Georg Simmel: Das
Abendmahl Lionardo da Vincis
ex: Der Tag, Ausgabe vom 22. Februar
1905 (Berlin)
I
An den Künstlern höchsten Ranges vollzieht das Greisentum manchmal
eine Entwicklung, die ihr Reinstes und Wesentlichstes scheinbar gerade
durch den natürlichen Verfall des Alters hervortreten lässt: indem die
Kraft der Formgebung, der Reiz der sinnlichen Gestaltung, die unbefangene
Hingabe an die gegebene Welt herabsinken, bleiben nur die ganz grossen
Linien, das Tiefste und Eigenste der Produktivität sozusagen übrig.
So
Goethe im zweiten Teil des Faust, so Beethoven in den letzten Quartetten.
Während an den Durchschnitts- und Zufallsmenschen das Alter sinnlos
herumnagt, ihr Wesentliches wie ihr Wertloses, wie es gerade kommt,
vernichtend, ist es das Privileg einiger grossen Menschen, dass die Natur,
auch wo sie zerstört, es an ihnen wie nach höherem Plane tut und die
Vernichtung zum Mittel macht, ihr Ewiges aus ihrer Oberfläche und dem,
was nicht ihr reines Eigen ist, zu lösen.
Angesichts der spärlichen Reste, die jahrhundertelange Zerstörungen
jeder Art an Lionardos Abendmahl im Refektorium von S. Maria delle Grazie
in Mailand übriggelassen haben, scheint sich jenes Schicksal grosser Künstler auf das
grosse Kunstwerk übertragen zu haben.
Denn was von ihm geblieben ist, wirkt so schlechthin einzig mit so
ungeteilter Kraft aus den Tiefen aller Kunst hervorbrechend, als wären
all die abgefallenen Farbenteilchen von einer Oberfläche weggeblättert,
den wesentlichen Kern dahinter nicht berührend, ja, ihn immer sichtbarer
machend; und als würde noch in dem Augenblick, bevor einmal sein letzter
Schimmer verschwindet, in diesem die ganze Macht und innere
Unvergänglichkeit, wie hinter zerbrochener äusserer Schale, aufleuchten.
II
Die künstlerischen Aufgaben, die Lionardo sich hier gestellt hat, sind
durch dieses Bild zum Gemeinbesitz aller folgenden Entwicklung der Malerei
geworden: bei mangelnder Kenntnis der vorangegangenen könnte deshalb die
unerhörte Grösse der Leistung, die völlige Neuheit der durch sie
geschaffenen Welt sich verbergen - wenn nicht die hier zuerst aufkommenden
Probleme hier zugleich vollendeter als je nachher gelöst wären.
Es ist
nicht nur ein erster Anfang, sondern ein letztes Ende. Vor allem: zum
ersten Male ist eine Situation gezeigt, die, eine grosse Anzahl von
Personen gleichzeitig ergreifend, jede von ihnen zum stärksten,
vollendetsten Ausdruck ihres besonderen Wesens bringt.
Gewiss haben schon Giotto und Duccio die gemeinsame Erregung einer
Menge zum Ausdruck gebracht. Allein die Menschen bleiben bei ihnen
sozusagen anonym, selbstlose Träger eines Affekts, blosse Beispiele eines
Allgemeinbegriffs von Stimmung oder Leidenschaft.
Im Abendmahl Lionardos
treibt die Erregung, was ihr vorher nie gelang, das tiefste, als
einzigartig empfundene Persönliche in die Erscheinung.
Wie etwas Selbstverständliches erscheint hier das Wunderbare: ein äusseres Ereignis - das Wort des Heilands: Einer unter euch ist, der mich
verraten wird. kommt über eine Anzahl völlig verschiedener Menschen und
veranlasst jeden Einzelnen von ihnen zur vollsten Entwicklung und
Offenbarung seiner individuellen Eigenart.
Der Vorgang und die Teilnehmer sind so zu einander geordnet, dass jener
sozusagen an den Einzigkeitspunkt in jedem der letzteren rührt.
Zum
ersten Male ist hier in einem Gruppenbild jene volle innere Freiheit der
Persönlichkeiten errungen, mit der die Renaissance die Befangenheit des
mittelalterlichen Menschen überwunden und der Neuzeit ihr Stichwort
gegeben hat, die Freiheit, für welche die ganze Welt und ihr Geschehen
nur ein Mittel und eine Anregung ist, durch die das Ich zu sich selbst
kommt.
Die Spannung, die sonst zwischen dem beharrenden Charakter des Menschen
und der momentanen, durch äussere Mächte veranlassten Erregung besteht,
zeigt sich hier wie in einer höheren Einheit gelöst; diese Erregung wird
zum Kanal durch den das eigentliche Sein der Individuen hemmungslos nach
aussen flutet, durch die die körperliche Erscheinung zur restlosen
Offenbarung unermesslich verschiedener Temperamente, seelischer Werte,
tiefster Seinsgründe wird.
Es ist doch überhaupt Sinn und Glück der Kunst, dass sie
Erscheinungsreihen, die in der Wirklichkeit gleichgültig, zufällig, feindlich nebeneinander
laufen, als tief verbundene enthüllt, in einer Harmonie einbegriffen,
eine als das Symbol der anderen: der Sinn des Gedichts und die Hörbarkeit
seiner Worte, deren klanglicher Rhythmus mit jenem Schritt hält, im
Gegensatz zu der Zufälligkeit ihrer Begegnung in der unkünstlerischen
Äusserung; die blinde Notwendigkeit in den Dingen und Ereignissen und die
spielende Freiheit, mit der der Künstler sie so noch einmal erzeugt, als
wäre der Grund in ihm, aus dem heraus er schafft, eben derselbe, aus dem
der Natur ihre völlig anders formulierte Gesetzlichkeit kommt; der
sinnliche Reiz der geklärten Raumform, der verteilten Farbflecken, der
Licht- und Schattenspiele, mit dem das Porträt sich schmücken muss,
während es doch zugleich den Ansprüchen aus ganz anderen Ordnungen der
Dinge gehorcht: der Ähnlichkeit mit dem Modell mit all seinen
Zufälligkeiten und dem Ausdruck der Seele, die hinter aller Erscheinung
überhaupt steht.
Das Abendmahl hat diesen Harmonien, mit denen die Kunst die
Zufälligkeit des Lebens überwindet, eine neue hinzugefügt: ein
ungeheures Schicksal, mit jenen Worten Christi von einem Punkte ausgehend
und in ihn zurückkehrend, zwingt die Jünger nicht mehr in eine Gleichheit des Affektes und Ausdrucks,
sondern wirkt auf jeden, als wäre sie gerade auf seine Persönlichkeit
eingestellt, als gewänne dasjenige, worin jeder Erlebende völlig einzig
ist, erst durch diese Gemeinsamkeit des Erlebens seine rückstandslose
Entwicklung und Offenbarung.
Darum gibt es in diesem Bilde - vielleicht als in dem einzigen von
gleicher Figurenzahl - keine Nebenpersonen. Wo das ganze und tiefste Wesen
eines Menschen sich darbietet, kann er nicht mehr zur Nebenfigur werden,
deren Sinn es immer ist, dass sie nur mit einem Stück ihrer Existenz in
das Kunstwerk hineinreicht, während die Hauptfiguren die Summe ihres
Daseins in dessen Grenzen zusammenfassen.
Das Lebensproblem der modernen Gesellschaft: wie aus individuell
absolut verschiedenen und dabei gleichberechtigten Persönlichkeiten eine
organische Geschlossenheit und Einheit werden könnte - ist hier in der
Vorwegnahme durch die Kunst im Bilde gelöst.
III
Es ist wohl kaum darauf aufmerksam gemacht worden, dass das Abendmahl
in ganz verschiedenen Zeitmomenten vor sich geht.
Die Ausdrucksbewegungen der verschiedenen Gruppen stellen den Erfolg
und das Weiterklingen des entscheidenden Eindrucks jenes Wortes Christi in mannigfaltigen Zeitabständen von seinem Eintreten dar.
Für die Gruppe ganz rechts muss das erregende Wort schon ein paar Minuten zuvor
gesprochen sein, es ist ein Augenblick aus einer schon begonnenen
Diskussion; für manche Jünger hat schon eine Art Reflexion begonnen, der
allererste Eindruck muss vorbei sein; Judas aber zeigt die erste,
momentane Überraschung, die schon in der nächsten Minute in eine andere
Geste übergehen musste; für die stehende Figur rechts wäre etwa ein
Zeitpunkt zwischen der Momentreaktion des Judas und der schon relativ
ruhigeren bei anderen Jüngern der psychologisch wahrscheinliche.
Es antwortet hier nicht nur jede dieser Seelen auf die tiefste
Erschütterung ihres Lebens in der Art, die die ganze Formel ihres Seins
vor uns ausbreitet, sondern es ist auch der Moment im Ablauf der
Erschütterung gewählt, in dem diese Ausbreitung am vollsten und klarsten
geschehen kann.
Und dies konnte nicht bei allen der allererste Moment sein.
Die ersten Gedanken, sagt Lessing einmal, sind jedermanns Gedanken; d.
h. die unmittelbare, reflexartige Reaktion müsste bei allen ungefähr
gleich ausgesehen haben, die Seele braucht einige Zeit, damit der ersten
Überwältigung gegenüber ihre besondere Gefühlsweise sich aufarbeitete,
und ungleiche Seelen brauchen dazu ungleiche Zeiten.
Die Einheit der Zeit wird zerbrochen, um die Einheit der seelischen
Steigerungen bis auf den Höhepunkt ihrer ästhetischen Wirkung zu
erreichen.
Damit hat Lionardo das Wesensprinzip der Kunst über eine Existenzform
souverän gemacht, die ihr die härteste Eigengesetzlichkeit
entgegenzusetzen scheint.
Die Kunst drückt die Inhalte der Wirklichkeit in einer völlig anderen
Sprache aus, als die Wirklichkeit selbst es tut.
Dass in aller bildenden Kunst die schwingende Bewegung des Lebens in
Starrheit übergeht, in der Plastik die Vielheit der natürlichen Farben
in eine Einheit, in der Malerei die Greifbarkeit des Dreidimensionalen in
blosse Flächenerscheinung - dies sind nur die allerunableugbarsten
Besonderungen zwischen Wirklichkeit und Kunst.
Aber man sieht allmählich
ein, dass auch der Raum, den das Bild darstellt, keineswegs eine Kopie des
realen Raumes ist, sondern ein ideales, von den Bedürfnissen der Kunst
aus gestaltetes Gebilde.
So ist im Abendmahl ein ganz neuer Zeitbegriff geschaffen: eine Zeit,
die nicht ein gleichgültiges Gefäss für jedes beliebige Zugleich oder
Nacheinander ist, sondern die das Bedeutsame und inhaltlich sich Fordernde
zusammenführt, gleichviel, wie es sich in der realen Zeit anordnet.
Der Zwang, den diese ausübt wenn wir das Leben seiner Wirklichkeit
nach aufnehmen, ist gebrochen, sobald es von den Forderungen der Kunst
ergriffen wird. Hier ist der Abstand überwunden, in dem die
Wirklichkeitsreihen das von den künstlerischen Notwendigkeiten aus
Zusammengehörige halten.
Die erzählenden Bilder des Quattrocento hatten sich noch der Form der
realen Zeit gefügt, selbst da, wo sie naiverweise verschiedene Stadien
einer Ereignisreihe in einen Rahmen zusammenbrachten; die Bilder des
Trecento hatten allerdings eine Zeitlosigkeit gewonnen, aber um den Preis,
auf jenen Reichtum des Lebens zu verzichten, der sich nur in der Zeitform
darstellen kann.
Lionardo aber hat das zeitliche Geschehen selbst zum
Mittel einer zeitlosen, d. h. alle Bedingtheit ablehnenden, nur die rein
innere Bedeutung des Gegenstandes vortragenden Kunstwirklichkeit
gemacht.
Indem das Abendmahl sich in ganz verschiedenen Augenblicken der realen
Zeit ereignet, hat die Gestaltungskraft der Kunst ihre Autonomie auch an
der Zeitform des Daseins erwiesen, der gegenüber Machtlosigkeit und
Hinnehmen des Gegebenen unser unabänderliches Los zu sein schienen.
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