, so sehr jedes tatsächlich nur in der Verflechtung mit Werken außerhalb
seiner spezifischen Domäne in die Erscheinung treten mag.
Die Idee hat ihre
metaphysische Wirklichkeit, ohne Rücksicht darauf, ob sie ästhetisch
erscheint, künstlerisch verkörpert wird; ruht nun der Wert der Kunst
ausschließlich auf der Idee, die in ihr zum Ausdruck gelangt, ist sie,
wie Schopenhauer will, in eben dem Maße vollkommener, in dem sich die
Idee in ihr reiner, vollständiger darstellt, so bleibt sie ein bloßes an
sich indifferentes Mittel, und die Trennung ihrer Eigenbedeutung von
allem, was nicht Kunst ist, ist trotz alledem nicht gelungen.
Auch nicht dadurch, daß
Schopenhauer ihr Wesen in die Form setzt, da alle Materie das schlechthin
Einzelne, nur einmal Vorhandene sei, während die Form für eine
Unendlichkeit von Wesen als die immer identische gelten kann.
Denn nach dieser Ablösung
der künstlerisch indifferenten Stofflichkeit der Dinge bleibt keineswegs
die Form als der alleinige Bestand der Kunst übrig; sondern es gibt noch
ein Drittes außer Materie und Form: das, was man den Inhalt nennen kann.
An einer menschlichen Erscheinung z. B. fällt für den Sinn der Kunst zunächst
die Materialität fort; was dann noch besteht, ist freilich ihre Form,
aber noch nicht die Kunstform ihrer, sondern die Form ihrer bloßen
Wirklichkeit, welche erst ihrerseits in die spezifischen Kunstformen der
Malerei, der Plastik, bzw. der verschiedenen Stilisierungsarten zu
gestalten ist.
So liefert die Wirklichkeit
nach Abzug ihrer Materialität dem Kunstwerk ihre Form, die für dieses
und seine Gestaltungskräfte zum Inhalt wird.
Und nun erst erhebt sich
die eigentlich entscheidende Frage: ob die Darstellung dieses Inhaltes
oder die Darstellung dieses Inhaltes den Sinn und Wert des Kunstwerkes
ausmacht, ob die Umformung, die der Inhalt der Wirklichkeit erfährt, um
Inhalt des Kunstwerkes zu sein, nur an der ihr gelingenden Verdeutlichung
dieses an sich interessierenden Inhaltes ihren Zweck hat, oder ob sich an
sie selbst ein Interesse heftet, das, obgleich nur an einen Inhalt anknüpfbar,
doch von sich aus allein die Existenz der Kunst rechtfertigt.
Diese Frage hat
Schopenhauer nicht in solcher Schärfe aufgeworfen, aber er hat sie
entschieden: so, daß das Kunstwerk um seines Inhaltes - nämlich der Idee
willen besteht, daß alles, was man das Funktionelle der Kunst nennen könnte:
die Stilgebung, die Anwendung der technischen Mittel, der Ausdruck der künstlerischen
Individualität, die Lösung der spezifischen, nur der einen und keiner
anderen Kunst zufallenden Aufgaben - daß alles dies sein Interesse nur
von dem Interesse an der Idee zu Lehen trägt, die den jeweiligen Inhalt
des Werkes bildet.
Ich will eine Stelle anführen,
die die ganze Unversöhnlichkeit seines Gesichtspunktes mit dem eigentlich
artistischen kraß beleuchtet. Der »eigentliche» Zweck der Malerei, sagt
er, wäre die Auffassung der Ideen, wobei wir zugleich in den Zustand des
willensfreien Erkennens versetzt würden; außerdem aber komme ihr noch
eine
»davon unabhängige
und für sich gehende Schönheit zu, durch die bloße Harmonie der
Farben, das Wohlgefällige der Gruppierung, die günstige Verteilung des
Lichtes und Schattens und den Ton des ganzen Bildes. Diese
untergeordnete Art der Schönheit befördert den Zustand des reinen
Erkennens und ist in der Malerei das, was in der Poesie die Diktion, das
Metrum und der Reim ist: nämlich nicht das Wesentliche, aber das zuerst
Wirkende.«
Es ist leider kein Zweifel:
er hat damit einen erhebliche vielleicht den erheblichsten Teil jener
reinen, nur ihren inneren Gesetzen gehorsamen Kunstform als ein nur
subjektiv wirksames Reizmittel denunziert; wogegen, wenn die Kunst
wirklich als Kunst, als eine besondere Gestaltung der Daseinsinhalte,
Selbstzweck ist, all diese »untergeordneten« Elemente gerade einen
objektiven Wert haben und mit den nicht in gleichem Maße sinnlichen
Elementen zu der absoluten Einheit der künstlerischen Formgestaltung
zusammengehen, aber keineswegs als deren Schrittmacher »für sich gehen«.
Nachdem Schopenhauer die
Selbstherrlichkeit der Kunst siegreich aller Unmittelbarkeit des Erlebens
und allem begrifflich ausdrückbaren Inhalt abgerungen hat, beugt er sie
nun doch zur Dienerin, wenn auch nur eines metaphysisch bedeutsamen
Inhaltes herab.
Es ist aber noch eine
Auffassung dieser Lehre möglich, die die Degradierung der Kunst zum bloßen
Vortragsmittel für die Idee, als für das allein Wertvolle und
Interessierende, doch einigermaßen mildert.
Man kann dies so
formulieren: das Wesentliche und Beglückende an der Kunst sei nicht nur,
daß sie die Ideen ausdrückt, sondern daß sie die Ideen ausdrückt.
Diese beiden Motive gehen
bei Schopenhauer neben einander her.
In der Hauptsache klingt es
so, als ob es nur auf dies Bewußtwerden der Ideen ankäme, gleichviel auf
welche Weise wir dazu gelangen; dann aber hört man doch heraus, es komme
eben darauf an, daß die Ideen sich an sinnlichem Stoff, an einer
Einzelerscheinung offenbaren.
Er müßte zugeben, daß
die Idee an und für sich nicht »schön« ist; schön vielmehr ist das
Ding, das die Idee in einer gewissen Deutlichkeit und Vollständigkeit
sichtbar macht, und zwar mehr oder weniger schön in dem Maße, in dem es
diese Funktion besser oder schlechter ausübt, und mehr oder weniger
sicher zur Auffassung der Idee zwingt.
Was wir häßlich oder unkünstlerisch
nennen, wäre dann ein Wesen oder ein Werk, dessen sich darbietende
Erscheinung uns keinen klaren Blick in ihre Idee gestattet, in die
Seinsstufe, zu deren Darstellung diese Erscheinung bestimmt ist.
Diese negative Instanz des
Häßlichen interpretiert vielleicht die fragliche Auffassung des
Aesthetischen am klarsten.
Daß die Schönheit doch
nicht an der Idee haftet und die sinnliche Form der an sich indifferente
Träger für sie ist, zeigt sich daran, daß umgekehrt das bloße
Nicht-Dasein der Idee doch nichts Häßliches sein kann - häßlich ist
nur das Sinnending, insoweit es der Idee entbehrt oder vielmehr insoweit
es nach seiner Struktur und der unserer Seele es uns erschwert, die in ihm
so gut wie in dem »Schönen« lebendige Idee wahrzunehmen.
An und für sich müßte
jeder Gegenstand genau so »schön« sein wie jeder andere, da es keinen
gibt, der nicht das Beispiel einer Idee wäre; für einen Intellekt, der
sich dieser objektiven Beschaffenheit der Dinge genau anpaßte, wäre
Kunst nicht nötig, ja nicht möglich.
Da nun aber unser
menschlicher Geist ein unvollkommenes, zufälliges, variables Verhältnis
zu den Ideen hat, so entsteht für ihn die Erscheinung des Schönen durch
die Verschiedenheit des Maßes, in dem die Erscheinungen gerade ihm ihre
Ideen offenbaren; denn für jenen absoluten Geist, dem alles gleichmäßig
schön ist, wäre ersichtlich nichts schön, weil Schönheit ihren Sinn
verliert und unempfindbar wird, wenn sie an jedem Punkte des Daseins in
absolut gleicher Höhe haftet.
Wenn gewisse Tiere uns
immer häßlich erscheinen, so beweist dies nicht den objektiven Mangel
der Idee in ihrer Erscheinung, sondern meistens nur, daß sie durch
unvermeidliche Gedankenassoziationen uns Aehnlichkeit mit anderen Gebilden
aufdrängen, z. B. der Affe mit dem Menschen, die Kröte mit Kot und
Schlamm - die uns an der reinen Auffassung des an sich auch ihnen
zukommenden ideellen Wesens hindern.
Es ist also ein
eigentlich unvollständiger, äußerst leicht mißzuverstehender Ausdruck
Schopenhauers, daß die Kunst nur der Offenbarung der Idee diene.
Denn wäre das genau
richtig, würde das erreichte Ziel sich selbst illusorisch machen: wären
uns alle Ideen der Dinge gleichmäßig und restlos zugängig gemacht, und
bedeutete dies die Schönheit, so würde es keine ästhetischen
Wertunterschiede und also überhaupt keine ästhetischen Werte mehr geben.
Was die Kunst leistet, ist
konsequenterweise dies, daß sie die Idee an einer Materialität, in einer
Sondergestalt ausdrückt, die ihr noch einen gewissen Widerstand
entgegensetzen, an denen das, was nicht Idee ist, nicht ganz verschwunden
ist.
Die Idee würde dann für
die Kunst in demselben Sinn und derselben Bedingtheit bedeutsam sein, wie
die seelische Beschaffenheit eines Menschen es für die geschlechtliche
Liebe ist, die auf Grund jener entstanden ist.
Diese Liebe mag ihre Wärme,
ihren Sinn, ihre ganze Substanz von der Sympathie für jene Seele zu Lehen
tragen, von der geheimnisvollen, erlösenden, beglückenden Reaktion auf
ihr Dasein - dennoch würde sie als Liebe nicht oder nicht so bestehen,
wenn die Seele nicht mit dem Körper verbunden wäre.
Dieser Körper mag für
sich allein durchaus keine erotische Anregung gegeben haben, ja er mag dem
tiefsten seelischen Bedürfnis als ein Hemmnis, als ein eigentlich zu Überwindendes
erscheinen, das den reinen Strahl der Seele bricht und beschattet - so
scheint die Seele doch nur, indem sie sich in dieser trübenden
Herabsetzung offenbart und die Durchseelung ihrer Hülle nie völlig
erreicht, die spezifische Energie des Geliebtwerdens zu entfalten.
Auf diese Weise wäre es
allerdings durchaus kein Widerspruch, daß die Kunst ihren Wert und Sinn
nur von der Idee entlehnt, die sie an den Erscheinungen sichtbar macht,
und dennoch dieser Wert nicht an den Ideen haftet, sondern nur daran, daß
eine Einzelerscheinung, deren greifbarer Materialität an sich die Idee völlig
fremd ist, von ihr durchdrungen ist.
Dadurch erst wird die
Kategorie des Schönen und der Kunst eine völlig originäre, auf keine
Komponenten zurückführbare: denn sobald die Idee und die
Einzelerscheinung auseinandertreten, ist an keiner von ihnen der ästhetische
Wert auffindbar, den die erstere der andern mitteilt und den sie nur
geben, aber nicht haben kann.
Gerade aber gegenüber dem
Glanz und Glück der Idee, in und von der die Kunst lebt, gegenüber also
der ganzen Schopenhauerschen Ästhetik erhebt sich die Frage, wie weit sie
sich mit dem Pessimismus seiner allgemeinen Weltanschauung verträgt.
Wie kann die reine und
tiefe Erkenntnis der Dinge, die das Wesen der Kunst ist, uns beglücken,
wenn das Erkannte selbst nichts als Qual ist?
Denn ihr Objekt ist doch
nicht das Seelenlose der bloß räumlichen Anschauung, von dessen
Verselbständigung und Herauslösung aus allen Verflechtungen des bewegten
Lebens allerdings die Befreiung von allem Willen und Leiden am
entschiedensten zu erwarten wäre; so daß die moderne Deutung aller
bildenden Kunst als Darstellung und Klärung der Raumgebilde uns tatsächlich
vor allem Hineingezogenwerden in das Dunkle und Fragwürdige der
Innerlichkeit der Dinge am entschiedensten sichert und der ästhetisch
gestalteten Seele die größte Freiheit ihren Objekten gegenüber, weil
keine eigne Seelenhaftigkeit dieser unser Walten mit ihnen präjudiziert.
Allein die Künste haben
doch jenseits der bloß optischen Anschauung auch noch das Ganze und
Innere des Lebens zu ihrem Gegenstande, und Schopenhauer zieht daraus so
vorbehaltlos den für ihn konsequenten Schluß, daß er aus der Tragödie
das optimistische Moment der »poetischen Gerechtigkeit« völlig streicht
und in ihr ausschließlich den Schmerz und den Jammer der Mensch-heit, den
Triumph der Bosheit und den Fall der Großen und Gerechten dargestellt
sieht.
Tatsächlich klafft bei
dieser Auffassung zwischen dem Charakter des Inhaltes und dem Genuß an
seiner Darstellung ein Spalt, den Schopenhauer nicht überbrücken kann
und der ihn bewegt, diesen Genuß zu streichen und die Wirkung der Tragödie
ausschließlich ins Moralische zu setzen, in die Resignation und innere
Befreiung von einer Weit und einem Lebenswillen, die derartige Früchte
tragen.
Wo nun aber die Darstellung
der Szenen und der Empfindungen des Lebens tatsächlich zu ästhetischem
Genuß wird, bleibt der psychologische Widerspruch bestehen, daß jene
Inhalte für uns um so furchtbarer sind, je tiefer und wahrer sie erkannt
sind, und daß diese Erkenntnis gerade in demselben Maße ästhetisch genußreicher
ist. Man kann diese Schwierigkeit in Schopenhauers Sinne wirklich nur so lösen,
daß die reinen Inhalte der Dinge, als solche vorgestellt, nichts von der
Qual enthalten, die von eben denselben, wenn sie sind und als seiend
vorgestellt werden, unabtrennbar ist.
Es wäre ein plumpes Mißverständnis
dieser Lehre, wollte man sie für etwas ganz Selbstverständliches erklären,
da wir ja freilich nur das Seiende fühlen können, also ein Leiden natürlich
nur aus einer Wirklichkeit stattfinden kann, nicht aber aus dem bloßen
Bild der Dinge, das sozusagen nicht an uns rühren kann.
Denn dies letztere ist
nicht richtig.
Auch die erdichtete
Geschichte »rührt« uns, mit einer Gefühlsreaktion, in der auch das
Leiden anklingt, antworten wir auch auf die Vorstellung des bloßen
Inhaltes der Dinge.
Nur daß dieser Reaktion
der Ton von - sozusagen - Unversöhnlichkeit fehlt, der eigentlich über
aller Wirklichkeit liegt, das schmerzhaft Unwiderrufliche des Seins.
Die Kunstform mag aus dem
rein vorgestellten Inhalt der Dinge das hinwegläutern, was auch ihm noch
an Leidensreaktionen zukommt, und so kann die logische Bedeutungslosigkeit
der bloßen Seinsform es Schopenhauer nicht verwehren, in der Kunst die
Befreiung von den Leiden zu erblicken, die ihrem Inhalt, sobald er ist,
unvermeidlich sind.
Nur darüber wird Streit
sein können, ob diese reine Negativität, dieses Nicht-Fühlen des
Leidens am Sein wirklich den psychologisch unbestreitbaren positiven Genuß
an der Kunst ausmachen kann - selbst auf dem Boden der Schopenhauer-schen
Auffassung vom Glück als dem bloßen Aufhören eines Leidens, dem bloßen
Ausfüllen einer Lücke, dem bloßen Nicht-Mehr-Sein eines Begehrens.
Es gibt eine einzige Zeile
bei Schopenhauer, die die empirisch unleugbare Positivität des ästhetischen
Glücksgefühles allerdings aus der bloßen Negativität der
verschwundenen Qual herzuleiten gestattete.
Er sagt einmal, im Reiche
der Kunst wären wir nicht nur dem wirklichen Leiden, sondern sogar der »Möglichkeit«
eines solchen enthoben.
Denn dies Reich freilich
kann seinem Grundgesetz nach, keinem wirk-lichen Leiden, höchstens dem
bildartigen Reflex desselben Raum geben, weil es den Willen, den Sitz
jeglicher Qual, mit logischer Notwendigkeit ausschließt.
Und solche Unmöglichkeit
des Leidens ist allerdings etwas anderes, ist von qualitativ anderer Gefühlsbedeutung,
als seine bloße Unwirklichkeit.
Wenn das Leben in der
Realität uns auch Ruhepausen seiner Schmerzen gewährt, so steht hinter
ihnen immer die Gefahr, daß die Qual von neuem hervorbricht, wir
empfinden in dem dunklen Fundamente dieser momentanen Erlösungen ihre Zufälligkeit
und daß dieselbe gleichgültige Gesetzlichkeit, die sie herbeiführt, im
nächsten Augenblick, ohne sozusagen einer prinzipiellen Wendung zu bedürfen,
uns wieder mit dem vollen Maß der Schmerzen überschütten kann.
Daß keinerlei Verkettung
innerhalb der ästhetischen Welt ein solches Glied enthalten kann, daß
wir jener Zufälligkeit prinzipiell in ihr nicht preisgegeben sind, mag
allerdings ein Gefühl von Ruhe und Erlöstheit geben, das, obgleich es
inhaltlich sich doch auch nur in der Negativität des Leidens hält, der
Seele eine viel tiefere, überhaupt anders gerichtete Reaktion entlockt,
wie das rein tatsächliche Freisein von Schmerzen.
Allein Schopenhauer scheint
das Neue und fruchtbar Tiefsinnige seines eigenen Gedankens hier gar nicht
bemerkt zu haben.
Er verflicht das Glück der
Kunst gerade wieder in die Reihe der gelebten Wirklichkeit, der er es mit
jener Bemerkung enthoben hatte, indem er es mit dem Glück des Schlafes
vergleicht.
Dabei aber bleibt die unableugbare qualitative Differenz dieser beiden Glücksformen
völlig dunkel und ist aus dem Prinzip selbst nicht zu erklären.
Alles Glück mag seinem
inneren Wesen nach etwas nur Negatives sein: die Unterschiede innerhalb
seiner, die nicht nur quantitative sind, nicht nur als Mischungsformen mit
dem Leiden entstehen, bedürfen positiver Ursachen - für die das
pessimistische System keinen Raum gibt.
Und wie typischer Weise die
Versagung einer relativen Konzession zur Folge hat, daß diese in viel höherem,
ja in absolutem Maße gemacht wird, so enthält jene Leugnung einer
spezifischen und positiven Beglückung durch die Kunst eigentlich einen
nach zwei Seiten hin höchst gesteigerten Optimismus.
Zunächst diesen: daß es
schon genügt, nicht unglücklich zu sein, um glücklich zu sein. Es ist
oft das Verhängnis radikaler Deduktionen, daß sie das positive wie das
negative Vorzeichen gleichmäßig vertragen. Daß das Glück nichts
anderes ist, als das Aufhören des Leidens; ist der tiefste Pessimismus;
daß das Aufhören des Leidens schon Glück ist, ist der höchste
Optimismus.
Welche dieser Stimmungen
man Mit jenen Behauptungen also beweisen will, hängt ersichtlich nicht
von der Behauptung selbst, sondern von der von vorn-herein mitgebrachten
Stimmung ab.
Und zweitens: daß die Welt
ihrem Inhalt, ihrer reinen Vorstellungsseite nach absolut befriedigend,
beglückend, ästhetisch vollkommen ist - das scheint mir ein Optimismus
zu sein, der dem Pessimismus über ihr Sein die Waage hält.
Wenn die als unwirklich
gedachte Welt nicht mehr die Sinnlosigkeit, den Widerspruch, die
Verzweiflung der wirklichen in sich trüge, sondern völlig freudlos und
leidlos wäre, für unser Gefühlsschicksal so gleichgültig, wie für den
Lauf eines Stromes die Bilder der Wolken, die durch seinen Spiegel ziehen
- so wäre dies mit dem radikalen Pessimismus verträglich; daß aber die
Weltinhalte über die Indifferenz hinaus uns beseligen und umso tiefer, je
wahrer der Spiegel der Kunst sie zeigt - das ist eine schlechthin beglückende
Struktur der Welt, und zwar ein Reichtum an Glück, gegen den der
Pessimismus des Daseins, selbst in seinem ganzen Radikalismus zuzugeben,
als etwas Armes und sozusagen Dimensionsloses erscheint.
Ja, nicht nur einem
Optimismus, sondern auch dem von ihm verpönten Realismus, der die Kunst
der bloßen Wirklichkeit untertan sein läßt, gibt Schopenhauers Prinzip
Raum.
Denn indem die ganze
subjektive eudämonistische Bedeutsamkeit der Kunst in das Freisein von
der Wirklichkeit gesetzt wird, wird sie von dieser dennoch abhängig, wenn
auch mit negativem Vorzeichen.
Sie wird hier wie beim
Realismus von der Wirklichkeit aus gesehen.
Die Kunst lebt hier
sozusagen auf dem Verschwindepunkt der Wirklichkeit, aber nicht jenseits
ihrer, sie ist in unsern ästhetischen Zustand hineingegangen, wie unsere
Feinde und diejenigen, denen wir zu begegnen vermeiden, in unser Leben
hineingegangen sind.
Solange Schopenhauer die
Kunst nur von ihr selbst aus betrachtet, gibt er ihr die Reinheit und
Selbstgenügsamkeit einer in sich geschlossenen Welt, die ihre Werte und
Bedeutsamkeit ausschließlich in ihrem eigenen positiven Sinne und ihrer
Normiertheit findet, sobald nun aber sein Pessimismus die Kunst zwingt,
ihre Reize ausschließlich aus der Abkehr aus der Wirklichkeit zu schöpfen,
verliert sie jene Souveränität, verdankt sie sich nicht mehr sich
selbst.
Die bloße
Nicht-Wirklichkeit im negativen Sinne, in der sie lebt, und die ein
jenseits der ganzen Frage von Sein und Nichtsein bedeutet, wird durch eine
typische Denkirrung zu einer Nichtwirklichkeit, als einem positiven Verhältnis
der Abkehr, einem wissenden Nicht-Wissen-Wollen, wird zu dem Verhältnis
der Befreiung von einer Welt, zu der sie doch ursprünglich jedes Verhältnis
überhaupt abgelehnt hatte.
Es bleibt immer dieselbe
Schwierigkeit auf dem Grunde Schopenhauerschen Denkzusammenhanges: daß er
das Prinzip des Pessimismus um jeden Preis mit anderen Denkmotiven
verschmilzt, die einer anders gerichteten Einsicht, oder einem anderen
Instinkte an ihm entstammen.
Aus dem wesentlich
stimmungsmäßigen Element des Pessimismus steigen in seine mehr
intellektuellen Ideengänge Motive auf, die jene verhindern, sich zu ihren
reinen und vollständigen Konsequenzen zu entwickeln.
Und dies wird schließlich
noch an einer Möglichkeit der Kunstausdeutung bemerklich, die an sich
geeignet wäre, über die oben erörterte Schwierigkeit hinauszuführen,
und die bei ihm an verschiedenen Stellen, aber nur in der Form der
Andeutung auftritt.
Wenn es die subjektive
Bedeutung der Kunst ist, uns des Willens zu entheben und uns statt dessen
in das Gebiet der intellektuell erfaßten Idee zu versetzen, so
verschwindet damit nicht nur das Leiden, sondern auch das Glück, das
nicht weniger als jenes in der Domäne des Willens wurzelt.
Dieser Konsequenz entzieht
sich Schopenhauer auch nicht: »weder Glück noch Jammer wird über jene
Grenze mit hinüber genommen.« Aber nicht nur weiß er nicht mit Klarheit
zu bezeichnen, was nun noch an subjektivem Werte der Kunst verbleibt, noch
vermeidet er es, unzählige Male von den Beglückungen durch die Kunst zu
sprechen.
Es gibt tatsächlich einen
Gefühlswert des ästhetischen Zustandes, der nicht Glück ist, aber auch
nicht das bloße Befreitsein vom Leiden, sondern ein durchaus positiver
und spezifischer, der sich zu dem eudämonistischen Gegensatzpaar ebenso
indifferent verhält, wie Sittlichkeit es tut.
Es ist freilich schwerer,
den Eigenwert der ästhetischen Situation als den der ethischen zu
deutlichem Bewußtsein zu bringen, denn der sittliche Wert erwächst in
seiner Reinheit, trotzdem wir zugleich unglücklich sind, der ästhetische
aber, trotzdem wir zugleich glücklich sind; und innere Bewegungen, die
immerhin als Erhebungen, Begeistertheiten, Lichtpunkte der Existenz
auftreten, heben sich ersichtlich gegen den direkten Hintergrund des
Leides schärfer und unverwechselbarer ab, als gegen den des Glücks.
Dennoch darf die tatsächliche
Zusammenwirkung der spezifisch ästhetischen Reaktion mit der eigentlichen
Beglückung durch die Kunst und die Gleichheit in den psychologischen
Obertönen beider die Gesamtheit ihres Wesens nicht verkennen lassen.
Der Affekt gegenüber der
Schönheit und der Kunst ist nicht weniger primär als der religiöse und
deshalb so wenig wie dieser durch Auflösung in anderweitig vorkommende
Bewußtseinswerte zu beschreiben; obgleich, da beide den ganzen Menschen
in Erregung setzen, auch all die andern wesentlichen Bewegtheiten der
Seele sich auf ihren Ruf einfinden: Aufschwung und Demut, Lust und Leid,
Expansion und Zusammenraffung, Verschmelzung und Distanz gegenüber ihrem
Gegenstande.
Eben dies hat so oft
verleitet, sie auf die Bejahung und die Verneinung, auf die Mischung und
den Gegensatz dieser großen Potenzen des sonstigen Lebens zurückzuführen.
Schopenhauer, der eine der
wenigen ästhetischen Naturen unter den deutschen Philosophen war, hatte
ersichtlich einen ganz sicheren Instinkt für die Ursprünglichkeit und
Positivität des ästhetischen Zustandes.
Seine Kunstphilosophie müßte
ihrer inneren Konsequenz nach zu einer positiven Werterhöhung unserer
Existenz innerhalb des ästhetischen Zustandes leiten, die im System des
Lebens den Glückswerten gleichsam koordiniert, auch in der
psychologischen Tatsächlichkeit oft mit ihnen verbunden, aber durchaus
nicht von ihnen abhängig ist.
Aber diese Spitze biegt er
um, weil der Pessimismus nicht gestattet, daß das eigentliche Wertmoment
irgendwelcher Lebenselemente anderswo läge als in der Erlösung vom
Leiden.
Unter allen Kunstlehren der
großen Philosophen ist die Schopenhauersche sicher die interessanteste,
eindringendste, mit den Tatsachen der Kunst und des Kunstgenusses
vertrauteste; und daß gerade eine solche dem Kunstgenuß seine Positivität
und Autonomie prinzipiell vorenthält, das offenbart die usurpatorische
Energie des Pessimismus deutlicher und tiefer, als seine ganze Steigerung
und Übersteigerung auf seinem eigensten Gebiete, der Betonung der Glücks-
und Unglückswerte des Lebens, es imstande war.
Ist der Kunst hier in ihrer
definitiven subjektiven Bedeutung zu wenig gegeben, so erscheint mit der
letzte objektive Wert, den Schopenhauer ihr zuspricht, als ein Zuviel.
Aber dieses Zuviel wird die
Tiefe seines Kunstgefühles nicht weniger erhellen, wie jenes Zuwenig die
Tiefe seines Pessimismus.
Seine definitive Meinung
vom objektiven Wesen des Kunstwerks faßt er so zusammen: »Jedes
Kunstwerk ist eigentlich bemüht, uns das Leben und die Dinge so zu
zeigen, wie sie in Wahrheit sind - ist eine Antwort mehr auf die Frage:
was ist das Leben?«
Hiermit aber scheint allem
bisherigen Sinn seiner Kunstauffassung völlig widersprochen.
Denn gerade vom Leben
sollte die Kunst erlösen, nur die Erscheinungsarten des Daseins in unserm
Intellekt sollten sich in ihrer Wurzel und Gesetzlichkeit darstellen, aber
gerade nicht die Wirklichkeit, nicht das, was das Leben ist; denn es
ist Wille, ist das endlos enttäuschende Spiel, in dem an jeden Zweck ein
neues Begehren, an jeden Ruhepunkt eine weiterhaftende Bewegung ansetzt.
Von diesen aber reißt die
Kunst sich und uns los und wiegt sich in dem farbigen Abglanz, in dem für
sie nicht dies, daß er der Reflex des Seins, sondern daß er der Reflex
des Seins ist, das Wesentliche ist. Daß nun auf einmal die Kunst das
Wesen der Dinge, also nicht ihre Erscheinung offenbaren soll, daß sie die
Antwort auf eine Frage sein soll, die die Oberfläche, das Gebiet ihrer
Herrschaft, gerade durchbricht - das ist ein offenbarer Widerspruch in
ihrer fundamentalsten Bedeutung, ein Überschreiten der Grenze, in deren
Bewahrung dem Leben gegenüber bis jetzt ihr Sinn und Recht lag.
Aber gerade in diesem
Widerspruch - obgleich oder gerade weil Schopenhauer ihn nicht als solchen
markiert - offenbart sich aufs tiefsinnigste die Verknotung logisch
entgegengesetzter Werte und Forderungen, die die Kunst zuwege bringt.
Sie drückt freilich das Äußerlichste
aus, die reine Oberflächenerscheinung, das sinnlich Unmittelbare - und
zugleich das ewig Unaussprechliche, das letzte Geheimnis der Dinge, den
innerlichsten Sinn des Daseins, für den alle Anschaulichkeit bloßes
Symbol ist.
Sie sucht den
eigengesetzlichen Zusammenhang der Elemente in dem, was erscheint und was
geschieht, ohne an die verborgenen Kräfte zu appellieren, die dieses
Sichdarbietende, darunter oder daneben gelegen, hervorgetrieben haben und
ohne die es in der wirklichen Welt, als Wirklichkeit, nicht bestehen könnte;
sie sucht damit sozusagen den Sinn der Erscheinung.
Aber in dieser Dimension
schreitend senkt sie sich zugleich in die andere, in der der Sinn der
Erscheinung liegt, das Wesen des Wesenlosen, die seelische oder
transzendente Bedeutung, die alle Formen und Reize der Oberflächen nur
als ihre Zeichensprache enthüllt.
Diese Zweiheit der Funktion
der Kunst trägt das eigentlich Erschütternde ihrer Wirkung, indem sie
unsere Seele gleichsam von oben und von unten ergreift.
Dennoch ist sie, genau
angesehen, nur eine Ausdrucksart, mit der wir die nicht mit einem
unmittelbaren Begriffe zu bezeichnende Einheit des künstlerischen
Eindrucks analysieren.
Es würde der
Wesensbedeutung der Kunst völlig unangemessen sein, wollte man sie aus
zwei Partialbedeutungen, deren jede ihren Wert aus einer von der andern
unabhängigen Quelle bezieht, sozusagen mechanisch zusammensetzen, wäre
die eine ein zu der andern noch glücklich hinzugewonnenes Plus.
Wir empfinden vielmehr, daß
das Kunstwerk, eine objektive Einheit darstellend, eine subjektive
einheitliche Reaktion hervorruft, die aber nur erlebt, nicht mit einem
entsprechend einheitlichen Begriffe beschrieben werden kann.
So bleibt uns hier wie in
vielen entsprechenden Fällen nichts übrig, als sie aus zwei einander
entgegenlaufenden Sonderbestimmungen zu konstruieren.
Und daß diese schließlich
nichts anderes sind, als die jene einheitliche Resultante sozusagen nachträglich
ausdrückenden Komponenten - dies wird durch die Wechselwirkung
nahegelegt, die eine vertiefte Kunstauffassung zwischen ihnen erblickt.
Die vielleicht sonst nicht
bezeichenbare Wurzel der Kunst überhaupt, die es rechtfertigt, daß so
heterogene Dinge wie Schauspielkunst und Architektur, Plastik und Musik
diesen einen Namen teilen, könnte gerade darin liegen, daß sonst unversöhnbare
Gegensätze in ihr wechselwirkend zusammengeführt werden: sie soll das
Allgemeine sein und beschränkt sich doch auf die in sich geschlossene
Einzelerscheinung, die die Äußerung einer durchaus individuellen, ja
gerade in den höchsten Fällen schlechthin unvergleichlichen Seele ist;
sie soll nichts sein als Form und Idee und ist doch Anschauung, die nur an
materialer Wirklichkeit stattfinden kann; sie ist reine Intellektualität,
die von allem An-Sich der Dinge losgerissene Ausgestaltung der Bewußtseinsformen
und soll doch vom »Satz vom Grunde« frei sein, der das Grundgesetz
dieser Formen ist.
Und alles dies schießt wie
in einen Brennpunkt in den zuletzt dargestellten Widerspruch zusammen; daß
die Kunst uns zeigen soll, was das Leben ist - indem sie doch zugleich das
Leben vor unserem Blick verschwinden läßt; daß ihr Zauber und ihr Glück
darin liegen, daß sie uns in der Anschauung festhält, als wäre dies die
ganze Welt, als gäbe es außer dem traumseligen Spiel der Erscheinungen
keine dunkle, schwere, unauflösbare Wirklichkeit -, und daß doch gerade
das Wirklichste der Wirklichkeit, das eigentliche tiefste Wesen von Dingen
und Leben in ihr zu Worte kommen soll.
Vom bloß logischen
Standpunkt aus würde solcher Widerstreit von Ansprüchen nun erst das
Problem zu stellen scheinen; vielleicht aber gehört die Kunst zu
denjenigen Gebilden, denen gegenüber die letzte uns gegönnte Erkenntnis
die ist, daß wir das Problem, das sie stellen, in seiner Reinheit und der
Unerlotbarkeit seiner Tiefe begreifen - gleichviel ob es mit Schopenhauers
Absicht oder gegen sie geschah, daß seine Lehre von der Kunst in dieser
ihrer Interpretation zu gipfeln scheint. |