Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Über die dritte Dimension in der Kunst

ex: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, hrsg. Von Max Dessoir, 1. Bd., 1. Heft (1. Quartal 1906), S.65-69 (Stuttgart)

Das Interesse des Malers, vermöge des blossen Oberflächenbildes, das er unmittelbar darbietet, die Anschauung auch der dritten Dimension zu erzeugen, ist keineswegs ein selbstverständliches Akzidens des Wesens seiner Kunst.

Indem einerseits die Japaner, andersein Aubray Beardsley auf die dritte Dimension verzichten, ist erwiesen, dass auch ohne sie der gesteigertste Reiz sinnlicher Anschauung ebenso erreicht werden kann, wie die äussersten Pole seelischen Ausdrucks: die Frauen des Harunobu und des Utamaro, deren Seelen wie ihre Körper im Sommerwind schaukelnde Blüten scheinen , und die abgründigen Perversitäten und Satanismen des Beardsley.

Weshalb also die dritte Dimension?

Die grössere Vollständigkeit, mit der sich der Bildeindruck dadurch dem Natureindruck nähert, kann nicht entscheidend sein.

Denn die Umbildung von diesem zu jenem bedeutet in jedem Fall eine so umfassende Reduktion, der Zweck des Kunstwerks wird mit so viel einfacheren Mitteln erreicht als die Natur sie zum Zustandekommen des Realitätsbildes verwendet, dass ein blosses hinzukommendes Wirklichkeitsmoment noch nicht ohne weiteres als künstlerischer Wert gelten kann; es muss sich als solcher vielmehr erst durch seine Qualität legitimieren.

Die ganz besondere Bedeutung der Tiefendimension der Körper gegenüber den beiden anderen muss sich ersichtlich daran knüpfen, dass sie überhaupt nicht optisch anschaulich ist.

Ursprünglich überzeugt uns nur der Tastsinn, dass die Körper noch mehr sind als ihre zweidimensionale Oberfläche.

Das Vollbild der Dinge, aus ihrer Sichtbarkeit und ihrer Tastbarkeit zusammengewachsen, wird durch die erstere reproduziert, so dass wir schliesslich. auch die dritte Dimension unmittelbar zu sehen meinen.

Da indes der Wirklichkeit gegenüber das Tasten der Dinge fortwährend stattfindet und jenes assoziative Hineinwirken seines Inhaltes in das Gesichtsbild dadurch dauernd kontrolliert wird, mindestens prinzipiell kontrolliert werden kann - so ist die dritte Dimension innerhalb des optischen Wirklichkeitsbildes viel weniger an die blosse Anschauung geknüpft, als innerhalb des Gemäldes, in dem sie absolut keinen Anhaltspunkt ausserhalb der rein optischen Vorgänge besitzt.

Hierdurch erscheint die dritte Dimension als eine von dem gegebenen Bildeindruck prinzipiell geschiedene Welt, während ebendeshalb die Macht dieses Eindrukkes, dennoch die dritte Dimension psychologisch einzuschliessen, uns als eine umso grössere vorkommen muss; sie wirkt wie eine geheimnisvolle Beschwörung, über ein Objekt mit einem Mittel Herr zu werden, dem jede unmittelbare Berührung dieses Objektes versagt ist.

In diesem völligen Fernhalten jeder unmittelbaren Mitwirkung des Sinnes, auf dem die Vorstellung der dritten Dimension eigentlich allein ruht - und der doch gleichzeitigen Einbeziehung derselben in den Bildeindruck sehe ich einen wesentlichen Wirkungswert, eine Grenzbestimmtheit und zugleich Weite der künstlerischen Mittel gegenüber dem Natureindruck, die das Interesse an der dritten Dimension im Bilde begründen hilft.

Hiermit wird nun eine sehr einfache Tatsache wirksam, die von der fundamentalsten Bedeutung ist: dass jede Kunst prinzipiell nur auf je einen Sinn wirkt, während jedes "wirkliche" Objekt prinzipiell auf eine Mehrheit von Sinnen wirkt oder wirken kann.

Denn dadurch eben entsteht »Wirklichkeit«: eine Gestalt, die wir sehen, durch die wir aber hindurchgreifen könnten, ohne dass sie ein Tastgefühl erweckte, wäre nicht wirklich, sondern ein Spuk, und ebenso ein Ding, das wir fühlten, ohne dass es im Zusammenschlage mit anderen ein Geräusch ergäbe, oder ein Laut, der von keinem sicht- und fassbaren Erreger ausginge.

Der Punkt der Wirklichkeit ist derjenige, in dem eine Mehrzahl von Sinneseindrücken sich treffen, oder: der durch sie wie durch Koordinaten festgelegt wird.

Dabei besteht aber das Eigentümliche: dass jeder Sinn eine qualitativ eigenartige Welt ausbildet, welche mit der des anderen nicht die geringste inhaltliche Berührung besitzt.

Dass es derselbe Gegenstand ist, den ich sehe und den ich taste -dies ist eine Synthese von Forderungen oder Kategorien her, die ganz jenseits der Sinnesbilder selbst stehen.

Innerhalb der Wirklichkeit entsteht der Gegenstand durch das gleichberechtigte Zusammen völlig selbständiger, gegeneinander fremder Bestimmtheiten.

Durch den Gegensatz hierzu wird das Wesen des Kunstwerkes bestimmt.

Wie viel verschiedene Sinne ihm auch ihre Erregungen assoziativ zu gute kommen lassen: dadurch, dass sein Gegenstand ausschliesslich als Eindruck eines Sinnes zu stande kommt, gewinnt die ästhetische Anschauung eine innere Einheit, die ein Wirklichkeitsbild niemals gewähren kann; indem in dem Gewirr zuströmender Reproduktionen ein Sinn die autokratische Führung übernimmt, erhalten jene eine unvergleichliche Rangierung und Organisiertheit.

Die Sinnesbestimmtheiten werden durch diese Hierarchie unter ihnen verhindert, dass der optische und die übrigen Eindrücke zu dem realen Menschen zusammengehen, den man tasten, hören, riechen kann.

Dass ihm seine Geltungsart, seine Seinskategorie ausschliesslich von einem Sinn kommt, der hält das Kunstwerk in der Sphäre der Irrealität fest, und lässt die dritte Dimension, die Domäne des eigentlichen »Sinnes der Realität«, des Tastsinnes, in ihm eine völlig andere Rolle spielen als in dem Wirklichkeitseindruck.

In der Plastik verhalt sich dies nur scheinbar anders.

Der Marmor ist freilich tastbar, aber er ist auch nicht das Kunstwerk, so wenig die ebenso tastbare Leinwand mit ihrem Farbenauftrag das Bild ist.

Für die unkünstlerische Auffassung ist die Statue ein Mensch aus Marmor, wie der lebendige Mensch ein solcher aus Fleisch und Knochen ist, und insofern freilich ist sie wirklich, weil sie berührt werden kann, wie der letztere auch.

Allein der Körper, der in Wahrheit der Gegenstand der Kunst ist, kann nicht getastet werden, genau so wenig wie der gemalte, weil auch er von dem greifbaren realen Materiale nur dargestellt ist, wie der gemalte von den nicht weniger greifbaren Farbenflecken.

Die dritte Dimension geht als vom Tastsinn garantierte Realität des Gebildes das Kunstwerk gar nichts an, sondern tut dies nur so weit wie das Auge aus der blossen Ansicht des plastischen Werkes zur Produktion, beziehungsweise Reproduktion der Tiefendimension angeregt wird.

Auch das plastische Werk ist nur zum Sehen, nicht zum Anfühlen da, und da die dritte Dimension, als unmittelbare Bestimmtheit des Marmorstückes, nur getastet werden kann, so liegt sie insofern in einem ganz anderen Reich, als die künstlerische Bedeutung des Marmors, und in das Reich dieser Bedeutung tritt die dritte Dimension erst ein, wenn sie aus ihrem genuinen Tastbarkeitswert gleichsam als Produkt des Augeneindrucks wiedergeboren wird.

Damit ist die Rolle der tactile values, wie Berenson sie betont hat, keineswegs geleugnet.

Nur scheint mir doch noch der Begründung bedürftig, wieso denn die Assoziation von Widerstandsgefühlen nebst ihren Modifikationen eine ästhetische, den spezifischen Kunstwert steigernde Bedeutung haben könne.

Weshalb fügt es dem künstlerischen Reiz einer gemalten Säule, der sich doch an der Sichtbarkeit ihrer Form und Farbe zu erschöpfen scheint, etwas hinzu, wenn ihre Kälte und Härte psychologisch mit anklingen, oder dem gemalter Seide, wenn ihr Glanz noch das Gefühl des Stoffes, mit seiner Mischung aus Sprödigkeit und Weichheit, reproduziert?

Ich glaube, dass dieses blosse Plus mitschwingender Vorstellungen nicht als solches schon ästhetische Bedeutsamkeit besitzt, dass diese vielmehr erst in der Umbildung gegeben ist, die die Tastbarkeiten als Kompetenzen rein optischer Eindrücke erfahren.

Dies dürfte sich nicht anders als mit der Musik verhalten, die auch unzählige Reproduktionen aus allen Lebensgebieten in uns weckt, deren ganz einzigartiger Reiz und Tiefe nun aber darin besteht, dass jene sozusagen zu Musik geworden sind. Sie begleiten den Gang der Töne nicht mit der mechanischen, etwa nur dynamisch herabgesetzten, Inhaltsgleichheit ihres ursprünglichen Auftretens, sondern in einer spezifischen Umbildung und Umfärbung: sie müssen einer allotropischen Modifikation unterliegen, um sich dem musikalischen Eindruck als dessen Satelliten verbinden zu können, neben dein sie sonst fremd und einer anderen Ordnung der Dinge angehörend stehen müssten.

So würden die Reminiszenzen anderer Sinne nur als fremdartige Anhängsel von dem Bildeindruck mitgeschleppt werden, ohne dessen Sinn zu bereichern und zu vertiefen, wenn sie, gleichsam naturalistisch, nur ein Nocheinmal ihres früheren Inhaltes wären.

Sie müssen vielmehr, um in die Einheit des Anschauungskunstwerkes einzugehen, ihre ursprüngliche Bedeutung, die mit dem Sinne dieses gar nichts zu tun hat, sozusagen selbst in einen Anschauungswert umsetzen, oder: ihr ursprüngliches, in ganz andere Reihen verflochtenes Sein so umformen, dass es mit dem optisch-artistischen Eindruck eine organische Einheit eingeht.

Diese Expatriierung der Tastgefühle bei ihrer Einbeziehung in die Kunst psychologisch zu beschreiben, ist vorläufig ein blosses Postulat.

Jedenfalls aber wird man den Vorgang als eine Qualitätsänderung der Gesichtsvorstellung - ebenso wie, in einer anderen Schicht, der Tastvorstellung selbst - bezeichnen können.

Aus der blossen Assoziation lässt sich die artistische Bedeutung der tactile values schon deshalb nicht ableiten, weil dies eine blosse unorganische und unfruchtbare Quantitätsänderung des inneren Vorganges wäre.

Wenn die Berührungen der Seide ihre Reproduktionen an die Anschauung des gemalten Stoffes weitergeben, so wird damit diese Anschauung rein als solche tiefer, lebendiger, ausgreifender. Goethe hat solche Umsetzung heterogener Sinnesempfindungen in optische Werte gekannt: »Und durchs Auge schleicht die Kühle sänftigend ins Herz hinein.«

Das Objekt gibt dadurch dem Auge mehr; und zwar nicht so sehr der Wirklichkeit gegenüber, wo die verschiedenen Sinne je ihren Sonderwert bewahren, weil sie gleichmässig zur Realität des Dinges zusammenwirken - als gegenüber dem Kunstwerk, das den Inhalt des Dinges auf den Generalnenner des einen Sinnes bringt.

Und so wird es sich auch wohl mit der dritten Dimension verhalten, die das allen tactile values Gemeinsame repräsentiert. Neben Härte und Weichheit, Rauheit und Glätte, Zugespitztheit und Ebenmässigkeit zeigen die berührten Flächen noch die allgemeine Qualität des Widerstandes überhaupt, welche der blossen, auch dem Auge dargebotenen Oberfläche noch die dritte Dimension hinzufügt.

Wenn diese nun in das reine Anschauungskunstwerk eintreten soll, so wird auch sie nicht bloss eine Dimension mehr sein, eine bloss numerische Hinzufügung zu dem schon vorhandenen Quantum von Dimensionen, sondern sie wird diesen Vorhandenen, über die das Kunstwerk nicht hinaus kann, eine neue qualitative Note verleihen.

Die dritte Dimension wirkt in Malerei und Plastik nicht als reale Ausdehnung in die Tiefe, da das ewig Unanschauliche keinen Platz im Reiche der blossen Anschauung finden kann, sondern als eine Bereicherung und Kräftigung der zweidimensionalen Bildinhalte; sie ist hier eine Nuance der Sichtbarkeit, in welche die, den ganzen Seinsinhalt organisierende Anschauungskraft des Künstlers die Erfahrungen und Assoziationen der Welten anderer Sinne umgeschmolzen hat.

Schliesslich fügt sich diese Transformierung des blossen Mehr, das die dritte Dimension als solche den beiden anderen gegenüber darzubieten scheint, in den Sinn aller Kunst, in ihrem Verhältnis zur Naturwissenschaft, ein: während diese letztere alle Qualitäten auf Quantitätsausdrücke zu bringen, als ihrem Sinne nach quantitative darzustellen sucht, will umgekehrt die Kunst alles nur Quantitative des Daseins in seinem Sinne als Qualitätswert aufzeigen.


 

Editorial:

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