Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Nietzsche und Kant

ex: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt (Neue Frankfurter Zeitung), 50. Jg., No. 5 vom 6. Januar 1906, 1. Morgenblatt, Feuilleton-Teil, S. 1-2 (Berlin)

Es ist für Epigonenzeiten bezeichnend, dass sie, den Blick auf die Schöpfer ihres Besitzstandes zurückwendend, in deren Vergleichung miteinander fast eine größere Befriedigung zu fühlen scheinen, als in der Nachformung der Einzelgestalt. 

Allein in jeder Parallele zwischen großen Persönlichkeiten, jedem Messen ihrer aneinander, liegt eine Vergewaltigung; denn jede ist, ihrem inneren Wesen nach, etwas Unvergleichliches, jede wird von sich abgebogen, wenn sie mit der andern auf einen Generalnenner gebracht wird. 

All die Einzelheiten der Lehren, in deren Konfrontierung derartige Parallelen zu verlaufen pflegen, haben ihre echte Farbe und Sinn erst in der Hinwendung auf das Gesamtzentrum, den Einheits- und Einzigkeitspunkt der schöpferischen Persönlichkeit; in Zusammenhänge, die dieser äußerlich sind, eingestellt, verlieren sie, bei strengster Wörtlichkeit, ihre tiefste und entscheidende Nuance. 

Je »persönlicher« eine geistige Persönlichkeit ist, desto eifersüchtiger bewahrt sie den eigentlichen Sinn jeder Äusserung für den Zusammenhang ihres eigenen Wesens auf, desto fälschender und widerspruchsvoller ist es, sie mit einer andern zu messen - gleichviel ob das Resultat Gleichheit oder Ungleichheit ergibt. 

Aber diese in der Parallele, im Aufsuchen der »Beziehungen« gelegene leise Verbiegung und Herabsetzung der großen Persönlichkeit scheint dem Epigonen eine größere Vertrautheit mit jener zu gewähren und ihre Unnahbarkeit in der vielleicht einzigen Weise, die den Respekt völlig wahrt, zu nivellieren.

Die Überschrift dieser Zellen verspricht also keineswegs eine Vergleichungzweier Denkerpersönlichkeiten, die eine solche noch aus viel radikaleren als diesen prinzipiellen Gründen ablehnen müssten. 

Vielmehr handelt es sich ausschließlich um Nietzsche und nur darum, einigen seiner missverstandensten Lehren an Kantischen Parallelen einen Hintergrund zu geben, der ihre Umrisse durch Gleichheit und Gegensatz schärfe; nicht Kants ganze Denkerpersönlichkeit tritt auf den Plan, sondern einzelne Elemente, deren typisch menschlicher Inhalt durch ihn die bestimmteste Gestalt gewonnen hat und so anderen, individuellen Lehren zu Maß und Klärung gereichen mag.

Nietzsche legt an den Zustand der Gesellschaft einen Maßstab, der ihren Wert in absolutem Gegensatz gegen alle demokratischen Ideale bestimmt. 

Während für diese die Summe oder der Durchschnitt von Glück und Freiheit, von Persönlichkeitsentwicklung und Kultur über den Wert jeder historischen Epoche entscheidet, verlegt Nietzsche diesen Wert ausschließlich in diejenigen Individuen, welche das jeweilig höchste Maß solcher Kräfte, Schönheiten, Entwickeltheiten besitzen; denn nur diese gäben den Tellstrich der Entwicklung an, zu der die Menschheit es bis zu diesem Augenblick gebracht hat. 

Wenn nur die jeweiligen Höhepunkte der Menschheit ihren Wert bestimmen, nur die Pioniere, die sich nicht an das Tempo der Vielen binden, so ist es freilich gleichgültig, wie hoch oder tief das Niveau der großen, dahinter zurückstehenden Masse liegt - ersichtlich übrigens eine Entscheidung der letzten Instanz des Wertbewusstseins, für die es, ebenso wenig wie für ihr Gegenteil, einen Beweis oder eine Widerlegung aus dem logischen Verstande heraus gibt. 

Gilt aber so die Schätzung ausschließlich den höchsten Individuen, denen, die die Höherbildung des Typus Mensch tragen und gewährleisten, so ist nicht nur jener soziale Unterbau in seiner Beschaffenheit belanglos, sondern ebenso der Preis, der an Leiden und Entsagungen, an Härten und Opfern für den Aufstieg zu solcher Höhe gezahlt werden muss.

Darauf, ob sich der Träger solcher Werte selbst froh oder unglücklich fühlt, kann es nicht ankommen - denn das Sein der Menschen, die mit ihnen erreichte Stufe menschheitlicher Entwicklung steht in Frage, nicht der subjektive Reflex dieser Tatsache im Empfinden - außer soweit auch dieser gelegentlich in die objektive Vollendung der Menschen hineinreicht; sodass es zu den schlimmsten Missverständnissen der Nietzsche'schen Lehre gehört, wenn sie eines epikureischen Egoismus beschuldigt wird. 
Aber freilich, auch nach aller Unterdrückung, Leiden, Unentwickeltheit der großen Masse wird nicht gefragt, die jenen die Bedingung ihres Aufsteigens bereitet, ja, die durch die relative Nichtigkeit ihres Niveaus grade erst anzeigt, dass die Menschheit in anderen Exemplaren sich nach oben entwickelt. 

Da die gesamte Menschheit nicht im gleichen Tempo aufsteigen kann, da vielmehr, je schneller ihre Gipfel aufwärts wachsen, die Distanz dieser gegen die Tiefen um so größer werden muss, so ist die Unbarmherzigkeit des Oben und Unten die gar nicht überwindliche Bedingung aller Werterhöhung unserer Art. 

Und damit scheint Nietzsche ein Grundgefühl Kants aus der individuellen Moral in die Gattungsethik zu übertragen. Für Kant ist alle Moral nur in der Überwindung unsrer niederen, sinnlichen Wesensteile denkbar. 

Der Mensch als ganzer, in seinem Naturfundament ein sinnlich-begehrliches Wesen, ist nun einmal nicht »gut«, sondern seinen irdisch-schweren Elementen gegenüber hat sich die Vernunft in jedem Augenblick erst in Kämpfen und Befreiungen durchzusetzen - eine Vergewaltigung des Tieferen durch das Höhere in uns, die nur unter Schmerzerscheinungen stattfinden kann. 

Es ist eines der letzten, die Geschichte der Menschenseele bestimmenden Motive: dass die entscheidenden Erhöhungen unseres Wesens an die Bedingung des Leidens gebunden sind; aber wie lang, wie verschlungen, über welche Stationen der verbindende Faden läuft - das begründet tiefste Unterschiede der Weltanschauungen. 

Kant hat die Verbindung auf den äußersten Punkt des Subjektes zusammengedrängt, der rein in sich selbst ruhende Wert der Persönlichkeit macht sich für ihn »nur durch Aufopferungen kenntlich«.

Nietzsche aber verlegt die Verknüpfung über das Individuum hinaus in die Menschheit: nur die Zucht des großen Leidens habe bisher »alle Erhöhungen der Menschheit geschaffen«.

Und darum ist es möglich, dass er die scheinbar selbstverständliche Identität des Trägers der Erhöhung und des Trägers des Leidens aufhebt: dass Unzählige leiden, unterdrückt werden, sich aufopfern müssen, schafft für einen Einzelnen die Bedingungen für jene Kraft, Produktivität, Schwingungsweite der Seele, mit der die Menschheit eine noch unbetretene Stufe ihres Entwicklungsweges erobert. 

Die Kantische Wertbildung innerhalb der individuellen Seele ist auf das Ganze der geschichtlichen Gesellschaft verbreitert - die Spannung zwischen Wert und Leiden hat die Einheit der Einzelseele verlassen und sich zwischen einer Mannigfaltigkeit von Subjekten aufgetan, die nur noch von der Einheit des Menschentumes überhaupt umfasst sind.

Dass Nietzsche ein Kantisches Grundmotiv gleichsam in eine neue Dimension distrahiert, wiederholt sich in eigentümlicher Weise an einem anderen Fundamentalpunkt ihrer Moralen. 

Den Prüfstein für die Pflichtmäßigkeit einer Handlung findet Kant darin, dass der Handelnde das Prinzip, von dem sie geleitet wird, als ein allgemeines, schlechthin gültiges Gesetz wollen könne. 
In der Versuchung zu lügen und zu stehlen, gegen den Entbehrenden hartherzig zu sein und die Kräfte der eigenen Persönlichkeit unentwickelt zu lassen - kann ich über die sittliche Zulässigkeit danach entscheiden, dass ich unmöglich eine Menschenwelt wollen kann, in der solche Maximen als Naturgesetze herrschten: sie würde sogleich an inneren Widersprüchen zugrunde gehen und grade um des egoistischen Interesses willen, aus dem der so Handelnde verfährt, kann er nicht wollen, dass allgemein, also auch gegen ihn, so gehandelt würde. 

Dieses selbe Kriterium ist es, das, nur nach einer andern Richtung orientiert, sich aus Nietzsches wunderlichster Lehre, der »ewigen Wiederkunft« erhebt. Wenn der Weitprozess, so lehrt er, sich in einer unendlichen Zeit an einer endlichen Masse von Kräften und Stoffen abspielt, so müssen alle, aus diesen herstellbare Kombinationen sich in einer endlichen Zeit, wie lang diese auch sei, erschöpfen; dann muss ersichtlich das Spiel von neuem anfangen und dem Kausalgesetz gemäß eben jene Kombinationen in der genau gleichen Reihenfolge wiederholen und so fort ins Unendliche; wobei, angesichts der Kontinuität des Weltgeschehens, jeder beliebige Augenblick seiner als ein solcher betrachtet werden kann, in dem eine schließende und eine beginnende Weltperiode zusammentreffen. 

So ist also der Inhalt jedes Momentes, jeder Mensch mit allem, was er lebt, schon unendliche Male dagewesen und wird unendliche Male, in absolut identischer Wiederholung, wiederkehren. 

Als eine sachliche Behauptung ist dies von allen Seiten anzugreifen. Dass die Elemente der Welt nur in endlicher Masse existieren, ist eine willkürliche Annahme, dass es zwischen endlichen Elementen nicht unendlich viele Kombinationen geben könnte, ist falsch. 
Aber eine Äusserung aus der Zeit des ersten Auftauchens der Lehre verrät ihren eigentlichen Sinn:

»Wie, wenn dir eines Tages ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und sagte: "Dieses Leben, wie du es bis jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muss dir wiederkommen, und alles in derselben Reihe und Folge. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht - und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!" Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei allem und jedem: "Willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?"  würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung!«

Die endlose Wiederholung unseres Verhaltens wird ihm zum Kriterium, an dem uns dessen Wert oder Unwert zum Bewusstsein kommen soll. 

Was als auf den Moment beschränkte Handlung unwesentlich erscheint und - von dem Gefühl aus: vorbei ist vorbei - leichtsinnig aus dem Gewissen geschoben werden würde, erhält nun ein furchtbares Gewicht, einen nicht überhörbaren Akzent, sobald ihm ein unaufhörliches »Nocheinmal« und »Nocheinmal« bevorsteht. 

Gewiss wird die Handlung in ihrem inneren Wesen durch die unaufhörliche Rekapitulation nicht geändert; allein wie unter einem Vergrößerungsglas werden dadurch Bedeutsamkeiten ihrer sichtbar, über die die Flüchtigkeit ihres Nur-Einmal-Seins den Blick wegtäuschte. 

Dies aber war der praktische Sinn auch der Kantischen Norm. 
Die Verbreiterung unserer Handlungsweise zu einem allgemeinen Gesetz verleiht ihr sicher keine sachliche Bedeutung, die man nicht auch ihrer einzelnen Ausübung ansehen könnte: allein, wie unsere geistige Wahrnehmung nun einmal beschaffen ist, fehlt der Beurteilung der ganz isolierten Tat oft die volle Durchschlagskraft, weil ihre Folgen sich in die unzähligen kreuz und quer laufenden Strömungen des Gemeinschaftslebens mischen, die ihre reine Wirkung, ablenkend oder verstärkend, unkenntlich machen; das eigentliche Leben der Tat an ihren Folgen tritt erst heraus, wenn ihr ganzes praktisches Milieu auf sie abgestimmt ist, wenn keine entgegengerichteten Tatfolgen die ihrigen überdecken, kurz wenn ihr Prinzip, statt eine zufällige Einzelheit in einem Chaos anderer zufälliger Einzelheiten zu sein, eine ausnahmslose Norm, ein »allgemeines Gesetz« ist. 

Kant zieht die Tat in die Breitendimension, in die unendliche Wiederholung im Nebeneinander der Gesellschaft, während Nietzsche sie sich in die Längendimension erstrecken lässt, indem sie sich in endlosem Nacheinander an dem gleichen Individuum wiederholt. 

Aber beiderlei Multiplikationen der Tat dienen dem gleichen Zwecke: ihren Sinn der Zufälligkeit zu entheben, die ihre Darstellung im Nur-Jetzt, Nur-Hier, ihr antut. Der innere Wert der Handlung, an sich völlig jenseits von Zeit und Zahl, vom Wo- und Wie-Oft-Bestehen, soll für uns, die wir dennoch an diese Kategorien gefesselt sind, wenigstens mit einer Unendlichkeit von Zahl und Zeit ausgestattet werden, um mit ihrem wahren Gewichte zu wiegen.

Die Paradoxie dieser Lehre Nietzsches ist im Grunde nur ein Missverständnis, das sich gerade durch die Aufweisung ihrer Analogie mit dem ruhigen, hier sehr unparadoxen Denken Kants lösen lässt. 

Vielleicht aber kann eine anders auslaufende Gegenhaltung mit Kant das Gleiche für einen Punkt leisten, an dem Nietzsche nicht nur missverstanden wird, sondern sich selbst missverstand. 
Als »Immoralismus« bezeichnet Nietzsche seine Lehre: die Verlegung aller Wertakzente des gesellschaftlichen Daseins auf die höchsten Individuen, unter völliger Gleichgültigkeit gegen die Vielen und ihre Zustände; die Predigt einer unbarmherzig auslesenden Züchtung, die für die Elenden und Zukurzgekommenen keinerlei Mitleid und Altruismus besitzt, weil alle Abwärtswendung des Interesses, alle scheinbare Sittlichkeit der Güte und Herablassung die Steigerung des Lebens zu noch unerreichten Höhen aufhält, eine Verkümmerung der Führenden auf das Niveau der Masse bedeutet: »Die Fernsten sind es, die eure Nächstenliebe bezahlen müssen.« Der Hass gegen die »Selbstlosigkeit«, die den Starken zum Diener des Schwachen, den Gesunden zum Diener des Kranken machen will - alles dies erscheint ihm selbst und viel zu vielen seiner Anhänger und Gegner als gegen die Moral gerichtet. 

Denn Moral ist für ihn im wesentlichen eine Erfindung des Christentums und der altruistisch-sozialen Gesinnung, er aber lehre andere als moralische Werte. Damit glaubt er sich in den äußersten Gegensatz zu Kant zu stellen, der umgekehrt gar keine anderen Werte als moralische anerkannt habe.

In Wirklichkeit liegt es ganz anders: Kant und Nietzsche sind beide Moralisten, d.h. Denker, weiche in dem durch den Willen bestimmbaren Tun und Sein des Menschen seinen Wert letzter Instanz erblicken. 

Ihr Unterschied ist nur der, dass Kant ausschließlich die bestehende Moral zu formulieren sucht, während Nietzsche ihr, die zweifellos als »Moral« bestehen bleibt, einen neuen Inhalt geben möchte. 

Kant ist der Theoretiker, der das Gegebene erkennen will, Nietzsche der Moralprediger, der dies Gegebene praktisch reformieren will. Wer kann sich anmaßen, fragt Kant, eine neue Sittlichkeit zu erfinden, als ob die Welt vor ihm in dem, was Pflicht sei, in durchgängigem Irrtum gewesen wäre? 

Nietzsche aber, auf der Entwicklungslehre fußend, scheut durchaus den Radikalismus des geschichtlichen Anderswerdens nicht, er sieht keinen Grund, weshalb die Welt nicht wirklich in dein, was die künftigen Entwicklungsstadien als Pflicht brauchen, im Irrtum sein könne. 

Aber "moralisch", bleibt sein Interesse genau so, wie das Kants. Und er selbst dementiert seinen Immoralismus, wenn er über den Gegensatz zwischen der Herdentiermoral und seiner Lehre sagt: jene sei »nur eine Art von menschlicher Moral, neben der, nach der, viele andere, vor allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten«. 

Hier weiß er, worüber er sich sonst, mindestens dem Ausdruck nach, täuscht, und damit seinen Nachtretern zum Verhängnis wird; dass an die Stelle der herrschenden Moral wohl eine andere, aber nicht etwas anderes als Moral treten kann. 

Er verfällt einer Vorstellungsassoziation, die er doch eigentlich so gut durchschaut: weil die Sorge für die Interessen der Majorität, die Hingabe an die Mühseligen und Beladenen, der Verzicht auf die Durchsetzung des Ich solange als Moralität gegolten hat, ist solches Verhalten mit dem Begriff der Moral überhaupt verschmolzen, so dass die Absage an jene Ideale nichts geringeres als eine Absage an die Moral überhaupt zu sein scheint - eine psychologische Allzumenschlichkeit, vergleichbar der festgewachsenen Assoziation zwischen dem Vaterlande und seiner lange bestehenden Verfassung, infolge deren jede Opposition gegen diese Verfassung als gegen das Vaterland gerichtet gilt. 

Dieser illegitimen Verbindung unterlag auch das Kantische Denken. So allgemein und über die Zufälligkeit historischer Lagen erhaben sein Moralprinzip erscheint: dass die Eignung zum allgemeinen Gesetz über die sittliche Zulässigkeit der Handlung entscheide - so ist doch auch dies in Wirklichkeit aus der historischen Situation des 18.Jahrhunderts hervorgegangen, aus der Idee des »allgemeinen«, durch die Forderung der »Freiheit und Gleichheit« bestimmten Menschen. 

Auch Kant hat die Moral einer besonderen Situation für die Moral überhaupt gehalten. Nur dass diese methodische Gleichheit ihrer Ausgangspunkte weniger ins Auge fällt, weil Kant, der bloß Konstatierende und Formulierende, diese historische und ins Absolute übersteigerte Moral vorbehaltlos annimmt, während Nietzsche sie ebenso ablehnt. 

Aber ein Immoralist, wie es die späteren griechischen Sophisten, die philosophierenden Abbés des 18. Jahrhunderts oder Max Stirner waren, ist er darum keineswegs. Er ist es so wenig, dass er, um den moralischen Wert der Menschheit zu retten, alle bisherigen Inhalte der Moral preisgibt. 
Dass hier in Gesinnung und Wertsetzung ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen den beiden Denkern besteht, wird niemand wegreden wollen. 

Etwas anderes aber als dieses unmittelbare Verhältnis zwischen ihnen ist jenes, das sie im Geiste eines Dritten und für die zusammenfassende Betrachtung der Gegenwart besitzen. 
Untereinander würden sie sich bis auf den letzten Hauch bekämpfen; für uns aber scheint die Kantische Lösung des moralischen Problems mit der Nietzsche'schen keineswegs unverträglich. 

Denn das Problem war für jeden ein andres, weil jeder ein andrer Typus Mensch war: der eine der Intellektualist, dem auch die praktischen Werte nur ein Gegenstand theoretischer Feststellung waren, der andre das leidenschaftlich-reformatorische Temperament, dem auch das theoretische Erkennen nur ein Mittel für praktische Werte war. 

Der eine schilderte das Ideal, das galt, der andere das, das statt aller geltenden gelten sollte; kein Wunder, dass die Inhalte dieser Schilderungen sehr entgegengesetzt waren. 

Aber nur für denjenigen, der in dem Inhalt des einen völlig befangen ist, verhindert dies ein Nebeneinanderbestehen, das sogleich zulässig wird, sobald die Verschiedenheit der Dimensionen klar wird, nach denen die Moral des einen und die des anderen hingeht.

Wie man nun die Nietzsche'sche Philosophie werten mag - ein Problem, zu dem hier durchaus keine Stellung genommen ist: es wird manche Geister ihm nähern können und manche - zu seinem Vorteil - von ihm entfernen, wenn die Paradoxität seiner Lehren schwindet, die sie als ein entstellender disharmonischer Oberton begleitet, und die er selbst freilich durch die weitausladenden Gesten, die oft krampfhaften Akzente seiner Ausdrucksweise herbeiruft. 

Sie sind für die sensationsbegierige Masse unbedeutender, für wenige aber vielleicht bedeutender, wenn sie sogar an den exponiertesten Punkten ihrer, die ich hier behandelte, diesen Schein bis zu dem Grade verlieren, dass sie die Konfrontierung mit der kühlen Abgewogenheit und den ebenmässigen Proportionen des Kantischen Denkens ermöglichen.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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