Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Bemerkungen zu sozialethischen Problemen

ex: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie. Hrsg. von R. Avenarius.,  12. Jg. 1888 S. 32-49; Leipzig.

I.

Bei dem Verhältnis zwischen der Ausbildung der Individualität und dem sozialen Interesse ist vielfach zu beobachten, dass die Höhe der ersteren Schritt hält mit der Erweiterung des Kreises, auf den sich das letztere erstreckt. 

Haben wir zwei soziale Gruppen, M und N, die sich scharf von einander unterscheiden, sowohl nach den charakteristischen Eigenschaften wie nach den gegenseitigen Gesinnungen, deren jede aber in sich aus homogenen und eng zusammenhängenden Elementen besteht: so bringt die gewöhnliche Entwicklung unter den letzteren eine steigende Differenzierung hervor; die ursprünglich minimalen Unterschiede unter den Individuen nach äußerlichen und innerlichen Anlagen und deren Betätigung verschärfen sich durch die Notwendigkeit, den umkämpften Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel zu gewinnen; die Konkurrenz bildet bekanntlich die Spezialität des Individuums aus. 

Wie verschieden nun auch der Ausgangspunkt dieses Prozesses in M und N gewesen sei, so muss er diese doch allmählich einander verähnlichen. Es ist von vornherein wahrscheinlich, dass, je größer die Unähnlichkeit der Bestandteile von M unter sich und derer von N unter sich wird, sich eine immer wachsende Anzahl von Bildungen im einen finden werden, die solchen im andern ähnlich sind; die nach allen Seiten gehende Abweichung von der bis dahin für jeden Komplex für sich gültigen Norm muss notwendig eine Annäherung der Glieder des einen an die des andern erzeugen.

Schon deshalb wird dies geschehen, weil unter noch so verschiedenen sozialen Gruppen die Formen der Differenzierung gleich oder ähnlich sind: die Verhältnisse der einfachen Konkurrenz, die Vereinigung vieler Schwacher gegen einen Starken, die Pleonexie Einzelner, die Progression, in der einmal angelegte individuelle Verhältnisse sich steigern u.s.w.

Die Wirkung dieses Prozesses - von der bloß formalen Seite - kann man häufig in der internationalen Sympathie beobachten, die Aristokraten unter einander hegen und die von dem spezifischen Inhalt des Wesens, der sonst über Anziehung und Abstossung entscheidet, in wunderlicher Weise unabhängig ist.

Nachdem der soziale Differenzierungsprozess zu der Scheidung zwischen Hoch und Niedrig geführt hat, bringt die bloß formale Tatsache einer bestimmten sozialen Stellung die durch sie charakterisierten Mitglieder der verschiedenartigsten Gruppen in innerliche, oft auch äußerliche Beziehung.

Dazu kommt, dass mit einer solchen Differenzierung der sozialen Gruppe die Nötigung und Neigung wachsen wird, über ihre ursprünglichen Grenzen in räumlicher, ökonomischer und geistiger Beziehung hinauszugreifen und neben die anfängliche Zentripetalität der einzelnen Gruppe bei wachsender Individualisierung und dadurch eintretender Repulsion ihrer Elemente eine zentrifugale Tendenz als Brücke zu andern Gruppen zu setzen.

Von vielen Beispielen dafür nur eines, aus der Geschichte der Zünfte. Während ursprünglich in den Zünften der Geist strenger Gleichheit herrschte, der den Einzelnen einerseits auf diejenige Quantität und Qualität der Produktion einschränkte, die alle Andern gleichfalls leisteten, andrerseits ihn durch Normen des Verkaufs und Umsatzes vor Überflügelung durch den Andern zu schützen suchte? war es doch auf die Dauer nicht möglich, diesen Zustand der Undifferenziertheit aufrecht zu halten.

Der durch irgend welche Umstände reich gewordene Meister wollte sich nicht mehr in die Schranken fügen, nur das eigne Fabrikat zu verkaufen, nicht mehr als eine Verkaufsstelle zu halten, und Ähnliches. 

Indem er aber das Recht dazu, zum Teil unter schweren Kämpfen, gewann, musste ein Doppeltes eintreten: einmal musste sich die ursprünglich homogene Masse der Zunftgenossen mit wachsender Entschiedenheit in Reiche und Arme, Kapitalisten und Arbeiter differenzieren; nachdem das Gleichheitsprinzip einmal so weit durchbrochen war, dass Einer den Andern für sich arbeiten lassen und seinen Absatzmarkt frei nach seiner persönlichen Fähigkeit und Energie, auf seine Kenntnis der Verhältnisse und seine Chancenberechnung hin, wählen durfte, so mussten eben jene persönlichen Eigenschaften mit der Möglichkeit, sich zu entfalten, sich auch steigern, und zu immer schärferen Spezialisierungen und Individualisierungen innerhalb der Genossenschaft und schliesslich zur Sprengung derselben führen. 

Andrerseits aber wurde durch diese Umgestaltung ein weiteres Hinausgreifen über das bisherige Absatzgebiet gegeben; dadurch, dass der Produzent und der Händler, früher in einer Person vereinigt, sich von einander differenzierten, gewann der letztere eine unvergleichlich freiere Beweglichkeit und wurden früher unmögliche kommerzielle Anknüpfungen erzielt.

Es war also eine zwiefache Richtung, in der die Entwicklung von dem engen homogenen Zunftkreise aus führte und die in ihrer Doppelheit die Auflösung desselben vorbereiten sollte: einmal die individualisierende Differenzierung und dann die an das Ferne anknüpfende Ausbreitung.

So begründet sich die im ersten Satz ausgesprochene Beobachtung: die Individualisierung lockert das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues? reales und ideales? zu den Entfernteren zu spinnen.

Ein ganz entsprechendes Verhältnis findet sich in der Tier- und Pflanzenwelt. Bei unsern Haustierrassen (und dasselbe gilt für die Kulturpflanzen) ist zu bemerken, dass die Individuen derselben Unterabteilung sich schärfer von einander unterscheiden, als es mit den Individuen einer entsprechenden im Naturzustande der Fall ist; dagegen stehen die Unterabteilungen einer Art als Ganze einander näher, als es bei unkultivierten Spezies der Fall ist. 

Die wachsende Ausbildung durch Kultivierung bewirkt also einerseits ein schärferes Hervortreten der Individualität innerhalb der eignen Abteilung, andrerseits eine Annäherung an die fremden, ein Hervortreten der über die ursprünglich homogene Gruppe hinausgehenden Gleichheit mit einer grösseren Allgemeinheit. Und es stimmt damit vollkommen überein, wenn es uns versichert wird, dass die Haustierrassen unzivilisierter Völker viel mehr den Charakter gesonderter Spezies tragen als die bei Kulturvölkern gehaltenen Varietäten; denn jene sind eben noch nicht auf den Standpunkt der Ausbildung gekommen, der bei längerer Zähmung die Verschiedenheiten der Abteilungen vermindert, weil er die der Individuen vermehrt. 

Und hierin ist die Entwicklung der Tiere der ihrer Herren proportional: in roheren Zeiten sind die Individuen eines Stammes so einheitlich und einander so gleich als möglich, dagegen stehen die Stämme als Ganze einander fremd und feindlich gegenüber: Je enger die Synthese innerhalb des eignen Stammes, desto strenger die Antithese gegenüber dem fremden; mit fortschreitender Kultur wächst die Differenzierung unter den Individuen und steigt die Annäherung an den fremden Stamm. Dem entspricht es durchaus, dass die breiten ungebildeten Massen eines Kulturvolkes unter sich homogener, dagegen von denen eines andern Volkes durch schärfere Charakteristiken geschieden sind, als Beides unter den Gebildeten beider Völker statthat.

Dieser Gedanke lässt sich auch verallgemeinernd so wenden, dass in jedem Menschen ceteris paribus gleichsam eine unveränderliche Proportion zwischen dem Individuellen und dem Sozialen besteht, die nur die Form wechselt: je enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür aber ist dieser Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er ein kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen ab. 

Und umgekehrt: erweitert sich der Kreis, in dem wir uns betätigen und dem unsre Interessen gelten, so ist darin mehr Spielraum für die Entwicklung unsrer Individualität, aber als Teile dieses Ganzen haben wir weniger Eigenart, dieses letztere ist als soziale Gruppe weniger individuell, gerade wie ein sehr allgemeiner Begriff den unter ihm enthaltenen Einzeldingen einen grossen Spielraum für spezifische Differenzen lässt. 

Das erstere Korrelationsverhältnis zeigt sich z. B. in dem Zusammenbestehen von kommunaler Gebundenheit mit politischer Freiheit, wie wir es in der russischen Verfassung der vorzarischen Zeit finden. Besonders in der Epoche der Mongolenkämpfe gab es in Russland eine grosse Anzahl territorialer Einheiten, Fürstentümer, Städte, Dorfgemeinden, welche unter einander von keinem einheitlichen staatlichen Bande zusammengehalten wurden und also als Ganze grosser politischer Freiheit genossen; dafür aber war die Gebundenheit des Individuums an die kommunale Gemeinschaft die denkbar engste, so sehr, dass überhaupt kein Privateigentum an Grund und Boden bestand, sondern allein die Kommune diesen besass. 

Der engen Eingeschlossenheit in den Kreis der Gemeinde, die dem Individuum den persönlichen Besitz und gewiss auch oft die persönliche Beweglichkeit versagte, entsprach der Mangel an bindenden Beziehungen zu einem weiteren politischen Kreise. 

Die Kreise der sozialen Interessen liegen Konzentrisch um uns: je enger sie uns umschliessen, desto kleiner müssen sie sein.

Daher kommt es, dass eine starke Ausbildung der Individualität und eine starke Wertschätzung derselben sich häufig mit kosmopolitischer Gesinnung paart; dass umgekehrt die Hingabe an eine eng begrenzte soziale Gruppe Beides verhindert. 

Da nun aber, in Vererbung von den Anfängen der sozialen Bildung und ihren Erfordernissen her, die Mehrzahl der Menschen Sittlichkeit nur in dem Altruismus im Sinne der engeren Gruppe zu erblicken weiss, so entsteht dadurch der Verdacht der Herzlosigkeit und des Egoismus, der so häufig auf grossen Männern lastet, weil die objektiven Ideale, von denen sie entflammt sind, nach ihren Ursachen und Folgen weit über den engeren, sie umgebenden Kreis hinausreichen und die Möglichkeit dazu eben in dem starken Hinausragen ihrer Individualität über den sozialen Durchschnitt gegeben ist; um so weit sehen zu können, muss man über die Nächststehenden hinwegblicken.

Es ist nur eine Folge des Gedankens einer solchen Beziehung zwischen Individuellem und Sozialem, wenn wir sagen: je mehr statt des Menschen als Sozialelementes der Mensch als Individuum und damit diejenigen Eigenschaften, die ihm bloss als Menschen zukommen, in den Vordergrund des Interesses treten, desto enger muss die Verbindung sein, die ihn gleichsam über den Kopf seiner sozialen Gruppe hinweg zu Allem, was überhaupt Mensch ist, hinzieht, und ihm den Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt nahe legt. Für diese Korrelation liefert die stoische Lehre ein deutliches Beispiel. 

Während der politisch-soziale Zusammenhang, in dem der Einzelne steht, noch bei Aristoteles den Quellpunkt der ethischen Bestimmungen bildet, heftet sich das stoische Interesse, was das Praktische betrifft, eigentlich nur an die Einzelperson, und die Heranbildung des Individuums zu dem ideale, welches das System vorschrieb, wurde so ausschliesslich zur Ägide der stoischen Praxis, dass der Zusammenhang der Individuen unter einander nur als Mittel zu jenem idealen individualistischen Zweck erscheint. Aber dieser freilich wird seinem Inhalt nach von der Idee einer allgemeinen, durch alles Einzelne hindurchgehenden Vernunft bestimmt. 

Und an dieser Vernunft, deren Realisierung im Individuum das stoische ideal bildet, hat jeder Mensch Teil, sie schlingt, über alle Schranken der Nationalität und der sozialen Abgrenzung hinweg, ein Band der Gleichheit und Brüderlichkeit um Alles, was Mensch heisst. 

Und so hat denn der Individualismus der Stoiker ihren Kosmopolitismus zum Komplement; die Sprengung der engeren sozialen Bande, in jener Epoche nicht weniger durch die politischen Verhältnisse wie durch theoretische Überlegung begünstigt, schob, unserm vorangestellten Prinzip zufolge, den Schwerpunkt des ethischen Interesses einerseits nach dem Individuum hin, andrerseits nach jenem weitesten Kreise, dem jedes menschliche Individuum als solches angehört.

Man muss im Auge haben, dass dies ein kontinuirlicher Prozess ist; dass nicht etwa nur die Extreme des Individualismus und des Kosmopolitismus sich psychologisch und ethisch berühren, sondern dass schon auf den Wegen zu diesen von der sozialen Gruppe aus die zurückgelegten Strecken beider Richtungen sich zu entsprechen pflegen. Und zwar gilt dies nicht nur für Einzel, sondern auch für Kollectivindividuen. 

Die Entwicklungsgeschichte der Familienformen bietet uns dafür manchen Beleg, z. B. den folgenden. Als die Mutterfamilie (wie Bachofen und Lippert sie rekonstruiert haben) durch die Geltung der männlichen Macht verdrängt war, war es zunächst nicht sowohl die Tatsache der Erzeugung durch den Vater, die die Familie als eine darstellte, als vielmehr die Herrschaft, die er über eine bestimmte Anzahl von Menschen ausübte, unter denen sich nicht nur seine Leibesnachkommen, sondern Zugelaufene, Zugekaufte, Angeheiratete und deren ganze Familien u.s.w. befanden und unter einheitlichem Regimente zusammengehalten wurden.

Aus dieser ursprünglichen patriarchalischen Familie heraus differenziert sich erst später die jüngere der blossen Blutsverwandtschaft, in der Eltern und Kinder ein selbständiges Haus ausmachen. 

Diese war natürlich bei Weitem kleiner und individuelleren Charakters als jene umfassende patriarchalische; allein eben dadurch ermöglichte sich ihr Zusammenschluss zu einem nun viel grösseren staatlichen Ganzen. Jene ältere Gruppe konnte allenfalls sich selbst genügen, sowohl zur Beschaffung des Lebensunterhaltes wie zur kriegerischen Aktion; hatte sie sich aber erst in kleine Familien individualisiert, so war aus naheliegenden Gründen der Zusammenschluss der letzteren zu einer nun erweiterten Gruppe möglich und erfordert. Die Funktionen, die das Ganze als solches übt, ermöglichen ihm eine um so umfassendere Grösse, je spezialisierter seine Teile sind.

Für dieses Reciprocitätsverhältnis von Individualisierung und Verallgemeinerung finden wir ein Beispiel auf äusserlicherem Gebiet. Wir vernehmen von Reisenden, und können es auch in gewissem Masse leicht selbst beobachten, dass bei der ersten Bekanntschaft mit einem fremden Volksstamm alle Individuen desselben ununterscheidbar ähnlich erscheinen, und zwar in um so höherem Masse, je verschiedener von uns dieser Stamm ist; bei Negern, Chinesen u. A. nimmt diese Differenz das Bewusstsein so sehr gefangen, dass die individuellen Verschiedenheiten unter jenen völlig davor verschwinden. 

Mehr und mehr aber treten sie hervor, je länger man diese zunächst gleichförmig erscheinenden Menschen kennt; und entsprechend verschwindet das stete Bewusstsein des generellen und fundamentalen Unterschiedes zwischen uns und ihnen; sobald sie uns nicht mehr als geschlossene, in sich homogene Einheit entgegentreten, gewöhnen wir uns an sie; die Beobachtung zeigt, dass sie in demselben Masse als uns homogener erscheinen, in dem sie als unter sich heterogener erkannt werden: die allgemeine Gleichheit, die sie mit uns verbindet, wächst in dem Verhältnis, in dem die Individualität unter ihnen erkannt wird.

In diesem Beispiel liegt angedeutet, dass nicht nur im realen Verhalten, sondern auch in der psychologischen Vorstellungsart die Korrelation zwischen dem Hervortreten der Individualität und der Erweiterung der Gruppe statthat; auch unsere Begriffsbildung nimmt den Weg, dass zunächst eine gewisse Anzahl von Objekten nach sehr hervorstechenden Merkmalen in eine Kategorie einheitlich zusammengefasst und einem andern ebenso entstandenen Begriffe schroff entgegengestellt werden. 

In demselben Masse nun, in dem man neben jenen zunächst auffallenden und bestimmenden Qualitäten andere entdeckt, welche die unter dem zuerst Konzipierten Begriff enthaltenen Objekte individualisieren,  in demselben müssen die scharfen begrifflichen Grenzen fallen. 

Die Geschichte des menschlichen Geistes ist voll von Beispielen für diesen Prozess, von denen eines der hervorragendsten die Umwandlung der alten Artlehre in die Deszendenztheorie ist. Die frühere Anschauung glaubte zwischen den organischen Arten so scharfe Grenzen, eine so geringe Wesensgleichheit zu erblicken, dass sie an keine gemeinsame Abstammung, sondern nur an gesonderte Schöpfungsakte glauben konnte; das Doppelbedürfnis unseres Geistes, einerseits nach Zusammenfassung, andrerseits nach Unterscheidung befriedigte sie so, dass sie in einem einheitlichen Begriff eine grosse Summe von gleichen Einzelnen einschloss, diesen Begriff aber um so schärfer von allen Andern abschloss, und, wie es entsprechend der Ausgangspunkt der oben entwickelten Formel ist, die geringe Beachtung der Individualität innerhalb der Gruppe durch um so schärfere Individualisierung dieser den andern gegenüber und durch Ausschluss einer allgemeinen Gleichheit grosser Klassen oder der gesamten organischen Welt ausglich. 

Dieses Verhalten verschiebt die neuere Erkenntnis nach beiden Seiten hin; sie befriedigt den Trieb nach Zusammenfassung durch den Gedanken einer allgemeinen Einheit alles Lebenden, welche die Fülle der Erscheinungen als blutsverwandte aus einem ursprünglichen Keime hervortreibt; der Neigung zur Differenzierung und Spezifikation kommt sie dadurch entgegen, dass ihr jedes Individuum gleichsam eine besondere, für sich zu betrachtende Stufe jenes Entwicklungsprozesses alles Lebenden ist; indem sie die starren Artgrenzen flüssig macht, zerstört sie zugleich den eingebildeten wesentlichen Unterschied zwischen den rein individuellen und den Arteigenschaften; so fasst sie das Allgemeine allgemeiner und das Individuelle individueller als die frühere Theorie es konnte.

Und dies eben ist das Komplementärverhältnis, das sich auch in den realen sozialen Entwicklungen geltend macht.

Ich halte es nicht für unmöglich, dass eine sehr tief gelegene ursächliche Beziehung zwischen der realen und der psychologischen Form dieses Verhältnisses existiert; und zwar einerseits so, dass die geistige Beschränktheit auf oberflächliche Artbegriffe auch auf die vorurteilsvolle soziale Abschliessung hingewirkt habe; andrerseits so, dass die aus praktischen Gründen erforderte Exklusivität der relativ kleinen Gruppe einen Einfluss auf die Bildung der Vorstellungen von der Zusammengehörigkeit der Lebewesen, von ihrer Einteilung in Gruppen, von dem Verhältnis der Individuen zu einander und zum Ganzen u.s.w. geübt habe; und weiter würde dann auch der Fortschritt in der einen Beziehung in Wechselwirkung mit dem in der andern gestanden haben. 

Dies indes gehört, der zweitgenannten Seite nach, in das grosse und erst der zukünftigen Forschung vorbehaltene Gebiet der Wirkungen, die von den rein praktischen Lebensgestaltungen auf das rein theoretische Verständnis der Dinge ausgegangen sind.

II.

Die griechische Sittenlehre weist in ihren Hauptvertretern durchgehendes das Dogma vom Zusammenfallen der Tugend und der Glückseligkeit auf. Der Sokratische Satz von der Unfreiwilligkeit des Bösen und der Lehrbarkeit der Tugend ist nur auf dieser Grundlage zu verstehen; wo das Individual- und das Sozialinteresse zusammenfallen, wo mit einer und derselben Handlungsweise beide befriedigt werden, da und nur da ist es freilich nichts als eine Torheit, diese Handlung nicht zu vollbringen; bin ich sicher, dass sich in jeder Lage ein Benehmen ausfinden lässt, das zugleich egoistisch nützlich und Sozial sittlich ist, so besteht Sittenlehre nur in der theoretischen Anweisung, diese Handlungsweise herauszufinden. 

Nehmen wir mit der griechischen Philosophie an, dass Sittlichkeit der Weg, und zwar der einzige, zum Glück ist, so ist allerdings Niemand freiwillig böse, weil dies hiesse, sich freiwillig unglücklich machen. 

Dass Aristoteles gegen diesen Satz polemisiert, macht keinen Unterschied in der Grundanschauung: auch für ihn bilden Tugend und Glückseligkeit, in der vernunftgemässen Tätigkeit zusammengebunden, eine vollkommene Harmonie und die wahre Selbstliebe, der höchste Eigengewinn realisiert sich ihm in den Taten der höchsten, eventuell Alles aufopfernden Sittlichkeit; wenn er daher auch Sokrates gegenüber auf den Willenscharakter der sittlichen Handlung, der mit der theoretischen Einsicht nicht zu verwechseln sei, aufmerksam macht, so kann sich doch selbst seine eigene Lehre nicht gegen die Konsequenz wehren, dass beim Zusammenfallen von Tugend und Glückseligkeit nur Torheit uns zu falschem Handeln veranlassen könnte, da richtige Einsicht uns zeigt, dass wir uns bei tugendhaftem Handeln auch in egoistischer Beziehung am besten stehen.

Wir brauchen nicht zu zweifeln, dass die Philosophie hiermit einer allgemeinen Überzeugung Ausdruck gegeben habe; und wie viel Täuschung dabei auch mit untergelaufen sei, so scheint mir doch, als ob die sozialen Verhältnisse Griechenlands das Zusammenfallen von Tugend und Glückseligkeit, die Harmonie des egoistischen mit dem altruistischen Interesse zu einem geringeren Irrtum gemacht hätten, als ihm die gleiche Behauptung für unsere Verhältnisse unterliegt.

Was dafür zunächst in Betracht kommt, ist die autokratische Stellung des Mannes innerhalb seines Hauses. Wenn es die Fälle des Konfliktes zwischen dem eigenen Wohl und seiner pflichtmässigen Hingabe an das eines Andern oder zwischen den von entgegengesetzten Seiten her gestellten und gleichmässig begründeten Ansprüchen an Pflichterfüllung sind, die jene Harmonie verhindern, so werden sie sich in demjenigen Kreise auf ein Minimum reduzieren, wo der Wille einer Person und ihr Interesse von vornherein das Bestimmende ist, wo die andern Angehörigen dieses Kreises keine überhaupt zu Worte kommenden Sonderinteressen besitzen. So aber lagen, den unsrigen gegenüber, die Verhältnisse der klassischen Familie.

Unzählige Differenzen innerhalb des Familienkreises werden bei uns durch die relative Selbständigkeit und Gleichberechtigung der Mitglieder eines Hausstandes hervorgerufen; auch dem Familienhaupte gegenüber schreibt sich der Einzelne oft Recht und Pflicht zu, ein Sonderinteresse oder eine abweichende Handlungsweise durchzuführen und schafft damit nicht nur eine einfache Kollision, sondern stellt auch dritte Personen in den häufig tragischen Konflikt der Parteinahme. 

Solche Fälle wurden von vornherein da abgeschnitten, wo der Wille des Familienhauptes der allein bestimmende war und dadurch für die Abwägung egoistischen und altruistischen Handelns ein Mass und eine Bestimmung a priori gab, die uns vielfach fehlt. 

Wie es bei aufrichtiger und konsequenter theokratischer Denkweise eigentlich keinen Konflikt, weder zwischen Selbstsucht und Sittlichkeit, noch zwischen divergenten Pflichten geben kann, so müssen auch in einem sozialen Kreise derartige Konflikte in demselben Masse seltener sein, in dem ein einheitlicher Wille allen Sonderwillen ihren Inhalt gibt.

Es wäre ein psychologischer Irrtum, den auf eudämonistische Interessenharmonie hinausgehenden Erfolg dieses Verhältnisses durch den Gedanken anzuzweifeln, dass gerade diese Alleinherrschaft eines Willens im Hause alles Leiden und alle Gegenstrebungen zur Folge haben müsse, die die Tyrannei eben hervorrufe. Tatsächlich verhält sich dies anders; wenn ein ursprünglicher Zwang der Form nach durch viele Generationen vererbt und in der ganzen Breite der mitlebenden geübt wird, so wächst er allmählich zu einer als sittlich empfundenen Pflicht aus. 

Ein Wille, der seine Interessen zunächst anderen Willen in heteronomer Weise aufgezwungen hat, wird durch Gewöhnung zum autonomen Inhalte derselben; der Eigenwille wird durch die andauernde Unmöglichkeit, seine von dem herrschenden abweichenden Tendenzen durchzusetzen, schliesslich diesem vollkommen angepasst und will dann auch von selbst gar nichts Anderes, als für die Interessen jenes leben  ein Vorgang, der sowohl in individual wie in sozialpsychologischer Hinsicht unendlich oft zu beobachten und auf ein »Prinzip des kleinsten moralischen Zwanges« zurückzuführen ist. Indem so im antiken Hauswesen der naive Egoismus des Familienvaters sich widerstandslos durchsetzte und die eudämonistischen Wünsche der Hausangehörigen, insoweit sie der hierdurch bestimmten Pflicht sich entgegenstellten, auf ein Minimum reduziert wurden, musste die Reibung zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Glückseligkeit und Tugend, der heutigen Familienverfassung gegenüber eine geringe sein.

Was diese Reibung auf anderem Gebiete gleichfalls im Gegensatz zu heute sehr milderte, war das Fernbleiben des griechischen Bürgers von eigentlicher Erwerbstätigkeit. Die kommerziellen Tätigkeiten sind es besonders, die immerzu Interesse gegen Interesse wachrufen, und zwar nicht nur die des Einzelnen gegen einen andern Einzelnen, sondern gegen einen ganzen Kreis; die Konkurrenz nimmt in ihnen die ausgeprägteste Form an und stellt die Wünsche und Bestrebungen des Einen in vollen Gegensatz zu denen des Andern. So hat denn auch dieser relative Kriegszustand zu einer Legalisierung von Handlungsweisen für das kommerzielle Leben geführt, die in den sonstigen Beziehungen von Mensch zu Mensch als unsittlich gebrandmarkt sind, wie eben vor dem Kriegsrecht die sonstigen Normen der Billigkeit und des Altruismus schweigen; so dass sogar hochsittliche Männer es in unsern Tagen aussprechen konnten, die Sittlichkeit begönne erst da, wo das Wirtschaften aufhöre.

Über diese Wirkung des Erwerbslebens scheinen die griechischen Denker auch keinen Zweifel gehabt zu haben. Aristoteles lässt als geziemenden Erwerb nur den Landbau gelten; denn dieser sei der allein gerechte, weil er seinen Nutzen nicht von Menschen nimmt und nicht, wie der eigentliche Handel, auf Kosten und durch die Beraubung Anderer erwirbt. Plato ist sich ganz klar darüber, dass die Gütergemeinschaft, die er für die oberen Stände seines Staates verlangt, nur dem Zwecke der Aufhebung egoistischer und widerstreitender Interessen dienen soll. 

Der als Pythagoreer genannte Hippodamos betrachtet es als eine Ursache für die Verschlechterung der Verfassung, wenn in einem Lande sich eine (aus Fremden bestehende) Menge befindet, die ihr Trachten auf Gelderwerb durch Handel richtet; dagegen sei ein Mittel, die Eintracht unter den Bürgern zu erhalten, dieses, dass sie bei mässigem Besitz ihren Unterhalt aus dem Ackerbau ziehen. 

In der Tat wird mit diesen ökonomisch ethischen Vorschriften nur die Wirklichkeit der griechischen Verhältnisse in Etwas idealisiert. Die Zurückhaltung des griechischen Vollbürgers vom Wirtschaftsleben verstopfte eine Quelle unzähliger Interessenkämpfe und Konflikte zwischen Egoismus und Altruismus und beseitigte mit der auf ökonomischem Gebiet besonders starken Versuchung, das Glück auf Kosten der Ehrlichkeit und Tugend zu vermehren, zugleich ein wesentliches Moment der Diskrepanz dieser beiden.

Der allgemeine Grund aber, aus dem eine solche dem damaligen Griechen nicht ins Bewusstsein trat, lag in seiner Hingabe an die Interessen des Staates, mit der die vorher genannten Momente allerdings kausal verbunden sind. Ebenso naiv, wie der Egoismus des Griechen seinem Hause und seinen Sklaven gegenüber war, ebenso unmittelbar und selbstverständlich war es, dass er sein Denken und Tun in den Dienst seines Staates stellte. 

Die Tugend, die hierin bestand und als wesentlichste von ihm verlangt wurde, stellte sich um so weniger in einen Gegensatz zum Eigeninteresse, als die griechischen Staatswesen klein genug waren, um den Einzelnen leicht überblicken zu lassen, welcher Eigenvorteil aus der Förderung des Gesamtwohles auf ihn zurückfallen musste. 

Gerade aus diesem ursprünglich egoistischen Moment konnte sich jene reflexionslose soziale Hingabe des griechischen Staatsbürgers heranbilden, die es dann auch in Fällen, wo wir eine Diskrepanz zwischen egoistischem und sozialem Interesse erblicken, zu einer eigentlichen Kollision in seinem Innern nicht kommen liess; der aristokratische Kommunismus, der die Form der griechischen Staatswesen in ihrer Blütezeit wesentlich bestimmte, machte von vornherein das Gefühl einer durchgehenden Spaltung zwischen Eigeninteresse und Sozialinteresse, also zwischen Glückseligkeit und dem, was der Grieche Tugend nannte, unmöglich.

Die Griechen hatten im Leben wie in der Kunst nur einen Stil und dies erleichterte ihnen die Lebenskunst in hohem Grade. Der Satz, dass nur der Tugendhafte glücklich ist, spiegelt nur diese ungebrochene Einheitlichkeit des 

Wesens wieder, für die die erwähnten sozialen Verhältnisse nicht weniger Ursache als Folge waren. Wenn Kant es also der griechischen Philosophie zum Vorwurf macht (wobei er freilich nur an Stoiker und Epikureer denkt), dass sie »zwischen äusserst ungleichartigen Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend Identität ergrübeln« wollten, so liegt dies nicht sowohl an einem Denkfehler, wie er es auffasst, als vielmehr an den völlig von den unsern abweichenden sozialen Verhältnissen. Die Lücken und Beschränktheiten, welche die griechische Weltanschauung und Lebensordnung für unser Empfinden aufwies, betrafen Stellen, die den Zusammenschluss, dieser zu einem einheitlichen, in sich befriedigten Ganzen nicht hinderten 1) ; und für diesen ist das Dogma vom Zusammenfallen von Tugend und Glückseligkeit eigentlich nur ein analytischer Ausdruck.

Ich will doch erwähnen, dass bei den Schriftstellern der vorklassischen Zeit der Optimismus, der sich in dem Letzteren ausspricht, viel weniger zu bemerken ist; ja, bei Theognis, aber auch sonst, finden sich gerade entgegengesetzte Vorstellungen, von dem Wohlbefinden der Frevler, dem Elend der Gerechten, u. ähnl. 

Allein gerade die sozialen Verhältnisse, die mir jene Überzeugung psychologisch verständlich zu machen scheinen, waren in der früheren Zeit andere. Erst durch die bekannten, jahrhundertelangen Umwälzungen wurden die griechischen Staatswesen dem sozialen Ideal angenähert, dessen höchste Verkörperung das Athen der Perserkriege ist; es fehlte in jenen früheren Zeiten das völlige Aufgehen des Individuums in den Staatszwecken, nebst seinen Folgen.

Wir wissen, dass die griechische Frau in der vorklassischen Zeit eine selbständigere und hervorragendere Stellung hatte, dass der Bürger sich noch nicht von dem eigenen wirtschaftlichen Erwerbe fernhielt, dass das Leben in der Öffentlichkeit und für sie, das diese Zustände änderte, noch nicht den Einzelnen völlig beanspruchte.

III.

Trotz aller Schriften über den russischen Nihilismus ist doch der tiefste psychologische Grund noch nicht genügend klar gelegt, der einen so bedeutenden Bruchteil der besseren russischen Gesellschaft dem Sozialismus in die Arme getrieben hat. 

Den Ausgangspunkt des Nihilismus bildet offenbar jene pessimistische, weltschmerzliche und weltmüde Stimmung, in der die russischen Dichter so gern ihre Helden hinleben lassen; und die völkerpsychologische Ursache dieser ist freilich nicht schwer einzusehen. Sie liegt in der unvermittelten und unorganischen Einführung in die westeuropäische Kultur, für welche die halbasiatischen Elemente des russischen Wesens noch nicht reif waren; es ist eine vielfach bewährte Regel, dass die plötzliche Berührung relativ unkultivierter Völker mit hochkultivierten die schwerste Schädigung jener, ja, bei Naturvölkern vielfach den Untergang herbeiführt.

Die Ideale in intellektueller, sozialer, politischer Beziehung, von denen das Bewusstsein und an denen die Arbeit für das übrige Europa das endliche langsam erreichte Resultat ausgedehnter Mühen ist, sie wurden, eigentlich schon von Peter dem Grossen an, dann aber besonders, als selbst die eiserne Faust von Zar Nikolaus die Wirkungen des erleichterten europäischen Verkehrs nicht aufheben konnte, dem russischen Geiste eingeflösst; aber dessen organische Entwicklung war zum Teil noch nicht so weit gelangt, um sie mit Nutzen aufzunehmen, zum Teil überhaupt entgegengesetzt gerichtet; und aus deutlichen Gründen wirkt ein leidenschaftlich ergriffenes Ideal, von dem wir die Wirklichkeit sehr abweichen sehen, zerstörend, auf Weltschmerz und Pessimismus hin, so lange nicht die Kraft und die Bedingungen da sind, an seiner Realisierung positiv zu arbeiten; aus eben diesem Grunde sind idealistische Jünglinge so oft weltschmerzlich angekränkelt, nur das Wirken und Schaffen im Dienst des Ideals vermag uns vor dem Pessimismus zu bewahren, der aus der Vergleichung jenes mit der Wirklichkeit hervorgeht 2). Und zu jenem fehlten, im Hinblick auf die westeuropäischen Kulturideale, in Russland die inneren wie die äusseren Bedingungen.

Aus diesem Verhältnis lässt sich wohl der Nihilismus der sechziger Jahre verstehen, dessen Anhänger alles Bestehende verwarfen und seine völlige Wertlosigkeit erklärten, aber noch keineswegs Sozialisten waren, sondern, von diesem Bestehenden dennoch ausgehend, an der friedlichen Hebung der individuellen und sozialen Verhältnisse arbeiten wollten. Allein der Zusammenhang jenes Pessimismus, der sich ursprünglich keineswegs nur auf die sozialen Zustände bezog, mit dem Kommunismus, in den er schliesslich auslief, ist so noch nicht erklärt.

Vielleicht liegt der gesuchte Zusammenhang darin, dass die vom Sozialismus erstrebte Beseitigung aller Unterschiede eine Vorstufe zur Beseitigung aller bestimmten Qualität überhaupt ist, wie der nihilistische Pessimismus sie wünschen muss.

»Allgestaltlosigkeit«, mit der man treffend das Ideal des extremen Nihilismus bezeichnet hat, wird in einer wesentlichen Beziehung durch das sozialistische Ideal verwirklicht, das sich jenem Urbrei nähert, in dem es gar keine Unterschiede und deshalb gar keine spezifischen Empfindungen mehr gibt.

Wer mit dem Nihilismus der mephistophelischen Teleologie huldigt: »Denn Alles, was entsteht, ist wert, dass es zu Grunde geht« etc., der muss zunächst die extremste kommunistische Aufhebung aller Unterschiede innerhalb der Menschenwelt befürworten, weil mit dem Verschwinden alles Individuellen und Spezifischen zugleich aller eigentliche Inhalt des Lebens negiert wird.

Es ist möglich, dass die mechanistisch materialistische Weltanschauung, die das junge Russland in Folge seiner Vorliebe für die Naturwissenschaften adoptiert hatte, jene Beschäftigung mit den sozialen Fragen als Reaktion erzeugte oder erzeugen half. Diese Vorliebe artete zur Modemanie aus und zu jenem übertriebenen Grade, den Theorien dort anzunehmen pflegen, wo man sie sich nur von der Aussenseite aneignet. Da mag sich denn alle Gemütswärme, die sich an keinen Punkt der äusseren, mechanisierten Natur mehr heften konnte, auf die soziale Welt zurückgewandt und konzentriert haben; dem Trieb des Herzens, sich hinzugeben, der in dem seelenlosen Spiel starrer Atome keine Stätte mehr findet, bleiben nur die rein menschlichen Interessen. Und dass bei der Eigenart des russischen Geistes, alles einmal Ergriffene mit ebenso einseitiger als leidenschaftlicher Konsequenz zu verfolgen, das soziale Interesse gleich zum Kommunismus ausartete, ist leicht zu verstehen.

Es ist auch vielleicht nicht ausgeschlossen, dass sogar bei den andern Nationen das neu erwachte ethische und soziale Interesse wenigstens Teilweise ein Komplement des immer durchgreifenderen Mechanismus der theoretischen Weltanschauung sei, die die Befriedigung der Gemütsbedürfnisse, wie sie frühere Zeiten aus vermeintlichen Erkenntnissen des Wesens der Dinge schöpften, immer mehr als Anthropomorphismen und metaphysische Träume zu verwerfen lernt.


Anmerkungen

1) Sogar die uns so lasterhaft und widernatürlich erscheinende Päderastie können wir nicht umhin, in gewisser Hinsicht als Beweis für den harmonischen Sinn der Griechen anzusehen. Bei der Niedrigkeit der geistigen und sozialen Stellung, die die griechische Frau zur klassischen Zeit einnahm, konnte der Mann bei ihr keine vollkommene Befriedigung finden; und so trieb ihn denn das Bedürfnis der Harmonie, schliesslich auch die körperliche Befriedigung da zu suchen, wo er die geistige fand, bei Männern. Und so mag denn gerade das Fehlen jenes Dogmas vom Zusammenfallen von Glückseligkeit und Tugend in der früheren Zeit eine negative Instanz dafür sein, dass erst die soziologischen Verhältnisse, durch welche die spätere sich von dieser schied, ihm die Möglichkeit des Entstehens gaben.

2) Hier mag auch die psychologische Ursache des indischen Pessimismus liegen. Die lebhafte und üppige Phantasie der Inder hatte die pantheistische Vorstellung des Brahman, des all einen und all guten Prinzips, gebildet; und an diesem Ideal gemessen schien alle Wirklichkeit wertlos, elend, leidenerfüllt.
Der Pessimismus war so der Schatten, den das blendende Licht der Brahmanidee warf, und deshalb werfen musste, weil jene Indolenz, mit der die klimatischen und die sozialen Verhältnisse den indischen Nationalcharakter infizierten, es verhinderte, dass durch kräftige reale Arbeit die Brücke geschlagen werde, die allmählich von der Wirklichkeit zum Ideale führen konnte, vielmehr zwischen beiden den klar erkannten Abgrund bestehen liess, an dem sich der eigentümliche theoretische Nihilismus der Inder anbaute.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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