Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Zur Psychologie der Mode - Soziologische Studie

ex: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst. 5. Band 1895, Nr. 54 vom 12. 10; S. 22-24.

Die physiologische Grundlage unseres Wesens, die uns auf den Wechsel von Ruhe und Bewegung, von Rezeptivität und Betätigung hinweist, enthält damit auch den Typus unserer geistigen Entwicklung.

Wenn unser Erkennen von der Bestrebung nach der höchsten Verallgemeinerung und Abstraktion ebenso gelenkt wird, wie von dem Bedürfnisse, das Einzelne und Speziellste zu beschreiben; wenn unser Gefühlsleben bald in ruhiger Hingabe an Menschen und Dinge, bald in energischer Betätigung ihnen gegenüber sich befriedigt; wenn unser sittliches Wesen in der sozialisierenden Verschmelzung mit unserer Gruppe und in der individuellen Heraushebung aus derselben seine Pole, die Grenzen seiner Schwingungen findet - so sind alles dies gleichsam die provinziellen Ausgestaltungen der großen gegensätzlichen Kräfte, in deren Kampf und Ausgleichung unser Schicksal besteht.

Diese Quellen und letzten Wesensrichtungen alles Menschlichen sind selbst nicht mit Worten zu bezeichnen; nur an jenen einzelnen Erscheinungen, die sie in ihrer Lenkung der einzelnen Lebensinhalte ergeben, an denen sie sich verwirklichen, kann man auf sie hinweisen und sie wie gleiche Kräfte aus verschiedenen Wirkungsgebleten herauslösen - mögen sie sich nun, vor Jahrtausenden als der Gegensatz der Eleaten und Heraklits, oder im Augenblick als der von Sozialismus und Individualismus verkörpern.

Die wesentlichen Lebensformen innerhalb der Geschichte unserer Gattung zeigen durchweg die Wirksamkeit dieser antagonistischen Prinzipien, jede stellt auf ihrem Gebiete eine besondere Art dar, das Interesse an der Dauer und dem Beharren mit dem an der Veränderung und dem Wechsel zu vereinen, zwischen der Tendenz zum Allgemeinen und Gleichartigen und der zum Besonderen und Einzigartigen eine Versöhnung zu stiften, die Hingabe an das soziale Ganze und die Durchsetzung der Individualität zu einem Kompromiß zu bringen.

In den sozialen Ausgestaltungen dieser Gegensätze wird die eine Seite derselben meistens von der psychologischen Tendenz zur Nachahmung getragen.

Die Nachahmung gewährt uns zunächst den Reiz einer zweckmäßigen Kraftbewährung, die doch keine erhebliche persönliche, schöpferische Anstrengung fordert, sondern wegen der Gegebenheit ihres Inhaltes leicht und glatt abrollt.

Zugleich aber gibt sie uns die Beruhigung, bei diesem Handeln nicht allein zu stehen, sie erhebt sich über den bisherigen Ausübungen derselben Tätigkeit wie auf einem festen Unterbau, der die jetzige von der Schwierigkeit, sich selbst zu tragen, entlastet.

In der Nachahmung trägt die Gruppe den Einzelnen, dem sie einfach die Formen seines Verhaltens überliefert und den sie so von der Qual der Wahl und von der individuellen Verantwortlichkeit für dieselbe befreit.

Aber eben nur einer der Grundrichtungen unseres Wesens entspricht die Nachahmung, nur derjenigen, die sich an der Gleichmäßigkeit, der Einheitlichkeit, der Einschmelzung des Einzelnen in die Allgemeinheit befriedigt, die das Bleibende im Wechsel betont.

Nicht so derjenigen, die umgekehrt den Wechsel im Bleibenden sucht, die individuelle Differenzierung, die Selbständigkeit, das Sichabheben von der Allgemeinheit.

Betrachtet man diese beiden antagonistischen Tendenzen unter dem Bilde ihrer biologischen Grundformen, so kann man die Nachahmung als eine psychologische Vererbung bezeichnen, während das Streben über sie hinaus, zu neuen und eigenen Lebensformen, der Variabilität entspricht.

Für die Mode ist nun das Folgende wesentlich.

Sie genügt einerseits dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung, insoferne sie Nachahmung ist; sie führt den Einzelnen auf der Bahn, die alle gehen; andererseits aber befriedigt sie auch das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sichabheben, und zwar sowohl durch den Wechsel ihrer Inhalte, der der Mode von heute ein individuelles Gepräge gegenüber der von gestern und morgen gibt, wie durch den Umstand, daß Moden immer Klassenmoden sind, daß die Moden der höheren Schicht sich von denen der tieferen unterscheiden und in dem Augenblick verlassen werden, in dein diese letzteren sie sich aneignen.

Die Mode ist eine besondere unter jenen Lebensformen, durch die man ein Kompromiß zwischen der Tendenz nach sozialer Egalisierung und der nach individuellen Unterschiedsreizen herzustellen suchte.

In dieses Grundwesen der Mode ordnen sich die einzelnen psychologischen Züge ein, die wir an ihr beobachten.

In soziologischer Beziehung ist sie, wie erwähnt, ein Produkt klassenmäßiger Scheidung.

Gerade wie die Ehre ursprünglich Standesehre ist, d. h. ihren Charakter und vor allem ihre sittlichen Rechte daraus zieht, daß der Einzelne in seiner Ehre zugleich die seines sozialen Kreises, seines Standes repräsentiert und wahrt: so bedeutet die Mode einerseits den Anschluß an die Gleichgestellten, andererseits den Abschluß dieser als einer ganzen Gruppe gegen die Tieferstehenden.

Die gesellschaftlichen Formen, die Kleidung, die ästhetischen Beurteilungen, der ganze Stil, in dem der Mensch sich ausdrückt, sind in fortwährender Umbildung durch die Mode begriffen, indeß so, daß die »Mode«, d. h. die neue Mode in alledem nur den oberen Ständen zukommt.

Diese schließen sich dadurch von den unteren ab, sie markieren damit die Gleichheit ihrer Angehörigen untereinander und im gleichen Moment die Differenz gegen die Tieferstehenden.

Sobald daher diese letzteren sich die Mode anzueignen beginnen - weil sie eben immer nach oben sehen und streben und das noch am ehesten auf den der Mode unterworfenen Gebieten können -so wenden sich die oberen Stände von dieser Mode ab und einer neuen zu, durch die sie sich wieder von den breiten Massen differenzieren.

Dieses Abscheidungsmoment, das neben dem Nachahmungsmoment das Wesen der Mode bildet, zeigt sich beim Mangel übereinander gelagerter Schichten sogar an nebeneinander geordneten.

Von einigen Naturvölkern wird berichtet, daß eng benachbarte und unter den genau gleichen Bedingungen lebende Gruppen manchmal scharf gesonderte Moden ausbilden, durch die jede Gruppe den Zusammenschluß nach innen ebenso wie die Differenz nach außen markiert.

Dies Moment des inneren Zusammenschlusses wird in ein besonderes Licht durch die Tatsache gestellt, daß die Mode so sehr oft von außen stammt.

Sie wird innerhalb eines Kreises mit spezieller Vorliebe als "Mode" geschätzt, wenn sie nicht innerhalb dieses selbst entstanden ist.

Dadurch, daß die Mode von außen kommt, schafft sie die besondere Sozialisierung, die durch die gemeinsame Beziehung zu einem außerhalb gelegenen Punkt eintritt.

Es scheint manchmal, als ob die Sozialelemente, wie die Augenachsen, am besten auf einem nicht zu nahe gelegenen Punkt konvergierten.

Und damit nun neben dem zentripetalen, sozialisierenden Erfolge auch dieses Faktum der Mode eine Variabilität, eine Befriedigung des Veränderungstriebes zeige - so garantiert der Ursprung der Mode von außen her besonders ihre Neuheit, d. h. den Unterschied gegen den bisherigen Stand, den scharf absetzenden Wechsel, der sich oft in Gegensätzen bewegt, weil man sich erst an diesen seiner recht bewußt wird.

Von den gegenstrebenden Tendenzen unseres Wesens, für die jede Seite der Mode eine besondere Vereinheitlichung darstellt, findet hier die eine an der sozialen Form der Mode, die andere an ihrem Inhalt ihre Befriedigung.

Wo eines von beiden Momenten fehlt: entweder Bedürfnis und Möglichkeit, sich abzusondern, oder Bedürfnis und Wunsch, sich zusammenzuschließen, da endet das Reich der Mode.

Darum haben die unteren Stände sehr wenige und seltene spezifische Moden, die als solche gewollt würden, darum sind die Moden der Naturvölker sehr viel stabiler, als die unsrigen; aus dem umgekehrten Grunde kommt es in einem Kreise, in dem jedes Individuum für sich etwas Bestimmtes bedeuten will und die Nachahmung perhorresziert wird, zu keiner Mode.

In Florenz soll es um 1390 deshalb keine herrschende Mode der männlichen Kleidung gegeben haben, weil jeder sich auf besondere Weise zu tragen suchte.

Das Wesen der Mode besteht darin, daß immer nur ein Teil der Gruppe sie übt, die Gesamtheit aber sich auf dem Wege zu ihr befindet.

Sie ist nie, sondern wird immer.

Sobald sie total durchgedrungen ist, d. h. sobald einmal dasjenige, was ursprünglich nur einige taten, wirklich von allen ausnahmslos geübt wird, bezeichnet man es nicht mehr als Mode, z. B. gewisse Elemente der Kleidung, der Umgangsformen.

Aus dieser Tatsache, daß die Mode als solche eben noch nicht allgemein verbreitet sein kann, quillt nun für den Einzelnen die Befriedigung, daß sie an ihm immerhin noch etwas Besonderes, Auffälliges darstellt, während er zugleich doch von der nach Gleichem strebenden Gesamtheit - nicht wie bei sonstigen sozialen Befriedigungen von der Gleiches tuenden Gesamtheit - getragen wird.

Deshalb ist die Gesinnung, der der Modische begegnet, eine wohltuende Mischung von Billigung und Neid.

Die Mode ist so der eigentliche Tummelplatz für Individuen, welche innerlich und inhaltlich unselbständig, anlehnungsbedürftig sind, deren Selbstgefühl aber doch einer gewissen Auszeichnung, Aufmerksamkeit, Besonderung bedarf.

Sie erhebt eben auch den Unbedeutenden dadurch, daß sie ihn zum Repräsentanten einer Gesamtheit macht, er fühlt sich von einem Gesamtgeist getragen.

In dem Modenarren und Gigerl erscheint dies auf eine Höhe gesteigert, auf der es wieder den Schein des Individualistischen, Besonderen, annimmt.

Das Gigerl treibt die Tendenz der Mode über das sonst innegehaltene Maß hinaus: wenn spitze Schuhe Mode sind, läßt er die seinigen in Schiffsschnäbel münden, wenn hohe Kragen Mode sind, trägt er sie bis zu den Ohren, wenn es Mode ist, Sonntags in die Kirche zu gehen, bleibt er von Morgens bis Abends darin usw.

Das Individuelle, das er vorstellt, besteht in quantitativer Steigerung von Elementen, die ihrem Quale nach eben Gemeingut der Menge sind.

Er geht den anderen voraus, wenngleich genau auf ihrem Wege.

Scheinbar marschiert er an der Tête der Gesamtheit, da es eben die letzterreichten Spitzen des öffentlichen Geschmacks sind, die er darstellt; tatsächlich aber gilt von dem Modehelden, was allenthalben im Verhältnis des einzelnen zu seiner sozialen Gruppe zu beobachten ist: daß der Führende im Grunde der Geführte ist.

Der Modeheld repräsentiert so ein wirklich originelles Gleichgewichtsverhältnis zwischen sozialem und individualisierendem Trieb, und aus dem Reize davon verstehen wir die äußerlich so abstruse Modenarrheit manches sonst verständigen und sogar bedeutenden Menschen. -

In primitiven, aber auch in höheren Verhältnissen entsteht eine Mode oft dadurch, daß eine irgendwie hervorragende Persönlichkeit einen Modus der Kleidung, des Betragens, der Interessen usw. erfindet, durch den sie sich von den anderen abhebt; die so aufgetauchte Auszeichnung suchen diese anderen nun wegen der Bedeutung jenes so schnell wie möglich nachzuahmen.

Die Befriedigung des ersten liegt offenbar in der Mischung des Individualgefühles, etwas Besonderes zu haben, und des Sozialgefühles, von der Allgemeinheit nachgeahmt und so durch ihren Geist getragen zu werden.

Obgleich beide Gefühle sich logisch zu widersprechen scheinen, so vertragen sie sich psychologisch durchaus und steigern sich sogar. jeder Nachahmende nimmt, natürlich in abgeschwächten Graden, an dieser Gefühlskonstellation teil, bis die Mode völlig durchgedrungen ist, also das individuelle Moment wegfällt.

Eine gleiche Kombination jener beiden Tendenzen, wie sie durch extremen Gehorsam der Mode gegenüber erreicht wird, kann man aber auch durch Opposition ihr gegenüber gewinnen.

Wer sich bewußt unmodern trägt oder benimmt, erreicht das damit verbundene Individuallsierungsgefühl nicht eigentlich durch eigene, individuelle Qualifikation, sondern durch bloße Negation des sozialen Beispiels: wenn Modernität Nachahmung dieses letzteren ist, so ist die absichtliche Unmodernität seine Nachahmung mit umgekehrten Vorzeichen, die aber nicht weniger Zeugnis von der Macht der sozialen Tendenz ablegt, die uns in irgend einer Weise, positiver oder negativer, von sich abhängig macht.

Es kann sogar in ganzen Kreisen innerhalb einer ausgedehnten Gesellschaft direkt Mode werden,

sich unmodern zu tragen - eine der merkwürdigsten soziologischen Komplikationen in der der Trieb nach individueller Auszeichnung sich erstens, wie gesagt, mit einer bloßen Umkehrung der sozialen Nachahmung begnügt und zweitens seinerseits wieder seine Stärke aus der Anlehnung an einen gleich charakterisierten engeren Kreis zieht: soziologisch also ganz analog dem Vereine der Vereinsgegner.

Die soziologische Bedeutsamkeit der Mode, die den Egalisierungs- und den Individualisierungstrieb, den Reiz der Nachahmung und den der Auszeichnung zu gleich betontem Ausdruck bringt, mag es erklären, daß die Frauen im allgemeinen der Mode besonders stark anhängen.

So sehr wissenschaftliche Besonnenheit auch alle Urteile über die Frauen im Plural scheuen soll, so darf man doch wenigstens als die allgemeine Meinung anführen, daß ihr psychologisches Wesen, soweit es sich von dem männlichen unterscheidet, in einem Mangel an Differenzierung besteht, in einer größeren Gleichheit untereinander, einer stärkeren Bindung an den sozialen Durchschnitt; wodurch sich denn ihre enge Beziehung zur Sitte, zu der allgemein gültigen Form, die »sich ziemt«, unmittelbar erklärt.

Auf dem festgehaltenen Boden der Sitte, des Durchschnittlichen, des allgemeinen Niveaus aber streben sie nun stark zu der relativen Individuallsierung und Auszeichnung der Einzelpersönlichkeit, die sich mit jenen sozialen Grenzen noch verträgt.

Die Mode bietet ihnen diese Kombination: einerseits ein Gebiet allgemeiner Nachahmung, ein Schwimmen im breitesten sozialen Fahrwasser, andererseits doch eine Auszeichnung, Betonung, individuelle Geschmücktheit der Persönlichkeit.

Und noch wo sie sich mit den letztergreifbaren psychischen Bewegungen kreuzt, wahrt sie ihr typisches Gleichgewichtsverhältnis zwischen den entgegengesetzten Tendenzen: es ist ihr zwar wesentlich, daß sie alle Individualitäten über einen Kamm schert; allein immer doch so, daß sie nicht den ganzen Menschen ergreift; sie bleibt ihm, wegen ihrer Veränderlichkeit, die gerade an der Beständigkeit des Ichgefühles ihren Maßstab hat, immer etwas relativ Aeußerliches, gegen das er seine Persönlichkeit als pièce de resistance empfindet, wenigstens im Notfall empfinden kann.

Und es ist nur eine Steigerung dieser Nuance, wenn feine und eigenartige Menschen die Mode als eine Maske benützen, eine bewußte und gewollte Reserve ihres persönlichsten Empfindens und Geschmacks, die sie durch blinden Gehorsam gegen die Normen der Allgemeinheit in allem Aeußerlichen erreichen; es ist eine feine Scham und Scheu, durch die Besonderheit des äußeren Auftretens vielleicht die Besonderheit ihres innerlichsten Wesens zu verraten, was manche Naturen in das verhüllende Nivellement der Mode flüchten läßt.

Und nun überträgt sich jener gleichzeitig befriedigte Dualismus egalisierender Vereinheitlichung und individuellen Sichabhebens in die inneren Verhältnisse der Einzelseele hinein - gemäß jenes eigentümlichen Parallelismus, in dem sich so oft die Beziehungen von Individuen untereinander in denen der Vorstellungen des einzelnen Individuums wiederholen.

Mit mehr oder weniger Absicht schafft sich oft das Individuum für sich selbst ein Benehmen, einen Stil, der sich durch den Rhythmus seines Auftauchens, Sichgeltendmachens und Abtretens als Mode charakterisiert.

Namentlich junge Menschen zeigen oft eine plötzliche Wunderlichkeit in ihrer Art, sich zu geben, ein unvermutet, sachlich unbegründet auftretendes Interesse, das ihren ganzen Bewußtseinskreis beherrscht und ebenso irrational wieder verschwindet.

Man kann dies als Personalmode bezeichnen, die einen Grenzfall der Sozialmode bildet.

Sie wird durch das individuelle Unterscheidungsbedürfnis getragen und ersetzt das Nachahmungs- und Sozialbedürfnis durch die Konzentration des eigenen Bewußtseins darauf, die einheitliche Färbung, die das eigene Wesen dadurch erhält und die vielleicht eine noch engere Geschlossenheit, ein noch innigeres Getragenwerden dieses einzelnen durch die Gesamtinhalte des Ich bedeutet, als wenn es zugleich die Mode anderer wäre.

Dadurch, daß in der Mode sozusagen die verschiedenen Dimensionen des Lebens ein eigenartiges Zusammenfallen gewinnen, wird der Gesamtrhythmus, in dem die Individuen und die Gruppen sich bewegen, auch auf ihr Verhältnis zur Mode bestimmend einwirken.

Wir bemerken, daß Konservatismus und Variabilität sich in ganz unregelmäßiger Weise über die verschiedenen Schichten einer politischen Gruppe verteilen.

Einerseits sind die unteren Massen schwerer beweglich und langsamer entwickelbar.

Sie stellen vielfach - wie es z. B. in England gelegentlich der dänischen und normannischen Eroberung recht auffällig ist - die Kontinuität des Volkslebens her, weil sie an ihren primitiven Lebensformen zäh festhalten, während die oberen Stände, wie der Wipfel eines Baumes von den Bewegungen der Atmosphäre, am lebhaftesten durch neue Einflüsse getroffen und modifiziert werden.

Andererseits sind gerade die höchsten Stände bekanntlich die konservativen, ja oft genug archaistisch und nur in den schwerfälligsten Rhythmen fortentwickelt.

Der Mittelstand ist der der eigentlichen Variabilität, und deshalb ist die Geschichte der sozialen und kulturellen Bewegungen auch in ein ganz neues Tempo gekommen, seit der tiers état die Führung übernommen hat.

Und daraus verstehen wir, wieso die Mode, die Wechsel- und Gegensatzform des Lebens, für deren Inhalte der Augenblick der erreichten Höhe zugleich der des Herabsinkens ist, seit eben dieser Zeit, seit dem Dominieren des Bürgertums, sich auf soviel mehr Gebiete erstreckt, in soviel rascheren und farbigeren Rhythmen erklingt, soviel breitere Geltung gewonnen hat.

Unruhige, nach Abwechslung drängende Klassen und Individuen finden in der Mode das Tempo ihrer eigenen psychischen Bewegungen wieder: sie hat eine sehr spitze Bewußtseinskurve.

Gerade darin, daß sie die Aufmerksamkeit sehr stark zu sich hinruft, eine momentane Aufgipfelung des sozialen Bewußtseins auf einen bestimmten Punkt bedeutet, liegt auch schon ihr Todeskeim, ihre Bestimmung zum Abgelöstwerden.

Irgend etwas sonst in gleicher Weise Neues und plötzlich Verbreitetes in der Theorie oder in der Praxis ist doch nie für denjenigen eine »Mode«, der an den Weiterbestand und die Wahrheit davon glaubt; sondern nur der wird es so bezeichnen, der von seinem ebenso schnellen Verschwinden, wie sein Kommen war, überzeugt ist.

Nun aber bietet sie im Gegensatz dazu die merkwürdige Erscheinung, daß jede einzelne Mode auftritt, als ob sie ewig leben wollte.

Wer sich heute ein Mobiliar kauft, das ein Vierteljahrhundert halten soll, kauft es sich nach der neuesten Mode und zieht die, die vor zwei Jahren galt, überhaupt nicht mehr in Betracht.

Und doch hat offenbar nach ein paar Jahren der Reiz der Mode jenes ebenso verlassen, wie dieses und überläßt beides anderen Kriterien zur Beurteilung.

Es scheint hier ein dialektisch-psychologischer Prozeß stattzufinden: daß es tatsächlich immer eine Mode gibt, daß also die Mode als allgemeiner Begriff unsterblich ist, reflektiert auf jede einzelne ihrer Ausgestaltungen, obgleich das Wesen jeder einzelnen gerade ist, nicht unvergänglich zu sein. Die Tatsache, daß der Wechsel dauert, gibt hier jedem der Gegenstände, an dem der Wechsel sich vollzieht, einen psychologischen Schimmer von Dauer.

Es liegt aber der eigentümlich pikante, anregende Reiz der Mode in dem Kontraste zwischen ihrer ausgedehnten, alles ergreifenden Verbreitung und ihrer schnellen und gründlichen Vergänglichkeit - der andererseits auch noch jener scheinbare Anspruch auf dauernde Geltung gegenübersteht.

Er liegt nicht weniger in der Enge, mit der sie einen bestimmten Kreis schließt und dessen Zusammengehörigkeit ebenso als ihre Ursache wie als ihre Wirkung zeigt - wie in der Entschiedenheit, mit der sie ihn gegen andere Kreise abschließt.

Er liegt endlich ebenso in dem Getragensein durch einen sozialen Kreis, der seinen Mitgliedern gegenseitige Nachahmung auferlegt und damit den Einzelnen von aller Verantwortlichkeit - der ethischen wie der ästhetischen - entlastet, wie in der Möglichkeit, nun doch innerhalb dieser Schranken individuelle Steigerung und originelle Nuancierung der Elemente der Mode zu produzieren.

So erweist sich die Mode nur als ein einzelnes, besonders charakterisiertes unter jenen mannigfachen Gebilden, in denen die soziale Zweckmäßigkeit die entgegengesetzten Strömungen des Lebens zu gleichen Rechten objektiviert hat.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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