Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Zur Soziologie der Religion

ex: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne) 9. Jg. 1898, 111-123  (Berlin).

Die vieldeutige Dämmerung, die den Ursprung und das Wesen der Religion für uns umgibt, wird sich nicht lichten, solange man in ihr nur ein Problem, das eines Lösungswortes bedürfte, zu sehen glaubt. 

Niemand vermochte bisher eine Definition zu geben, die uns, ohne vage Allgemeinheit und doch alle Erscheinungen einschließend, sagte, was "Religion" ist, die letzte Wesensbestimmtheit, die den Religionen der Christen und der Südseeinsulaner, Buddhas und Vitzliputzlis gemeinsam ist. 

Weder gegen bloss metaphysische Spekulation auf der einen Seite, noch gegen Gespensterglauben auf der anderen, ist sie sicher begrenzt, nicht einmal so, dass ihre reinsten und tiefsten Erscheinungen davor geschützt wären, auf den Beisatz dieser Elemente hin geprüft zu werden. 

Solcher Unbestimmbarkeit ihres Wesens entspricht die Vielheit der psychologischen Motive, aus denen das Nachdenken sie entspringen ließ. 

Mag man die Furcht oder die Liebe, die Ahnenverehrung oder die Selbstvergötterung, die moralischen Triebe oder das Abhängigkeitsgefühl als die innere Wurzel der Religion ansehen - ganz irrig ist jede dieser Theorien sicher nur dann, wenn sie den Ursprung, berechtigt aber, wenn sie einen Ursprung der Religion anzugeben behauptet. 

Darum wird man sich der Lösung des Problems nur so nähern, dass man alle Impulse, Ideen, Verhältnisse, die auf diesem Gebiet wirksam werden, inventarisiert, aber mit dem ausdrücklichen Verzicht darauf, die Bedeutung einzelner Motive über die Fälle ihrer Festgestelltheit hinaus zu allgemeinen Gesetzen des religiösen Wesens zu erweitern. 

Und nicht nur dieses Vorbehaltes bedarf es für den Versuch, aus Äußerungen des sozialen Lebens, die ganz jenseits aller Religion liegen, dennoch für diese ein Verständnis zu gewinnen; sondern auf das entschiedenste muss betont werden, dass, auf welche sehr irdische, sehr empirische Weise auch das Zustandekommen der Vorstellungen vom Überirdischen und Überempirischen erklärt werde, dadurch weder der subjektive Gefühlswert der zustandegekommenen Vorstellung noch die Frage nach ihrem objektiven Wahrheitswert überhaupt berührt wird.

Das Reich beider Werte liegt jenseits der Grenzen, an denen unsere nur genetische, nur psychologische Untersuchung ihr Ziel findet. 

Wenn wir so versuchen, die Ansatzpunkte für das religiöse Wesen in Beziehungen der Menschen untereinander, die an sich noch gar nicht Religion sind, zu finden, so folgen wir damit nur einer sonst schon anerkannten Methode. 

In Bezug auf die Wissenschaft ist längst zugegeben, dass sie nur eine Steigerung, Durchbildung, Verfeinerung aller der Erkenntnismittel ist, deren niedrigere und trübere Grade uns auch zu den Einsichten und Erfahrungen des täglichen, praktischen Lebens verhelfen. 

Zu einem genetischen Verständnis der Kunst werden wir erst kommen, wenn wir die ästhetischen Momente in den Lebensgestaltungen, die selbst noch nicht Kunst sind, analysiert haben werden: in der Sprache, im konkreten Empfinden, im praktischen Handeln, in den sozialen Formungen. 

Alle solche hohen und reinen Gestaltungen treten zunächst gleichsam versuchsweise, keimhaft, in Verwebung mit anderen Formen und Inhalten auf; aber in diesen unausgebildeten Stadien müssen wir sie aufsuchen, um sie in ihren höchsten und selbständigen zu begreifen. 

Ihr psychologisches Verständnis hängt daran, dass man ihren Platz in einer Reihe finde, deren Glieder durch allmählige Entwicklung in einander übergehen, gleichsam mittels eines organischen Wachstums durch eine Mannigfaltigkeit von Stufen hindurch, so dass das Neue und Eigne in jeder als die Entfaltung von Keimen in der vorangehenden erscheint. 

So mag es uns zur Einsicht in das Entstehen und in den Bestand der Religion verhelfen, wenn wir in allerhand Beziehungen und Interessen, die jenseits, oder vielmehr diesseits ihrer stehen, gewisse religiöse Momente entdecken, die Ansatzpunkte zu demjenigen, was als "Religion" Selbständigkeit und Geschlossenheit erlangt hat. 

Ich glaube nicht, dass die religiösen Gefühle und Impulse sich nur in der Religion äußern; vielmehr, dass sie sich in vielerlei Verbindungen finden, als ein bei vielerlei Gelegenheiten mitwirkendes Element, in dessen Aufgipfelung und Isolierung nur die Religion als selbständiger Lebensinhalt, als ein Gebiet eigenster Begrenzung besteht. 

Um nun die Punkte zu finden, wo innerhalb der Wechselbeziehungen zwischen Menschen Fragmente des religiösen Wesens sozusagen: der Religion, bevor sie Religion ist - entstehen, bedarf es des Umweges über einige, auf den ersten Blick ganz abseits liegende Erscheinungen. 

Es ist schon lange bekannt, dass die soziale Lebensform in niedrigeren Kulturverhältnissen die Sitte ist. 

Eben dieselben Lebensbedingungen der Gesellschaft, die später einerseits als Recht kodifiziert und von der Staatsgewalt erzwungen werden, andererseits der Freiheit des kultivierten und gezüchteten Menschen überlassen sind - werden in engeren und primitiven Kreisen durch jene eigentümliche, unmittelbare Aufsicht der Umgebung über den Einzelnen garantiert, die man Sitte nennt. 

Sitte, Recht, freie Sittlichkeit des Einzelnen sind verschiedene Verbindungsarten der sozialen Elemente, die alle ganz dieselben Gebote zum Inhalt haben können, und bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten auch haben. 1) 

So können manche Normen und Resultate des öffentlichen Lebens gleichmäßig von dem freien Spiel konkurrierender Kräfte wie von der reglementierenden Bevormundung niederer Elemente durch höhere getragen werden; so werden vielerlei soziale Interessen zu Zeiten von der Familienorganisation gewahrt, um später oder anderswo von den rein beruflichen Vereinigungen oder der staatlichen Verwaltung übernommen zu werden. 

Allgemein ausgedrückt: die Wechselbeziehungen, die das Leben der Gesellschaft ausmachen, erheben sich immer auf Grund bestimmter Zwecke, Ursachen, Interessen; und indem diese letzteren, gleichsam die Materie des sozialen Lebens, beharren, können die Beziehungsformen, in denen sie verwirklicht werden, sehr verschiedene sein - wie andererseits die gleiche Form und Art der sozialen Wechselwirkung die mannigfaltigsten Inhalte in sich aufnehmen kann. 

Es scheint mir, als ob unter diesen Formen, die die Beziehungen der Menschen unter einander annehmen und die die Träger sehr verschiedener Inhalte sein können, sich eine befände, die man nur als die religiöse bezeichnen kann - freilich eine Bezeichnung, die den Namen des reifen Gebildes für seine Anfänge und Vorbedingungen vorwegnimmt. 

Denn nicht von schon bestehender Religion soll auf jene Beziehungen die Färbung überstrahlen, die ihr Recht, so genannt zu werden, begründet; sondern die Menschen entwickeln in ihren Berührungen, in dem rein Psychologischen ihrer Wechselwirkung, den bestimmten Ton, dessen gesteigerte, losgelöste, zu eigner Wesenheit erwachsene Entwicklung Religion heißt. 

Wir können nämlich feststellen, dass vielerlei Verhältnisse von Menschen untereinander ein Element des Religiösen enthalten. 

Die Beziehung des pietätvollen Kindes zu seinen Eltern, des enthusiastischen Patrioten zu seinem Vaterland oder des enthusiastischen Kosmopoliten zur Menschheit; die Beziehung des Arbeiters zu seiner sich emporringenden Klasse oder des adelsstolzen Feudalen zu seinem Stand; die Beziehung des Unterworfenen zu seinem Beherrscher, unter dessen Suggestion er steht, und des rechten Soldaten zu seiner Armee - alle diese Verhältnisse mit so unendlich mannigfaltigem Inhalt, können doch auf die Form ihrer psychischen Seite hin angesehen, einen gemeinsamen Ton haben, den man als religiös bezeichnen muss. 

Alle Religiosität enthält eine eigenartige Mischung von selbstloser Hingabe und eudämonistischem Begehren, von Demut und Erhebung, von sinnlicher Unmittelbarkeit und unsinnlicher Abstraktion; damit entsteht ein bestimmter Spannungsgrad des Gefühles, eine spezifische Innigkeit und Festigkeit des inneren Verhältnisses, eine Einstellung des Subjektes in eine höhere Ordnung, die es doch zugleich als etwas Innerliches und Persönliches empfindet. 

Dieses religiöse Moment scheint mir in den oben genannten Verhältnissen und manchen anderen enthalten zu sein; es verleiht ihnen eine Note, die sie von den auf reinen Egoismus oder reine Suggestion oder rein äußerliche oder sogar rein moralische Kräfte gegründeten Beziehungen noch unterscheidet. 

Selbstverständlich tritt dieses Element in größerer oder geringerer Stärke auf, es kann jene Beziehungen nur wie ein leichter Oberton begleiten, es kann ihnen aber auch die entscheidende Färbung verleihen. 

In vielen und wichtigen Fällen wird dadurch ein Entwicklungsstadium von Verhältnissen charakterisiert werden; d. h. eben derselbe Inhalt, der vorher und nachher von anderen Formen der Beziehung zwischen Menschen getragen wird, nimmt in einer Periode die Form der religiösen Beziehung an. 

Am deutlichsten wird dies bei Gesetzgebungen, die zu gewissen Zeiten oder an gewissen Orten theokratischen Charakter zeigen, völlig unter religiöser Sanktion stehen, um anderwärts von der Staatsgewalt oder von der Sitte garantiert zu werden. 

Ja, es scheint, dass die notwendige Ordnung der Gesellschaft vielfach von einer ganz undifferenzierten Form ausgegangen wäre, in der die moralischen, die religiösen, die juristischen Sanktionen noch in ungeschiedener Einheit geruht hätten; so das Dharma der Inder, die Themis der Griechen, das fas der Lateiner - und dass dann, je nach den verschiedenen historischen Umständen, bald die eine bald die andere Bildungsform sich zum Träger solcher Ordnungen entwickelt habe. 

Auch im Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtgruppe bemerken wir solchen Wechsel: in Zeiten eines erregten Patriotismus nimmt dies Verhältnis eine Weihe, Innigkeit und Hingebung an, die wir als religiös bezeichnen, während es zu andern Zeiten von der Konvention oder vom Staatsgesetz geleitet wird. 

Für uns ist das Wichtige, dass es sich hier doch überall nur um Beziehungen zwischen Menschen handelt, und dass es nur eine Änderung gleichsam des Aggregatzustandes dieser Beziehungen ist, wenn sie aus dem rein konventionellen in den religiösen, von dem religiösen in den rechtlichen, von dem rechtlichen in den Zustand freier Sittlichkeit übergehen; wie denn tatsächlich viele sozial schädliche Unsittlichkeiten erst durch die Ahndung innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft hindurch ihre Stelle im Strafgesetzbuch gefunden haben; oder wie der Antisemitismus uns zeigt, dass eine sozialökonomische oder rassenhafte Beziehung zwischen gewissen Abteilungen der Gruppe in die religiösen Kategorie gehoben werden kann, ohne doch inhaltlich etwas anderes als ein soziales Verhältnis zu werden; oder wie vermutet wird, dass die Kultprostitution nur die religiöse Formung einer früher oder anderwärts durch reine Konvention getragenen Ordnung des Sexuallebens war. 

Nun ist angesichts dieser Beispiele ein vorhin angedeutetes Missverständnis ausführlicher abzuwehren. 

Nicht das ist der Sinn der hier auseinanderzusetzenden Theorie, dass gewisse soziale Interessen und Vorgänge dem für sich schon bestehenden religiösen Wesen unterstellt werden. 

Das kommt zwar oft genug vor, schafft Kombinationen von der größten historischen Wichtigkeit und besitzt solche auch für die angeführten Beispiele. 

Allein was ich meine, ist gerade die umgekehrte, freilich viel unscheinbarere und schwerer herauszulösende Verknüpfung: dass in jenen Beziehungen der Sozialelemente die Färbung, welche wir nachher oder wegen der Analogie mit anderwärts bestehender Religiosität religiös nennen, spontan auftritt, als eine rein sozialpsychologische Konstellation, eine der möglichen Verhaltungsweisen des Menschen zu anderen. 

Die Religion, als ein selbständiges, an die Vorstellung eigenartiger Substanzen und Interessen angebautes Gebiet, ist dem gegenüber erst etwas Abgeleitetes, ungefähr wie der Staat im römischen und im modernen Sinne, als ein objektives und für sich bestehendes Wesen, etwas sekundäres ist gegenüber den ursprünglichen Wechselwirkungen, Bindungen und Ordnungen, die zwischen den Sozialelementen unmittelbar herrschten und die die Bewahrung und Exekutive ihres Inhaltes erst allmählig auf das besondere, nun jenseits ihrer stehende Gebilde, den Staat, projiziert oder abgegeben haben. 

Die ganze Geschichte des gesellschaftlichen Lebens wird von diesem Prozess durchzogen: dass die unmittelbar gegenseitigen Bestimmungen der Individuen, mit denen ihr Zusammenleben beginnt, zu gesonderten und selbständigen Organen aufwachsen. 

So entstehen aus den zur Selbsterhaltung der Gruppe erforderlichen Verhaltungsweisen einerseits das Recht, das sie kodifiziert, andrerseits der Richterstand, dem die Anwendung desselben arbeitsteilig obliegt. 

So bildet sich aus der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, die zuerst in unmittelbarer Kooperation Aller und nach der rohen Empirie des Tages geleistet wurde, einerseits die Technik heraus, als ein ideales System von Erkenntnissen und Regeln, andrerseits der Arbeiterstand, der nun der differenzierte Träger der entsprechenden Leistungen ist. 

In ähnlicher Weise obgleich in diesen unendlich komplizierten Dingen die Analogie immer von unzähligen Abweichungen umspielt wird - mag es sich mit der Religion verhalten. 

Der Einzelne in einer Gemeinschaft verhält sich zu anderen oder zu der Gesamtheit in jener beschriebenen Weise, seine Beziehung hat jenen charakteristischen Grad von Erhebung, Hingabe, Weihe, Innerlichkeit. 

Daraus kann sich einerseits ein idealer Inhalt entwickeln: Götter, welche die Beschützer der so gestimmten Beziehungen sind, welche als die Erreger dieser Gemütsverfassungen erscheinen, welche durch ihr Wesen das gleichsam gesondert darstellen, was bis dahin als bloße Beziehungsform und in Verschmelzung mit realeren Lebensinhalten existiert hatte. 

Und dieser Komplex von Ideen oder Phantasievorstellungen gewinnt nun in der Priesterschaft gleichsam eine Exekutive und arbeitsteiligen Träger, wie das Recht im Richterstand oder die Erkenntnissinteressen im Gelehrtenstand. 

Ist diese Verselbständigung und Substantialisierung der Religion erst erfolgt, so wirkt sie von sich aus auf die unmittelbaren psychischen Verhältnisse der Menschen untereinander zurück und gibt ihnen die nun bewusste und benannte Färbung der Religiosität. 

Damit gibt sie ihnen aber nur zurück, was sie ihnen ursprünglich selbst verdankt. Und man kann vielleicht sagen, dass die oft so wunderlichen und abstrusen religiösen Vorstellungen ihre Macht in den menschlichen Verhältnissen gar nicht hätten erlangen können, wenn sie nicht die bloße Formel oder Verkörperung schon vorher vorhandener Verhältnisformen wären, für die das Bewusstsein nur noch keinen geschickteren Ausdruck gefunden hat. 

Das Gedankenmotiv dieser Erörterung ist ein sehr allgemeines und lässt sich als eine weitgreifende Regel ausdrücken, von der die materialistische Geschichtsauffassung einen Einzelfall darstellt. 

Indem diese die gesamten Inhalte des historischen Lebens aus den Formen der Wirtschaft herleitet und Sitte wie Recht, Kunst wie Religion, Wissenschaftsbetrieb wie sozialen Aufbau von der Art bestimmt sein lässt, in der die Gruppe ihre materiellen Existenzbedingungen produziert - so wird damit eine Teilerscheinung eines sehr umfassenden Prozesses zum alleinigen Inhalt desselben übertrieben. 

Die Entwicklung nämlich der Formen und Inhalte des sozialen Lebens, durch alle Mannigfaltigkeit ihrer Gebiete und Erscheinungsweisen hindurch, erfolgt derart, dass der gleiche Inhalt in vielerlei Formen, die gleiche Form an vielerlei Inhalten sich auslebt. 

Die Ereignisse der Geschichte ordnen sich so, als ob in ihr die Tendenz herrschte, mit jeder gegebenen Summe von Momenten solange wie möglich auszukommen. 

Dies ist ersichtlich der Grund, aus dem die Geschichte nicht in eine Summe aphoristischer Momente auseinander fällt, der vielmehr das Nebeneinander wie das Nacheinander verwandtschaftlich verbindet. 

Dass die einzelne Form des Lebens - des sozialen, literarischen, religiösen, personalen - ihre Verbindung mit einem einzelnen Inhalt überlebt, und sich auch dem neuen ungeändert leiht; dass der einzelne Inhalt seinen wesentlichen Bestand durch eine Fülle einander ablösender Formen hindurchretten kann - das eben lässt die Kontinuität im historischen Geschehen nicht reißen, das verhindert es, dass irgendwo ein unverständlicher Sprung, ein Abbrechen des Zusammenhanges mit allem Früheren geschehe. 

Da nun die Entwicklung der Gattung im Allgemeinen vom Sinnlichen und Äußerlichen zu der Betonung des Geistigen und Innerlichen vorschreitet, - um dann freilich diese Richtung der Beeinflussung oft wieder umzukehren - so werden Momente des ökonomischen Lebens sehr häufig in die Form der Abstraktheit und Geistigkeit aufsteigen, die Formen, die die wirtschaftlichen Interessen ausgebildet haben, werden sich in ganz anders geartete Lebensinhalte hineinerstrecken. 

Aber das ist doch nur einer der Fälle, in denen sich die Kontinuität und das Sparsamkeitsprinzip in der Geschichte darstellen. 

Wenn sich etwa die Form des Staatsregimentes in der Familienverfassung wiederholt; wenn die herrschende Religion den künstlerischen Leistungen Stimmung und Ideen leiht; wenn häufige Kriege den Einzelnen auch im Frieden brutal und offensiv machen; wenn die Linie, die die politischen Parteien trennt, sich auch durch ganz unpolitische Gebiete hindurch fortsetzt und die divergenten Tendenzen des Kulturlebens an jene Parteien aufteilt - so sind dies Äußerungen des hervorgehobenen Charakters alles geschichtlichen Lebens, von dem die materialistische Geschichtstheorie nur eine einzelne Seite beleuchtet. 

Und eben dieser bezeichnet die Entwicklung, die uns hier beschäftigt: Formen der sozialen Beziehungen verdichten oder vergeistigen sich zu einer religiösen Vorstellungswelt, oder leiten der schon bestehenden neue Elemente zu; oder anders angesehen: ein spezifischer Gefühlsinhalt, in der Form inter-individueller Wechselwirkung entstanden, überträgt sich auf das Verhältnis zu einer transzendenten Idee; diese bildet die neue Kategorie, an der sich Formen oder Inhalte ausleben, die in den Beziehungen zwischen Menschen ihren Ursprung haben. - Ich will versuchen, diesen allgemeinen Gedanken an einigen speziellen Seiten des religiösen Wesens zu bewähren. 

Der Glaube, den man als das Wesentliche und als die Substanz der Religion angesprochen hat, tritt zunächst als ein Verhältnis zwischen Menschen auf, denn es handelt sich um den praktischen Glauben, der keineswegs nur eine Unterstufe oder Abschwächung des theoretischen Fürwahrhaltens ist. 

Wenn ich sage: ich glaube an Gott, so bedeutet dieses Glauben etwas völlig anderes als in den Sätzen, dass ich an die Existenz des Lichtäthers, an die Bewohntheit des Mondes oder an die Unveränderlichkeit der Menschennatur glaube. 

Es bedeutet nicht nur, dass ich das Dasein Gottes, obgleich es nicht streng beweisbar sei, dennoch annehme; sondern es bedeutet zugleich ein bestimmtes innerliches Verhältnis zu ihm, eine Hingebung des Gefühls an ihn, eine Dirigierung des Lebens auf ihn zu; in alledem eine einzigartige Mischung des Glaubens, im Sinne einer Erkenntnisart, mit praktischen Impulsen und Empfindungszuständen. 

Und nun die Analogie dazu in der Vergesellschaftung der Menschen. 

Wir bauen unsere gegenseitigen Beziehungen keineswegs nur auf dem auf, was wir von einander beweisbar wissen. 

Vielmehr unsre Gefühle und Suggestionen drücken sich in gewissen Vorstellungen aus, die man nur als glaubensmäßige bezeichnen kann, und die ihrerseits wieder auf die praktischen Verhältnisse zurückwirken. 

Es ist eine ganz spezifische, schwer zu definierende psychologische Tatsache, die wir damit bezeichnen, dass wir an jemanden glauben: das Kind an die Eltern, der Untergebene an den Vorgesetzten, der Freund an den Freund, der Einzelne an das Volk, der Untertan an seinen Fürsten. 

Die soziale Rolle dieses Glaubens ist auch gar nicht untersucht, aber soviel steht fest, dass ohne ihn die Gesellschaft auseinanderfallen würde. 

Auf ihn gründet sich z. B. vielfach der Gehorsam. 

Das Gehorsamsverhältnis beruht unzählige Male nicht auf dem bestimmten Wissen von Recht und Überlegenheit, aber auch nicht auf der bloßen Liebe oder Suggestion, sondern auf jenem psychischen Zwischengebilde, das wir den Glauben an einen Menschen oder an eine Kollektivität von Menschen nennen. 

Man hat oft die Unbegreiflichkeit davon betont, dass Individuen und ganze Klassen sich unterdrücken und ausbeuten lassen, während sie Kraft genug zu ihrer Befreiung hätten. 

Das eben bewirkt der gutwillige, unkritische Glaube an die Macht, das Verdienst, die Überlegenheit und Güte der Übergeordneten, der sich keineswegs nur als eine ungesicherte theoretische Annahme, sondern als ein eigenartiges, aus Wissen, Instinkt und Gefühl zusammengewachsenes Gebilde darstellt, das man einheitlich und einfach als den Glauben an jene bezeichnet. 

Dass wir, entgegen allen verstandesmäßigen Beweisen, allem noch so nachdrücklichen gegenteiligen Scheine an dem Glauben an einen Menschen festhalten - das ist eines der festesten Bänder, die die menschliche Gesellschaft zusammenhalten. 

Dieser Glaube ist nun entschieden religiösen Charakters. 

Ich meine das nicht so, dass Religion vorhanden wäre, von der dann jene soziologischen Verhältnisse ihren Charakter borgten. 

Ich glaube vielmehr, dass dieser ohne jede Rücksicht auf religiöse Daten entsteht, als eine rein inter-individuelle psychologische Beziehungsform, die sich dann in dem religiösen Glauben ganz rein und abstrakt darstellt. 

In dem Glauben an Göttliches hat sozusagen der reine Prozess des Glaubens sich verkörpert, losgelöst von seiner Bindung an einen sozialen Gegenpart; aus dem subjektiven Glaubensprozess wächst hier umgekehrt erst sein Objekt heraus. 

Der Glaube, der an den Verhältnissen der Menschen, als eine soziale Notwendigkeit lebt, wird nun selbstständige, typische Funktion des Menschen, die sich spontan, von innen heraus bewährt; wie es denn auch sonst keine seltene Erscheinung ist, dass erst ein bestimmtes Objekt in uns einen bestimmten psychischen Vorgang produziert, nachher aber dieser Vorgang, selbständig geworden, sich ein entsprechendes Objekt selbst bildet. 

Die Praxis des menschlichen Verkehrs in seinen alltäglichen wie in seinen höchsten Inhalten, zeigt so vielfach die psychologische Form des Glaubens als ihren Träger, dass in ihr wohl das Bedürfnis, überhaupt zu "glauben" aufwächst und sich an eignen, dadurch und dazu kreierten Objekten eine Bewährung schafft - ungefähr wie der Trieb der Liebe oder der Verehrung sich aus sich selbst heraus auf Objekte werfen kann, die an sich solche Gefühle keineswegs hervorrufen würden, sondern deren Qualifizierung hierzu nur von dem Bedürfnis des Subjektes auf sie reflektiert; oder wie, von der anderen Seite gesehen, der weltschaffende Gott als das Produkt des menschlichen Kausalbedürfnisses bezeichnet worden ist. 

Mit dieser letzteren Behauptung ist natürlich in keiner Weise geleugnet, dass diese Vorstellung auch objektive Wahrheit besäße, eine Wirklichkeit ihr entspräche; nur das Motiv, aus dem sie von innen heraus als Vorstellung entstanden ist, steht in Frage.

Man nimmt an, dass die unendlich häufige Anwendung der Kausalität auf ihrem Ursprungsgebiet, dem empirisch-relativen, das Bedürfnis nach ihr schließlich zu dem alleinherrschenden gemacht habe; so dass sie sich die Befriedigung, die ihr auf dem Gebiet des Absoluten eigentlich versagt ist, mit der Idee des absoluten Wesens, das die Ursache der Welt sei, selbst verschafft habe. 

Der gleiche Prozess mag den Glauben über sein soziales Ursprungsgebiet zu einem gleichsam organischen Bedürfnis steigern und ihm in der Vorstellung des Göttlichen seinen absoluten Gegenstand erzeugen. 

Eine zweite Seite des sozialen Wesens, die sich zu einer entsprechenden innerhalb des religiösen Wesens empor bildet, liegt im Begriffe der Einheit. 

Dass wir die zusammenhangslose Mannigfaltigkeit der Eindrücke von den Dingen nicht einfach hinnehmen, sondern nach ihren Verbindungen und Wechselwirkungen suchen, die sie zu einer Einheit zusammenschlössen; ja, dass wir das Vorhandensein höherer Einheiten und Zentren der Einzelerscheinungen eigentlich überall voraussetzen, um uns durch das Gewirr der Erscheinungen hindurchzufinden - das ist sicher eine an den sozialen Wirklichkeiten und Notwendigkeiten großgewordene Eigenschaft. 

Nirgends stellt sich so unmittelbar und so fühlbar aus einzelnen Elementen ein Ganzes her, nirgends wird die Getrenntheit und freie Beweglichkeit derselben so energisch von der dennoch vorhandenen Zentralisation beherrscht, wie es in der Gens, in der Familie, im Staate, in jedem Zweckverbande geschieht. 

Wenn primitive Vereinigungen so oft als Zehentschaften organisiert sind, so deutet dies vernehmlich an, dass das Verhältnis der Gruppenelemente dem der Finger gleicht: eine relative Freiheit und selbständige Beweglichkeit des Einzelnen, der dennoch mit den andern in einer Einheit des Zusammenwirkens und Untrennbarkeit der Existenz verbunden ist. 

Indem alles soziale Leben Wechselwirkung ist, ist es eben damit Einheit; denn was anderes heißt Einheit, als dass das Viele gegenseitig verbunden sei und das Schicksal jedes Elementes kein anderes unberührt lasse. 

Gerade die Tatsache, dass gegen diese Einheit der Gesellschaft gelegentlich angekämpft wird, dass die Freiheit des Individuums sich ihr zu entziehen trachtet, dass sie sich selbst bei den engsten und naivsten Bindungen nicht so selbstverständlich durchsetzt, wie die Einheit eines Organismus in seinen Bestandteilen - gerade das muss sie in das menschliche Bewusstsein emporgetrieben haben, als eine besondere Form und einen besonderen Werth des Seins. 

Die Einheit der Dinge und der Interessen, die uns zunächst auf dem sozialen Gebiete nahegebracht wird, findet ihre reine und gleichsam von aller Materie gelöste Darstellung in der Idee des Göttlichen - am vollkommensten natürlich in der monotheistischen, relativ aber auch in den niedrigeren Religionen. 

Es ist das tiefste Wesen der Gottesidee, dass in ihr die Mannigfaltigkeit und Entgegengesetztheit der Dinge Zusammenhang und Einheit findet - mag es nun die absolute Einheit des einen Gottes, oder mögen es die partiellen, auf einzelne Provinzen des Seins bezüglichen Einheiten des Polytheismus sein. 

So hat z.B. die soziale Lebensform der Alt-Araber mit ihrem allbeherrsehenden Einfluss der Stammeseinheit, schon den Monotheismus präformiert: bei semitischen Völkern, wie den Juden, Phöniziern, Kanaaniten hat die Art ihrer sozialen Vereinheitlichung und deren Wandlungen sich deutlich in dem Charakter ihres göttlichen Prinzips gespiegelt: so lange die Familieneinheit die herrschende Lebensform war, bedeutete Baal nur den Vater, zu dem die Menschen wie Kinder gehören; in dem Masse, in dem die soziale Gemeinschaft fremdere, nicht blutsverwandte Zweige zusammenschließt, wird er der in objektiver Höhe thronende Herrscher; sobald die soziale Einheit den Charakter der Verwandtschaftlichkeit verliert, tut es auch die religiöse, so dass diese gleichsam als die reine abgelöste Form jener erscheint. 

Ja sogar die Vereinheitlichung, die sich über der Differenzierung der Geschlechter erhebt, bildet einen besonderen religiösen Typus. 

Das psychologische Verwischen der Geschlechtsgegensätze, das im sozialen Leben der Syrer, Assyrer und Lyder bedeutsam auftrat, vollendete sich in der Vorstellung von Gottheiten, die diese Gegensätze in sich einheitlich zusammenfassten: der halbmännlichen Astarte, des mann-weiblichen Sandon, des Sonnengottes Melkarth, der mit der Mondgöttin die Symbole des Geschlechtes austauscht. 

Es handelt sich hier nicht um den trivialen Satz, dass sich der Mensch in seinen Göttern malt, der in seiner Allgemeinheit nicht erst eines Beweises bedarf; sondern darum, die einzelnen Züge des Menschlichen aufzusuchen, deren Entwicklung und Steigerung über das Maas des Menschlichen hinaus die Götter schafft. 

Und es gilt zu erkennen, dass die Götter nicht nur in einer Idealisierung individueller Eigenschaften, der Kraft, der sittlichen oder auch unsittlichen Charakterzüge, der Neigungen und Bedürfnisse der Einzelnen bestehen, sondern dass die inter-individuellen Formen des sozialen Lebens vielfach den religiösen Vorstellungen ihren Inhalt geben. 

Indem gewisse Seiten und gewisse Intensitätsgrade der sozialen Funktionen ihre reinste, abstrakteste und zugleich doch verkörperte Gestaltung annehmen, bilden sie die Objekte der Religion, so dass man sagen kann, Religion bestehe, - außer allem, was sie sonst etwa ist - in sozialen Beziehungsformen, die in ihr, von ihren empirischen Inhalten gelöst, verselbständigt und auf eigene Substanzen projiziert werden. 

Wie sehr gerade die Einheit der Gruppe zu den religiös auszugestaltenden Funktionen gehört, können noch zwei Überlegungen klar machen. 

Dass die Gruppe eine Einheit bildet, das wird, insbesondere in primitiveren Epochen, durch die Kampf- und Konkurrenzlosigkeit innerhalb ihrer, im Gegensatz zu allem Verhältnis zu Außerhalbstehenden, bewirkt oder markiert. 

Es gibt nun vielleicht kein Einzelgebiet, auf dem diese Existenzform des konkurrenzlosen Nebeneinander, die Gleichheit der Ziele und Interessen, sich so rein und restlos darstellte, wie auf dem religiösen. 

Der hervorgehobene Friedenscharakter des inneren Gruppenlebens ist doch nur ein relativer. 

Mit der Mehrzahl der Strebungen auch innerhalb dieser ist doch auch die Bemühung verbunden, Mitstrebende von dem gleichen Ziel auszuschließen, das Missverhältnis zwischen Wünschen und Befriedigungen möglichst, wenn auch auf Kosten Anderer, zu verbessern, zum Mindesten in dem Unterschied gegen Andere den Werthmaßstab eigenen Thuns und Genießens zu suchen.

Fast allein auf religiösem Gebiet können die Energien der Einzelnen sich voll ausleben, ohne miteinander in Konkurrenz zu geraten, weil nach dem schönen Worte Jesu, für Alle Platz in Gottes Hause ist. 

Obgleich das Ziel Allen gemeinsam ist, gewährt es doch Allen die Möglichkeit der Erreichung und hat nicht ein gegenseitiges Sich-Ausschließen, sondern im Gegenteil ein Sich-Aneinander-Anschließen zur Folge.

Ich erinnere an die tiefsinnige Art, in der die Kommunion es zum Ausdruck bringt dass die Religion ein für Alle gleiches Ziel mit einem für Alle gleichen Mitte erreichen will, ich erinnere vor allem an die Feste, die die Einheit aller in der gleichen religiösen Erregung Befassten zur äußerlichsten Sichtbarkeit bringen - von den rohen Festen primitiver Religionen, wo die Verschmelzung zur Einheit sich schließlich zur sexuellen Orgie aufzugipfeln pflegt, bis zu jene reinsten und über die Einzelgruppe weithinausreichenden Ausdruck des Pax hominibus.

Die Konkurrenzlosigkeit, die die Einheit als die Lebensform der Gruppe bedingt, in ihr aber immer nur relativ und partiell herrscht, hat auf dem religiösen Gebiet absolute und intensivste Verwirklichung gefunden.

Man könnte hier, wie beim Glauben, sagen, dass die Religion das in Substanz darstelle, ja gewissermaßen in der Substantialisierung dessen bestände, was als Form und Funktion das Gruppenleben reguliert.

Und dies gewinnt nun wieder personale Form im Priestertum, das, trotz seiner historischen Verbindung mit bestimmten Ständen, doch seinem Grundgedanken nach über allen Einzelnen steht, eben dadurch den Schnittpunkt und die Einheit ihrer idealen Lebensinhalte bildend.

So befreit der katholische Zölibat die Priester von jeder speziellen Beziehung zu diesem und jenem Elemente und Elementenkomplex, um ihm so die gleichmäßige Beziehung zu jedem zu ermöglichen - wie die "Gesellschaft" oder der "Staat" über allen Einzelnen als die abstrakte Einheit steht, die die Verbindungen unter jenen an sich gezogen hat.

Und um etwas ganz Einzelnes zu nennen: die Kirche bot das ganze Mittelalter hindurch allen Wohltätigkeitstrieben die große Bequemlichkeit, dass sie das Reservoir war, in dem jede milde Spende fraglos einmündete.

Wer sich zu Gunsten Andrer eines Besitzes entäußern wollte, hatte nicht noch zu überlegen, in welcher Weise es am besten geschähe, sondern es war dazu ein allumfassendes Zentralorgan zwischen den Spendenden und den Bedürftigen da. Die Wohltätigkeit, eine Form der sozialen Beziehung innerhalb der Gruppe, gewann in der Kirche eine überindividuelle Organisation und Einheit.

Gleichsam die Rückseite dieses Zusammenhanges, aber auf den gleichen Kern hinweisend, bildet das Verhalten zu den "Ketzern".

Was namentlich große Massen in den Hass und die moralische Verurteilung den Ketzern gegenüber treibt, ist gewiss nicht der Unterschied in dem dogmatischen Inhalte der Lehre, den sie unzählige Male gar nicht verstehen - sondern die Tatsache der Opposition Einzelner gegen die Gesamtheit.

Die Verfolgung der Ketzer und Dissidenten entspringt dem Instinkte für die Notwendige Einheit der Gruppe.

Besonders bezeichnend aber ist es nun, dass in vielen Fällen dieser Art die religiöse Abweichung sehr wohl mit der Einheit der Gruppe in allen vitalen Angelegenheiten zusammenbestehen könnte.

Allein der soziale Einheitstrieb hat in der Religion so reine, abstrakte und zugleich substantielle Gestalt angenommen, dass es der Verbindung mit realen Interessen nicht mehr bedarf, sondern das Dissidententum die Einheit, d. h. die Lebensform der Gruppe als solche und ihrer Idee nach zu bedrohen scheint.

Wie ein Palladium oder ein sonstiges Symbol der Gruppeneinheit mit dieser direkt gar nichts zu tun hat, dennoch aber jeder Angriff auf dasselbe die heftigste Reaktion hervorruft, so ist die Religion die reinste und über alle konkrete Einzelheit erhobne Einheitsform der Gesellschaft, die diesen Charakter durch die Energie beweist, mit der jede inhaltlich noch so irrelevante Ketzerei bekämpft wird.

Und endlich bieten diejenigen inneren Verknüpfungen zwischen dem Individuum und seiner Gruppe, die man die moralischen nennt, so tiefe Analogien mit dem Verhältnis zu seinem Gott dar, als wäre dieses nichts anderes als Verdichtung und Umformung jener.

Die ganze geheimnisvolle Fülle der ersteren spiegelt sich in der Vielfältigkeit der Wirkungen, in denen wir das Göttliche empfinden. 

Die zwingenden und strafenden Götter, der liebende Gott, der Gott Spinozas, der unsre Liebe nicht erwidern kann, der Gott, der uns die Direktive des Handelns und zugleich die Kraft zu ihrer Befolgung verleiht oder nimmt - das eben sind ja die Zeichen, unter denen auch das ethische Verhältnis zwischen der Gruppe und ihren Individuen seine Kräfte und seine Gegensätze entfaltet.

Ich hebe etwa das Gefühl der Abhängigkeit heraus, in dem man das Wesen aller Religion erblickt hat.

Das Individuum fühlt sich an ein Allgemeines, Höheres gebunden, aus dem es fließt und in das es fließt, aber von dem es auch Hebung und Erlösung erwartet, von dem es verschieden und doch auch mit ihm identisch ist. 

Alle diese Empfindungen, die sich in der Vorstellung Gottes wie in einem Brennpunkt begegnen, lassen sich auf das Verhältnis zurückführen, das der Einzelne zu seiner Gattung besitzt, und zwar einerseits zu den vergangenen Generationen, die ihm die hauptsächlichen Formen und Inhalte seines Wesens überliefert haben, andrerseits zu der mitlebenden, die ihm die Gestaltung derselben und das Maas ihrer Entfaltung bestimmt. 

Wenn die Theorie richtig ist, nach der alle Religion vom Ahnenkultus ausgeht, von der Verehrung und Versöhnung der weiterlebenden Seele des Vorfahren, insbesondere des Helden und des Anführers - so mag sie diesen Zusammenhang bestätigen: denn wir hängen Indertat von dem ab, was vor uns war, und was sich am unmittelbarsten in der Autorität der Väter über die Nachkommenschaft konzentriert. 

Die Vergötterung der Vorfahren, und insbesondere der tatkräftigsten und wirkungsreichsten ist gleichsam der zweckmäßigste Ausdruck für die Abhängigkeit des Individuums von dem zeitlich vorangegangenen Leben der Gruppe - so andre Motive dafür auch das Bewusstsein der Völker zeigen mag. 

So lässt sich jene Demut, in der der Fromme, alles was er ist und hat, Gott zu verdanken bekennt, in ihm die Quelle seines Wesens und seiner Kraft erblickt, richtig auf das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit übertragen. 

Denn auch nicht schlechthin nichts ist der Mensch Gott gegenüber, sondern nur ein Staubkorn, eine schwache, aber immerhin doch nicht völlig nichtige Kraft, ein Gefäß, das jenem Inhalt aufnahmefähig entgegenkommt. 

Wenn eine geklärte Gottesidee ihr Wesen darin hat, dass alle bunten Mannigfaltigkeiten, alle Gegensätze und Verschiedenheiten des Seins und des Wollens und insbesondere unserer inneren Lebensinteressen in ihm ihren Ursprung und zugleich ihre Einheit finden, so können wir ohne Weiteres die soziale Gesamtheit an seine Stelle setzen; denn sie ist es, aus der die ganze Fülle der Triebe fließt, die sie uns als Resultate wechselnder Anpassungen vererbt, die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, in denen wir stehen, die Ausbildung der Organe, mit denen wir die verschiedenen und oft schwer zu vereinigenden Seiten der Welt auffassen -und doch ist die soziale Gruppe etwas hinreichend Einheitliches, um als realer Einheitspunkt dieser divergenten Ausstrahlungen angesehen zu werden.

So ist ferner der göttliche Ursprung der Fürsten nur der Ausdruck für die völlige Konzentrierung der Gewalt in ihren Händen; sobald die soziale Vereinheitlichung, die Objektivierung des Ganzen dem Einzelnen gegenüber einen gewissen Grad erreicht hat, erscheint sie diesem als überirdische Macht, und ihr gegenüber, mag sie noch unmittelbar als soziale bewusst sein oder sich schon in das Gewand der Gottesidee gehüllt haben, erhebt sich in genau gleicher Weise das Problem, wie viel der Einzelne tun könne oder müsse, um seinem Sollen zu genügen, und wie viel von dem ihm jenseitigen Prinzip dazu geschieht.

Die Selbständigkeit des Individuums im Verhältnis zu der Macht, von der es doch die Kraft der Selbständigkeit empfangen hat und die dieser Ziele und Wege bestimmt, ist hier wie dort die Frage.

So versetzt Augustin das Individuum in eine historische Entwicklung, der gegenüber es ebenso unselbständig und ohnmächtig ist, wie es nach ihm Gott gegenüber ist; so geht die Frage des Synergismus durch die ganze Kirchengeschichte ebenso hindurch, wie sie die Geschichte der inneren Politik bestimmt.

Wie nach der streng religiösen Auffassung der Einzelne nur ein Gefäß der Gnade oder des Zornes Gottes ist, so nach der sozialistischen ein Gefäß der von der Allgemeinheit ausgehenden Wirkungen; beide Fälle wiederholen die gleiche ethische Grundfrage nach dem Wesen und dem Rechte des Individuums, und in beiden Formen bietet die Hingabe desselben an das ihm jenseitige Prinzip oft die letzte noch mögliche Befriedigung, wenn die auf sich selbst angewiesene Individualität keine innere Bestandsfähigkeit mehr besitzt 2).

Es ist für diese Rangierung der religiösen und der ethisch-sozialen Vorstellungen sehr bezeichnend, dass Gott direkt als Personifikation derjenigen Tugenden aufgefasst wird, die er von den Menschen verlangt; die Eigenschaften der Güte, der Gerechtigkeit, der Langmut etc. hat  er weniger, als dass er sie ist; er ist, wie wir es ausgedrückt finden, die Vollkommenheit in Substanz vorgestellt, er ist "die Güte selbst", "die Liebe selbst" etc.

Die Sittlichkeit, die Imperative über das Verhalten der Menschen zu einander, haben in ihm sozusagen Dauerform gewonnen.

Wie der praktische Glaube ein Verhältnis zwischen Menschen ist, das über diese Relationsform hinaus ein Absolutes bildet; wie die Einheit eine Beziehungsform zusammenlebender Menschen ist, die sich zu jener Einheit der Dinge in personaler Form steigert, als die das Göttliche auftritt; so enthält die Moral jene Formen des Verhaltens von Mensch zu Mensch, die das Interesse der Gruppe sanktioniert hat, so dass der Gott, der die relativen Inhalte in absoluter Gestalt darstellt, einerseits die Rolle der fordernden und gewährenden Gruppe dem Einzelnen gegenüber repräsentiert, andrerseits die ethisch-sozialen Verhaltungsweisen, die der Einzelne zu leisten hat, der Relativität entrückt und in absoluter Substantialität in sich vorstellt.

Die Verhältnisse der Menschen zu einander, den mannigfaltigsten Interessen entsprossen, von den entgegengesetztesten Kräften getragen, in die verschiedensten Formen gegossen, gelangen eben auch in den Aggregatzustand, dessen Verselbständigung und Beziehung auf ein außerhalb stehendes Wesen wir Religion nennen - indem sie abstrakt und doch zugleich konkret werden, in welcher Doppelentwicklung eben die Stärke beruht, mit der die Religion auf jene Verhältnisse zurückwirkt.

Die alte Vorstellung, dass Gott das Absolute wäre, während alles Menschliche relativ ist, kommt hier zu einem neuen Sinn: es sind die Relationen zwischen den Menschen, die in der Vorstellung des Göttlichen ihren substantiellen und idealen Ausdruck finden.

Wenn solche, auf die Fundamente des Weltbildes hinstrebende Untersuchungen sonst der Wunsch begleitet, dass ihr Geltungsbereich nur umfassend genug verstanden werde, so muss hier umgekehrt die Sorge sein, dass die behaupteten Zusammenhänge nicht als Prätendenten auf Nachbargebiete, jenseits ihrer sehr bestimmt gezogenen Grenzen, aufzutreten scheinen.

Den historischen Hergang der Religionsschöpfung können sie nicht beschreiben, sondern nur eine ihrer vielen Quellen aufweisen, völlig dahingestellt, ob dieselbe, mit anderen sich begegnend, die gleichfalls den Gebieten des Noch-Nicht-Religiösen entspringen, nun durch den Zusammenfluss mit diesen Religion erzeugt; oder ob diese ihr Wesen und ihren Bestand schon gefunden hat, wenn die hier betrachteten Quellen des religiösen Wesens als Nebenflüsse in ihren Strom einmünden - ihre Wirksamkeit ist an keinen bestimmten historischen Moment gebunden.

Auch ist Religion als seelische Wirklichkeit ja kein fertiges Ding, keine feste Substanz, sondern ein lebendiger Prozess, den, bei aller Unerschütterlichkeit überlieferter Inhalte, doch jede Seele und jeder Augenblick selbst hervorbringen muss; gerade in dieser Anforderung, das religiös Gegebne fortwährend in den Fluss des Gefühles zu ziehen, dessen Bewegungen es stets neu zu formen haben, wie die stets wechselnden Wassertröpfchen doch das feste Bild des Regenbogen erzeugen - darin liegt die Kraft und Tiefe der Religion. 

Deshalb darf ihre genetische Erklärung nicht nur den historischen Ursprung ihrer Traditionen umfassen, sondern auch die Kräfte jeder Gegenwart, die uns, was wir an religiöse Schätzen von den Vätern geerbt haben, erwerben lassen, um es zu besitzen; so dass es in diesem Sinne wirklich "Ursprünge" der Religion gibt, deren Auftreten und Wirksamkeit lange nach der Zeit des "Ursprunges" der Religion liegt. 

Wichtiger aber noch, als die Insinuation einer historischen Entstehungstheorie hier abzuwehren, ist es für diese Untersuchungen, jegliche Frage nach der objektiven Wahrheit der Religion von ihren Zusammenhängen aus zuschließen. 

Wenn es gelingt, das Zustandekommen der Religion als eines Ereignisses im Leben der Menschen aus den inneren Bedingungen eben dieses Lebens zu begreifen, so ist insoweit das Problem noch gar nicht berührt, ob die sachliche, außerhalb des menschlichen Denkens gelegenen Wirklichkeit das Gegenstück und die Bestätigung jener psychischen Wirklichkeit enthalte oder nicht. 

So sucht die Psychologie des Erkennens begreiflich zu machen, wieso unser Weltbild ein räumlich ausgedehntes, nach drei Dimensionen sich erstreckendes ist, und überlässt es ganz andersartigen Untersuchungen, auszumachen, ob jenseits unseres Vorstellens eine Welt der Dinge an sich in den gleichen Formen bestehe oder nicht. 

Freilich mag überall ein Punkt erreicht werden, an dem die Erklärung der inneren Tatsächlichkeit aus bloß inneren Bedingungen nicht mehr zulangt, sondern erst eine äußere Wirklichkeit den Ursachenkreis der inneren zu schließen vermag. 

Allein diese Möglichkeit oder Notwendigkeit muss nur denjenigen treffen, der Wesen und Entstehung der Religion in Vollständigkeit ergründen will, nicht aber uns, die wir nur einen der Strahlen, die sich im Fokus der Religion treffen, in seiner Richtung zu verfolgen hatten. 

Und endlich das Wichtigste: die Gefühlsbedeutung der Religion, das heißt, die in das innerste Gemüt zurückstrahlende Wirkung der Vorstellungen vom Göttlichen ist völlig unabhängig von allen Annahmen über die Art, wie diese Vorstellungen zustande gekommen seien. 

Das ist der Punkt des stärksten Missverständnisses aller historisch-psychologischen Herleitung idealer Werte. 

Noch immer empfinden weite Kreise so, als wäre der Reiz eines Ideals entblättert, die Würde eines Gefühls deklassiert, wenn seine Entstehung nicht mehr ein unbegreifliches Wunder, eine Schöpfung aus dem Nichts ist - als ob das Begreifen des Werdens den Werth des Gewordnen in Frage stellte, als ob die Niedrigkeit des Ausgangspunktes die erreichte Höhe des Zieles herabzöge, und als ob die reizlose Einfachheit der einzelnen Elemente die Bedeutsamkeit des Produktes zerstörte, die in dem Zusammenwirken, der Formung und Verwebung dieser Elemente besteht. 

Das ist die törichte und verworrene Gesinnung, die die Menschenwürde entheiligt glaubte, weil der Mensch von einer niederen Tierart abstamme; als ob diese Würde nicht auf dem beruhte, was er in Wirklichkeit  ist, ganz gleichgültig dagegen, von welchem Anfange aus er es geworden ist; es ist dieselbe, die sich immer dagegen sträuben wird, das Verständnis der Religion aus Elementen heraus zu gewinnen, die für sich noch nicht Religion sind. 

Grade ihr aber, die die Würde der Religion durch Zurückweisen ihrer historisch-psychologischen Ableitung aufrecht zu erhalten glaubt, wird man Schwäche des religiösen Bewusstseins vorwerfen können. 

Denn die innere Festigkeit und Gefühlstiefe desselben kann nur eine geringe sein, wenn es sich durch die Erkenntnis seines Werdeganges gefährdet, ja überhaupt nur berührt glauben kann. 

Denn wie die echte und tiefste Liebe zu einem Menschen durch die nachträgliche Klarheit über ihre Entstehungsgründe nicht angefochten wird, ja, ihre triumphierende Kraft darin zeigt, dass sie den Fortfall all jener einstmaligen Entstehungsgründe ungebrochen überlebt - so wird alle Stärke des subjektiven religiösen Gefühls erst durch die Sicherheit erwiesen, mit der es in sich ruht und seine Tiefe und Innigkeit ganz jenseits aller Ursprünge stellt, auf die die Erkenntnis es zurückleiten mag. 


Anmerkungen

1) Dieser funktionelle Unterschied kann natürlich von sehr großer Bedeutung sein: Sokrates musste darüber sterben, weil er dieselben sittlichen Lebensinhalte, die das Alt-Griechentum durch die Strenge von Sitte und Konvention schützte, durch das frei prüfende Gewissen der Einzelnen realisiert wissen wollte. (zurück)

2) Ich entnehme diese Ausführung meiner "Einleitung in die Moralwissenschaft", I. Bd. Zur Soziologie der Religion (zurück)


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
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