Georg Simmel: Psychologie der Diskretion
ex: Der Tag, Berlin
2. u. 4.9.1906. Veröffentlicht in: Simmel, G. Schriften zur Soziologie
(hg. v. H.-J. Dahme und O. Rammstedt). Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983,
151-158.
Dass alle Beziehungen
zwischen Menschen auf dem Wissen ruhen, das der eine von dem anderen hat -
dies ist eine Tatsache von so banaler Selbstverständlichkeit, dass man
nicht leicht an die gar nicht selbstverständlichen Nuancen und Maßbestimmungen
dieses Wissens denkt und wie sehr sie, als Ursache und als Wirkung, die
Sonderart jedes Verhältnisses charakterisieren.
Denn nicht nur, was der
eine von dem andern weiß, sondern dessen Verwebung mit dem, was er von
ihm nicht weiß, gibt der Beziehung ihren Ton, ihren Umfang, ihr Tiefenmaß.
Bei vollkommener
gegenseitiger Durchsichtigkeit wären alle Verhältnisse der Menschen in
einer gar nicht abzusehenden Weise abgeändert, wie sie bei vollkommenem
Nichtwissen umeinander unmöglich wären.
Es ist bedeutsam, dass man
gerade die oberflächlichste Beziehung, für die die moderne Kultur einen
besonderen Begriff geprägt hat, als »Bekanntschaft« bezeichnet.
Dass man sich gegenseitig
»kennt«, bedeutet in diesem Sinne durchaus nicht, dass man sich
gegenseitig kennt, d. h. einen Einblick in das eigentlich Persönliche der
Individualität habe; sondern nur, dass jeder sozusagen von der Existenz
des anderen Notiz genommen habe.
Indem man aussagt, mit
einer bestimmten Person bekannt, ja selbst gut bekannt zu sein, bezeichnet
man doch sehr deutlich den Mangel eigentlich intimer Beziehungen.
Der Grad des Kennens, den
das »gut miteinander bekannt sein« einschließt, bezieht sich nicht auf
das, was ein jeder an und in sich, sondern nur, was er in der dem anderen
und der Welt zugewandten Schicht ist.
Deshalb ist die
Bekanntschaft in diesem gesellschaftlichen Sinne der eigentliche Sitz der
»Diskretion«, Denn diese besteht keineswegs nur in dem Respekt vor dem
Geheimnis des anderen, vor seinem direkten Willen, uns dies oder jenes zu
verbergen, sondern schon darin, dass man sich von der Kenntnis alles
dessen am anderen fernhält, was er nicht positiv offenbart.
Hier kommt die auch sonst
wirkungsvolle Empfindung zu Worte, dass um jeden Menschen eine Reihe
ideeller Sphären von mannigfaltigstem Umfang und Richtung liegen, in die
einzudringen den Persönlichkeitswert des Individuums zerstört.
Die »Ehre« legt einen
solchen Bezirk um uns: die Sprache bezeichnet eine Ehrenkränkung treffend
als ein »Zunahetreten« - der Radius jener Sphäre gleichsam markiert die
Distanz, deren Überschreitung durch eine fremde Persönlichkeit die Ehre
kränkt.
Eine andere Sphäre lässt
das, was man die »Bedeutung« eines Menschen nennt, um ihn wachsen.
Dem »bedeutenden«
Menschen gegenüber besteht ein innerer Zwang zum Distanzhalten, der
selbst im intimen Verhältnis mit ihm nicht ohne weiteres verschwindet und
der nur für denjenigen nicht vorhanden ist, der kein Organ zur
Wahrnehmung der Bedeutung hat.
Darum existiert jene
Distanzsphäre nicht für den »Kammerdiener«, weil es für ihn keinen »Helden«
gibt, was aber nicht an dem Helden, sondern an dem Kammerdiener liegt.
Darum ist alle
Zudringlichkeit mit einem auffallenden Mangel an Gefühl für die
Bedeutungsunterschiede der Menschen verbunden.
Und ein solcher, von wie
anderen Werten auch akzentuierter Umkreis umgibt den Menschen, besetzt mit
seinen Angelegenheiten und Beschaffenheiten, deren bloße Kenntnisnahme
ein Zunahetreten ist.
Wie das materielle Eigentum
gleichsam eine Ausdehnung des Ich ist, und wie deshalb jeder Eingriff in
den Besitzstand als eine Vergewaltigung der Persönlichkeit empfunden
wird, so gibt es ein seelisches Privateigentum, in das einzudringen eine Lädierung
des Ich in seinem Zentrum bedeutet.
Diskretion ist nichts
anderes als das Rechtsgefühl in Bezug auf die hiermit bezeichnete Sphäre,
deren Grenze freilich nicht ohne weiteres festzulegen ist; denn das Recht
jenes seelischen Privateigentums kann so wenig ganz unumschränkt bejaht
werden wie das des materiellen.
Wie allenthalben Einschränkungen
des individuellen Besitzes, sei es durch gesetzliche Gebote und Verbote über
Erwerb und Verkehr, sei es durch Besteuerung im Interesse des sozialen
Ganzen zu Recht bestehen, so gilt dies auch für die innere Sphäre.
Im Interesse des Verkehrs
und des sozialen Zusammenhaltes muss der eine vom andern gewisse Dinge
wissen, und dieser andere hat nicht das Recht, sich vom moralischen
Standpunkt dagegen zu wehren und die Diskretion des anderen, d. h. den
ungestört eigenen Besitz seines Seins und Bewusstseins auch da zu
verlangen, wo die Diskretion die gesellschaftlichen Interessen schädigen
würde.
Der Geschäftsmann, der mit
einem anderen langsichtige Verpflichtungen kontrahiert; die Herrschaft,
die einen Dienstboten engagiert; der Vorgesetzte, der einen Untergebenen
avancieren lässt; die Hausfrau, die eine neue Persönlichkeit in ihren
Geselligkeitskreis aufnimmt - alle diese müssen berechtigt sein, von der
Vergangenheit und Gegenwart des fraglichen anderen, von seinem Temperament
und seiner moralischen Beschaffenheit alles das zu erfahren oder zu
kombinieren, worauf sich die Beziehung ihm gegenüber oder ihre Ablehnung
vernünftigerweise gründen lässt.
Aber auch jenseits dieser
groben Formen ruht in feineren und weniger eindeutigen, in
fragmentarischen Ansätzen und Unausgesprochenheiten der ganze Verkehr der
Menschen auf einem gewissen Recht auf Indiskretion, ruht darauf, dass
jeder vom andern etwas mehr weiß, als dieser ihm willentlich offenbart,
und vielfach solches, dessen Erkanntwerden ihm, wenn er es wüsste, höchst
unerwünscht wäre.
Der Umfang dieses Rechtes
ist, wie gesagt, sehr schwer zu bestimmen.
Im allgemeinen spricht der
Mensch sich das Recht zu, alles das zu wissen, was er ohne Anwendung äußerer
illegaler Mittel, rein durch psychologische Beobachtung und Nachdenken
ergründen kann.
Tatsächlich aber kann die
auf diese Weise geübte Indiskretion ebenso gewalttätig und moralisch
unzulässig sein wie das Horchen an verschlossenen Türen und das
Hinschielen auf fremde Briefe.
Für den psychologisch
Feinhörigen verraten die Menschen unzählige Male ihre geheimsten
Gedanken und Beschaffenheiten, nicht nur obgleich, sondern oft gerade weil
sie ängstlich bemüht sind, sie zu hüten.
Das gierige, spionierende
Auffangen jedes unbedachten Wortes; die bohrende Reflexion: was dieser
Tonfall wohl zu bedeuten habe, wozu jene Äußerungen sich kombinieren ließen,
was das Erröten bei der Nennung eines bestimmten Namens wohl verrate -
alles dies überschreitet die Grenze der äußerlichen Diskretion nicht.
So sehr der anständige
Mensch aber sich solches Nachgrübeln über die Verborgenheiten eines
anderen, solche Ausnutzung seiner Unvorsichtigkeiten und Hilflosigkeiten
verbieten wird, so besteht hier doch eine besondere Schwierigkeit:
Erkenntnisse dieses Gebietes stellen sich oft so automatisch und ohne
absichtliches Nachdenken ein, sie stehen oft so unübersehbar vor uns,
dass es selbst dem besten Willen zur Diskretion nicht gelingt, sich des
geistigen Antastens »alles dessen, was sein ist«, zu enthalten.
Jedenfalls aber ist
innerhalb der hier berührten Verhältnisse kein Zweifel, dass prinzipiell
eine Diskretionspflicht besteht, wie unsicher auch ihre Grenzen sich
zeigen.
Viel weniger aber wird die
Anschauung des »gesunden Menschenverstandes« - in der freilich die
Gesundheit den Verstand zu dominieren pflegt - solche Beziehungen unter
den Aspekt von Recht und Pflicht stellen, die, mindestens ihrer Idee nach,
die ganze Breite der Persönlichkeit vorbehaltlos umfassen.
Die hauptsächlichen Typen
sind hier Freundschaft und Ehe.
Das Freundschaftsideal, wie
es von der Antike aufgenommen und eigentümlicherweise gerade im
romantischen Sinne fortgebildet worden ist, geht auf eine absolute
seelische Vertrautheit, die hier auch oft erreichbarer scheint als in der
Liebe, weil der Freundschaft die einseitige Zuspitzung auf ein Element
fehlt, die die Liebe durch ihre Sinnlichkeit erfährt.
Andererseits wird diese
Einseitigkeit oft die Bahn brechen, auf der die andern Beziehungskräfte,
die ohne die Liebe latent geblieben wären, ihr folgen.
Unleugbar öffnet bei den
meisten Menschen die geschlechtliche Liebe die Tore der Gesamtpersönlichkeit
am weitesten, ja bei nicht wenigen ist sie die einzige Form, in der sie
ihr ganzes Ich geben können.
Es sind keineswegs nur die
weiblichen Naturen, bei denen das ganze Sein und besonders dessen sonst
unzugängliche, unschmelzbare Teile in der Liebe gleichsam chemisch gelöst
werden und nur und ganz in deren Färbung, Gestalt, Temperatur auf den
andern überfließen.
Wo aber das Liebesgefühl
nicht expansiv genug, die übrigen Seeleninhalte nicht fügsam genug sind,
kann, wie ich andeutete, das Überwiegen der erotischen Verbindungslinie
die übrigen sowohl praktisch-sittlichen wie geistigen Berührungen, das
Sich-öffnen der jenseits des Erotischen liegenden Reservoire der Persönlichkeit
hintanhalten.
Deshalb mag die
Freundschaft, der diese Heftigkeit, aber auch diese Ungleichmäßigkeit
der Hingabe fehlt, eher den ganzen Menschen mit dem ganzen Menschen
verbinden, mag eher die Verschlossenheiten der Seele, zwar nicht so stürmisch,
aber in breiterem Umfang und längerem Nacheinander lösen.
Diese völlige Vertrautheit
dürfte indes mit der wachsenden Differenzierung der Menschen immer
schwieriger werden.
Vielleicht hat der moderne
Mensch zuviel zu verbergen, um eine Freundschaft im antiken Sinne zu
haben, vielleicht sind die Persönlichkeiten auch, außer in sehr jungen
Jahren, zu eigenartig individualisiert, um die volle Gegenseitigkeit des
Verständnisses, des bloßen Aufnehmens, zu dem ja immer so viel auf den
andern eingestellte Divination und produktive Phantasie gehört, zu ermöglichen.
Es scheint, dass deshalb
die moderne Gefühlsweise sich mehr zu differenzierten Freundschaften
neigte, d. h. zu solchen, die ihr Gebiet nur an je einer Seite der Persönlichkeiten
haben und in die die übrigen nicht hineinspielen.
Damit kommt ein ganz
besonderer Typus der Freundschaft auf, der für unser Problem: das Maß
des Eindringens oder der Reserve innerhalb des Freundschaftsverhältnisses
von größter Bedeutung ist.
Jene Freundschaften, die
uns mit einem Menschen von der Seite des Gemütes, mit einem anderen von
der der geistigen Gemeinsamkeit her, mit einem dritten um religiöser
Impulse willen, mit einem vierten durch gemeinsame Erlebnisse verbinden, können
zwar trotz der Umgrenztheit ihres Gebietes echte und wirkliche
Freundschaft sein, die tiefsten Wurzelsäfte der Persönlichkeit können
sie tränken.
Aber gerade dann stellen
sie in Hinsicht der Diskretionsfrage, des Sichoffenbarens und
Sichverschweigens die strenge Forderung: dass die Freunde gegenseitig
nicht in die Interessen- und Gefühlsbezirke hineinsehen, die nun einmal
nicht in die Beziehung eingeschlossen sind und deren Berührung die Grenze
des gegenseitigen Sichverstehens schmerzlich fühlbar machen würde.
Aber diese Rücksicht,
statt das Verhältnis zu irritieren, bringt vielmehr, in den guten Fällen,
eine neue Zartheit hinein, ja eine neue Gemeinsamkeit.
Denn allenthalben wirkt ein
beiderseitiges Vermeiden empfindlicher oder steriler Gebiete als eine
unterirdische Nähe, als ein wortloses Sichverstehen, das an verbindender
Kraft manchem positiven Momente gleichkommt.
Viel diffiziler liegt die
Abmessung des Sichoffenbarens und Sichzurückhaltens, des Eindringens und
der Diskretion, in der Ehe.
Die Schwierigkeit erwächst
aus der Eigentümlichkeit der modernen Eheform gegenüber denen anderer
Kulturen: dass in diesen die Ehe prinzipiell kein erotisches Institut war
und ist, sondern eines, das von vornherein nur auf gewisse Sonderzwecke,
besonders ökonomisch-sozialer Natur, angelegt ist, nicht auf das
Sichgeben des ganzen Menschen, das der erotischen Verbindung eigen ist;
und indem dem Prinzip nach die letztere die moderne Ehe fundamentiert,
erhebt sich erst für sie das Problem jener freiwilligen Reserve, in der
die Diskretion besteht.
In der ethnologischen und
vielfach in der antiken Welt ist mit der Ehe die Befriedigung der Liebeswünsche
nur akzidentell verbunden, sie wird, natürlich mit Ausnahmen, nicht aus
der individuellen Attraktion, sondern aus Gründen der Familienverbindung,
der Arbeitsverhältnisse, der Nachkommenschaft geschlossen.
Zu äußerst klarer
Differenzierung haben es in dieser Hinsicht die Griechen gebracht, laut
Demosthenes: »Wir haben Hetären für das Vergnügen, Konkubinen für die
täglichen Bedürfnisse, Gattinnen aber, um uns rechtmäßige Kinder zu
geben und für das Innere des Hauses zu sorgen.« Nun wird niemand
verkennen, dass auch innerhalb des modernen Lebens die Ehe wahrscheinlich
überwiegend aus konventionellen oder materiellen Motiven eingegangen
wird.
Allein, gleichviel wie oft
verwirklicht, die Idee der modernen Ehe ist die Gemeinsamkeit aller
Lebensinhalte, die den Wert und das Schicksal der Persönlichkeiten
bestimmen.
Und dass dies, wenn auch
nur als ideale Forderung, besteht, ist durchaus nicht wirkungslos; es hat
oft genug Raum und Anregung gegeben, eine ursprünglich sehr unvollkommene
Gemeinsamkeit zu einer immer umfassenderen zu entwickeln.
Aber während gerade die
Unbeendbarkeit dieses Prozesses der Vergemeinsamung das Glück und die
innere Lebendigkeit des Verhältnisses trägt, pflegt seine Umkehrung
schwere Enttäuschungen zu bringen: wenn nämlich die absolute Einheit
vorweggenommen wird, Verlangen wie Darbieten keinerlei Zurückhaltung
kennt, selbst diejenige nicht, die für alle tieferen und feineren Naturen
noch immer in den dunklen Gründen der Seele bleibt, wenn sie sie ganz vor
dem andern auszuschütten meinen.
In der Ehe wie in
eheartigen freien Verhältnissen liegt die Versuchung sehr nahe, in der
ersten Zeit völlig ineinander aufzugehen, die letzten Reserven der Seele
denen der Körperlichkeit nachzuschicken, sich vorbehaltlos aneinander zu
verlieren.
Dies aber wird meistens die
Zukunft des Verhältnisses erheblich bedrohen.
Ohne Gefahr können nur
diejenigen Menschen sich ganz geben, die sich überhaupt gar nicht ganz
geben können, weil der Reichtum ihrer Seele in fortwährenden
Weiterentwicklungen besteht, so dass jeder Hingabe sogleich neuer Erwerb
nachwächst, in denen eine Unerschöpflichkeit latenter seelischer Besitztümer
ruht und die diese deshalb so wenig mit einem Male offenbaren und
wegschenken können, wie mit den verschenkten Jahresfrüchten eines Baumes
die des nächsten Jahres vergeben sind.
Anders aber bei denen, die
mit den Aufschwüngen des Gefühles, der Unbedingtheit einer Hingabe, der
Offenbarung ihres Seelenlebens sozusagen vom Kapital nehmen und damit dem
typisch-menschlichen Triebe nachgeben: die Henne zu schlachten, die die
goldenen Eier legt; bei denen es an jener gar nicht zu offenbarenden und
von dem Ich gar nicht ablösbaren Quellkraft immer neuen seelischen
Gewinnes fehlt.
Da liegt denn die Chance
nahe, dass man sich eines Tages mit leeren Händen gegenübersteht, dass
die dionysische Schenkseligkeit eine Verarmung zurücklässt, die noch rückwirkend
- ungerecht, aber darum nicht weniger bitter - sogar die genossenen
Hingaben und ihr Glück Lügen straft.
Wir sind nun einmal so
eingerichtet, dass wir nicht nur einer bestimmten Proportion von Wahrheit
und Irrtum als Basis unseres Lebens bedürfen, sondern auch einer solchen
von Deutlichkeit und Undeutlichkeit im Bilde unserer Lebenselemente.
Was wir bis auf den letzten
Grund deutlich durchschauen, zeigt uns eben damit die Grenze seines Reizes
und verbietet der Phantasie, ihre Möglichkeiten darein zu weben, für
deren Verlust keine Wirklichkeit uns entschädigen kann.
Der andere soll uns nicht
nur eine hinzunehmende Gabe schenken, sondern auch die Möglichkeit, ihn
zu beschenken, mit unseren Idealisierungen und Hoffnungen, mit seinen
verborgenen Schönheiten und ihm selbst unbewussten Reizen.
Der Ort aber, an dem wir
all dies von uns, aber für ihn Hervorgebrachte deponieren, ist der
undeutliche Horizont seiner Persönlichkeit, das Zwischenreich, in dem der
Glaube das Wissen ablöst.
Es handelt sich dabei
keineswegs nur um Illusionen und verliebten Selbstbetrug, sondern einfach
darum, dass uns ein Teil auch an den nächsten Menschen, damit ihr Reiz für
uns auf der Höhe bleibe, in der Form der Undeutlichkeit oder
Unanschaulichkeit geboten sein muss; indem sie diese idealisierende Tätigkeit
ermöglichen, ersetzt die Mehrzahl der Menschen den Attraktionswert, den
jene Minderzahl durch die Unerschöpflichkeit ihres inneren Lebens und
Wachsens besitzt.
Die bloße Tatsache des
absoluten Kennens, des psychologischen Ausgeschöpfthabens ernüchtert uns
sogar ohne vorhergegangenen Rausch, lähmt die Lebendigkeit der
Beziehungen und lässt ihre Fortsetzung als etwas eigentlich Zweckloses
erscheinen.
Dies ist die Gefahr der
restlosen und in einem mehr als äußeren Sinne schamlosen Hingabe, zu der
die unbeschränkten Möglichkeiten intimer Beziehungen verführen, ja, die
leicht als eine Art Pflicht empfunden werden - namentlich da, wo keine
absolute Sicherheit des eigenen Gefühles besteht und die Besorgnis, dem
anderen nicht genug zu geben, dazu verleitet, ihm zuviel zu geben.
An diesem Mangel
gegenseitiger Diskretion, im Sinne des Nehmens wie des Gebens, gehen
sicher viele Ehen zugrunde, das heißt, verfallen in eine reizlos banale
Gewöhnung, in eine Selbstverständlichkeit, die keinen Raum für Überraschungen
mehr hat.
Die fruchtbare Tiefe der
Beziehungen, die hinter jedem geoffenbarten Letzten noch ein Allerletztes
ahnt und ehrt, die auch das sicher Besessene täglich von neuem zu erobern
reizt, ist nur der Lohn jener Zartheit und Selbstbeherrschung, die auch in
dem engsten, den ganzen Menschen umfassenden Verhältnis noch das innere
Privateigentum respektiert, die das Recht auf Frage durch das Recht auf
Geheimnis begrenzen lässt. |