Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Die ästhetische Quantität

ex: der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, 30. März 1903 (Berlin)

Der enthusiastische Glaube an die Souveränität der Kunst und ihre unbegrenzte Spannweite hat ästhetische Richtungen, die einander aufs äusserste entgegengesetzt sind, doch zu einem gleichen Irrtum verführt.

Der etwas abstrakte Idealismus, der in der Durchbildung und Zusammenfassung der räumlichen Form der Dinge das ausschliessliche Kunstziel sieht, wie der Naturalismus, der die Dinge möglichst vollständig und mit unmittelbarer Lebendigkeit im Kunstwerk wiederholen will, sie glauben beide, dass das Wesensprinzip der Kunst, die eigentümliche Tonart, in die sie das Sein transponiert, zu allen Inhalten dieses Seins das gleiche Verhältnis habe.

Das heisst: es gäbe keinen Gegenstand, der sich ihr entzöge, sie könne grundsätzlich, soweit nicht zufällige Begleiterscheinungen es erschwerten, jegliches Ding in den Kreis ihrer Formungen ziehen und jegliches mit der gleichen, rein künstlerischen Bedeutsamkeit ausstatten.

Gewiss ist dies eine unverlierbare Erweiterung und Vertiefung gegenüber dem eingerosteten Dogma, das nur »das Schöne« und »das Charakteristische« in die Kunst hineinlassen wollte - das heisst, Objekte, die uns in der Wirklichkeit, also nach ganz anderen Kriterien als denen des künstlerischen Bildens, wertvoll sind.

Allein die Reaktion auf diese Enge schlug, wie gewöhnlich, in das entgegengesetzte Extrem aus. Die Meinung, dass der Rahmen der Kunst für das ganze Dasein Raum hätte, dass sie wie ein Spiegel jedes Bild in immer gleicher Umbildung wiedergäbe, übersieht, dass die Kunst und ihre Mittel historisch erwachsen sind, abhängig also von dem gegenwärtigen Stande der allgemeinen und künstlerischen Kultur, von zufälligen Anpassungen und technischen Entdeckungen, kurz, als etwas unvermeidlich Einseitiges, Sonderartiges, Rudimentäres, das zu der Einheit und gleichmässigen Gesetzlichkeit der Natur nur ein zufälliges und an verschiedenen Punkten ganz verschiedenes Verhältnis haben kann.

Jener artistische Pantheismus, für den jeder Gegenstand gleichmässig der Kunst wertvoll und behandelbar ist, ist ein Grössenwahn, der die Relativität und die endlose Entwicklungsnotwendigkeit aller Formen menschlichen Tuns zu der inneren Vollkomrnenheit und Notwendigkeit des objektiven Seins übersteigert: es gibt keine Gleichheit vor der Kunst, die der Gleichheit vor dem Naturgesetz entspräche.

Wo solche technisch-psychologischen Besonderheiten künstlerischer Formungen und Bedingungen die Kontinuität des Verhältnisses zwischen Natur und Kunst unterbrechen, liegen vielleicht für das Wesen der Kunst aufklärendere Punkte als da, wo sie als eine stetige Funktion der Wirklichkeit erscheinen möchte.

Ein Punkt solcher Art soll hier aufgezeigt werden, indem ich die Verschiedenheiten des ästhetischen Eindruckes in ihrer Abhängigkeit von dem verschieden grossen Umfange des Kunstwerkes betrachte.

Denn die Dinge als Objekte der künstlerischen Darstellung - so werden wir sehen fordern von sich aus gewisse Grössenmasse, um ihren Sinn und ihre Bedeutsamkeit zu offenbaren; wenn diese Grössenforderung mit der anderen, rein artistischen, die diese Formen innerhalb des Kunstwerkes und seiner Oekonomie stellen, bald zusammenfällt, bald weit von ihr abweicht, so ist insoweit erwiesen, dass die künstlerische Gestaltung, ihren inneren Gesetzen folgend, zu der Wirklichkeit ein ganz schwankendes und zufälliges Verhältnis hat.

Aus Gründen, auf die ich nachher komme, entstehen die grössten Diskrepanzen dieser Art gegenüber der nicht organischen Natur.

Dass es eigentlich keine künstlerisch ganz befriedigende Alpenlandschaft gibt, schiebe ich auf das Quantitätsmoment.

Der anschauliche Reiz der Alpen wird wesentlich von ihrer ungeheueren Masse getragen, ihre Formbedeutung kommt erst in diesem Quantum zu einer ästhetischen Wirkung.

Die Malerei kann aber vermittelst ihrer qualitativen Nuancierungen diese Quantitätsbedeutung bisher nicht zureichend wiedergeben; so wirken Alpenbilder in der Regel leer, zufällig, innerlich unberechtigt, weil in den begrenzten Grössenmassen, über die sie verfügen, sich der Formwert der Alpen nicht ausdrücken lässt.

Der einzige grosse Alpenmaler, Segantini, hat die Berge in den Hintergrund gerückt oder stilisierte Formen gewählt oder durch Beleuchtung und Luft von der Forderung eines nur durch die Quantität erzielbaren Eindruckes ganz abgelenkt.

So hat auch dieser grösste die Schwierigkeit nicht gehoben, sondern sie nur anerkannt, indem er sie umgangen hat.

Wo man das Problem durch ungewöhnlich grosses Format zu lösen meinte, wie Calame in dem Monte Rosa (im Leipziger Museum), zeigt sich, dass die Form der Alpen viel zu leer ist, um im Kunstwerk mit seinem Anspruch auf konzentrierte Bedeutsamkeit der Form ertragen zu werden.

Dazu kommt das folgende.

Bei allem natürlich Gewachsenen empfinden wir, dass der Umfang genau so weit geht, wie die inneren Kräfte ihn getragen haben.

Ein Baum hört von selbst auf, zu wachsen, wenn seine Wachstumsenergien, die innere Rechtfertigung seiner Grösse, nachlassen. Wahrscheinlich durch komplizierte unbewusste Erfahrungen und Einfühlungen empfinden wir diese inneren Kräfte der Dinge sympathisch mit, und darum sind wir dem Organischen gegenüber einerseits immer mit dem Verhältnis von Grösse und Form einverstanden, andererseits aber gelingt seine Umbildung in das Kunstwerk verhältnismässig leicht, auch bei Änderung des Umfanges; denn wo wir das innere Lebensprinzip eines Wesens erst einmal im Gefühl erfasst haben, werden sich dem Künstler ohne weiteres diejenigen Änderungen der Form ergeben, deren es bei Änderung der Quantität bedarf, um jenen Lebenssinn des Ganzen im Eindruck ungeändert zu erhalten.

Anders aber steht es unorganischen Formen, wie Gebirge es sind, gegenüber.

Hier, wo die Gestalt kein von innen quellendes Leben ausdrückt, das uns bei der Umbildung leiten kann, können wir uns nur an die gegebene äussere Tatsache der Grösse halten, von der abzuweichen ungerechtfertigt erscheint.

Indem wir in der Geistigkeit der Objekte eine Stufe höher steigen, begegnet das Quantitätsproblem: wie kommt es, dass kleine Modelle von Bauwerken fast gar keine ästhetische Wirkung üben, oder wenigstens eine solche, die der Wirkung des ihm völlig formgleichen Bauwerkes nicht entspricht?

Wobei ich von Architekten absehe, deren geschulte Phantasie ihnen die volle Wirkung des ausgeführten Werkes dazu ergänzt, sodass das Problem hier fortfällt.

Als dessen Lösung aber erscheint mir, dass wir physio-psychologisch nicht imstande sind, die Schwereverhältnisse, das Lasten und Tragen, das Ausbiegen und Hochstreben, kurz das ganze vielgliedrige Spiel der dynamischen Vorgänge, das den wesentlichen ästhetischen Reiz der Baukunst ausmacht, - dass wir dieses nicht in so kleinen Abmessungen in uns nachbilden, nachfühlen können.

Jede Architektur ist uns tot und sinnlos, die uns nicht fühlen macht, wie die Säule das Gebälk trägt, wie die Hälften des gothischen Spitzbogens oben ihre Kräfte zusammenschlagen lassen, wie das Gesims den Pfeiler belastet.

Allein diese Einfühlungen entstehen immer erst oberhalb einer gewissen absoluten Grösse ihrer Objekte.

Unsere dazu wirksamen Organe sind zu grob, um die geringfügigen Druck- und Gegendruckrelationen des Halbmetermodells psychologisch zur Geltung zu bringen, diese erreichen die Schwelle der Nachempfindung nicht; denn Nachempfindung ist schliesslich Empfindung und muss deshalb wie jede solche eine Bewusstseinsschwelle haben.

Unsere Architektur hat offenbar genau diejenigen Quantitätsmasse, die uns nach unserer physisch-psychischen Struktur ein Maximum von Nachempfindung jener Dynamik gestatten.

Sehr viel kleinere oder sehr viel grössere - die also die obere Nachempfindungsschwelle überschreiten - können wir freilich noch anschauen und intellektuell konstatieren, dass sie die gleichen Formverhältnisse haben wie das ästhetisch Wirksame, aber ästhetisch wirksam sind sie nicht mehr.

Für einen Gott, dessen Empfinden nicht von Reizschwellen begrenzt ist, wäre in solchen Fällen das Quantum, in dem die Form sich darbietet, ganz gleichgültig, er würde an deren quantitative Verschiedenheiten nicht, wie wir es müssen, qualitative Verschiedenheiten seiner ästhetischen Reaktion knüpfen.

Diese Wandlung des ästhetischen Wertes durch den blossen Umfangswechsel ungeänderter Formen zeigt einen neuen Typus von Motivierungen an einem Beispiel aus dem organischen, untermenschlichen Leben.

Der ästhetische Widerstand gewisser Objekte richtet sich nicht nur gegen Vergrösserungen und Verkleinerungen, sondern grade gegen die Darstellung in natürlicher Grösse.

Pferde, zum Beispiel, sind in natürlicher Grösse eigentlich nur auf Riesenbildern möglich, wo die Dimensionen des Ganzen sie wenigstens relativ herunterdrücken.

Auf einem nicht ungewöhnlich grossen Bild wirkt ein lebensgrosses Pferd ganz naturalistisch, aus der Sphäre des Kunstwerkes herausfallend.

Dies wird, wie mir scheint, voll einem besonderen der Motive begründet, die gewisse Objekte von vornherein vom Kunstwerden ausschliessen.

Da die Kunst jenseits der Wirklichkeit lebt und durch dieses Jenseits ihren ganzen Sinn und ihre Sonderrechte besitzt, so werden sich die Dinge in demselben Masse ihr entziehen, in dem das Interesse an ihrer Wirklichkeit assoziativ die Vorstellung beherrscht. das gilt von Interessen des täglichen Lebens, die wir fortwährend als vorhanden spüren, von merkwürdigen Erscheinungen und Zufällen, denen gegenüber man sich unvermeidlich fragt, ob es so etwas denn auch in Wirklichkeit gäbe, von historischen Ereignissen als solchen, in deren Vorstellung der Gedanke an ihre geschichtliche Wirklichkeit unvermeidlich dominiert, von dem ganzen Gebiet illegitimer Reize und unterirdischer Uneingeständlichkeiten der Seele.

Alle diese treiben die Kategorie des Seins, als Frage, Wunsch, Wissen, in das Bewusstsein und entfernen sich damit aus der bloss ideellen Sphäre, die die Kunst umschreibt.

Objekte wie Pferde sind offenbar mit dem praktischen Leben, das heisst mit demjenigen, das uns nur als Wirklichkeit und sonst gar nicht interessiert, zu unmittelbar verflochten, als dass die Umbildung in die Kunstform psychologisch ganz über sie Herr werden könnte.

Eher kann dies vermittels der Verkleinerung geschehen - nicht weil hier das Mass an und für sich wichtig wäre, sondern damit nicht die natürliche Grösse mit ihren unvermeidlichen Wirklichkeitsassoziationen wirksam werde, und weil durch irgend eine Abänderung dieser die formende Macht des Geistes über die Wirklichkeit anschaulich wird.

Diese Motivreihe wird noch von anderer Seite her vermehrt, sobald ein Reiter auf dem Pferde sitzt.

Hier entsteht bei natürlicher Grösse ein peinlicher Widerspruch der inneren Bedeutung von Tier und Mensch gegen ihre quantitative.

So wenig die naive Formel, dass die innerliche Bedeutsamkeit ihr anschauliches Symbol an äusserer Grösse fände, gegenüber der Komplikation der Erscheinungen irgendwie zureicht, so ist sie doch nicht schlechthin unanwendbar; die Grösse des Pferdes und die Grösse des Menschen drehen, wo durch den lebensgrossen Massstab beides realistisch erscheint, das innerlich gerechtfertigte Verhältnis beider direkt um.

Dies ändert sich unmittelbar mit einer Verkleinerung des Massstabes.

Denn bei dieser behält der Mensch doch seine volle Bedeutung, weil sie geistig und deshalb in dem kleineren Massstab nicht weniger prägnant ausdrückbar ist, während die Bedeutung des Pferdes viel mehr an seine physische Grösse und das, was diese ausdrückt, gebunden ist.

Die Verkleinerung verschiebt also, bei absoluter Identität der Form, das künstlerische Verhältnis der Teile vollkommen.

Dies scheint mir eines der bezeichnendsten Beispiele dafür, wie sehr die Elemente eines Kunstwerkes nicht nur durch ihre Relationen zueinander in das rechte Gleichgewicht kommen, sondern durch eine bestimmte absolute Grösse des Ganzen, die jene Relationen erst ihre richtige Bedeutung gewinnen lässt.

Es gehört zu den ästhetischen Wundern der Menschengestalt, dass sie durch fast unbegrenzte Vergrösserung oder Verkleinerung hindurch ihren ästhetischen Wert bewahren kann.

Der Grund ist wohl, dass die Proportionen der menschlichen Gestalt für uns, deren Lebensgefühl mit ihnen solidarisch verbunden ist, eine überzeugende innere Notwendigkeit haben, die bei jedem Quantum ihres Sichdarbietens ungeändert bleibt.

Dazu kommt, dass die menschliche Figur, in welcher Umgebung sie auch angeschaut werde, als die Norm empfunden wird, die über die Quanten und Proportionen ihrer Umgebung entscheidet. Sie selbst ist also innerhalb eines gegebenen Anschauungsbildes weder gross noch klein, da sie vielmehr dasjenige ist, woran sich Grösse oder Kleinheit aller anderen Elemente erst misst.

Es scheint, dass auch im Anschaulichen der Mensch das Mass aller Dinge sei.

Wo es sich um das Verhältnis von Menschen untereinander handelt, taucht das Grössenproblem freilich von neuem auf.

So empfindet man manchmal bei Madonnen mit dem Kinde, dass die körperliche Kleinheit des Kindes in einem Widerspruch zu seiner zentralen und beherrschenden Rolle in dem Sinne des Ganzen steht.

Die kindliche Körperform ist wegen ihrer Undifferenziertheit von vornherein wenig geeignet, persönlich-geistige Superiorität auszudrücken, und seine quantitative Geringfügigkeit erscheint als ganz ungeeigneter Träger einer qualitativen Bedeutsamkeit.

Diese Schwierigkeit völlig überwunden zu haben, ist eine unleugbar einzigartige Leistung der Sixtinischen Madonna.

Denn prinzipiell gibt es freilich keine Grenze für die Macht des Künstlers, durch Modifikationen von Formen, Farbe und tausend Imponderabilien jede beliebige artistische und inhaltliche Bedeutsamkeit in jedem beliebigen Anschauungsquantum auszudrücken.

Im ganzen scheint es, als ob jede Form und überhaupt jedes künstlerisch verwertbare Element zwei ästhetische Schwellenwerte besässe, ein bestimmtes Quantum seiner Darstellung, oberhalb dessen es erst eine ästhetische Reaktion hervorruft, und oft auch eine obere Grössenschwelle, nach deren Überschreiten der ästhetische Effekt wieder erlischt.

Derartige Schwellenerscheinungen charakterisieren alle höheren Lebensgebiete.

So gibt es eine Schwelle des Rechtsbewusstseins; nicht jede Tat, die moralisch und logisch unrecht ist, setzt unser Rechtsbewusstsein in Bewegung, zum Beispiel der Diebstahl einer Stecknadel.

Das religiöse Bewusstsein lässt sich nicht durch jede minimale Schwierigkeit und Unversöhntheit des täglichen Lebens aufregen, wohl aber durch die formal und inhaltlich genau gleichen Ereignisse, sobald sie in mächtigen und überragenden Dimensionen auftreten.

Das ökonomische Bewusstsein hat eine sehr deutliche Schwelle; die meisten Menschen machen mit relativer Leichtigkeit eine Reihe kleiner Ausgaben hintereinander, deren einzelne sie »nicht merken«, deren Summe aber, als einmalige Ausgabe ihnen zugemutet, ihr ökonomisches Bewusstsein sehr lebhaft aufrütteln würde.

So haben manche Widersprüche und Unzulänglichkeiten von Personen und Situationen eine komische Wirkung, solange sie in geringfügigen oder flüchtigen Dimensionen auftreten; sobald sie aber, inhaltlich ungeändert bleibend, in grossen Massen und als dauernde Bestimmtheiten des Lebens erscheinen, überschreiten sie die tragische Schwelle und werden zu unversöhnlichen Beängstigungen und Zerstörungen.

Die ästhetischen Schwellen der Gegenstände, oberhalb und unterhalb deren ihre künstlerische Verwertbarkeit liegt, rücken natürlich, je nach dem Formvermögen des Künstlers, zusammen oder auseinander.

Andererseits müssen für den Standpunkt der Theorie mit wachsender Verfeinerung der ästhetischen Erkenntnis die Schwellenwerte sich einander immer mehr nähern, bis das vollendete Wissen der gegebenen künstlerischen Komposition gegenüber unzweideutig begreifen würde, dass sie ihre maximale ästhetische Wirkung nur innerhalb dieses einen bestimmten Grössenmasses tun kann.

Die bisherigen Untersuchungen über dieses Problem sind nicht viel weiter als bis zu der Feststellung gekommen, dass gewisse Modifikationen des ästhetischen Eindruckes auf das blosse Quantum, in dem die Formen sich darbieten, zurückzuführen wären.

Allein damit scheint mir das Problem eigentlich nur gestellt, aber nicht gelöst.

Nun müssen die psychologischen Mittelglieder erst aufgesucht werden, die diese Abhängigkeit vermitteln.

Ich will dem Versuche, auf einzelne dieser Art hinzudeuten, noch zwei prinzipielle Gedanken hinzufügen.

Der eine betrifft nicht das Quantum des Kunstwerkes selbst, sondern das der Gefühlserregungen, die von ihm ausgehen.

Es ist ein sehr dilettantischer Standpunkt, die Bedeutsamkeit des Kunstwerkes dem Quantum der Gefühle proportional zu setzen, zu denen es uns aufregt.

Vielmehr, das gefühlsmässige Mitschwingen und Mitgerissenwerden, das Eintauchen in Lust und Tragik, das leidenschaftliche Oszillieren des subjektivsten Wesensgrundes muss nicht nur, um des ästhetischen Maximums willen, eine bestimmte Form innehalten in Bezug auf Tempo, rhythmischen Wechsel, Crescendo und Decrescendo, sondern auch das Quantum dieser Vorgänge darf eine gewisse Schwelle nicht überschreiten, wenn nicht statt des ästhetischen Wertes eine blosse ungeformte Gefühlserregung in uns dominieren und alles eigentlich Künstlerische überschwemmen soll.

Am deutlichsten ist dies in der Literatur - obgleich keineswegs ausschliesslich in ihr sichtbar.

Die »Spannung«, die etwa ein Roman erregt, übertäubt oft genug den Genuss, ja die Beurteilung seiner künstlerischen Qualitäten; die Teilnahme des Gefühls an dem Inhalt der Vorgänge, die Stärke des inneren Miterlebens zerstört das ästhetische Bewusstsein, das immer eine Distanz und Reserve gegenüber dem Inhalt der Dinge fordert.

Dass es sich aber dabei um eine Quantitätsfrage handelt, sieht man daraus: auch wenn der Inhalt des Kunstwerkes vollkommen bekannt ist, erzeugt die gelungene künstlerische Formung doch bei jedesmaliger Reproduktion noch ein Spannungs- und Teilnahmegefühl; allein jenem primären, realistischen gegenüber ist es schwach und wie aus der Ferne, selbst nur wie ein zarteres Abbild der unmittelbaren Erregungen, da es die Reaktion des Gefühls nicht mehr auf den realistisch empfundenen Inhalt des Kunstwerkes, sondern auf dessen Umformung in die Sphäre der Unwirklichkeit hinein darstellt; wie denn die Kunst uns sozusagen die Inhalte des Lebens ohne das Leben selbst bietet.

Wo einer Erscheinung, einem Menschen oder einer Landschaft, einer Stimmung oder einem Schicksal der ganze Reichtum und die ganze Nuanciertheit der Gefühlsreaktionen antwortet, aber genau nur so stark, dass das blosse Bild dieser Dinge, in seinem Bildcharakter ungestört, Wärme und Leben erhält, da sind wir im Bezirk der Kunst.

Die Gefühlsstärke hat eine untere und eine obere ästhetische Schwelle: jenseits der einen liegt die Teilnahmlosigkeit, jenseits der anderen die dem Inhalt, als Wirklichkeit empfunden, entsprechende Teilnahme, die dem Interesse an der künstlerischen Gestaltung als solcher keinen Platz lässt.

Aber diese Herabgesetztheit der Gefühlsquantität hat nicht nur den negativen Sinn, dem ästhetischen Gefühl Raum zu geben, sondern diese besondere, ich möchte sagen, abstraktere Gefühlsstärke, der von der Qualität der konkreten Lebensgefühle nichts fehlt, ist selbst schon eine ästhetische Qualität.

Wo sonst ursprüngliche Gefühlsintensitäten Herabsetzung erfahren, pflegen wir eine Lücke, ein Rudimentärwerden, ein Manko zu empfinden.

Die Kunst allein weiss den ganzen Kosmos des Fühlens lückenlos zu bewahren, nur sein Mass so herabsetzend, dass wir begreifen, nicht dem Sein, sondern nur seinen Inhalten, nicht den Dingen, sondern nur dem Sinn ihrer Formen gegenüberzustehen.

Neben diesen innerlichsten Problemen aller Kunst stehe endlich eine Vermittlung des Quantitätswertes im alleräusserlichsten.

Es scheint uns selbstverständlich, dass innerlich sehr bedeutsame Erscheinungen und Vorgänge eine erhebliche Bildgrösse fordern, die an unwesentlichere und geistig weniger erfüllte zu wenden durchaus verfehlt wäre.

Dies eigentlich schematische Verhältnis zwischen innerlich-sachlicher Bedeutung und räumlichem Umfang ist keineswegs ganz einfach begreiflich.

Das Vermittelnde scheint mir zu sein, dass jede Bildgrösse einen ganz bestimmten Teil unseres Sehfeldes beansprucht.

Wenn ein Bild das Sehfeld nicht ganz oder nahezu ausfüllt, wenigstens den Bezirk des schärfsten Sehens, so wird unvermeidlich noch vieles, was in derselben Raum und bei derselben Blickrichtung noch in den Sehbezirk fällt, mitgesehen und verursacht eine psychologische Ablenkung und Herabsetzung der ausschliesslichen Konzentration auf dieses Objekt - wie es mit einem bedeutenden, von reichen Assoziationen umgebenen Bildinhalt durchaus unverträglich, einem unerheblichen gegenüber aber sogar erfordert ist.

Die Konkordanz zwischen Aeusserem und Inneren, die in jedem Kunstwerk das eine immer zum Symbol des anderen werden lässt, verlangt von dem Gegenstand, der durch seine unsinnliche Bedeutung, Weite und Tiefe das Bewusstsein erfüllt, dass er auch das sinnliche Bewusstsein ausfülle.

Andererseits darf ein inhaltlich oder formal unbedeutsamer Gegenstand das Sehfeld nicht für sich allein beanspruchen, darf nicht ;alles andere daraus verdrängen, weil dies nicht weniger jene Symbolik, die das Grundwesen aller Kunst ist, zerstören würde.

Man kann als die letzte Formel aller Kunst und ihrer Beglückungen vielleicht dies aussprechen, dass sie Forderungen an die Dinge, deren jede unabhängig von der anderen entwickelt ist, sodass die Wirklichkeit oft nur gleichsam die Wahl hat, welcher sie gehorchen will, - dass sie diesen mit einer Einheit und . Gleichmässigkeit zu genügen weiss, als gäbe es da nur eine einzige notwendige Bestimmtheit und Gesetzlichkeit der Dinge, wo die Wirklichkeit in reine Zufälligkeit, gleichgültige Fremdheit oder Widerstreit der Normen und Ansprüche auseinander bricht.

So verlangen wir vom Porträt, dass es den Sinn und Reiz der äusseren Erscheinung entwickle: in der Klarheit der Raumform, der ausgeglichenen Verteilung der Farbflecken, dem Spiele zwischen der Schwere und ihrer Aufhebung, zwischen Licht und Schatten, - und nun soll diese Deutung der Erscheinung nach rein artistisch-anschaulichen Forderungen zugleich die Seele der Persönlichkeit, ihr Unanschaulich-Innerliches restlos offenbaren!

Was im Leben fremd auseinander zuliegen pflegt: die bloss anschauliche Bedeutung der Erscheinung und ihre Rolle als Deuterin der Seele, zeigt das vollendete Kunstwerk in selbstverständlicher, ungebrochener Einheit, als umfasste ein geheimes höheres Gesetz die

Eigengesetzlichkeiten dieser Reihen - wie der klangliche Reiz des Verses und die Bedeutung seines Inhaltes jene Einheit eingehen, die der eigentliche Sinn und Geheimnis der Lyrik ist.

Und so haben der Reiz des Zufalls und der der Notwendigkeit, die Unvergleichbarkeit des Individuums und die Gattungsmässigkeit des Typus ihren logischen Gegensatz und ihre reale Getrenntheit im Kunstwerk überwunden, nicht in einem nachträglichen Verschmelzen, sondern wie in einem Jenseits des Gegensatzes überhaupt, als lebte das Kunstwerk in jener ursprünglichen Einheit, die sich noch nicht zu den Widersprüchen und Fremdheiten der geschichtlichen Wirklichkeit entwickelt hat.

Und die gleiche Formel wird wohl auch das ästhetische Problem der Quantität des Kunstwerkes aussprechen.

Aus den rein artistischen, der Anschaulichkeit der Dinge geltenden Bedingungen einerseits, aus unserer körperlich-seelischen Struktur andererseits entwickeln sich Anforderungen an die Quantität des Kunstwerkes; aus der inneren Bedeutung der Dinge, aus ihrem seelischen Sinn, aus nicht abzuweisenden Assoziationen ihres Inhaltes quellen andere, die aber mit jenen übereinzustimmen durch keine vorher bestimmte Harmonie gehalten sind.

Wenn nun diese teils widersprechenden, teils nur zufällig zusammenstimmenden Ansprüche im Kunstwerk mit einer Lösung wie selbstverständlich und notwendig befriedigt sind, so ist auch dies ein Pulsschlag des Glückes der Kunst: dass sie uns wenigstens im Bilde des Daseins den einheitlichen Zusammenhang seiner Elemente gewährt, den die Wirklichkeit uns vorzuenthalten scheint, der aber ihrem tiefsten Grunde nun deshalb nicht fremd sein kann, weil schliesslich das Bild des Daseins ein Stück des Daseins selbst ist.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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