Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Die Verwandtenehe

ex: Vossische Zeitung (Berlin), Sonntagsbeilagen Nr. 22-23 vom 3. und 10. 6. 1894.

I

Die wachsende Kenntnis von der Vergangenheit und der Gegenwart der Völker vertieft nach zwei entgegengesetzten Richtungen unsere Vorstellungen von dem, was an ihnen vergleichbar ist. 

Unter der buntesten Mannigfaltigkeit der oberflächlichen Erscheinung überrascht uns tiefgelegene Gleichheit; was als prinzipielle Verschiedenheit auftritt, zeigt genauere Erkenntnis unzählige Male als bloße Variation des überall gleichen Themas. 

Und umgekehrt bewahrheitet die ausgedehntere Erfahrung täglich jenen alten philosophischen Glaubenssatz, dass es nicht zwei Erscheinungen in der Welt gäbe, die wirklich ganz und gar übereinstimmten: nicht zwei Baumblätter wären absolut gleich; und nach der Gleichheit des ersten Anblicks macht sich die Individualität jedes Wesens und jedes Geschehens geltend; neben dem, worin jedes mit jedem vergleichbar ist, stehen die Seiten, in denen keines mit keinem verglichen werden kann. 

Es gibt vielleicht kein Gebiet, auf dem eine allgemeine, die ganze bekannte Welt beherrschende Gleichheit sich in ebenso merkbare Verschiedenheiten der Ausgestaltung verzweigt, wie die Beziehungen zwischen Mann und Weib. 

Über den natürlichen Grundlagen dieser Beziehungen erheben sich überall, wo wir überhaupt von einer »Gesellschaft«, einem Zusammenleben Mehrerer in einer Gruppe hören, auch Gesetze zu ihrer Regelung, Normen und Formen fester wie loserer Bindungen, aufrecht erhalten durch Ordnungen der öffentlichen Gewalt oder, meistens nicht weniger streng, durch Sitte und Instinkt. 

Es werden zwar einige wilde Völker genannt, bei denen die Reisenden keine noch so unvollkommene Beziehung, die man als Ehe bezeichnen könnte, entdeckt haben; von den Buschmännern Südafrikas, von einigen Bewohnern Sumatras und Kaliforniens, welche letztere in ihrer Sprache kein Wort für »heiraten« haben, von ein paar kleinen Negerstämmen wird der Mangel aller Gesetze und Verbote auf diesem Gebiete gemeldet. 

Allein diese Fälle sind so verschwindend gering gegenüber denjenigen, wo sonst völlig gesetzlose, völlig kulturfremde Völker wenigstens hier eine Schranke der Willkür anerkennen, dass man sie ruhig als »unmessbare Größen« vernachlässigen kann, oder annehmen darf, dass eine ungenügende Beobachtung seitens des Berichterstatters vorliegt. 

Zu den verschiedensten Zeiten wie an den verschiedensten Punkten der Welt, unter den wildesten wie unter den höchststehenden Völkern treffen wir die Monogamie an, die unsere Kultur uns als das Selbstverständliche zu betrachten gelehrt hat; wir finden aber ebenso die Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen, auch die Ehe mehrerer Männer mit einer Frau; ja, auch eine »Gruppenehe« findet sich, in der eine gewisse Anzahl von Männern mit einer gewissen Anzahl von Frauen in eheliche Verbindung tritt. 

Bald begegnet uns ein strenges Gebot, nur innerhalb des eigenen Stammes zu heiraten, bald ein ebenso strenges, nur außerhalb desselben die Gattin zu suchen. Neben der fast durchgehenden Herrschaft des Mannes gibt es doch auch Beispiele von Naturvölkern, die der Frau den überwiegenden Einfluss in der Familie einräumen. 

Während manche Völker dem Mädchen eine Mitgift zugestehen und ihr gewissermaßen den Mann kaufen, werden bei anderen umgekehrt die Frauen wie eine Ware gekauft; und wenn bei einigen die Frau durch die Ehe in die Familie des Mannes eintritt, geht anderwärts der Mann durch die Heirat in die Familie seiner Frau über. 

So gibt es keine ausdenkbare Kombination ehelicher Verhältnisse, zu der uns nicht die Geschichte und die Völkerkunde Beispiele aus der Wirklichkeit lieferte. Diese fast unübersehbare Mannigfaltigkeit der Eheformen aber birgt wieder einen durchgehenden gemeinsamen Zug: das Verbot der Ehe zwischen nahen Verwandten. 

Zwar sollen auch hier Ausnahmen vorkommen; von den Chippewäh-Indianern und den Karenen in Asien wird erzählt, dass sie gelegentlich ihre Mütter, Schwestern und Töchter heiraten. 

Sollte diese Tatsache aber auch wirklich unanzweifelbar sein, so geht sie wahrscheinlich auf eine jener merkwürdigen, mit der Verwandtenehe verbundenen Vorstellungen zurück, auf die ich später zu sprechen komme, und die nicht sowohl eine Gleichsetzung der Verwandtenehe mit jeder anderen, als eine Missdeutung gerade derjenigen Triebe und Erfahrungen beweist, die anderwärts zu ihrem Verbote geführt haben. 

Solchen vereinzelten Beispielen steht die ungeheure Anzahl der oft rigorosen Gesetze gegenüber, mit denen auch die rohesten Völker die eheliche Beziehung zwischen Verwandten verbieten, und die z.B. bei den Bataks auf Sumatra dies Verbrechen mit Tötung und Gefressenwerden bestrafen. 

Einige Munda-Kols stützten einem Missionär gegenüber ihre Behauptung, dass die Tiere nicht wüssten, was recht und was unrecht sei, durch die Begründung, dass die Tiere weder Mutter, noch Schwester, noch Tochter respektierten. 

An der Wiege der modernen Kultur war dies Gefühl nicht weniger lebendig: Plato nennt die Blutschande den schändlichsten, der Gottheit verhassten Frevel, und Lucan meint, wer dies tue, der scheue vor keiner sonstigen Untat zurück. 
 
Welches nun die verbotenen Verwandtschaftsgrade sind, darüber gibt es wieder eine Unermesslichkeit verschiedener Bestimmungen. Ich hebe von diesen als besonders wunderlich nur einige hervor, die die Geschwisterehe nicht schlechthin verbieten, sondern sie von dem Altersverhältnis der Geschwister abhängen lassen. 

Bei den Veddahs auf Ceylon, einem halbvertierten, in den Wäldern lebenden Stamme, in dem aber auf die strengste eheliche Treue gehalten wird, ist die Ehe mit der jüngeren Schwester durchaus legitim und natürlich, dagegen die mit der älteren Schwester oder der Tante wird mit demselben Abscheu betrachtet, den wir vor einer Geschwisterehe empfinden. 

Von den Nairs wird berichtet: »Sie ehren ihre älteren Schwestern, denen sie die gleiche Stellung wie der Mutter einräumen. Mit den jüngeren Schwestern aber bleiben sie niemals in demselben Zimmer und bewahren ihnen gegenüber die größte Reserve. Ohne dies, sagen sie, würden sie in zu große Versuchungen geraten - während, was die älteren Schwestern betrifft, jede Idee einer näheren Verbindung durch den Respekt ausgeschlossen ist.« 

Obgleich die Nairs also den Veddahs gegenüber schon zu dem Verbot der Ehe auch mit der jüngeren Schwester vorgeschritten sind, zeigt dies eigentümliche Verhalten und seine Begründung doch, dass der Instinkt noch nicht mit völliger Selbstverständlichkeit eine solche Ehe verhindern würde, während dies der älteren Schwester gegenüber schon stattfindet. 

Auch zwischen verschwägerten Personen ist die Erlaubtheit der Ehe manchmal nicht von dem Grade der Verwandtschaft, sondern von dem Altersverhältnis abhängig. 

Bei einigen Stämmen der schon erwähnten Bataks fällt die Witwe des älteren Bruders dem jüngeren als Gattin zu, während die Ehe zwischen dem älteren Bruder und der Witwe des jüngeren als Blutschande bestraft wird. 

Gerade das umgekehrte Verhältnis herrscht bei den Alfuren von Buru. Dem jüngeren Bruder ist es hier verboten, die Witwe des älteren zu heiraten, während der Ehe mit der Witwe des jüngeren nichts im Wege steht. 

Um die familienrechtlichen Verhältnisse bei den Naturvölkern zu verstehen, muss man im Auge haben, dass der Begriff der Verwandtschaft bei ihnen etwas ganz anderes bedeutet als bei uns. 

Er umschließt bei ihnen nicht nur, und oft gar nicht, jenen engen, durch das Blut gemeinsamer Eltern zusammengehaltenen Kreis, der sich zunächst auf ein einzelnes Haus beschränkt und sich allenfalls durch das Selbständigwerden der Kinder und ihre Verschwägerung erweitert. 

Die Zusammengehörigkeit in Gesinnung und Leistung vielmehr, die bei höherer Kultur der blutsverwandten Familie eigen ist, kommt in niederen Verhältnissen meistens dem Stamme zu, d. h. einer größeren Gruppe, in der zwar das Band der Blutsverwandtschaft nicht unwesentlich ist, die aber im ganzen nur durch gemeinsamen Namen, gemeinsame Interessen, gemeinsame soziale Organisation zusammengehalten ist. 

Die Abstammung von einem sagenhaften Vorfahren, die wir häufig angenommen finden, ist nicht sowohl die Ursache, als der mystische Ausdruck der Zusammengehörigkeit jener Gruppe von Familien, die bei den Naturvölkern dem Individuum gegenüber die Rechte und Pflichten der uns vertrauteren Einzelfamilie ausübt. 

Sehr oft ist auch die Verwandtschaft durch die Mutter die allein gültige, während dem Vater kein Anteil an dem Blute des Kindes zukommt, so dass nur die Geschwister mütterlicherseits miteinander verwandt sind, und nur die Geschwister der Mutter, nicht aber die des Vaters zum Familienverband gerechnet werden. 

Diese Formen des letzteren entscheiden nun auch über die Zulässigkeit der Ehen. Bei den Irokesen nahmen die Kinder den Stammesnamen der Mutter an. 

Gehörte z. B. die Mutter zum Bärenstamm, so war der Sohn ein Bär und durfte daher kein Bärenmädchen heiraten, sondern musste sich sein Weib aus dem Stamme der Hirsche oder der Reiher wählen. 

In Indien darf kein Brahmane ein Weib heiraten, welches denselben Stammesnamen führt wie er, während bei den Juden kein Mann ein Mädchen heiraten durfte, das auch nur denselben Vornamen führte, wie seine Mutter, und bei Australiern genügt es zur Verhinderung der Ehe, dass das Mädchen denselben Totem hat wie der Mann, also nur eine symbolische Verwandtschaft stattfindet, die kein reales Blutband mehr zu ihrer Begründung aufweisen kann. 

Noch weiter vielleicht gehen die Verbote in China. Dort führen große Gruppen von Personen den gleichen Zunamen, da es in dem ganzen Reiche nicht mehr als etwa 530 Zunamen gibt; und nun ist es jedem verboten, eine Person mit dem gleichen Zunamen, wie er selbst, zu ehelichen - bei Strafe von 60 Bambushieben. 

Auch im alten Mexiko und bei den Tscherkessen zerfallen die Gemeinschaften in große Unterabteilungen, die nur gegenseitig heiraten dürfen, während keine derselben in ihren eigenen Grenzen eine Eheschließung duldet; bei den letztgenannten Völkern umfasst jeder dieser Klane, innerhalb deren eine Ehe als blutschänderisch gilt, mehrere 1000 Personen, so dass von Blutsverwandtschaft in unserem Sinne dabei nicht die Rede sein kann. 

Diese Ausdehnung des Eheverbotes auf die politische Gruppe hat die Folge, dass gerade echten Blutsverwandten, die sich aber zufällig in verschiedenen Klanen finden, was durch Übersiedelung, heimliche Ehen usw. möglich ist, die Ehe ohne weiteres erlaubt ist. 

Von den Pomtschas in Bogota wird berichtet, dass die Männer und Weiber einer und derselben Stadt sich als Geschwister betrachten und deshalb keine Ehen miteinander eingingen; war aber die wirkliche Schwester zufällig in einer anderen Stadt geboren, als der Bruder, so durften sie einander heiraten. 

So können auch, wo die Verwandtschaft durch die Mutter gilt, Schwesterkinder sich nicht heiraten, wo umgekehrt ausschließlich Vaterverwandtschaft herrscht, dürfen Bruderkinder es nicht - wohl aber in beiden Fällen Kinder von Bruder und Schwester, weil nun, in Bezug auf die erste Eventualität die Mütter, in Bezug auf die zweite die Väter verschiedenen Blutes sind. 

Ja, solche Ehen werden sogar verschiedentlich besonders bevorzugt. 

Auf diese unter primitiven Völkern höchst häufige Vorstellung, dass das Kind nicht mit beiden Eltern gleichmäßig, sondern nur entweder mit dem Vater oder mit der Mutter verwandt sei, gründet es sich auch, dass die Osseten die Ehe mit der Schwester der Mutter für ganz gesetzlich halten, die mit der Schwester des Vaters dagegen als höchst blutschänderisch bestrafen. 

Demgegenüber bestimmt die moderne Kultur die Verwandtschaft nebst ihren ehehindernden Folgen gleichmäßig nach der Abstammung vom Vater und von der Mutter, aber auch ausschließlich nach dieser. Die Grundlage hierfür bilden die Eheverbote des alten Testamentes, die im ganzen fünfzehn Verwandtschaftsgrade als eheunfähig bezeichnen. 

Das spätere Judentum ging insofern darüber hinaus, als es die ganze Linie verbot, in der man auf einen biblisch verbotenen Grad stößt, also z. B. die Großmutter, weil die Mutter biblisch verboten ist; die logische Strenge, die das Judentum hier zeigt, bewahrte es auch darin, dass es sich beharrlich der Dispensationen erwehrte, durch die der Katholizismus gelegentlich die Ehe in sonst verbotenen Verwandtschaftsgraden gestattet.  

Dies wurde schließlich allerdings praktisch unumgänglich, da die mittelalterliche Kirchenweisheit die biblischen Eheverbote wegen Verwandtschaft außerordentlich erweitert und aus den ursprünglichen fünfzehn nicht weniger als fünfzig gemacht hatte. 

Die Päpste verboten die Ehe bis zum siebenten Grade, und zwar mit der Begründung: weil Gott am siebenten Tage von seinen Werken geruht habe! 

Die praktischen und theoretischen Schwierigkeiten, die sich daraus ergaben, riefen von der Reformationszeit an eine höchst umfängliche Literatur hervor; ich will von dieser hier nur eine Probe geben, die die eigentümliche Einteilung der Ehehindernisse, zu der man schließlich gekommen war, gut charakterisiert. 

Im Jahre 1539 wurde in Freiberg in Sachsen ein Flugblatt öffentlich verkauft, das jene 50 Grade dem Volke beschrieb und mit Strenge auf die Sündhaftigkeit der Ehe innerhalb derselben hinwies. 

Hierdurch fühlte sich ein Zehnder, Namens Wolff  Loß, in seinem moralischen Bewusstsein irritiert, er fühlt Mitleid mit "den armen einfeldigen Leuten in Fellen, so sich mit ihnen aus Unwissenheit zugetragen", und veröffentlicht eine kleine Schrift, in der er die Eheverbote auf ihren Ursprung untersucht und die Jenigen Grade zusammenstellt, die durch göttliches, kaiserliches und päpstliches Recht gemeinsam, dann die durch kaiserliches und päpstliches Recht gemeinsam, endlich die nur durch den Papst verboten sind. 

In die erste Kategorie gehören Geschwister und Eltern, Onkel und Tanten, des Bruders Weib, der Schwester Mann usw. Darunter auch: Seines Sohnes Tochter, ihrer Tochter Sohn. 

In der zweiten Kategorie steht nun aber: Ihres Vaters Vater, seiner Mutter Mutter - was eben dasselbe ist. Für den Aszendenten ist also die gleiche Ehe nach allen drei Rechten, für den Deszendenten nur nach zweien verhindert. 

Die zweite Kategorie verbietet fast ausschließlich Ehen des zweiten Aszendenzgrades direkter und verschwägerter Weise. 

Die dritte Kategorie enthält höchst verwickelte und abstruse Grade, z. B.: Ihres Vaters Vaters Schwester Mann; ihres Bruders Sohnes Tochter Mann; seiner Schwester Tochter Sohnes Weib. In dieser dritten Nummer sind hauptsächlich die Fälle der Verwitwetheit berücksichtigt, deren Verbot also als das kirchliche Interesse im engeren Sinne erscheint. 

Übrigens will er mit dieser Unterscheidung niemandem »Ursach noch Raum geben haben, sich wider Zucht und Ehre einzulassen, sondern habe allein den Unterschied göttlichs und menschlichs Verbots anzeigen wollen« - um die etwaigen Gewissensskrupel der vorhin erwähnten einfältigen Leute zu heben. 

Luther selbst hat gegenüber der Rigorosität des katholischen Standpunktes einen entschieden liberaleren eingenommen, der ihm in einem konkreten Falle zugleich die schärfere Betonung des sittlichen Wertes der Ehe ermöglichte. 

Als Heinrich VIII. von England die Gattin seines verstorbenen Bruders geheiratet hatte und diese Ehe als eine in verbotenem Grade geschlossene aufgelöst werden sollte, schrieb Luther, diese Ehegesetze bänden uns nicht mehr im buchstäblichen Sinne. 

Der König habe allerdings vielleicht mit seiner Heirat gegen weltliches und menschliches Gesetz gesündigt, allein wenn er sich nun von seiner Frau scheiden ließe, so sündige er gegen ein göttliches Gesetz, das die Ehe unauflösbar mache. 

Grade umgekehrt hatte die katholische Kirche die Heiligkeit der Ehe gegenüber dem Verbot der Verwandtenehe hintangesetzt- sie hatte bestimmt, dass die aus einer Verwandtenehe hervorgegangenen Kinder in keinen Orden aufgenommen werden sollten, während sie dies unehelichen Kindern ohne weiteres gewährte. 

Nach jüdischem Rechte sollen die Kinder einer Verwandtenehe ihrerseits unverheiratet bleiben. Es ist sehr bezeichnend für das, was dem asketischen Christentum und das, was dem weltfreudigen Judentum als das Heiligste galt, dass jenes den Sprösslingen einer verbrecherischen Vereinigung den geweihten Stand der Ehelosigkeit, dieses aber gerade ihnen den Stand der Ehe verweigerte.  

Was die Eheschwierigkeiten in der Christenheit besonders komplizierte, war der Umstand, dass über die reale, wenn auch noch so entfernte Verwandtschaft hinaus noch eine künstliche oder »geistliche« Verwandtschaft (cognatio spiritualis) geschaffen wurde. 

Seit nämlich die Taufe üblich geworden war, wurden auch Ehen zwischen Paten und Patenkindern verboten, da dies eine Nachbildung des elterlichen Verhältnisses sei; ja auch die Ehen der Paten eines Kindes unter einander wurden verboten. 

Audovera, Königin zu Soissons, wurde ihrer Krone beraubt und ihre Ehe für ungültig und blutschänderisch erklärt, weil sie ihr eigenes Kind zur Taufe hielt und dadurch ihres Gemahles Chilperich Gevatter wurde! 

Nachbildungen des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern - noch außer der nachher zu besprechenden Adoption - finden sich auch bei nichtchristlichen Völkern, und zwar mit demselben Erfolge, alle an die Ehe erinnernde Beziehung zwischen den so Vereinten auszuschließen. 

In sinniger Weise hat sich das Rechtsbewusstsein in dem folgenden Falle dieses Umstandes zu bedienen gewusst. 

In einer indischen Provinz muss ein Mann, der des Ehebruchs mit einer Frau angeklagt, aber nicht überwiesen ist, eine Garantie dafür geben, dass wenigstens künftig nichts Derartiges vorkommt: er legt seinen Mund einen Augenblick an die Brust der Frau, wodurch sie zu seiner Mutter wird und nie ein anderes als das so symbolisierte Verhältnis zwischen ihnen bestehen darf. 

Das auf diese Weise geknüpfte Band wird als so heilig betrachtet, dass es noch nie gebrochen sein soll. Dem entspricht es, dass die feierlichste Ehescheidungsformel bei den Arabern ist: »Du bist mir wie der Rücken meiner Mutter«, was übrigens keine Beleidigung für die Frau, sondern im Gegenteil etwas Ehrenvolles ist; es verhindert zugleich, dass die Frau in die Hände der Brüder dieses Mannes fällt; denn durch diese Erklärung macht er sie zugleich symbolisch zur Mutter seiner Brüder. 

Die gleiche Wirkung hat nun fast überall auch die Adoption. Nach dem römischen und den meisten modernen Rechten ist die Ehe zwischen Adoptiveltern und Adoptivkindern verboten; nur das österreichische Gesetz hat sich dem entzogen. 

In Indien gibt es eine Form der Adoption, Dattaka genannt, bei der der Adoptierte so sehr Mitglied der adoptierenden Familie wird, dass er überhaupt nicht in dieser, auch in ihren entfernteren Gliedern nicht, heiraten kann. 

Dagegen wird bei einigen anderen Völkern die Ehe zwischen wirklichen und Adoptivkindern nicht nur gestattet, sondern sogar gewissermaßen nachträglich bewirkt: in Japan und bei den Yallatonns in Indien wird, wenn ein Geschlecht bis auf eine Tochter ausstirbt, häufig der Mann dieser vom Schwiegervater adoptiert - also eine Ehe zwischen Adoptivgeschwistern hergestellt - damit das Geschlecht nicht ausstirbt und die Nachkommen Enkel männlicher Linie sind. 

Hier wie sonst sind es also die soziologischen Verhältnisse und Zwecke, die über die Zulässigkeit der Ehe unter Adoptivverwandten entscheiden; deshalb fällt aber auch diese Entscheidung oft den wunderlichsten historischen Zufällen anheim. 

Als Mohammed das Weib seines Adoptivsohnes Zaid, Zainab, geheiratet hatte, wurde ihm vorgeworfen, dass der Koran selbst es für Blutschande erklärte, wenn ein Vater eine Frau heiratete, die seines Sohnes Weib gewesen wäre. 

Kurz nachher erhielt Mohammed eine besondere Offenbarung, des Inhalts, dass der Adoptivsohn nicht, wie es bisher in Arabien der Fall war, als eigener Sohn zu gelten habe. Endlich sind noch zwei Fälle der fiktiven Verwandtschaft in Bezug auf Eheverbote zu erwähnen: die Milchgeschwisterschaft und die Wahlbrüderschaft. 

Die Ehe mit der Milchschwester ist auf das strengste verboten in Dardistan, im mohammedanischen Rechte, bei den Armeniern und den Truchmenen. Die Wahlbrüderschaft ist eine in primitiven Kulturen häufige, in Europa jetzt nur noch bei den südlichen Slaven vorkommende Form einer lebenslänglichen, durch irgend eine feierliche Zeremonie geschlossenen Interessengemeinschaft mehrerer Personen. 

Bei den Südslaven, in Montenegro und im griechisch-byzantinischen Rechte bildet diese Wahlbrüderschaft ein Ehehindernis; Männer und Weiber gehen untereinander jene Verbrüderung zu Schutz und Trutz, zu Besitzgemeinschaft und Blutrache ein, und von dem Augenblick an verkehren sie nur wie leibliche Geschwister untereinander. 

In Polynesien erstreckt sich das Verbot sogar auf die ganzen Familien, denen die Wahlbrüder angehören und in denen diese also sich keine Frauen suchen dürfen. Diesen Tatsachen aber steht nun eine Reihe anderer - allerdings eine unvergleichlich kleinere - gegenüber, in der die Verwandtenehe Sitte und Gebot ist. 

Der besondere Charakter, den gerade diese Ehen tragen, wird auch durch solche entgegengesetzten Ordnungen bezeugt; denn sie werden keineswegs als gleichgültig, jeder anderen Ehe koordiniert betrachtet. 

Vielmehr wird nun eine besondere Betonung auf sie gelegt, die Momente, auf die sonst ihr Verbot erfolgt, sind hier nicht einfach ausgelöscht, sondern wirken wahrscheinlich auch hier, nur gleichsam mit umgekehrtem Vorzeichen. 

Bei manchen Malayen, z. B. den Kalangs auf Java, findet direkte eheliche Verbindung mit der Mutter oder der Schwester statt, und zwar von der Vorstellung begleitet, dass solche Bündnisse besonders segensreich seien. 

Der berühmteste Fall einer direkt gebotenen Geschwisterehe ist der der Inkas im alten Peru. Diese waren verpflichtet, ihre älteste Schwester von derselben Mutter heimzuführen. Der Grund hierzu lag in der eigentümlichen historischen Stellung jenes Fürstenhauses. 

Die Herrschaft des Inka war ein absoluter »Cäsaropapismus«, er ist schlechthin der Gott auf Erden, und durch die Ehe mit der Schwester wird die ungemischte Vererbung des Gottgeistes gesichert. Dadurch waren sowohl die Anhänger des alten Glaubens, welche noch an der Vererbung von der Mutter her festhielten, wie diejenigen, die schon zur Vaterfolge vorgeschritten waren, darüber versichert, dass der rechte Geist der Inkas in dieser Ehe fortgepflanzt würde. 

Von diesem Gesichtspunkt der Reinhaltung des Blutes aus finden wir die Geschwisterehe als politisch-religiöses Gebot gerade bei einer Reihe von Fürstenhäusern; in einem afrikanischen Stamm heiratet zu diesem Zwecke der König seine Tochter, die Königin ihren ältesten Sohn; bei den Ptolemäern in Ägypten war die Geschwisterehe üblich, ohne dass man bei ihren Untertanen eine derartige Sitte feststellen könnte; auf den Sandwichinseln, wo in der Herrscherfamille gleichfalls Bruder und Schwester einander heiraten, wird eine derartige Verbindung, wenn sie bei dem übrigen Volke vorkommen sollte, mit dem größten Abscheu betrachtet; und entsprechend haben die Kalmücken ein Sprichwort: »Die vornehmen Leute und die Hunde kennen keine Verwandtschaft« - womit sie andeuten, dass die Herrscher, aber auch nur diese, in der eigenen Familie heiraten dürfen. 

Ebenso unterschieden sich die orientalischen Magier von dem unpriesterlichen Volke dadurch, dass sie die Ehe zwischen Vater und Tochter, zwischen Mutter und Sohn als eine ihnen besonders zukommende Pflicht betrachteten. 

Von den anderweitigen Verwandtschaftsgraden, die zwar nicht nach unseren, wohl aber nach den Begriffen vieler primitiver Völker die Ehe ausschließen, finden sich dennoch einige, die umgekehrt gelegentlich eine Verpflichtung zur Ehe mit sich bringen. 

Die bekannteste Bestimmung dieser Art ist das jüdische Levirat, d. h. die Pflicht des Mannes, nach dem Tode des Bruders dessen Witwe zu ehelichen. Diese Sitte ist außerordentlich verbreitet, und es gibt keinen Weltteil außer Europa, in dem sie nicht bei einigen Stämmen nachweisbar wäre. 

Es herrscht indes ein bemerkenswerter Unterschied innerhalb der gleichen Sitte: in einigen Fällen erscheint die Witwe samt ihren Kindern erster Ehe gewissermaßen als Erbstück, das auf den Bruder übergeht; in anderen Fällen aber liegt nicht nur ein solches Recht der Besitzergreifung, sondern eine direkte Pflicht vor. 

Dies insbesondere dann, wenn der Verstorbene keine Kinder hinterlassen hat, und nun der Bruder, wie es die Bibel ausdrückt, ihm »Samen erwecken« muss, so dass seine Kinder mit der Witwe des Verstorbenen als Kinder dieses letzteren angesehen werden. 

Dies begegnet außer im jüdischen auch im indischen und malagassischen Rechte. Eine Umkehrung davon zeigt das chinesische Strafgesetz, das die Ehe mit der Witwe des Bruders mit Erdrosselung bedroht, während die mit der Schwester der verstorbenen Gattin als besonders ehrenvoll empfohlen wird. 

Und eine andere, sehr eigentümliche Variation wird von einigen Malayenvölkern berichtet: es komme dort vor, dass dem noch knabenhaften Jüngling ein schon erwachsenes Mädchen verlobt wird; bis zu der Ehemündigkeit des ersteren aber tritt sein Vater zu der Braut in ein eheähnliches Verhältnis, und die diesem entsprießenden Kinder heißen die Enkel ihres wirklichen Vaters. Hier ist es also der Vater, der dem Sohne »Samen erweckt«.  

Einige der Motive wenigstens, aus denen so das sonst Verabscheute direkt geboten wird, liegen auf der Hand: die Reinhaltung des Blutes, vielleicht auch das Zusammenhalten von Besitz und Macht einerseits, der Wert der Nachkommenschaft andererseits, den man auch dem Verstorbenen noch nachträglich verschaffen möchte, die Pflicht der Fürsorge für die Witwe, der man am besten nachkommt, wenn man sie heiratet. 

Sind dies auch keineswegs die einzigen Gründe der Verwandtenehen, wirken dazu auch noch mystische Ideen und Erinnerungen längst entschwundener Sozialverfassungen mit - man hat z. B. das Levirat als ein Überbleibsel prähistorischer Vielmännerei gedeutet - so ist doch das Gebot der Verwandtenehe in seiner Motivierung klar im Verhältnis zu ihrem Verbote. 

Die Ausnahme ist hier begreiflicher als die Regel. 

Denn so unzweideutig und leicht festzustellen die Tatsachen des Verbotes der Verwandtenehe sind, so dunkel und schwierig ist ihre Motivierung, der wir uns nun zuwenden. 

Von den Naturvölkern, die uns die primitivsten Formen und oft eine äußerste Ausdehnung dieses Verbotes zeigen, können wir fast keine direkte, wenn auch nur vermutungsweise Auskunft über seine Entstehung bekommen. 

Wenn Reisende oder Missionare nach einem Grunde dafür fragten, erhielten sie keine Antwort als etwa, dass es eben von jeher so Gesetz gewesen wäre, oder dass die Scham solche Verbindungen hindere - letzteres eine der typischen Täuschungen, aus denen auch z. B. die Vorstellung hervorgeht, die Menschen seien durch das Schamgefühl dazu gekommen, sich zu bekleiden. 

Die Kleidung ist offenbar aus Bedürfnissen des Schutzes und des Schmuckes hervorgegangen und dann erst hat die Gewöhnung ihrer das Gefühl der Beschämung an ihr Fehlen geknüpft. 

So kann man auch das Verbot der Verwandtenehe so wenig aus dem Gefühl der Scham herleiten, - was übrigens auch noch in neuerer Zeit versucht worden ist, - dass die ganze Frage vielmehr ist, aus welchen Ursachen an diese Ehen eben eine solche Empfindung sich habe knüpfen können. 

Nur von einigen wenigen Völkern, den zisnatalischen Kaffern, den Eskimos, den alten Arabern wird berichtet, dass ihrer Meinung nach aus Verwandtenehen eine schlechte Nachkommenschaft hervorgeht, und dass sie deshalb verboten seien. 

Dies ist auch der populäre Glaube bei uns und die zunächst sich darbietende Begründung jener Gebote. 

Der augenblickliche Stand dieser Frage innerhalb der anthropologischen Wissenschaft ist der, dass allerdings ein ungünstiger Einfluss zu nahe verwandten Blutes auf die Nachkommenschaft stattfindet, dass derselbe aber lange nicht so verderblich ist, wie es in weiten Kreisen angenommen wird. Man weiß von einigen isolierten Gemeinden in Frankreich, England, Skandinavien, in denen beständige Wechselheiraten stattfinden, ohne dass irgend eine Entartung der Kinder wahrzunehmen wäre; die Berichte der Tierzüchter über die Erfolge der Inzucht und der Kreuzung widersprechen sich, von einer Seite wird die Verbesserung, von der anderen die Verschlechterung der Rasse durch die Paarung eng verwandter Tiere behauptet. 

Im großen Ganzen ist aber nicht zu zweifeln, dass irgend ein entartender Einfluss auf die Nachkommenschaft von der Verwandtenehe ausgeht. 

Die Frage ist nur, ob derselbe stark genug ist, um die Entstehung eines derartig heiligen Gebotes, eines derartig unüberwindlichen Instinktes zu erklären. 

Dass bewusste Überlegung, vordenkende Furcht vor derartigen Folgen der sozialen Gruppe jene Verbote eingeprägt hätten, ist völlig ausgeschlossen. 

Der einzig mögliche Weg wäre der der natürlichen Zuchtwahl. 

Stämme, in denen die Verwandtenehe allgemein geübt wurde, seien zu Grunde gegangen, während diejenigen, in denen sie aus zufälligen Gründen vermieden worden wäre, die kräftigeren und darum im Kampfe ums Dasein siegreichen Individuen hervorgebracht hätten. 

Da nun gegen das, was tatsächlich nicht geübt wird, schließlich ein Widerwille entsteht, so kann in den Stämmen, die schließlich über ihre Mitbewerber obsiegten, d. h. in den jetzt existierenden, jene nützliche Enthaltung gezüchtet und zu dem direkten Abscheu vor der Verwandtenehe ausgewachsen sein; dieser sei also entstanden, wie alle anderen nützlichen Instinkte, wie der Widerwille gegen unzuträgliche Speisen, wie die unwillkürlichen Schutzbewegungen bei nahender Gefahr usw., ohne dass irgend ein bewusster oder überlegender Wille den Anstoß dazu gegeben hätte.  

Dass eine derartige Erklärung eine äußerst luftige, keiner historischen Bestätigung zugängige Vermutung ist, ist allerdings ebenso sicher, wie dass wir auf andere Erklärungen als die aus der Nützlichkeit des betreffenden Verbotes nicht hoffen können. 

Deshalb aber dürfen wir uns, um es zu verstehen, nicht mit einer Möglichkeit begnügen, sondern müssen, möglichst viele aufsuchend, durch die Anzahl der Wahrscheinlichkeiten die Unsicherheit der einzelnen ergänzen. 

Die älteren Theorien über unser Problem erwähnen einen Zweck, dem das Verbot der Verwandtenheirat dienen soll, und den ich mindestens dem oben genannten Zuchtwahlmomente an Wirksamkeit gleichsetzen möchte. 

Der alte jüdische Philosoph Maimonides führte nämlich als Grund jener Verbote die Gefahr der Unsittlichkeit an, die bei den in einem Hause Zusammenlebenden allzu nahe läge. 

In Folge des Verbotes der Ehe aber wüsste nun jeder Mann, dass er seine Neigungen und Gedanken überhaupt nicht nach dieser Richtung wenden dürfte. 

Der Grundgedanke dabei ist also der, dass Zucht und Sitte innerhalb des engen Kreises der Zusammenlebenden aufrecht erhalten werden muss, wenn nicht jegliche soziale Ordnung zerstört und ein unübersehbares Chaos in allen sittlichen und rechtlichen Verhältnissen entstehen soll. 

Angesichts der Verlockung indes, die die fortwährende gegenseitige Nähe der Hausgenossen bietet, der steten Gelegenheit, solcher Lockung zum Opfer zu fallen, bedurfte es der schärfsten Trennungsmaßregel, und diese war offenbar das Verbot der ehelichen Verbindung. 

Wenn nur diejenigen Verbote des Anstandes und der Reserve, die auch zwischen Fernerstehenden gelten, die Mitglieder einer Familie trennten, so würden sie sich nicht nur so machtlos erweisen, wie sie es tatsächlich oft genug zwischen jenen tun, sondern angesichts der besonderen Situation derer, die in enger äußerlicher Verbundenheit leben, noch viel machtloser. 

Deshalb musste eine Barriere zwischen diesen aufgerichtet werden, die zwischen den Nichtverwandten nicht bestand, und als solche bot sich die Untersagung der Ehe zunächst dar. 

II

Auch Montesquieu und Hume begründeten die Verbote der Verwandtenehe auf die Erhaltung der Familienzucht. 

Eine anonyme Schrift vom Jahre 1740: »Bescheidene doch gründliche Gegenvorstellung von der Zulässigkeit der Ehe mit des verstorbenen Weibes Schwester« verwirft auch die Ehe mit des verstorbenen Mannes Bruder, und zwar genau aus dem hier betonten Gesichtspunkt, der in diesem Falle und für moderne Verhältnisse freilich einen wunderlichen Eindruck macht- damit der Mann nicht sein Recht, eventuell nach dem Tode des Gatten die Frau zu heiraten, noch bei Lebzeiten desselben missbrauche, wozu das häufige familiäre Beisammensein besondere Gelegenheit gebe. 

Beachtet man die ungeheure Wichtigkeit, die die Regulierung der hier mitsprechenden Verhältnisse selbst in ihren rohesten Anfängen und bei den primitivsten Völkern besitzt, so ist es begreiflich, dass das strengste Verbot ehelicher Beziehungen zwischen den Familiengenossen ebenso durch den bewussten Willen führender Persönlichkeiten wie durch die unbewussten Prozesse eingeprägt wurde, die alle zweckmäßigen Instinkte in unserer Gattung fest werden lassen. 

Darum finden wir auch diese Verbote da besonders streng eingehalten, wo auf die häusliche Disziplin großer Wert gelegt wird; z. B. in China, wo Blutschande als Kapitalverbrechen bestraft wird, wie Vatermord, Familienzwietracht und Hochverrat. So lange in Rom die Strenge der häuslichen Zucht auf ihrer Höhe stand, war allen Personen, die unter derselben väterlichen Gewalt standen, d. h. den Verwandten bis zum 6. Grade, die Ehe mit einander verboten; in dem Maße, in dem der enge Zusammenhalt, die strenge Einheitlichkeit des Hauses sich lockerte, wurde auch dies Gebot gemildert, bis in der Kaiserzeit sogar die Ehe zwischen Onkel und Nichte legitimiert wurde. 

Es bedarf eben der Prophylaxis nicht mehr, sobald die Enge des Zusammenlebens sich löst. 

Aus demselben Motive erklärt sich aber auch die scheinbar entgegengesetzte Erscheinung: dass nämlich das Gebot der Zucht unter entfernten Verwandten besonders scharf betont wurde. 

Hat nämlich das Verbot der Verwandtenehe schon so lange bestanden, dass ein fester Instinkt dafür sich entwickelt hat, so wird dieser natürlich am kräftigsten den nächsten Verwandten gegenüber wirken und im Verhältnis der Entferntheit der Verwandtschaft schwächer werden; um einem von dieser Seite her noch drohenden Bruche der Sitte zu begegnen, bedarf es gerade einer energischeren Prophylaxis als für den Fall der Geschwister oder der Eltern und Kinder, die schon der Instinkt auseinander hält. 

Darum heißt es in der peinlichen Gerichtsordnung Karls V.: So eyner unkeusch mit seiner Stieftochter, mit seines suns Eheweib oder mit seiner Stiefmutter treibt, in solchen und noch näheren Sipschaften - die also gar nicht erst näher erwähnt werden - soll die straf gebraucht werden. 

Auf diesem Prinzip der Vorsorge beruhen wahrscheinlich auch die allenthalben unzutreffenden Verbote eines auch nur äußerlichen Verkehrs von Personen, zwischen denen das Eheverbot gilt. 

Auf den Fidschiinseln, bei den Braknas und sonst dürfen Bruder und Schwester, Vetter und Base, Schwager und Schwägerin mit einander weder sprechen noch essen. 

In Ceylon dürfen Vater und Tochter, Mutter und Sohn sich nicht gegenseitig betrachten. 

Die überall vorkommenden Verbote des Verkehrs zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern - in der Urbevölkerung Amerikas, im Südseegebiet, unter den mongolischen Stämmen, allenthalben in Afrika wie in Indien - betreffen in vielen Fällen insbesondere den Verkehr der Schwiegermutter mit dem Schwiegersohn, des Schwiegervaters mit der Schwiegertochter. 

Bei den Kirgisen darf die junge Frau nach der Hochzeit sich überhaupt keinem männlichen Mitglied der Familie ihres Mannes zeigen. 

Sollte dies nicht gleichfalls darauf beruhen, dass mit diesen neu geknüpften engen Beziehungen schlechte Erfahrungen gemacht worden sind? 

Bei vielen Völkern, z. B. den Alfuren von Buru, den Dajaks, einigen Malayen, den Serben u. a. dürfen Braut und Bräutigam überhaupt nicht mit einander verkehren, und die Neger halten es für besonders ehrbar, wenn ein Mann ein Mädchen heiratet, das er nie zuvor gesehen hat. 

Kurz, an allen möglichen Orten zeigt sich eine prophylaktische Tendenz, die Versuchung da aus dem Wege zu räumen, wo ihr nachzugeben eine besonders verabscheute oder besonders nahegelegte Tat wäre; und eine derartige Barriere, ebenso wie das Verkehrsverbot, ist offenbar das Gebot und der Instinkt, dass Verwandte, selbst wenn sonst nichts im Wege stände, nur weil sie Verwandte sind, nie zur Ehe schreiten dürfen. 

Und wiederum unter der scheinbar entgegengesetzten Tatsache zeigt sich dieselbe Vorsorge, nur eine Stufe höher hinaufgerückt, wenn das islamische Gesetz verbietet, das Gesicht anderer Frauen zu sehen als derer, die man nicht heiraten darf.

Eine weitere Reihe von Tatsachen kommt hinzu, um die Begründung der Eheverbote auf das Interesse an der Zucht des Zusammenlebens zu unterstützen. 

Diese Verbote betreffen nämlich in sehr vielen Fällen keineswegs nur die wirklichen Verwandten, sondern, wie wir an den Fällen der Milchgeschwister, der Klan- und Gruppenverwandtschaft gesehen haben, die überhaupt in enger räumlicher Verbindung lebenden Personen. Die Jameos am Amazonenstrom, einige Stämme in Australien und auf Sumatra gestatten keine Ehe innerhalb desselben Dorfes. 

Je größer die Haushaltungen sind, desto strenger sind die Verbote der Wechselehen innerhalb derselben, z. B. bei den Hindus, den Südslawen, in Ranusa, bei den Nairs. 

Es ist offenbar viel schwieriger, in einem sehr großen als in einem kleinen Hause Anstand und Ordnung zu bewahren; darum genügte das Verbot der Ehe der nahen Verwandten nicht, sondern es mussten die umfassenden Gesetze eintreten, die bei jenen Völkern das gesamte Haus unter das Eheverbot stellten. Sobald die einzelnen Familien getrennter leben, verhindert selbst Blutsverwandtschaft unter ihnen die Ehe in nur geringem Grade. 

Bei den Thanea-Indianern Brasiliens, bei denen die Ehen zwischen Verwandten zweiten Grades sehr häufig sind, bewohnt jede Familie ihr eigenes Haus, und ebenso verhält es sich mit den Buschmännern und den Singhalesen; auch dass bei den Juden die Ehe zwischen Geschwistern streng verpönt, die zwischen Geschwisterkindern aber gestattet war, hat man damit erklärt, dass die letzteren nicht in einem Haushalte zusammen lebten. im großen und ganzen sind die Eheverbote bei primitiven Völkern ausgedehntere und strengere, als bei fortgeschritteneren, sie beschränken sich im Laufe der Entwicklung mehr und mehr auf den eigentlichen engeren Familienkreis - offenbar weil die Enge des Zusammenlebens immer mehr nur den letzteren einschließt. 

Je ausgedehnter und vielgestaltiger das soziale Ganze ist, das uns umgibt, desto kleiner werden die familiären Unterabteilungen, die sich als ein zusammengehöriges Ganzes fühlen, auf desto weniger Personen erstrecken sich also jene Gefahren des engen Beieinanderlebens, gegen die das Eheverbot eine Vorbeugungsmaßregel bildet. 

Es ist vor kurzem die Ansicht aufgestellt worden, dass dieses Verbot ursprünglich nur innerhalb der »Mutterfamilie« gilt, d. h. jener primitiven Gesellschaftsform, in der die Verwandtschaft nur durch die weibliche Linie fortgepflanzt wurde, die Kinder nur als Kinder der Mutter, nicht aber als die des Vaters galten, benannt wurden und erbten, und der Mann, der eine Frau ehelichte, damit in ihre Familie übertrat. 

Es ist ferner behauptet, dass diese Mutterfamilie sich keineswegs mit dem Komplex der Zusammenwohnenden deckt. 

Wenn beide Behauptungen richtig sind, so scheint damit die Hypothese widerlegt, dass das Verbot der Verwandtenehe aus dem Interesse von der Hauszucht entsprungen sei. 

Allein immer wird man sagen können, dass zu der Zeit, wo der Mann sein mütterliches Haus verlässt, um in einen anderen Lokalverband einzutreten, die Hauptgefahr für die Zucht schon beseitigt ist. 

Für die Zeit des Erwachens jener Triebe, deren ungeordneter Befriedigung das Eheverbot einen Riegel vorschieben soll, fällt jedenfalls Familiengemeinschaft und Hausgemeinschaft zusammen. 

Wenn der Mann dann auch bei räumlicher Entfernung jenem Verbote unterliegt, so kann dies sehr wohl eine festgewordene Weiterwirkung der Zeiten sein, in denen er nicht nur Familiengenosse, sondern auch Hausgenosse der Seinigen war. 
 

Sicher treten auch andere Nützlichkeiten zu diesen Gründen des Verbotes hinzu. 

Wenn heutzutage noch die Ehe keineswegs als eine bloße Privatsache der Ehreschließenden gilt, sondern die beiderseitigen Familien daran entweder durch Förderung oder durch Herabsetzung interessiert sind, so wird dies in noch höherem Maße in jenen früheren Zeiten der Fall gewesen sein, wo die soziale Gruppe, der der Einzelne angehörte, noch viel enger innerlich verknüpft war, wo die Interessen des Stammes und der Familie noch viel solidarischer mit denen des Individuums waren. 

Die fortwährende Bedrohtheit der Existenz durch Feinde, die Notwendigkeit des Zusammenschlusses kleiner Gruppen für Land- und Kriegsgewinn, musste jeder Gruppe die Anknüpfung von Beziehungen zu anderen als politische Notwendigkeit erscheinen lassen; und solche Beziehungen konnten nicht fester begründet werden als durch Wechselheiraten. 

So hatte denn der Stamm ein höchstes Interesse daran, dass Ehen nicht innerhalb seiner geschlossen wurden, sondern mit außerhalb gelegenen; diese allein trugen zur Ausbreitung seines Einflusses, zum Gewinn neuer Bundesgenossen bei, und es ist deshalb wohl begreiflich, dass die politische Selbsterhaltung die für die Gesamtheit unnütze Ehe innerhalb des eigenen Stammes untersagte. 

Welche Bedeutung diese familiären und sozialen Beziehungen der Ehe für unsere Frage haben, wie sie sogar wichtiger werden können, als diejenigen Hemmnisse, die aus der wirklichen Blutsverwandtschaft hervorgehen, ersieht man daraus, dass viele Gesetzgebungen die Verwandtschaft, die durch uneheliche Verbindungen entsteht, keineswegs ebenso als Ehehindernis ansehen, als die nur ebenso enge, die legitimen Charakter trägt. - 

Es ist ferner kein Zweifel, dass dieses Verbot irgend eine Verbindung mit dem uralten Institut der Raubehe besitzt. 

Bei allen Völkern finden wir, wenigstens noch in symbolischen Hochzeitsgebräuchen, Reste der Sitte, dass die Braut gewaltsam aus dem Hause ihrer Eltern entführt wurde. 

Es ist sicher, dass vielleicht in dem größten Teil der Erde die Ehen ursprünglich nicht durch friedliche Werbung, sondern durch gewaltsamen Raub geschlossen wurden - ähnlich wie der primitive Handel sich oft in der Form der Kriegszüge vollzog. 

Welche Ursachen diese Erscheinung produzierten, ist nur unsicher zu vermuten: ob ausschließlich die Begierde der Männer, die nie genug Frauen haben können - ob der häufig geübte Kindermord, der hauptsächlich die Mädchen traf und dadurch die erwachsenen Frauen zu seltenen Kampfpreisen machte - ob der Umstand, dass das geraubte Weib ein angenehmerer, weil unbeschränkterer Besitz war, als das aus dem eigenen Stamme, das immer ihre eigene Familie als Rückhalt hatte. 

Gleichviel, die Tatsache steht fest, und ebenso, dass sie nicht weniger Ursache als Folge des Verbotes war, im eigenen Stamm zu heiraten. 

Dieses Verbot war für die jungen Männer der stärkste Stachel, kriegerische Tüchtigkeit zu erwerben, weil sie nur durch diese zu einem Weibe kommen konnten; andererseits musste der Gebrauch, der die Tapferkeit und den Ruhm des Kriegers mit dem Erwerb der Frau assoziierte, zu einer Herabwürdigung der Frauen des eigenen Stammes führen und musste es als eine Ehrensache erscheinen lassen, einer so leichten Beute zu entsagen. - 

Es ist endlich das folgende Moment hervorgehoben worden, nach dem das Verbot der Verwandtenehe nicht aus einer sozialen Zweckmäßigkeit, sondern aus einer individuellen Empfindungsweise hervorgehen soll. 

Ganz entgegen nämlich dem Motive, das ich für das wahrscheinlichste halte: der Verlockung durch das intime Beisammenleben - hat man behauptet, dass ein solches Beisammenleben, wie Hausgenossen es führen, gerade den sinnlichen Reiz abstumpfe; was man von frühester Kindheit an täglich und stündlich vor Augen habe, begehre man nicht mit Leidenschaft; die Gewohnheit des Zusammenlebens dämpfe die Phantasie und Begierde, die vielmehr nur von dem Fernen und Neuen gereizt werde. 

Aus diesem psychologischen Grunde seien es nicht die Mitglieder der eigenen Familie, sondern immer Fremde, auf die sich der Wunsch des Heiratslustigen wende. 

Die psychologische Richtigkeit dieser Theorie ist doch nur eine bedingte. 

Das intime Beisammenleben wirkt keineswegs nur abstumpfend, sondern in vielen Fällen gerade anreizend, sonst würde die alte Erfahrung nicht gelten, dass die Liebe, wo sie beim Eingehen der Ehe fehlte, oft im Laufe derselben entsteht; sonst würde nicht in gewissen Jahren gerade die erste intimere Bekanntschaft mit einer Person des anderen Geschlechts so sehr gefährlich sein. 

Auch dürfte den ganz primitiven Entwicklungsstufen, auf denen das fragliche Verbot entsteht, jener feinere Sinn für die Individualität fehlen, in Folge dessen nicht die Frau als solche reizvoll ist, sondern ihre von allen anderen unterschiedene Persönlichkeit. 

Dieser Sinn aber ist die Bedingung, unter der allein der Wunsch sich von den Wesen, die man schon genau kennt, die einem keinen neuen, individuellen Reiz zu bieten haben, zu fremden, von noch ungekannter Individualität wendet. 

Solange die Begierde in ihrer ursprünglichen Rohheit den Mann beherrscht, ist ihm jede Frau gleich jeder Frau, insoweit sie nicht allzu alt oder seinen Begriffen nach hässlich ist; und jenes höhere psychologische Abwechselungsbedürfnis dürfte kaum die Kraft gehabt haben, die natürliche Trägheit, die ihn zunächst an die ihm nächsten weiblichen Wesen wies, gründlich zu überwinden - so gründlich, dass jenes rein persönliche Moment größeren oder geringeren Reizes, das jeder mit sich abzumachen hatte, zu einem heiligen, von einem Wall furchtbarster Strafen umgebenen Gesetze wurde.  

Man mag indes ruhig zugeben, dass auch dieses Moment gelegentlich seinen Beitrag zu der Vermeidung der Verwandtenehe geliefert habe. 

Denn das Prinzip, mit dem man allein sich dem Verständnis einer sozialen Erscheinung nähern kann, ist dies, dass man die Erklärung nie mit einer einzelnen Ursache für abgeschlossen halte. 

Die moderne Geologie ebenso wie die Entwicklungslehre unterscheiden sich von früheren Meinungen dadurch, dass sie die Entstehung oder die Veränderung des Seienden nicht auf je eine einfache, auf einmal eintretende katastrophenhafte Veranlassung, sondern auf das langsame Zusammenwirken unzähliger kleiner Anstöße zurückführen. 

Unendlich kleine Schritte und unendlich lange Zeiträume sind ihre Voraussetzungen. 

Die Wissenschaft von den sozialen Zuständen muss demselben Motto folgen und ihm noch hinzufügen: unendlich verschiedene Ursachen. 

Das Verbot der Verwandtenehe ist eine besonders lehrreiche soziologische Bestimmung, weil seine Verbreitung durch die ganze Welt und unter den verschiedensten überhaupt vorkommenden Kulturen es doppelt annehmbar macht, dass an einer Stelle die eine Ursache, an der zweiten die gerade entgegengesetzte, an der dritten beide zusammen darauf hingewirkt haben. 

Die freundschaftlichen und Bündnisbeziehungen zu fremden Stämmen können das Verbot ebenso hervorgerufen haben, wie das Verhältnis von Feindseligkeit und Raub; die Gleichgültigkeit gegen die Familienmitglieder, mit denen man immer zusammenlebt, ebenso wie die Nähe des Reizes, den dieser Umstand gerade hervorrief und dem man zuvorkommen wollte; der Instinkt der Rassenverbesserung ebenso wie der persönliche Wunsch, an dem Weibe einen möglichst unabhängigen Besitz zu haben.  

Diesen Erklärungsversuchen, von denen sicher keiner für sich allein ganz zureichend, von denen aber sicherlich jeder für irgend einen Teil der Erscheinungen zutreffend ist, steht eine Reihe anderer Theorien über die Verwandtenehe gegenüber, die nicht sowohl historische, auch sonst als wirksam anerkannte Ursachen jenes Verbotes kenntlich machen, sondern dasselbe aus philosophischen Gründen zu rechtfertigen suchen - meistens Theorien jenes nebelhaften Gebietes, auf dem zwischen dem rechtfertigenden Grunde, den der Denker seinerseits wohl für das Entstehen einer fraglichen Erscheinung geltend machen könnte, und der objektiven Ursache nicht unterschieden wird, die diese Erscheinung historisch hervorgebracht hat. 

Es wird also z. B. von einer Seite behauptet, es sei die »Bestimmung« der Ehe, dass sie durch die Begründung und Kreuzung der Familien die Menschheit zu einer Einheit verbinden soll. 

Verwandtenehe sei deshalb unzulässig, "weil sie die Familien isoliere und die Liebe selbstsüchtig auf den kleinen Kreis der Verwandten beschränke." 

Es ist interessant festzustellen, dass einerseits diese feinsinnige Begründung offenbar nicht im geringsten die realen Kräfte kenntlich macht, aus denen das Verbot der Verwandtenehe geflossen ist, dass sie aber andererseits nichts anderes als eine Vergeistigung des vorhin erwähnten Grundes ist! 

Die Heirat außerhalb des Stammes bezw. der Familie ist ein Mittel der Verbindung mit anderen sozialen Gruppen, also von greifbarem Nutzen für jede von beiden. 

Indem diese Bestimmung in das metaphysische Stockwerk aufsteigt, verwandelt sie sich in jene, die nicht als in dem historischen Verlauf der Dinge nachgewiesen, sondern, wenn sie mehr als eine subjektive Idee zu sein beansprucht, nur als Moment innerhalb eines göttlichen Weltplans behauptet werden kann; so dass alle die historischen Kräfte, die die einzelne Erscheinung dieses Gebiets hervorbringen, nur untergeordnete Mittel waren, die jener gottgewollte Zweck der Vereinheitlichkeit des Menschengeschlechts sich dienstbar machte. 

Tatsächlich ist es auch eine kirchliche Seite, von der jene Behauptung ausgegangen ist. 

Anderthalb Jahrtausende vor ihr hatte ein Kirchenvater schon behauptet, die Verbote der Verwandtenehe hätten den Zweck, zu hindern, dass die Liebe allzu stark würde. 

Hier dokumentiert sich noch schärfer die Abschiebung der Begründung von der Wirklichkeit auf dasjenige, was man als Ansicht Gottes zu vermuten wagt. 

Der fromme Vater meinte jedenfalls, dass die Kombination so mannigfaltiger Gemütsinteressen wie das geschwisterliche und das eheliche Verhältnis sie in sich schließt, die Seele gar zu ausschließlich beherrschen und von der Hinwendung auf ihre nicht-Irdischen Interessen ableiten würde. 

Nach dem Prinzip des divide et impera glaubt er, dass die Herrschaft Gottes oder der Kirche über die Seele eine vollständigere sei, wenn diese ihre Neigungen auf mehrere Personen verteilte. 

Eine anders gerichtete Philosophie betont es, dass das Verbot der Verwandtenehe der Mannigfaltigkeit innerhalb unserer Rasse diene. 

»Ob zwar«, so drückt sich Kant aus, »der Abscheu wider die Vermischung der zu nahe Verwandten wohl großenteils moralische Ursachen haben mag - so gibt doch seine weite Ausbreitung Anlass zur Vermutung, dass der Grund dazu auf entfernte Art in der Natur selbst gelegen sei, welche nicht will, dass immer die alten Formen wieder reproduziert werden, sondern alle Mannigfaltigkeit herausgebracht werden soll, die sie in die ursprünglichen Keime des Menschenstammes gelegt hatte.« 

Andere Philosophen des vorigen Jahrhunderts hatten schon hervorgehoben, dass häufige Ehen unter nahen Verwandten die Familien zu einförmig machten, dass die sinnlichen Anlagen nicht hinreichend gemischt würden und die Menschheit nicht nur physisch, sondern auch moralisch verlieren würde, weil die Mannigfaltigkeit der Pflichterfüllungen verkümmern müsste; zu je mehr Personen man in pflichtfordernden Verhältnissen stände, desto größer sei die Summe sittlicher Interessen, die in dem Maße abnehmen müsste, in dem diese Interessen auf wenigere konzentriert werden. 

Auch dieser Gedanke, dass die Mannigfaltigkeit der Gestaltungen an sich wertvoll, dass es ein Zweck der Natur sei, durch Kombination aller Elemente alle überhaupt mögliche Verschiedenheit auch zur Verwirklichung zu bringen, dieser Gedanke ist offenbar auch nur eine metaphysische Variation der Erfahrung oder des Instinktes dafür, dass die Inzucht eine Verschlechterung der Rasse bewirkt, eine Tatsache freilich, deren tiefere Gründe noch unbekannt, aber in keinem Fall aus einer Tendenz der Natur auf wachsende Mannigfaltigkeit ihrer Produkte zu schöpfen sind. 

Es ist dies eine der wunderlichsten Vermenschlichungen der Natur, die damit wie ein abwechslungsbedürftiger Mensch, den seine Unruhe zu immer neuen Unternehmungen treibt, vorgestellt wird. 

Es ist übrigens interessant, dass man zwar die Verwandtenehe verboten sein lässt, weil eine möglichste Mannigfaltigkeit von Bildungen im göttlichen Schöpferplane läge, andererseits aber die rätselhafte Unfruchtbarkeit der Bastarde, der Mischlinge verschiedener Tier- und Menschenrassen, damit begründete, dass nach göttlichem Ratschlusse die Gattungen sich nicht ins Unendliche vermannigfaltigen sollten! - 

Eine dritte Deutung endlich verwirft jede natürliche und äußerliche Begründung des Verbotes und basiert es vielmehr auf eine im engeren Sinne sittliche Einsicht: eine solche müsste die Vermischung verschiedener sittlicher Verhältnisse verurteilen, deren jedes bloß rein für sich seine eigentümliche Schönheit und Würde entfalten könnte; mehrere unserer feinsinnigsten Philosophen, z. B. Lotze, haben diese Ansicht vertreten. 

Wer indes eine Einsicht in die »sittlichen« Verhältnisse hat, die bei der Mehrzahl der Naturvölker zwischen Geschwistern einerseits, Ehegatten andererseits bestehen, wird kaum eines von diesen für so schön und würdevoll halten, dass es durch Kombination mit dem anderen viel zu verlieren hätte; ja umgekehrt, bei der Schwäche dieser sittlichen Bindung könnte man gerade voraussetzen, dass ihre Summierung ein zweckmäßiges Mittel wäre, um in dem Einzelnen überhaupt erst einmal eine größere Stärke der sittlichen Impulse zu wecken. 

In keinem Falle dürfte dieser zarte und ideale Gesichtspunkt das Verbot der Verwandtenehe bei Menschenfressern und nackten Waldmenschen hervorgebracht haben. 

Aber auch innerhalb der höchsten Kulturen ist seine Geltung nicht unzweifelhaft. 

Vor allem deshalb, weil die Ehe selbst durchaus kein einheitliches, nur nach einer Richtung hin gestaltetes Verhältnis ist. 

Sie schließt vielmehr eine große Anzahl durchaus unterscheidbarer sittlicher Beziehungen ein, sie ist keineswegs nur eine Form und Betätigung individueller Liebe, sondern sie enthält ebenso Elemente der Freundschaft, wie des Vermögensrechtes, sie ist ebenso eine soziale wie eine religiöse Institution. 

Gerade auf der Fülle der äußeren und inneren Interessen, die sie berührt, beruht ihr besonderer sittlicher Wert, in der Weite ihres Rahmens, der einer Unerschöpflichkeit immer neue Lebensbeziehungen Raum bietet, liegt ihr Reiz und ihre Bedeutsamkeit. 

Gerade die feinste sittliche Charakterisierung der Ehen zeigt, dass manche einen Ton von väterlichem, manche von mütterlichem Verhältnis in sich schließen, ja vielleicht ist keine von einem leisen Hauch so gefärbter Empfindungen ganz frei. 

Und weshalb es den Begriff der Ehe stören sollte, wenn etwa noch das geschwisterliche Empfinden in den Bezirk der von ihr umschlossenen äußeren und inneren Bindungen eintrete - ist rein theoretisch in keiner Weise einzusehen. 

Indes berührt sich diese Theorie mit einer anderen, hundert Jahre älteren, die im Anschluss an ein ehemals mit dem größten Interesse behandeltes Problem entstand und die ich als Schlussanmerkung hier zufüge. 

Es handelt sich um die jüdischen Eheverbote, die die Christenheit, weil sie in der Bibel standen, als auch für sich gültig und eben dadurch sanktioniert ansah. Nun wurde aber im vorigen Jahrhundert die Frage aufgeworfen: Die jüdischen Ehegesetze seien im Zusammenhange mit den übrigen Ritualgesetzen gegeben; entweder nun seien sie für alle Menschheit gegeben, und dann müssten wir auch jenen Ritualgesetzen gehorchen, oder sie seien nur speziell für die Juden gegeben, dann hätten sie für die Christen keine Gültigkeit. 

Es kam die Schwierigkeit dazu, dass Gott in offenbarem Widerspruch gegen sein späteres Verbot der Verwandtenehe dieselbe im Anfang nicht nur zugelassen, sondern nötig gemacht habe, indem er nur ein einziges Menschenpaar schuf, dessen Kinder keine Wahl hatten, sondern sich nur untereinander fortpflanzen konnten. 

Dies letztere Problem ist ein schon lange bestehendes, denn Beatrice in »Viel Lärm um nichts« weigert sich scherzhaft, zu heiraten, weil alle Männer als Adams Söhne ihre Brüder wären und sie nicht in so nahe Verwandtschaft heiraten möchte; und sogar ein wilder Stamm in Kalifornien empfand diese Schwierigkeit so, dass in seiner Mythologie behauptet wurde, es wären am Anfang aller Dinge zwei Paare geschaffen worden, um der Notwendigkeit der Blutschande zu entgehen. 

Innerhalb der christlichen Kirche suchte man sich in verschiedener Weise hiermit abzufinden. 

Von einer Seite wurde behauptet, Gott habe für diesen Fall einen besonderen Dispens erteilt; andere meinten, die Geschwisterehe habe vor dem Sündenfall mit dem göttlichen und Naturgesetz harmoniert, und erst nach diesem sei sie zur Sünde geworden; wieder andere, sie sei überhaupt nicht durch ein Gesetz der Natur, sondern durch ein positives Gesetz, aus Zweckmäßigkeitsgründen, wenn auch immerhin durch Gott verboten worden. 

Welche Zweckmäßigkeitsgründe dies gewesen sein mögen, wird von einer interessanten anonymen Schrift aus dem Jahre 1761 »Historische Abhandlung von den Ehegesetzen und den verbotenen Ehen« auseinandergesetzt. 

Die peinliche Genauigkeit und feine Ausarbeitung, so meint der Verfasser, welche dem Erbrecht bei den Juden eigen war, setzte eine Maßregel voraus, die alle Verwirrung durch Komplikation verwandtschaftlicher Erbanteile ausschloss. 

Es wird hier zum ersten Male also die Vermutung ausgesprochen, die in neuester Zeit wieder aufgetaucht ist, dass die vermögensrechtlichen Beziehungen in eine unheilbare Konfusion durch die Verwandtenehe geraten wären, und dass man sie aus diesem Zweckmäßigkeitsgrunde ausgeschlossen hätte. 

Ferner betont der Verfasser, dass das enge Familienleben der Juden, die Bedeutung, die sie der Verwandtschaft beilegten, ganz besonders zur Vermeidung von Ehen disponieren mussten, die die im Hause erforderliche Subordination und Gliederung völlig zerrüttet hätten. 

Beides sind durchaus verständige und diskutierbare Gründe, und bilden eine greifbare Hypothese, als deren metaphysische Verfeinerung die schon erwähnte Theorie Lotzes erscheint. 

Statt des ästhetisch unerfreulichen Bildes, dass sich nach dieser Theorie aus der Vermischung verwandtschaftlicher und ehelicher Verhältnisse ergeben würde, bekommen wir hier ein rechtlich und organisatorisch ungenügendes, dem eine viel realere Kraft für die Herbeiführung des Verbotes zuzuschreiben ist. 

Seinen letztgenannten Grund verallgemeinert der ungenannte Verfasser zu dem Prinzip: alle diejenigen Ehen seien unrechtmäßig, in denen die natürliche - durch den Verwandtschaftsgrad gegebene - Superiorität der einen Person durch die Ehe gekränkt werde. Je näher eine Person dem gemeinschaftlichen Stamme, desto größer sei ihre Superiorität. 

Da nun in der Ehe der Mann der übergeordnete Teil ist, so sei es unrechtmäßig, dass er seine Mutter oder Tante heirate, da diese ihm von Natur untergeordnet sind; ebenso dürfe er nicht seine Schwester heiraten, da diese ihm von Natur gleichgestellt ist, durch die Ehe aber ihm untergeordnet würde, usw. 

Dies zeigt natürlich der erste Blick als ein ganz unzureichendes Prinzip; dennoch berührt es sich mit einigen interessanten Tatsachen dieses Gebietes, die allerdings zeigen, dass die hier fraglichen Beziehungen manchmal in ihrer Erlaubtheit oder Unerlaubtheit davon abhängig sind, welches Verhältnis der sozialen Über- oder Unterordnung zwischen den betreffenden Personen besteht. 

Bei den Singhalesen ist es der verheirateten Frau gestattet, so viele Liebhaber zu haben, wie sie will, nur dürfen diese nie einer geringeren Kaste als sie selbst angehören. 

Offenbar herrscht die Vorstellung, dass die Superiorität der Frau, die sie durch ihre Zugehörigkeit zu einer höheren Kaste besitzt, durch das Verhältnis zu einem Mitglied der niederen herabgesetzt werden würde. 

Eben dieselbe Empfindung, auf einer anderen Stufe, liegt in der berichteten Tatsache, dass ein Beduinenweib in Dschidda gar kein Bedenken trägt, die Maitresse des ersten besten Europäers zu werden, sich dagegen ewig für entehrt halten würde, wenn sie die Ehegattin eines solchen werden sollte. 

Ihr Rassenstolz dem Europäer gegenüber würde durch diejenige Superiorität, die sie in allgemeiner und rechtlicher Beziehung dem Ehemann einräumen müsste, gekränkt werden, während eine flüchtige und illegitime Beziehung diese herabsetzenden Folgen nicht hat. 

Ferner: wo Standesunterschiede Ehehindernisse bilden, werden diese oft so modifiziert, dass wenigstens ein Mann des höheren Standes eine Frau des niedrigeren heiraten darf, nicht umgekehrt. 

So auf Loti, bei den Makassaren, im früheren Indien. 

Die Superiorität des Mitgliedes des höheren Standes über das des niederen kann eben in der Ehe nur erhalten werden, wenn jenes der Mann, dieses die Frau ist. - 

Kurz, die Vorstellung, dass gewisse Überordnungsverhältnisse durch eheliche Beziehungen gekreuzt und gestört werden könnten, bildet manchmal das Motiv für Eheverbote, und so ist es nicht ausgeschlossen, dass auch die Verbote der Verwandtenehe teilweise auf eben dieselbe zurückgehen mögen. 


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
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Tel. ++41 55 2444012