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Towards Cybersociety and "Vireal" Social Relations


 

Identitätsentwicklung unter dem Einfluss neuer Kommunikationstechnologien

Chance oder Gefahr?

Luzia Annen

Zürich 2004

Inhalt

1. Einleitung

1.1 Einstieg ins Thema
1.2 Fragestellung
1.3 Aufbau der Arbeit

2. Identität

2.1 Identitätsentwicklung als Entwicklungsaufgabe des Jugendalters
2.2 Modelle multipler Identitäten

3. Computervermittelte Kommunikation

3.1 Verschiedene Kommunikationsformen
3.2 Einteilung der Internet-Dienste
3.3 Entstehung von Beziehungen via CMC
3.4 Anonymität in CMC
3.5 Einsamkeit und Isolation in CMC

4. Theorien

4.1 Kanalreduktions-Theorie
4.2 Herausfiltern sozialer Hinweisreize
4.3 Rationale Medienwahl
4.4 Normative Medienwahl
4.5 Interaktive Medienwahl
4.6 Soziale Informationsverarbeitung
4.7 Simulation
4.8 Imagination
4.9 Digitalisierung und Oraliteralität
4.10 SIDE-Theorie
4.11 Zusammenfassung

5. Empirie

5.1 Empirische Untersuchung von Döring im Jahre 1994
5.2 Schweizer Untersuchung 1997 - 1999 von Hentz und Müller

6. Wechselwirkungen

7. Fazit und Ausblick

7.1 Fazit
7.2 Ausblick
7.3 Glossar

8. Literatur


1. Einleitung

1.1 Einstieg ins Thema

Die Entwicklung der eigenen Identität ist eine ernst zu nehmende und unumgängliche Aufgabe, die jeder Mensch in seinem Lebenslauf anpacken, bearbeiten und für sich stimmig lösen muss.

Während Erikson von einer Kernidentität ausging, deren Entwicklung und Bildung als eine Entwicklungsaufgabe des Menschen gesehen wurde, die in der Pubertät angesiedelt ist, fokussieren heutige Forscher mehr in der Richtung multipler Identitäten, deren Anpassung und Veränderung ein lebenslanger Prozess ist. Diese Veränderung hängt mit den veränderten Lebensbedingungen zusammen, in denen eine fest gefahrene Einstellung und Wertvorstellung sogar hinderlich sein kann.

Einig sind sich die Autoren darin, dass eine Identitätsentwicklung auch scheitern kann.

Die veränderten Lebensbedingungen sind mitbestimmt durch den sich ausbreitenden Einfluss der neuen Medien und der damit verbundenen computervermittelten Kommunikation, die über weite Distanzen und unabhängig von der Zeit Kommunikation rasch und konsequent ermöglicht. Das Interesse dafür, wie die neuen Kommunikationsformen auf die Identitätsentwicklung von jungen Menschen Einfluss nehmen, und worin allfällige Folgen bestehen, wurde im Wintersemester 01/02 im Rahmen des Seminars «Das Internet als Faktor des sozialen und kulturellen Wandels» geweckt und war der Auslöser für die vorliegende Arbeit.

Inhalt

1.2 Fragestellung

Die dieser Arbeit zugrunde liegende Frage richtet sich danach, welchen Einfluss die neuen Kommunikationsarten auf die Bildung der Identität , die nach wie vor zu einem entscheidenden Teil im Jugendalter geschieht, haben können. Anhand der bis zum jetzigen Zeitpunkt wenigen, bereits existierenden empirischen Untersuchungen interessiert auch die Einschätzung, ob das Internet eher als Chance oder Gefahr betrachtet werden muss. Ausformuliert lautet die Fragestellung: Wie beeinflusst die computervermittelte Kommunikation die Identitätsentwicklung und wie soll diese Veränderung zum jetzigen Zeitpunkt bewertet werden?

Inhalt

1.3 Aufbau der Arbeit

Um diese Frage genauer erläutern zu können, wird in der Arbeit in einem ersten Schritt die Identitätsentwicklung aus psychologischer und sozialpsychologischer Sicht vorgestellt. Daran schliesst im dritten Kapitel eine Aufstellung zu den verschiedenen Arten computervermittelter Kommunikation. Es wird beschrieben, wie sich Beziehungen im Netz bilden können und welchen Besonderheiten diese unterliegen. Hierzu kommt die Thematisierung der Anonymität und der Einsamkeit durch die Isolation vor dem Computerbildschirm.

Es folgen im vierten Kapitel Theorien, welche Auswirkungen oder Folgen die computervermittelte Kommunikation auf unsere Entwicklung und auf unser Leben haben könnten.

Im fünften Kapitel werden zwei empirische Studien vorgestellt und, ausgewählte Ergebnisse, die auch die Identitätsentwicklung betreffen, diskutiert.

Die Wechselwirkungen der computervermittelten Kommunikation und der Face-to-face-Kommunikaiton werden im sechsten Kapitel angesprochen. Sie leiten das Fazit und die abschliessenden Gedanken im darauf folgenden Kapitel 7 ein.

Ein kurzes Glossar und das Literaturverzeichnis schliessen die Arbeit ab.

Inhalt


2. Identität

2.1 Identitätsentwicklung als Entwicklungsaufgabe des Jugendalters

Robert Kegan (zitiert in Flammer & Alsaker, 2002) geht in seiner Entwicklungstheorie ganz grundsätzlich davon aus, dass die zentrale Aufgabe jedes Organismus das Schaffen von Ordnung sei. Damit begründet er den Wunsch des Menschen, ein Selbstkonzept zu schaffen und sich als Einheit zu begreifen und sich selber die Antwort geben zu können, wer man nun eigentlich ist.

Identitätsentwicklung geschieht im Austausch und in der Auseinandersetzung mit dem Umfeld und den Mitmenschen und ist damit mit dem Kommunikationsverhalten und mit der Fähigkeiten zu interaktivem Verhalten verbunden (Döring, 1997b). Krappmann (1971) betont, dass der Ausgangspunkt für das Ringen um eine eigene Identität die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist.

Eine erste Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem Begriff der Identität und dessen Klärung ergibt sich damit, dass viele Autoren unterschiedliche Theorien entwickelt und weiterverfolgt haben, diese aber begrifflich nicht konsequent übereinstimmen (Flammer & Alsaker, 2002).

Als Vertreter von Modellen der Identitätsentwicklung, die vorwiegend im Jugendalter situiert ist, werden im folgenden die Theorien von E.H.Erikson, J. Marcia und G.H.Mead, vorgestellt.

2.1.1 Modell der Entwicklungsaufgaben nach Erikson

Die systematische Diskussion über Identität begann in den 50er-Jahren als Erikson (Flammer & Alsaker, 2002) sein Modell der Entwicklungsaufgaben präsentierte. Die Definition von Identität beruht auf frühen Schriften von Erikson (zitiert in Flammer & Alsaker, S.157): «Identität ist ein Gefühl der Identität, d.h. der Kontinuität und Einigkeit mit sich selbst zu verstehen. Dieses Gefühl der Identität wird durch die Interaktion mit anderen und im Kontext der eigenen Kultur gebildet.»

Die Konzeption von Erikson fasst Blasi (zitiert in Oerter & Montada, 1998) in folgender Weise zusammen: Identität sei die Antwort auf die Frage „wer bin ich?“. Erreicht wird diese Antwort durch eine realistische Einschätzung der eigenen Person und der eigenen Vergangenheit. Die Erfahrung von Kontinuität ist dabei entscheidend. Gleichzeitig werden auch kulturelle Erwartungen kritisch hinterfragt. Die sensible Phase für die Entwicklung der Identität ist die Adoleszenz, die Erfüllung dieser Aufgabe gibt ein Gefühl der Verwurzelung und der Selbstachtung.

2.1.2 Identitätsstatus nach Marcia

In Anlehnung an Eriksons Modell, ohne jedoch die fixe Altersbezogenheit einzubeziehen (Hausser, 1998) unterscheidet Marcia vier Formen der Identität, die er jeweils als Status bezeichnet. Er untersuchte diese anhand der Dimensionen Krise, Verpflichtung und Exploration. Von verschiedenen Autoren, wie beispielsweise Fend (1991) wird die Komponente der Exploration als entscheidende Strategie in der Bewältigung von Identitätsproblemen heute stärker betont.

Das Modell von Marcia bedeutet weder, dass Jugendliche alle vier Identitätszustände durchlaufen, noch dass die Identitätsausprägungen in der Entwicklung zwangsläufig bei der erarbeitenden Identität endet.

  Ausmass der Exploration
  niedrig hoch
Ausmass der Verpflichtung Niedrig Diffuse Identität Kritische Identität, Moratorium
  hoch Übernommene Identität Erarbeitete Identität

Tabelle 2.1: Identitätsausprägungen nach Marcia

Marcia (Oerter & Dreher,1998) stellte fest, das sich der Anteil der Jugendlichen mit diffuser Identität von früher 20 % auf 40% erhöhte. Eine genauere Analyse liess vier Formen der diffusen Identität ausmachen:

Störungs-Diffusion (tritt als Folge eines unbewältigten kritischen Lebensereignisses mit Mangel an Ressourcen auf)

Sorgenfreie Diffusion (unauffällig, sozial kontaktfreudige Person mit oberflächlichen Kontakten)

Entwicklungsdiffusion (entspricht am ehesten der ursprünglichen Form, sie ist eine Übergangsform vom Moratorium zur erarbeiteten Identität)

Kulturell adaptive Diffusion: Sie ist von besonderer Bedeutung, da sie möglicherweise in unserer multikulturellen Gesellschaft zu einer regulären Form der Identität werden kann. Dieser Status bildet sich vor allem dann, wenn Unverbindlichkeit, Offenheit und Flexibilität gefordert werden. Es scheint der Person angemessen, sich nicht festzulegen. Wer mit festen Wertordnungen und vorgefassten Lebenszielen so rasch wechselnden Lebensbedingungen ausgesetzt wird, ist in seinem Umfeld unangepasst.

Kraus und Mitzscherlich (1995) kreierten den Begriff des Surfers für einen Untervertreter der adaptiven Diffusion. Surfer können sich erfolgreich selber präsentieren und haben rasch Kontakte. Ihnen fehlt aber das Bewusstsein für tiefe Verpflichtungen. Exploration wird nicht getrieben, um die Elaboration einer eigenen gefestigten Identität zu erlangen.

2.1.3 Modell des Selbst nach G.H.Mead

Der Begriff des Selbst geht zurück auf W. James (Hausser, 1983) der zwischen „me“ und „I“ unterschied. Diese Unterscheidung trifft man auch bei G.H. Mead (Krappmann, 1971) an. „Me“ ist dabei die individuelle Spiegelung dessen, was im Zusammenleben mit anderen übernommen wird, d.h. es ist die Identität, deren sich die Person bewusst ist. Das „I“ ist etwas, was nicht im vornherein bestimmt werden kann. Wir reagieren damit auf das „me“, in dem wir es bewerten und überlegen, wie das Verhalten sein sollte.

Der Begriff der Identität tritt bei Mead nicht auf, die Entwicklung des Selbst ist aber weitgehend mit der Entwicklung und Konstituierung der Identität deckungsgleich.

Krappman (1971) unterscheidet im Anschluss an Mead und doch von ihm abgehoben zwischen privatem/persönlichem Selbst und öffentlichen/sozialem Selbst. Das persönliche Selbst, die persönliche Identität bildet sich aus den selber erlebten Erfahrungen. Die soziale Identität dagegen entsteht aus dem Bild, das die anderen sich von einem selbst machen.

In seinem Modell betont Krappman (1971) damit den Konflikt zwischen akzeptierter sozialer Identität und der gleichzeitige Widerstand durch das persönliche Selbst (entsprechend wie „I“ auf „me“ reagiert). Ein entscheidender Aspekt des Identitätsaufbaus ist damit der Umgang mit dieser Spannung und der Aufbau einer Balance.

Inhalt

2.2 Modelle multipler Identitäten

Neuere Ansätze erachten den Prozess der Identitätsbildung als lebenslange Entwicklung, die nicht mehr in der Adoleszenz ihren Abschluss hat (Keupp et al, 1999). Es ist eine ständige Verknüpfungsarbeit von Lebenswelt, Zeit und Inhalt. Identität wird bezeichnet als Schnittstelle zwischen innen und aussen.

Es gibt dabei eine retrospektive und eine prospektive Identitätsarbeit. Retrospektive Identitätsarbeit basiert auf eigenen Erfahrungen, die verarbeitet und bewertet werden. Bei der prospektiven Identitätsarbeit stehen Selbstentwürfe im Mittelpunkt wie sie auch Mead im „me“ und „I“ erwähnt. Einige Entwürfe bleiben imaginär, andere werden zu konkreten Projekten.

2.2.1 Konstruktionen der Identitätsarbeit

Identität ist ein evaluativer Prozess, Erfahrungen werden integriert, interpretiert und bewertet.

Durch die Reflexion situationaler Selbsterfahrungen und deren Integration bilden sich Teilidentitäten. Das Identitätsgefühl ist ein aktives, inneres Regulationsprinzip, dem die einzelnen Teilidentitäten untergeordnet sind. Es können sich auch verschiedene Cluster ergeben, falls die einzelnen Teile nicht integrierbar sind. Sie bilden sich aus einer Verdichtung und zunehmenden Generalisierung der Erfahrungen. Der bewusste Teil des Identitätsgefühl führt zur Kernnarration (wie ich gern gesehen werden möchte). Dies drei Teile sind notwendig, um handlungsfähig zu sein und unterliegen einem kontinuierlichen Veränderungsprozess. (Keupp, 1999)

2.2.2 Identitätsarbeit als Syntheseleistung

a) Identität und Kohärenz

Heute kann man unter vielen verschiedenen Lebensentwürfen wählen, ohne sicher zu wissen, welche langfristigen Konsequenzen damit verbunden sind. Kohärenz ist nicht mehr innere Einheit und Harmonie. Entscheidend ist reflexives Vorgehen, damit immer wieder neue Passungsmöglichkeiten erarbeitet werden können. Dabei ist es wichtig, das Gefühl der Gestaltbarkeit und eine positive Selbstbewertung zu haben.

b) Identität und Anerkennung

Anerkennung ist ein menschliches Grundbedürfnis und stellt ein Ziel der Identitätsentwicklung dar.

Keupp (1999) unterscheidet drei Dimensionen von Anerkennung: Aufmerksamkeit von anderen, positive Bewertung durch andere und Selbstanerkennung.

Wer früher im Rahmen einer Normalbiografie gelebt hatte, konnte sich der Anerkennung ziemlich sicher sein. Diese Sicherheit ist heute nicht mehr gewährleistet.

Neben der Anerkennung stehen andere soziale, kognitive, emotionale und produktorientierte Ziele der Identitätsarbeit, die in einem engen Wechselverhältnis stehen. Anerkennung ist dabei das wichtigste Ziel.

c) Identität und Authentizität

Gelungene Identitätsarbeit ist nicht die Ausschalten aller Ambivalenzen des Lebens sondern besteht gerade darin, ein akzeptables Spannungsverhältnis zu schaffen. Authentizität beschreibt hier ein stimmiges Passungsverhältnis, welches ein Gefühl erzeugt, selbst etwas gelungenes geschaffen zu haben. Dieses Authentizitätsgefühl wird im Identitätsgefühl verankert.

2.2.3 Patchwork-Identity

Elkind (1990) weist auf das Phänomen der diffusen Identität (vergl. Kap. 2.1.2) als neue Form einer adaptiven, aber wenig wünschenswerten Persönlichkeitsorientierung hin. Er spricht von einer Patchwork-Identity, die ohne integrative Kraft zusammengesetzt ist und damit auch keinen einheitlichen Identitätskern mehr besitzt. Personen mit einer solchen Identität können sehr erfolgreich sein. Die Kriterien einer erarbeiteten und integrierten Identität erfüllen sie jedoch nicht mehr. Elkind verweist vor allem darauf, dass Menschen mit Patchwork-Identity nur schlecht mit Stress umgehen können.

Moser (1995) deutet diesen Ausdruck allerdings positiv und betrachtet ihn als «... adäquaten Ausdruck für die Anforderungen der heutigen Lebensformen.» (S. 97). Eine starre Identität wirkt in der heutigen Zeit kontraproduktiv.

2.2.4 Selbstdarstellung

Turkle (1998) vertritt eine Identitätsdefinition, wonach es um die Fähigkeit geht, verschiedene Teil-Selbste kontextspezifisch zu bilden und in Anerkennung ihrer Konflikthaftigkeit auszubalancieren. Sie verweist damit auf die Theorie von Krappmann, der den Balanceakt zwischen persönlicher und sozialer Identität beschreibt. Diese Unterscheidung machen auch Tajfel und Turner (zitiert in Turkle, 1998). Sie postulieren, dass sich Personen mit positiv bewerteten Gruppen identifizieren und sich damit von negativ bewerteten abheben. Dies erhöht auch das Selbstwertgefühl. Der Übergang zwischen den Identitäten ist fliessend.

Eine Identität, die weder für sich noch für andere sichtbar gemacht werden kann, ist nicht wirksam (Krappmann, 1971). Die Darstellung der Identitäten richtet sich unter anderem nach sozialen Normen, ist aber gleichzeitig ein Balanceakt zwischen Aussenperspektive (wie ich glaube, dass die anderen mich wahrnehmen) und Innenperspektive. Es geht nicht darum, unbedingt einen positiven Eindruck zu wecken, sondern er soll vor allem zielkonform sein. Dabei sind, laut Forschung, sieben Variablen entscheidend (Turkle, 1998):

Öffentlichkeit (Selbstdarstellung macht nur Sinn, wo sie auch bemerkt wird), Art des Publikums, Art des Kontaktes/Art der Beziehung, Intention (defensive oder assertive Zielsetzung), Inhaltsbereich, Selbstaufmerksamkeit (Bewusstsein darüber, wie stark wir beachtet werden), Selbstwirksamkeit der Selbstdarstellung.

Die private und die öffentliche Identität (bzw. die persönliche und die soziale Identität) müssen dabei nicht immer deckungsgleich sein.

2.2.5 Selbstdarstellung im Internet

Welche Identitäten wir entwickeln, wie wir uns darstellen und auch wie wir andere Personen wahrnehmen, hängt davon ab, welche Medien wir benutzen, um mit anderen Menschen in Verbindung zu treten (Turkle, 1998). Wenn wir uns also vor allem in der medialen Umwelt des Internets bewegen, kann dies Besonderheiten in den Identitäten zur Folge haben und bestehende verändern. Rumpf (zitiert in Kaenders, 1998) beschreibt dies pointiert: «Es ist eine menschliche Konstante, beeinflussbar zu sein: Wir sind, was wir tun.»

Im Kontext der Internet-Nutzung verweist Turkle (1998) auf drei hervorstechende Effekte:

Mangelnde Aktivierung von Identitäten: dies kann zur Folge haben, dass man weniger Verantwortung wahrnehmen muss und sich damit in der Anonymität verstecken kann (beobachtbar in Flaming im Internet). Inwieweit solche Entwicklungen netzspezifisch sind, kann nicht gesagt werden, da Vergleiche fehlen.

Stärkere Akzentuierung bestimmter Identitäten aufgrund von Informationsdefiziten und veränderter Selbstaufmerksamkeit: das SIDE-Modell (vergl. Kapitel 4.10) geht davon aus, dass bei Anonymität gewisse personale oder soziale Identitäten auffallender sind und deshalb sogar kognitiv besonders akzentuiert werden. Dies kann Stereotypisierungen Vorschub leisten. Personen passen sich bei Anonymität und salienter sozialer Identität besonders stark an die Gruppennorm an, bei Anonymität und salienter personaler Identität halten sie aber besonders stark an der eigenen Meinung fest (Döring, 1999). Weil aus der Gesamtheit der Informationen durch die computervermittelte Kommunikation vieles herausgefiltert wird, führen die verbleibenden Informationen zu einer Überbewertung (Chenault, 1998).

Gezielte Aktivierung erwünschter Identitäten aufgrund der grossen Vielfalt leicht und anonym zugänglicher sozialer Situationen im Netz.

Unumstritten ist die Selbstdarstellung im Internet anders als in anderen Umwelten. Die Anonymisierung, Pseudonymisierung und textbasierte Beschreibung erlauben es, unabhängig von der realen Welt, die im Netz präsentierte Identität zu wählen. Bei Homepages lässt sich beobachten, dass der Wunsch nach zielkonformer Selbstdarstellung gross ist. Obwohl die Freiheitsgrade vorhanden sind, nutzen falsche Darstellung wenig und bewusste Täuschung kommt selten vor. (Döring, 1999)

Entscheidend ist die Einsicht darin, dass die virtuelle Person als eine Erweiterung unseres persönlichen Selbstausdrucks nur dann identitätsrelevant wird, wenn wir den Umgang mit ihr aktiv als Teil unserer Identitätsarbeit aufgreifen. Der Übergang vom Selbstexperiment mit einer „falschen“ Identität bis hin zu bewusster Täuschung ist dabei fliessend. (Döring, 1999).

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3. Computervermittelte Kommunikation

Identitätsentwicklung ist nicht denkbar ohne soziale Umgebung und Kommunikation. In der computervermittelten Kommunikation (CMC = computer mediated communication) wird die Sprache noch zunehmend relevant, da andere Sinneseindrücke ausgeschlossen oder zumindest eingeschränkt oder anfälliger für „Unwahrheiten“ sind. (Döring, 1997b)

Inhalt

3.1 Verschiedene Kommunikationsformen

Bei einer Auflistung der verschiedenen Kommunikationsformen steht an erster Stelle die Face-to-face-Kommunikation (Kopräsenz). Sie ist die einzige, die alle Sinnesmodalitäten ansprechen kann, auch wenn der Tastsinn je nach Kommunikationspartnerin oder -partner in unserer Kultur wenig zum Einsatz kommt, bzw. kommen darf.

Döring unterscheidet zwei Formen der Telekommunikation. Zum einen ist es die asynchrone Telekommunikation, bei der die Botschaften und Mitteilungen aufgeschrieben werden und mit zeitlicher Verzögerung zum Adressanten transportiert und erst dann von ihm auf rezipiert werden können (Brief, E-Mail, Telefax, Nachricht auf dem Telefonbeantworter). Davon unterscheiden kann man die synchrone Telekommunikation. Hier wird eine wechselseitige Verbindung hergestellt, in der beide Kommunikationspartner gleichzeitig aktiv sind und unmittelbar auf Aussagen des Partners reagieren können (telefonieren, chatten, Videokonferenzen, rufen).

Somit wird klar, dass CMC eigentlich nur eine technische Abgrenzung darstellt, die Art der Kommunikation aber nicht grundsätzlich neu unterteilt oder gar um eine Kategorie ergänzt wird. Einzig die Vielfalt und die Zugangs- bzw. Umgangsmöglichkeiten sind sehr gross und niederschwellig. Eine Besonderheit, die sich hier noch ausmachen lässt, ist die neue Schriftlichkeit. Die Sprache hat durch die neue Kombination von «aufschreiben» und gleichzeitig «rasch und kurz etwas mitteilen» eine neue Ausrichtung erhalten. (Suler, 1998)

3.1.1 Virtuelle Interaktion

Je nach Systemarchitektur ist es heute bereits möglich, dass Akteure eines Telepräsenz-Szenariums datenbasiert in einem anderen Raum präsent sind und aus diesem auch Objekte verschieben oder entfernen können. Natürlich können sie sie aber nicht in die Hand nehmen. Solche Virtual Reality-Anwendungen sind jedoch noch nicht im «Hausgebrauch» verbreitet (Döring, 1997a).

Einfachere, textbasierte Telepräsenz Szenarien, die MUDs (Multi User Dimensions/Dungeons), sind möglich und eher verbreitet. Hier werden nicht Handlungen beschrieben, sondern es wird durch die Sprache gehandelt.

Am Extrembeispiel einer Teleoperation, wobei in einem virtuellen System eine Operation am Datenmodell eines realen Patienten vorgenommen wird und die virtuellen Skalpellbewegungen reale Instrumente ansteuern, verdeutlicht, dass die populäre Auffassung, virtuelle Realität existiere nur als fiktive Spielumgebungen oder Simulationen, unzutreffend ist.

Dabei ergibt sich ein komplexes Mischungsverhältnis aus bekannten Formen der Interaktion und neuen Freiheitsgraden, dessen Exploration gerade erst begonnen hat. (Döring, 1997a)

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3.2 Einteilung der Internet-Dienste

Die verschiedenen Dienste lassen sich anhand der Zeitdimension und der beteiligten Anzahl Personen in eine Überblickstabelle bringen.

  Zeitversetzer Austausch Zeitgleicher Austausch
Zwei Personen E-Mail IRC (privat) MUD (privat)
Begrenzte Gruppe Mailingliste IRC-Channel MUD
Masse Newsgroup WWW-Seite  

Tabelle 3.1: Internet-Dienste im Überblick

Aus sozialpsychologischer Sicht ist interessant, dass sich die Grenze zwischen Massen- und Individualkommunikation auflöst. Netznutzer gestalten selber Programme und können gleichzeitig miteinander in Kontakt treten.

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3.3 Entstehung von Beziehungen via CMC

Suler (1998) beschreibt die Entwicklung einer E-Mail-Bekannschaft entlang mehrer Schritte. Nach der ersten Auswahl einer spannenden E-Mail-Adresse oder eines Hobbys, über das man mehr wissen möchte, erfolgt das Kennenlernen, das dank der Teilanonymität, die im Netz gewahrt werden kann, vereinfacht und auch beschleunigt werden kann. Meist führt eine virtuelle Freundschaft schliesslich zu einem realen Treffen. Die virtuelle Welt ersetzt als die reale Freundschaft nicht.

Das Bedürfnis, zu wissen, mit wem wir es zu tun haben, ist nach wie vor vorhanden, das belegen auch Studien, welche zeigen, dass viele Beziehungen, die über das Internet begonnen haben, auf andere Medien bis hin zu einem persönlichen Treffen übergehen (Litter, 1999).

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3.4 Anonymität in CMC

«Dass Anonymität Sicherheit herstellt und Handlungsspielräume in pro- und antisozialer Richtung eröffnet, ist aus Face-to-face-Situationen bekannt.» (Döring, 1997a, S. 278).

Nach Döring (1996) eröffnet die Anonymität den Jugendlichen die Möglichkeit, mit Erwachsenen auf gleichwertigem Niveau zu diskutieren, da neben Rasse und Geschlecht auch das Alter nicht nachkontrolliert und damit beliebig angegeben werden kann. Mit CMC ist es möglich, geografische Distanzen zu überwinden und somit kann internationales Publikum erreicht und der Bekanntenkreis erweitert werden. Für solches verändertes Verhalten brauchen die Jugendlichen eine hohe soziale Kompetenz.

Durch die Anonymität ist es möglich, dass sich Menschen mehr «von innen» kennen lernen (Kneer, 1994, zitiert in Keander, 1998). Bleuel (1998) betont, dass durch Anoymität eine beschleunigte Selbstoffenbarung ermöglicht wird; es wird rascher eine grosse Offenheit erlangt. Durch die vertraute Umgebung und das Wissen, sich jederzeit «ausschalten» zu können, fühlen sich die Nutzerinnen und Nutzer sicher. Gleichzeitig wird die Hemmschwelle gesenkt, Schreibende haben weniger das Gefühl, die Verantwortung für ihren Beitrag übernehmen zu müssen, was zu provozierenden und beleidigenden Aussagen führen kann. Dieses Verhalten wird als Flaming bezeichnet. Bei synchronen Kommunikationsformen ist Flaming jedoch weniger ausgeprägt. Der «direkte» Kontakt scheint trotz allem spürbar zu sein und Auswirkungen zu haben auf das Kommunikationsverhalten.

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3.5 Einsamkeit und Isolation in CMC

«Wir sind soziale Wesen, die mit anderen kommunizieren wollen.» (Turkle, 1998, S. 160). Der Computer bietet die Möglichkeit sich zu unterhalten, Kontakte anzubahnen, für Problemlösungen Gesprächspartner zu finden und hilft damit, potentielle Einsamkeitsgefühle zu verringern (Keander, 1998). Turkle (1998) beschreibt, dass ein Grossteil der Internetnutzerinnen und -nutzer durch CMC ihren Bekanntenkreis vergrössert haben. Bei den meisten besteht oder entsteht aber dennoch der Wunsch, die Kommunikationspartner persönlich zu treffen. Nach Turkle ist CMC nicht ausreichend, um Entfremdungs- und Einsamkeitsgefühle zu erzeugen.

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4. Theorien

Döring (1997a) listet eine Sammlung von Theorien auf, welche die Besonderheiten und Auswirkungen computervermittelter Kommunikation beschreiben.

Ganz global und mit einem Schmunzeln lässt sich der Kommunikationsmodus beschreiben als «Tippen auf der Computertastatur und Lesen vom Monitor». Döring betont, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Beschreibungen nur von der Art der Kommunikation abhängen. Für die Wahl der Kommunkationsart sind auch Persönlichkeitsfaktoren entscheidend.

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4.1 Kanalreduktions-Theorie

Diese Theorie geht einher mit Verarmung und Entleerung der Kommunikation und Reduktion gemeinsamer Handlungsmöglichkeiten und verfügbarer Zeichenkomplexe. Mettler-Meibom, (1994) umschreibt dies mit den Stichworten Ent-Sinnlichung, Ent-Emotionalisierung, Ent-Menschlichung, die den defizitären Charakter der textbasierten Kommunikation erklären. Dazu kommt noch die Ent-Räumlichung und Ent-Zeitlichung bei asynchroner Kommunikation.
Laborexperimente zeigen, dass synchrone CMC tatsächlich sachlicher und aufgabenbezogener ist. Dieser unpersönliche Charakter ist einerseits der Laborsituation zuzuschreiben. In Feldstudien lässt sich dieser Effekt nicht eindeutig nachweisen (Walther et al zitiert in Döring, 1997a).

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4.2 Herausfiltern sozialer Hinweisreize

Die Filtertheorien gehen von der Kanalreduktionstheorie aus und spitzen sich dahingehend zu, dass der psychosoziale Hintergrund einer Person nicht erkennbar wird. Dieser ist aber entscheidend, wenn es darum geht, eine Person einzuschätzen. In einer Kommunikation, in der sogar Anonymität möglich ist, tritt somit der folgende Effekt ein: weder Gestalt, noch die laute Stimme oder die elegante Kleidung schaffen einen Kommunikationsvorteil.

Dies schafft soziale Hemmungen ab. Es ermöglicht grössere Offenheit und Ehrlichkeit, verstärkt aber auch Feindlichkeit, normverletzendes und asoziales Verhalten.

Gemäss der Filtertheorie bringt CMC sowohl Vor- wie auch Nachteile mit sich. Erklärungsbedürftig bleibt in diesem Zusammenhang theoretisch und empirisch, woran man erkennen kann, ob ein beobachteter Effekt im Netz wirklich netzspezifisch ist und durch die enthemmende Wirkung der Anonymität hervorgebracht wird, oder nur durch den Netzkontext überhaupt Aufmerksamkeit erlangt.

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4.3 Rationale Medienwahl

Der Grad der Verarmung wird bei der rationalen Medienwahl an der sozialen Präsenz erfasst. Danach machen die Menschen eine eigene Rangreihenfolge, an deren obersten Spitze das Medium steht, welches am meisten menschliche Nähe vermittelt: Auf der Basis der eigenen Medienhierarchie wird je nach Situation entschieden, welches Medium am geeignetsten ist. Somit entsteht jeweils eine Mischrechnung aus dem Aufwand an Kosten und benötigter Technik und sozialer Präsenz (zeitlicher Aufwand, Kommunikationserfolg höher).

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4.4 Normative Medienwahl

Diese Theorie geht davon aus, dass im Alltag eben nicht eine rationale Medienwahl zum Tragen kommt , sondern entschieden wird nach Bedienungskompetenz (Tippkompetenz, subjektive Einschätzung eines Mediums) und sozialer Norm.

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4.5 Interaktive Medienwahl

Aus sozialpsychologischer Sicht relevanter als die normative Medienwahl ist das bewusste Einstellen auf den Kommunikationspartner und die daraus resultierende Medienwahl. Wie viele Beziehungspartner E-Mail auch lesen und wie rasch sie auf eine Meldung reagieren, hängt von dieser spezifischen Person ab und beeinflusst die Medienwahl.

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4.6 Soziale Informationsverarbeitung

Nach der Theorie der sozialen Informationsverarbeitung ist beim Fehlen nonverbaler Informationen nicht zwangsläufig die Beziehungsebene ausgeblendet und Emotionalität unterdrückt, sondern werden gerade solche Aussagen durch andere Ebenen (Textzeichen, Emoticons) ausgedrückt. Die Grundidee, dass mediale Einschränkungen verbal kompensierbar sind, ist sicher fruchtbar, doch ist es hierbei wichtig, die subjektiven Deutungsmuster der Handelnden nicht zu vernachlässigen.

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4.7 Simulation

Der Textkanal gibt dem Menschen die maximale Kontrolle darüber, was er über sich offenbaren will. Dies ermöglicht einerseits, bewusst Informationslücken zu schliessen. Gleichzeitig können aber auch bestimmte Informationen bewusst ausgeklammert und Identitäten in nahezu beliebiger Weise simuliert werden. In auf Text basierenden Kommunikationsräumen lässt sich das Fiktive oft kaum vom Realen unterscheiden. In eingeschränktem Masse spielt dies sicher auch in der Face-to-face-Situation eine Rolle. Allerdings wird dort vieles bewusst oder unbewusst via Körper vermittelt und ist damit nicht beliebig verstellbar.

Die Besonderheit der Situation liegt darin, dass Freiheitsgrade in der Gestaltung der eigenen Identität einerseits einen Kontrollgewinn bedeuten können, dass man aber gleichzeitig den Simulationen der anderen ausgesetzt und damit wieder verletzbarer und täuschbarer wird (Kontrollverlust).

Döring fragt sich in diesem Zusammenhang ob es nicht lehrreich und heilsam sei, in einem spielerischen Schonraum mit Identitäten und Selbstaspekten zu experimentieren, die im sonstigen Alltag unterrepräsentiert bleiben müssen. Auf der anderen Seite betont sie aber auch die Gefahr, dass wir keine realen Probleme mehr lösen, wenn per Knopfdruck virtuelle Welten bereitstehen, in denen Menschen ihre Illusionen und Phantasien kultivieren können.

Der alte erkenntnistheoretische Diskurs um Sein und Schein lebt hier plötzlich wieder auf und bleibt nun nicht mehr auf einer akademischen Diskussionsebene sondern wird auch alltagsrelevant. Ist mein Gegenüber im Chat wirklich das, was er/sie vorgibt zu sein? Eine Dichotomie in dieser Situation ist nicht möglich, am ehesten können Menschen mithalten, welche die Wirklichkeit an sich nicht als das einzig erkennbar Wahre begreifen.

Turkle (1998) sieht im Internet eine Bühne der Selbstdarstellung. Sich in verschiedenen Räumen aufzuhalten und aktiv zu sein ist ein Übungsfeld für die Flexibilität und das Austesten der Identitätspräsentationen und Selbstreflexionsprozesse anzuregen. Dahinter verbirgt sich das Identitätsbild der flexiblen, multiplen Identitäten (vergl. Kap 2.2).

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4.8 Imagination

Das Modell der Imagination konzentriert sich auf die interpersonale Wahrnehmung. Durch die fehlenden Informationen wird ein kognitiver Konstruktionsprozess in Gang gesetzt, der besonders stark von Imagination geprägt ist.

Das positiv gewertete Wechselspiel von körperlichen Abwesenheit und sinnlicher Präsenz, physischer Distanz und psychologischer Nähe steht im Gegensatz zum Kanalreduktions- und Entsinnlichungsmodell, dem gemäss das Gefühl der Nähe zu einem Menschen zusammenhängt mit dem räumlichen Abstand oder mit der Anzahl der dabei beteiligten Sinnesorgane.

Unter welchen Bedingungen in CMC spezifische Imaginationsprozesse in Gang kommen, wäre empirisch und theoretisch weiter zu klären.

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4.9 Digitalisierung und Oraliteralität

Hier werden Konsequenzen beachtet, die sich aus der digitalen Form der Texte ergeben.

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4.10 SIDE-Theorie

Als Erweiterung zur Auflistung von Döring lässt sich an dieser Stelle die SIDE-Theorie anfügen (Chenault, 1998). Diese weist wie die Kanalreduktionstheorie darauf hin , dass sehr viel aus der Gesamtheit der Informationen, die eine Person aussendet, durch die CMC herausgefiltert wird. Dies wird kompensiert mit einer Überbewertung der verbleibenden Informationen. Die reduzierten Informationen machen nun die Gesamtheit der aus, werden dadurch übermässig wichtig und entsprechend teilweise überbewertet.

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4.11 Zusammenfassung

Döring fasst in einer Stellungnahme die Theorien zusammen. Sie betont, dass die textbasierte Kommunikation anders erlebt wird als die Face-to-face-Kommunikation, diese somit auch nicht ersetzen kann.

Die Theorien von Kap. 4.2 bis Kap. 4.6 sind Erweiterungen der Kanalreduktionstheorie, wurden empirisch erforscht und noch keine ganz ausgeschlossen. Sie nehmen alle die Face-to-face-Situation als Vergleichswert. Die Theorien, die in Kap. 4.7 bis Kap. 4.9 vorgestellt wurden, betonen hingegen die Besonderheiten, ohne direkt mit der Face-to-face-Situation zu vergleichen. Sie zeigen eher den «utopischen Glanz», sind empirisch jedoch wenig gesichert.

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5. Empirie

Die vorliegenden empirischen Daten stützen die Theorie nicht, wonach die medial vermittelte Kommunikation defizitär und kalt sei und aus Menschen isolierte, kontaktgestörte Einsame mache.

Eine Erklärung dazu, warum das kulturpessimistische Bild gerade von eher computerabstinenten Personen unterstützt wird, kann darin liegen, dass in Theorien immer stärker polarisiert wird als in empirischen Untersuchungen (Döring,1995). Oft ist es auch so, dass sich die Technikkritik häufig auf die Kritik von Technikvisionen beschränkt und tatsächlich realisierte Technikanwendungen vernachlässigt werden.

Zudem hält sich bis heute die Ansicht, dass CMC der Face-to-face-Kommunikation in jeder Hinsicht unterlegen sei und diese längerfristig ersetzen soll, was anhand von empirischen Untersuchungen keinesfalls so ist und von den Nutzerinnen und Nutzern auch nicht angestrebt wird.

Auffällig und populär ist in der Kritik an CMC die Tendenz, Veränderung und Verschlechterung gleichzusetzen.

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5.1 Empirische Untersuchung von Döring im Jahre 1994

Döring (1995) stellt eine Untersuchung vor, die 1994 in Deutschland durchgeführt wurde.

An den Kieler Netztagen 1994 wurden unter den Anwesenden Fragebogen verteilt, von denen 43 für die Untersuchung einbezogen werden konnten. 307 ausgefüllte Bogen, die über das Netz verteilt wurden, kamen dazu.

Die Repräsentativität bei dieser Art der Untersuchung ist nicht genau bestimmbar, weil die Gesamtheit nicht eruierbar ist.

28 % der Teilnehmenden waren 24 Jahre und jünger. Die Geschlechterverteilung ist sehr unausgeglichen: nur gerade 4.5% der Teilnehmenden sind Frauen (n = 15).

Der Bildungsstand war erwartungsgemäss hoch, da Netzkompetenz häufig autodidaktisch erworben wird, so dass lerngewohnte Personen eher Zugang zum Netz finden.

5.1.1 Zusammenfassung der Ergebnisse

  • Im Durchschnitt sind die befragten Netznutzerinnen und Netznutzer nicht einsamer als die Gesamtbevölkerung.
    Es hat sich nicht bestätigt, dass Menschen die über längere Zeit das Netz nutzen, mehr reine Netzkontakte hätten als solche, die noch nicht lange über das Netz kommunizieren. Auch scheint die Netznutzung nicht zur Abschwächung von sozialen Beziehungen und ausserhalb des Netzes zu Einsamkeit zu führen.

  • Erfahrene Netznutzerinnen und Netznutzer haben ein festes Zeitbudget für die Netznutzung. Es ist laut der Studie nicht feststellbar, dass die Zeit, die im Netz verbracht wird, zunehmen würde.
    Die UCLA-Studie (2001) stützt diese Angaben. Wer mehr am Computer sitzt, schaut weniger fern. Somit leidet nicht diejenige Zeit, die im direkten Kontakt mit Familie und Freunden verbracht wird unter der Netznutzung.

  • Die Häufigkeit der CMC korreliert nicht mit sozialer Isolation oder Einsamkeit.
    Auch die Gruppe derjeinigen, die in MUD’s mitmachen sind insgesamt nicht einsamer als die Gruppe der Nichtspieler. Die Vorliebe für MUD’s muss demnach nicht eskapistisch pathologisiert werden. Auffallend ist jedoch, dass die Gruppe der MUD-Spielerinnen und -Spieler mit einem Durchsschnittsalter von 25 Jahren signifikant jünger war als die Gruppe der Nicht-Spielenden. Sie stimmten auch signifikant häufiger der Aussage zu, dass sie gerne jemand anderes wären (Döring, 1996). Hinsichtlich des Selbstwertgefühls unterschieden sich die beiden Gruppen nicht.

  • Bei der Mehrheit der Teilnehmenden (80%) greifen Face-to-face-Kommunikation und Netzkommunikation ineinander. Reine Netzkontakte haben aber zahlenmässig eine untergeordnete Rolle.

  • Wie im Alltag gilt auch für Netzkontakte, dass Einsame durchgängig weniger Kontakte haben als Nicht-Einsame.

  • Flaming ist klar seltener als sachliche Erklärungen, was dafür spricht, dass Netzkommunikation nicht automatisch Flaming als Massenphänomen erzeugt.

Da in der Ausbildung und in der Schule erst sehr wenig an Technik und Umgang mit den neuen Medien vermittelt wird, kommen viele Jugendliche oft erst nach der obligatorischen Schulzeit intensiv mit dem Netz in Berührung. Die intrinsische Motivation ist für den Zugang immer noch entscheidend.

Der Frauenanteil wird im Netz wohl meistens unterschätzt. Einerseits weil Frauen in sachlichen Diskussionen oft einen männlichen Namen wählen, damit sie nicht angemacht werden. Ein anderer Grund kann auch sein, dass sie den Computer mehr zu Freizeitzwecken nutzen und damit nicht an Umfragebögen, die in News-Groups verbreitet werden, gelangen.

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5.2 Schweizer Untersuchung 1997 - 1999 von Hentz und Müller

5.2.1 Untersuchungslage und Vorgehen

Von 101 Personen, die das Internet intensiv nutzen (Durchschnitt: 18 h/Woche), wurde eine Erhebung ihrer persönlichen Netzwerke gemacht. Nur 11% der Teilnehmenden waren weiblich, das Durchschnittsalter lag bei 23 Jahren. Auffallend ist, dass 57% in der Ausbildung waren und fast ebenso viele (56%) noch bei den Eltern wohnten. Auch hier war das Sampling schwierig, da einzelne Teilnehmende im Netz unter verschiedenen Namen wirken können, die Gruppe und damit die Grundgesamtheit der Nutzerinnen und Nutzer nicht erfassbar ist und nur dann eruierbar wird, wenn sie kooperieren. Hentz und Müller (2000) bezeichnen dies als Selbsselektion. Die Kontaktaufnahme lief über Newsgroups und Chats. Die Interviews wurden offline durchgeführt.

5.2.2 Ausgewählte Ergebnisse

  • «Erstaunlicherweise geben 64% der Befragten an, in ihrer «wichtigsten Internetgruppe» nur einen einzigen Absender zu benutzen. Ausserhalb des MUD’s werden Geschlechtergrenzen und Altersgrenzen kaum überschritten. » (Hentz & Müller, 2000, S.9)

  • ChatterInnen experimentieren zwar mit ihrer Selbstdarstellung aber nie in dem Ausmass, wie es möglich wäre.

  • Wer sich im Netz kennenlernt, trifft sich zu 51% auch offline.

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6. Wechselwirkungen

Verschiedene Autoren versuchen, die positiven und negativen Punkte der CMC aus verschiedenen Blickwinkeln zu bewerten und Aussagen darüber zu machen, wie Erfahrungen im Internet mit der Identitätsentwicklung und den Einsamkeitserfahrungen der Netznutzerinnen und Netznutzer zusammenhängen könnten.

Mike Sandbothe (o.A.) postuliert, dass die virtuelle und reale Welt verbunden werden sollen, in dem man sich bewusst wird, dass die Erfahrungen der einen in die andere Welt einfliessen können. Das Erkennen, dass die Grenzen der Welten bereits jetzt fliessend sind, ist dafür eine Voraussetzung. Sandbothe betont, dass das Internet nicht etwas ausschliesslich neues ist, sondern verweist darauf, dass es lediglich eine Hybridverbindung bereits bestehender Medien darstellt. Daher weist er auch darauf hin, dass es wichtig ist, die Konstruktion der Realität im virtuellen Raum, von anderen Formen medialer Realitätskonstruktion her zu verstehen und zu bewerten.

Wie Turkle (1998) postuliert auch Sandbothe, dass die unterschiedlichen Wirkungen, die beispielsweise ein MUD auf verschiedene Nutzerinnen und Nutzer hat, davon abhängt, wie die individuelle psychische Konstellation der Identitätsstruktur gebildet ist. Das heisst, die Identität der realen Welt ist mitgeprägt durch das Nutzungsverhalten von anderen Medien.

Er beschreibt, dass MUD eine Möglichkeit sein kann, um mit Hilfe des Internets nun selbst als Akteur in die simulatorische Logik des Fernsehens einsteigen zu können. Diese Nutzerinnen und Nutzer trennen reale Welt und virtuelle Welt stärker als solche, die den Fernseher als mediale Kontaktstelle zur realen Welt erfahren. Sie werden versuchen, innerhalb der virtuellen Kontexte die fiktionalen Identitäten so zu wählen, dass deren Erfahrungen in das wirkliche Leben einfliessen können und für die reale Identität genutzt werden kann. Nach Sandbothe besteht eine sinnvolle Entwicklung des Einsatzes des Internets darin, dass die Menschen auf eine vernünftige Art die Virtualität und Realität miteinander zu verflechten lernen.

27 % der Internetnutzer chatten häufig oder gelegentlich (Sandbothe). Chatten kommt der Form nach einem Gespräch näher als ein schriftlicher Austausch. Im Chat kann man virtuelle Identitäten entwickeln, die mit der realen Identität in einer produktiven Beziehung stehen, und Online-Freundschaften pflegen, die sich durch reale Treffen in reale Gemeinschaften überführen lassen.

«Um die pluralen Identitäten, die wir im Internet entwickeln, sinnvoll zu unserer Offline-Existenz in Beziehung zu setzen, müssen wir lernen, die virtuellen Aspekte im Realen und die realen Aspekte im Virtuellen zu durchschauen und anzuerkennen.» (Sandbothe). Hat man diese Übergängigkeit durchschaut, die das Reale mit dem Virtuellen verbindet, dann stehen sich reale und virtuelle Identität nicht mehr wie Sein und Schein, wie Ernst und Spiel, wie Wahrheit und Lüge gegenüber. Sie erscheinen dann vielmehr als zwei Arten der Identitätskonstruktion, die sich auf sinnvolle Weise verflechten lassen.

Solche Erfahrungen können nach Sandbothe sogar dazu führen, dass wir die Face-to-face-Kommunikation und deren Besonderheiten wieder vermehrt schätzen lernen und uns wieder bewusster auf Gesten und Blicke achten und diese dankbar nutzen, um «das was zwischen den Zeilen passiert» genauer erfassen zu können. Katharina Ernst (2001) betont auch, dass es wichtig ist, nicht in einer Ansicht über die Grenzenlosigkeit des Internets zu verlieren, sondern sich die Verschiebung der Grenzen bewusst zu machen.

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7. Fazit und Ausblick

7.1 Fazit

In diesem abschliessenden Kapitel wird nochmals auf einzelne Punkte eingegangen, die in der Arbeit einen entscheidenden Anteil einnehmen. Zusammenfassend werden die wichtigsten Erkenntnisse dargelegt, diskutiert und mit eigenen Gedanken ergänzt. Es folgen mögliche Zukunftsaussichten für Folgen der computerunterstützten Kommunikation.

7.1.1 Internet und Einsamkeit

Einsame haben sowieso weniger Kontakte als andere, dies ist nicht eine Folge des Internets und dessen Kommunikationsformen. Unter dem Motto : es wird nicht schlimmer, müsste man es sogar als positiven Punkt erachten, wenn sie statt fernsehen oder Computerspiele machen, chatten oder in Newsgroups oder MUD’s aktiv sind. Das Spiel mit Identitäten und Rollen, wie es in MUD’s ermöglicht wird, ist für die Spielenden zwar attraktiv, aber bedeutet offensichtlich nicht, dass reale Kontakte deswegen reduziert würden. Die Substitutionshypothese, welche besagt, dass Bekanntschaften im Netz als Kompensation für fehlende reale Kontakte dienen würden, bestätigte sich in der Studie von Döring (1995), sowie von Hentz und Müller (2000), nicht. Geselliges Verhalten schlägt sich innerhalb und ausserhalb des Netzes nieder.

Mit welchen Personen des persönlichen Netzwerkes via CMC Kontakte aufrecht erhalten werden, hängt auch von der technischen Ausstattung der betreffenden Personen ab.

7.1.2 Anonymität

Wer sich auf der Homepage falsch darstellt, gewinnt gar nichts. Jede und jeder muss wissen, wen er ansprechen will, also ist der Auftritt eigentlich eher zielkonform ausgerichtet als eine bewusste Verstellung der eigenen Identität. Bewusste Verstellung ist selten (Hentz & Müller, 2000). Oft ist es so, dass Netznutzerinnen und Netznutzer unbewusst gar nicht so andere Personen «erfinden». Nicks und gewählte Avatare geben oft Hinweise auf die wirkliche Person (Litter, 1999).

Das Hervorheben positiver Eigenschaften und bewusstes Verschweigen bestimmter Merkmale ist häufiger. Dies ist jedoch nicht schädlich, sondern durch entsprechende Rückmeldung können positive Eigenschaften sogar gestärkt und gefestigt werden (Litter, 1999). Da die Hemmschwelle geringer ist, weil keine physischen Merkmale direkt übermittelt werden, ist es eine Chance für gehemmte oder physisch eingeschränkte Personen, die ihr Selbstwertgefühl festigen können. Das Gefühl der Anerkennung, ein wichtiger Bestandteil der gelingenden Identitätsentwicklung, kann hier erfahren werden, auch gerade von Jugendlichen, die mit den körperlichen Veränderungen der Pubertät nur schwierig umgehen können.

Ähnliches gilt auch für Gender-switching in Newsgroups. Frauen, die hier einen männlichen Nickname wählen, können ihr Wissen ohne geschlechterbezogene Einflüsse einbringen und werden deshalb, gerade im wissenschaftlichen und technischen Bereichen ernster genommen. Sie nutzen also das bewusste Verstecken ihres Geschlechts, um ihr Wissen besser präsentieren zu können.

Männer die sich als Frauen ausgeben, erleben vielleicht das erste Mal, wie mühsam es sein kann, wenn unerwünschte anzügliche Bemerkungen gemacht werden.

MUD’s Spielerinnen und Spieler geben an, dass es sogar anstrengend sei, das andere Geschlecht zu verkörpern, da man sich nun sehr genau damit auseinandersetzen muss, wie man sich denn das andere Geschlecht überhaupt vorstellt und welchen Stereotypen man selber erlegen ist. Die Exploration, die in der Identitätsforschung zunehmend an Wichtigkeit gewinnt, kann hier geübt und ausgelebt werden.

Bekanntschaften die im Netz gemacht werden, laufen auch über andere Medien und führen oft zum Face-to-face-Treffen. Dies stützt die Kanalreduktions- und ähnliche Theorien in dem Sinne, dass reine Online-Kommunikation nicht ausreichend ist, sondern nur eine Ergänzung sein kann.

7.1.3 Flame / Flaming

Geschützt durch die vermeintliche Anonymität sinkt leider nicht nur die Hemmschwelle, sich anderen Menschen zu öffnen, sondern auch die Verantwortung dem gegenüber, was man schreibt und anderen rückmeldet. Flame (=Beleidigungen) und weit von Anstand entfernte Äusserungen kommen im Netz vor und können oft auch nicht bis zum Absender zurückverfolgt werden. Hier gilt es, gerade Jugendliche auf eine verantwortungsvolle Nutzung des Internets vorzubereiten. Dazu gehört auch das Abschätzen, wann es angebracht ist, Flames einfach zu übergehen und wann man sich wirklich wehren soll und muss. Allerdings soll das Verhältnis von beleidigenden und wertvollen Beiträgen im Internet richtig abgeschätzt und damit Flaming nicht überbewertet werden.

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7.2 Ausblick

7.2.1 Novitätscharakter

Davon ausgehend, dass der Aufschrei und das Hervorheben gefährlicher und unvorhersehbarer Folgen neuer Medien schon früher durch die ganze Gesellschaft lief (Buchdruck, Telefon, Fernseher) könnte ein Indiz dafür sein, dass, sobald der Novitätscharakter verschwunden ist, sich eine Gewöhnung ausbreitet und man sich in 10 Jahren amüsiert über die Aufruhr , welche die CMC ausgelöst haben. Nach Rammert (1990) haben alle neuen Medien das vorhandene Gleichgewicht gestört und musste zuerst wieder neu ausgerichtet werden.

Für die heutigen Jugendlichen wird es als Eltern wohl kein Problem mehr darstellen, wenn ihre Kinder vor dem Bildschirm sitzen und mit einer Person chatten, die vielleicht auf der anderen Seite der Welt sitzt und es nie ganz klar sein wird, ob das vorgegebene Geschlecht denn nun wirklich den Tatsachen entspricht.

7.2.2 CMC als Ergänzung oder Ersatz?

Wir werden vom Vorurteil wegkommen, dass der Computer reale Begegnungen ersetzten soll. Sondern werdem CMC als ergänzenden Teil unserer Kontaktmöglichkeiten in den Alltag integrieren. Die Antworten auf die offene Frage in einer Untersuchung (Kneer, 1994, zitiert in Döring, 1996), was die Nutzerinenn und Nutzer «im Netz gefunden haben» verweist jetzt schon auf eine pragmatische und nicht auf eine eskapistische Haltung hin.

7.2.3 Technische Ausstattung

Die technische Ausstattung wird in den Industrieländern soweit fortschreiten, dass lediglich noch wirklich sozial benachteiligte nur eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten via Internet haben; Schulen werden vernetzt sein. Die Schule soll im Sinne der Chancengleichheit egalisierend wirken und allen Jugendlichen die notwendigen Erfahrungen mit CMC ermöglichen. Denn wer nicht computerunterstützt kommunizieren kann, wird benachteiligt sein.

7.2.4 Veränderung der sozialen Netzwerke durch CMC

Grossfamilien werden immer seltener. Beziehungen wurden funktional spezifischer, kurzlebiger und geografisch breiter gestreut. Durch die Verstädterung wird es einfacher, Menschen zu finden, die die gleichen Vorlieben haben. Dies wird auch vom Internet unterstützt. Der Nahbereich der sozialen Kontakte bleibt sich eher gleich, doch wird eine Ausweitung ermöglicht. Dieser Fernbereich unterliegt jedoch einer grösseren Fluktuation (Gräf & Krajewski, 1997). Die Autoren postulieren, dass bei der Beobachtung dieser Veränderungen auch das Natel einzubeziehen sei.

7.2.5 Internetsucht

Es kann nicht verheimlicht werden, dass ungefähr 2% der Nutzerinnen und Nutzer Suchtmerkmale zeigen. Durch eine gute Medienkompetenz soll in der Ausbildung und bereits bei Kindern und Jugendlichen ein guter Umgang mit den neuen Medien eingeübt werden, um diese Gefahr möglichst klein zu halten. «Ein gesunder Mensch wird durch das Internet nicht krank». Diese Überschrift aus «Psychologie heute» (2002) macht einmal mehr deutlich, dass es für problematisches Verhalten mehr braucht als ausschliesslich das neue Medium.

7.2.6 Flexibles Identitätskonzept und Identitätsentwicklung

Unsere Gesellschaft braucht heute Leute mit einem flexiblen adaptiven Bild der Identität. Wer starr an seinen Einsichten und Werthaltungen festhält, ist nicht angepasst an eine Zeit, deren Entwicklungen so rasch geschehen. Dies ist nicht nur eine Folge des Computers sondern eine Entwicklung, die sich schon vorher abzuzeichnen begonnen hat. Die Identitätsentwicklung ist nach den neueren Modellen also ein Vorgang, der lebenslang andauert. Gleichwohl liegt ein entscheidender Teil im Jugendalter. Die jungen Menschen wollen sich hier von der Erwachsenengeneration abgrenzen und fragen sich erstmals bewusst, was sie sind und was sie sein wollen.

Das Übungsfeld, welches das Internet in diesem Sinne bietet, ist riesig und vielfältig und trägt damit entscheidend zur Identitätsentwicklung bei. Neue soziale Kontakte werden vereinfacht und über grosse Distanzen möglich, der Zugang zu Information ist enorm. Durch die Teilanonymität bietet CMC gerade Jugendlichen, die mit ihrer physischen Veränderung noch nicht so zurecht kommen, Chancen, körperliche Merkmale in der Interaktion mit anderen auszuklammern. Wenn man sein Gegenüber nicht kennt, gibt man am ehesten ehrlich preis, was man wirklich denkt und fühlt. Die niedrige Zugansschwelle ermöglicht es Jugendlichen, ohne Angst, sich zu blamieren, Gefühle zu offenbaren. Auch der spielerische Umgang mit Gender-Switching oder dem Wählen eines Avatares bietet gerade Jugendlichen einen Zugang, Rollen auszuprobieren, wie es in der realen Welt nicht möglich ist.

Neue Zugänge erlauben ein Abdriften in eine virtuelle Welt, die bis anhin nicht existiert hatte. Die damit heraufbeschworenen Gefahren kommen aber mehrheitlich von Technikpessimisten, richten sich häufig nach Technikvisionen und nicht Alltagsverhalten und sind empirisch nicht gesichert. Eine eher vorstellbare Zukunftsvision ist also nicht der kontakgestörte Einsame vor seinem Bildschirm sondern eher der switchende, flexible Mensch, der schon bald gar nicht mehr verstehen kann, warum das neue Medium solche Wellen geworfen hat. Der unglaublich rasche Wechsel von einer Identität zur anderen ist sicher als Herausforderung zu sehen und deren Komplexität darf meines Erachtens nicht unterschätzt werden. Bereits heute kann ja beobachtet werden, wie reizarme Umgebungen zur Erholung vermehrt gewünscht werden, um damit ein wenig von der Alltagshektik zu kompensieren.

Das Internet bietet auch zur Identitätsentwicklung viele positive Möglichkeiten, die empirischen Daten lassen jedoch zur Zeit noch keine abschliessenden Aussagen zu. Wichtig bleibt, die Folgen weiterhin zu beobachten und dabei dennoch zu unterscheiden, was durch CMC nur vermehrt in den Blickwinkel gelangt und was tatsächlich als Folge computervermittelter Kommunikation erachtet werden kann.

7.2.7 Bedeutung für Medienpädagogik und Medienethik

Armbrust (2001) verweist auf die Wichtigkeit der Medienethik, die im Umgang mit dem Internet ein Bestandteil in der Ausbildung der Jugendlichen sein muss. Jugendliche wollen selbst entdecken, Möglichkeit bietet das Internet dazu viele. Doch auch hier erfolgt eine Hierarchiebildung, je nachdem, ob die Jugendlichen auch zu Hause zugang zum Internet haben, wie ihre Englischkenntnisse sind, oder ob sie sogar programmieren können.

Empirisch ist noch weitgehend unklar, inwieweit der experimentelle Umgang mit der eigenen Identität im Internet tatsächlich auch einen Einfluss hat auf das reale Leben. Wird der soziale Umgang verbessert oder durch die Möglichkeit des sich Verstellens oder jederzeit Ausschalten könnens noch problematischer und unmöglicher?

Als unabdingbar betrachtet Armbrust (2001) normative Selbstregulationen, welche die kommunikativen Handlungen der Mitglieder solcher virtuellen Gemeinschaften sanktionieren und die Grenzen und Eigenschaften dieser kleinen sozialen Systeme definieren. Verantwortung zu übernehmen wird in einer teilanonymen Umgebung noch viel wichtiger und erfordert von den Jugendlichen schon bald eine hohe soziale Kompetenz. Damit wird deutlich, dass es nicht nur ein Herumspielen ist, was im Internet geschieht, sondern auch hier Menschen involviert sind, für die die gleichen Rechte gelten müssen, wie für den umhertollenden Jugendlichen, der gerade unter drei verschiedenen Namen in einem MUD ein Haus baut, im Chat eine (angeblich) 50jährige Frau mit Komplimenten überschüttet und in der Newsgroup, in der er sich als Doktorand ausgibt, einen abgeschriebenen Text postet.

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7.3 Glossar

Das Glossar wird bewusst kurz gehalten, da es nicht sinnvoll erscheint, wenn immer wieder die gleichen Erklärungen auftauchen, die einigen Leserinnen und Lesern schon längst geläufig sind.

Angefügt sind jedoch Internetseiten, auf welchen sich die Erklärungen der wichtigsten Begriffe im Zusammenhang mit CMC finden lassen und nach Belieben zusätzlich genutzt werden können.

Die Erläuterungen basieren auf dem Lexikon für Informatik (http://www.networds.de/n2.html oder http://www20.wissen.de/xt/)

Avatar

Bezeichnung für die häufig dreidimensionale Darstellung von Personen, vorzugsweise in grafischen Chats. Ursprünglich sind Avatare im Hinduismus Verkörperungen eines Gottes auf Erden.

Chat = plaudern

Simultane Diskussion im IRC, im World Wide Web oder in Online-Diensten. In Echtzeit (realtime) werden dabei über die Tastatur Nachrichten ausgetauscht. Einige Chats finden regelmässig statt, andere nur zu bestimmten Anlässen und Themen. Diese Art miteinander zu plaudern nennt man «chatten». (http://www.networds.de/n2.html)

Flame / Flaming = Flamme

Bezeichnung für eine Beleidigung und/oder einen persönlichen Angriff eines Diskussionspartners im Usenet, beim Chat oder in einer E-Mail-Korrespondenz. Die Palette reicht von Albereien bis hin zu schwerwiegenden Beleidigungen und widerspricht in jedem Fall dem Internet-Verhaltenskodex

IRC = Internet Relay Chat

Internet-Dienstart, die es den Nutzerinnen und Nutzern ermöglicht, über alle Grenzen hinweg über die Computertastatur in Echtzeit miteinander zu «chatten». IRC-Server, von denen einige über 2000 Kanäle anbieten, sind weltweit auf verschiedene Netze verteilt.

Mailinglist = Postliste

Per E-Mail ausgetauschte Liste mit Diskussionsbeiträgen zu einem bestimmten Thema. Nach Anmeldung bei dem auf der jeweiligen Liste genannten «list server» erhält man automatisch eine Kopie der laufenden E-Mail-Korrespondenz zu dem gewünschten Thema in den eigenen Briefkasten

MUD = Multi User Dungeon, «(dunkles) Gewölbe für viele/mehrere User»

Textbasiertes Online-Rollen- und Abenteuerspiel, an dem mehrere Spieler teilnehmen können.

Newsgroup

Eine Art öffentliches schwarzes Brett zum Nachrichtenaustausch - ein von einem Thema bestimmter Bereich im Usenet, bestehend aus Artikeln, die von den Teilnehmern verfasst wurden. Die Anzahl dieser Art virtueller Diskussionsgruppen ist enorm.

Nick, Nickname = Spitzname

Pseudonym, das sich der Internet-User beim Chat oder zur Ansprache im Internet gibt.

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8. Literatur

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  Last update: 01.02.2015
 

Contact:

  Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut

der Universität Zürich

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