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Demokratie oder
Effizienz? Die kommunale Verwaltung im Spannungsfeld widersprüchlicher Zielorientierungen
Prof. Dr. Hans Geser
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1. Legitimation | 2. Leistung | |
a)
institutionell/ organisatorisch |
1.a
"Rechtlichkeit"
Konsistenz
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2.a
"Effizienz"
Sparsamkeit
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b)
individuell/ plebiszitär |
1.b
"Demokratie"
Partizipation
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2.b
"Flexibilität"
"Bürgernähe"
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Zweitens werden an die
öffentlichen Gemeindeorgane - insbesondere auf operativer Ebene - immer
höhere Leistungserwartungen (2) gestellt.
Zum einen bedeutet dies, dass sie ähnlich wie private
Wirtschaftsunternehmungen rationell arbeiten müssen (2a), indem sie
dafür besorgt sind, dass materielle und personelle Mittel effizient
eingesetzt werden und die anfallenden Aufgaben speditiv erledigt werden. Zum zweiten folgt daraus die
Forderung, dass die Behörden und Verwaltungsorgane "bürgernah"
operieren, indem sie auf die individuellen Bedürfnisse der verschiedenen
"Klienten" Rücksicht nehmen und in jedem Einzelfall eine
massgeschneiderte optimale Vorgehensweise und Lösung finden. Daraus
entstehen ähnliche Forderungen nach Flexibilität und nach interaktiver
Offenheit, wie sie auch für moderne kundenorientierte
Wirtschaftsbetriebe charakteristisch sind.
Da jede dieser Orientierungen an die Strukturen und Verhaltensweisen der
politisch-administrativen Organisation und der individuellen
Rollenträger höchst unterschiedliche Anforderungen stellt, ergeben sich
sechs logisch mögliche Konfliktfronten, für die sich alle sehr leicht
Illustrationsbeispiele finden lassen.
1. Rechtlichkeit vs. demokratische Partizipation (1a vs. 1b)
Mit wachsender Regelungsdichte auf Kantons- und Bundesebene hat sich das Risiko erhöht, dass irgendwelche demokratisch getroffene kommunale Entscheidungen mit dem überlokalen Recht unvereinbar sind. Gleichzeitig führt der demokratische Legitimationsdruck dazu, dass solche Entscheidungen nach wie vor - oder sogar vermehrt - von Bürgern ohne juristische Kompetenz beeinflusst werden.
"Im September 1990 musste der Luzerner Regierungsrat eine den elementarsten Grundrechten widersprechende Entscheidung der Einwohner von Hochdorf kassieren, in der ein generelles Verbot jeglicher Unterschriftensammlungen auf Gemeindegebiet statuiert werden sollte. Der hier zutage tretende Mangel an Rechtsbewusstsein wirkt umso bedrückender, als dieser Entscheid - der auch ein Verbot von "Propaganda" jeglicher Art beinhaltete - mit der grossen Mehrheit von 1'251 gegen 519 Stimmen gutgeheissen wurde. "[1]
Beim Umgang mit Asylbewerbern zeigt sich besonders häufig, dass dieselben "Problemfälle" von der entfernten Bundesverwaltung und der kommunalen Bevölkerung aus höchst unterschiedlichen Blickwinkeln beurteilt werden. Während die überlokalen Bürokratien "ohne Ansehen der Person" streng regelorientiert entscheiden und eine fristgerechte Ausschaffung abgewiesener Flüchtlinge anstreben, lassen sich die lokalen Bürger und Behörden eher von ihren persönlichen Eindrücken und emotional geprägten informellen Beziehungen zu den Asylsuchenden leiten. So hat beispielsweise die Gemeinde Buttwil monatelang darum gekämpft, die Ausschaffung einer von der Bevölkerung mit Sympathie aufgenommenen Asylantenfamilie zu verhindern.
"Im Dorf hat man die Familie mit ihrem sechsjährigen Sohn Kastriot und den zweijährigen Zwillingsschwestern Blerina und Blerta mittlerweile liebgewonnen. Der Sohn geht seit einigen Wochen in die Schule und spricht längst perfekt Schweizerdeutsch, die beiden Töchterchen spielen mit den Nachbarskindern. Der Vater hat sich, obwohl vom Gesetz zum Nichtstun verurteilt, in der Gemeinde immer wieder nützlich gemacht. In einem Bauunternehmen im Dorf wäre auch ein Arbeitsplatz für ihn da. Und eine Familie im Dorf wäre sogar bereit, die Berishas privat bei sich aufzunehmen. Wenn sie nur bleiben könnten." [2]
Hier zeigt sich, dass die Durchsetzung überlokalen Rechts häufig keineswegs nur an der juristischen Inkompetenz der kommunalen Vollzugsorgane scheitert, sondern daran, dass sich die demokratische öffentliche Meinungsbildung viel stärker als auf Kantons- und Bundesebene an informellen Beziehungen und an partikulär-situativen Gegebenheiten orientiert.
2. Effizienz vs. Flexibilität (2a vs. 2b)
Während die Bürger als Steuerzahler an einer möglichst rationell arbeitende Verwaltung interessiert sind, die durch Routinisierung ihrer Verfahren die Kosten-Nutzen-Verhältnisse optimiert, so legen sie als Leistungsempfänger umgekehrt grössten Wert darauf, dass gerade ihre persönlichen Bedürfnisse maximal berücksichtigt werden und gerade ihre partikulären Problemfälle eine möglichst differenzierte und individuelle (d.h. aufwendige) Behandlung erfahren. Daraus wird verständlich, warum bisher auch rein "leistungsorientierte" Projekte der Verwaltungsreform bisher häufig zu keinen klaren Ergebnissen führten: weil eben der Begriff "Leistung" selber zwei völlig widersprüchliche Bedeutungsinhalte in sich vereinigt. Vor allem wird begreiflich, warum unter dem Titel "Rationalisierung" segelnde Projekte zur Gebietsreform keine Realisierungschancen haben: weil es unter dem konkurrierenden (und de facto gar obenauf schwimmenden) Gesichtspunkt der "Bürgernähe" angebracht erscheint, die hergebrachte kleinräumige Gemeindestruktur (trotz ihrer offensichtlichen "Ineffizienzen") unverändert zu belassen.
3. Demokratie vs. Effizienz (1b vs. 2a)
Technokratische, an Modellen der Privatwirtschaft orientierte Projekte der Verwaltungsreform hängen insofern "schief in der gegenwärtigen Landschaft", als sie den simultan zunehmenden neuen Bedürfnissen nach "direkter Bürgerpartizipation" keine Rechnung tragen. Beispielsweise werden Bemühungen um eine "schlankere Behördenorganisation" neuerdings durch Bestrebungen neutralisiert, die Zahl der Positionen durch "job sharing" zu vergrössern, um das weibliche Geschlecht im Behörden- und Verwaltungsbereich besser zum Zuge kommen zu lassen. Die etwa in Winterthur (ZH) sowie einigen Luzerner Gemeinden eingebrachten Anträge zur Verdoppelung der Exekutivmandate dürften allerdings kaum zukunftsweisend sein, weil die Führungs- und Koordinationstätigkeiten nicht nur proportional, sondern exponentiell zur Grösse eines Behördegremiums anzuwachsen pflegen. [3]
Generell ist heute vielleicht weniger als zu irgendeiner früheren Zeitepoche möglich, allein unter Effizienzgesichtspunkten beispielsweise über die Einführung eines Gemeindeparlaments, die Kompetenzstellung des Gemeindepräsidenten, oder die Aufgabenverteilung zwischen Milizgremien und der Berufsverwaltung zu diskutieren, weil vorrangig die Auswirkungen solcher Massnahmen auf die demokratischen Partizipationschancen im Raume stehen. Ganz allgemein steht hinter allen effizient orientierten, mit dem Blick auf die Privatwirtschaft vorgenommenen Reformen die vereinfachte Vorstellung, dass sich die Tätigkeit der öffentlichen Organe säuberlich in zwei Bereiche trennen lasse:
in eine Sphäre der "Politik", die ausschliesslich über das "Was" entscheidet und deshalb den Spielkräften der Parteien, Interessengruppen und Bürgerinitiativen unterliege;
in den Bereich der "Verwaltung", die sich mit dem "Wie" der konkreten Ausführung beschäftigt und einer rein technokratisch-betriebsökonomischen Gestaltung und Führung zugänglich sei.
Unberücksichtigt bleibt dabei, dass
selbst konkreteste Verwaltungsmassnahmen (wie z.B. die Bepflanzungsweise von Strassenrändern oder die Gestaltungsweise von Wohnstrassen) unversehens zu umstrittenen politischen Fragen werden können;
auch das unpolitische öffentliche Verwaltungshandeln mannigfachen ethischen Normierungen (Bewahrung des Friedens, Gleichbehandlung, Gerechtigkeit, Schutz der Schwachen usw.) unterliegt, die in der Privatwirtschaft keine Parallele haben. [4]
Ein krasses Beispiel dafür ist der Umgang mit Drogensüchtigen, wo selbst konkreteste Vollzugsmassnahmen (wie z.B. die Aufstellung von Spritzenautomaten oder die Verhaltensweisen im "Fixerstübli") dem seit Jahren tobenden politischen Meinungsstreit unterliegen, weil es auf den überlokalen Ebenen nie gelungen ist, sich auf konsensuale Verhaltensregeln und Verfahrensweisen zu verständigen. Der Fall der Drogenpolitik macht - ex negativo - besonders deutlich, dass eine betriebsökonomische Durchrationalisierung des Verwaltungshandelns nur gelingen kann, wenn sich die Vollzugsinstanzen auf präzis formulierte und widerspruchsfreie Zielvorgaben und Verfahrensgrundsätze abstützen können, die dank ihrer gesellschaftlichen Legitimiertheit die Gewähr dafür bieten, dass nicht in jedem einzelnen Anwendungsfall erneut mit politisch motivierten Interventionen gerechnet werden muss.
4. Demokratie vs. Flexibilität (1b vs. 2b)
Mit dem zunehmenden Trend zu einer
flexibleren Fallbehandlung und einem eher "interaktiven" statt
"hoheitlichen" Vollzugsstil entsteht die Gefahr, dass den
administrativen Vollzugsorganen allzu viel "Ermessen" zuwächst und dass
die Kontrolle darüber, ob demokratisch gefasste Entscheidungen adäquat
umgesetzt werden, immer weniger gelingt. Wenn beispielsweise an der
Einwohnerversammlung die Schaffung eines durchgehenden
Seeuferwegs beschlossen wurde, widerspricht es demokratischen
Prinzipien, wenn nachher "aus Vernunftgründen" im Interesse
einzelner Seeanstösser abweichende Sondervereinbarungen
getroffen werden. Und wenn nach langwierigen
Diskussionen und Abstimmungen die kommunale Zonenordnung endlich
"steht", möchten die Stimmberechtigten Gewissheit haben, dass
der Gemeinderat von seinem Recht zu Ausnahmegenehmigungen nur
äusserst sparsam Gebrauch macht und dass z.B. fragwürdige "Abtauschgeschäfte"
von Landausnutzungsrechten möglichst unterbleiben.
Charakteristische Konflikte dieser
Art ergeben sich besonders häufig in der kommunalen
Wirtschaftspolitik, wo sich die Gemeinden manchmal zu politisch
höchst umstrittenen "Arrangements" genötigt sehen, um
zusätzliche Unternehmungen anzulocken oder bereits sesshafte
Firmen am Wegzug zu hindern. So stellte sich 1995 für die Stadt
Genf die Frage, ob sie dem Ansinnen der Nachrichtenagentur
Reuters stattgeben sollte, innerhalb der Landwirtschaftszone ihr
Informatikzentrum zu errichten - im Wissen, die damit
verbundenen 110 Arbeitsplätze andernfalls an Singapur zu
verlieren. Derartige Entscheidungsdilemmas
führen häufig - wie auch im vorliegenden Fall zu erbitterten
intrakommunalen Konflikten, bei denen sich konservative
"Wachstumsförderer" und linksgrüne "Wachstumsverhinderer"
gegenüberstehen. [5] Analoge Konflikte entzünden sich
in Fällen, wo eine Gemeinde ihr interaktives taktisches Geschick
dazu benutzt, um die Erstellung einer unerwünschten
Betriebsstätte (z.B. eine Müllverbrennungsanlage) auf ihrem
Territorium zu vermeiden - oder sich dafür honorieren zu lassen,
dass sie die Erstellung dennoch duldet. So hat das kleine Berner Dorf Rüti
bei Büren als "Risikoabgeltung" für den dortigen Sondermüllofen
ein "Schmerzensgeld" von jährlich bis zu Fr. 1,5 Mio.
ausgehandelt - d.h. einen Betrag, der ungefähr dem jährlichen
Steueraufkommen entspricht. [6]
5. "Rechtlichkeit" vs. "Flexibilität" (1a vs. 2b)
Häufiger als auf den überlokalen
Vollzugsebenen ergibt sich in der Gemeinde das Problem, dass
konsequente, kompromisslose Durchsetzungen des Rechts in konkreten
Einzelfällen nicht opportun erscheinen, einen unverhältnissmässigen
Einsatz von Mitteln nötig machen, informelle Normen moralischer
Gerechtigkeit verletzen oder zu unerwünschten, den lokalen Frieden
bedrohenden Nebenwirkungen führen. Dann kann es nötig sein, das Interesse an der Legalität mit
anderen (z. T. höherrangigen) Werten in Einklang zu bringen,
indem auf die Durchsetzung bestimmter formeller Normen
verzichtet wird, oder indem mit den betroffenen Bürgern
informelle Arrangements ausgehandelt werden, die sich am Rande
oder gar jenseits der Legalität bewegen.
So ist es heute im Falle von
Hausbesetzungen nicht mehr üblich, strikt die Strafbestimmungen
gegen "Hausfriedensbruch" oder "Sachbeschädigung" geltend zu
machen. Vielmehr sehen die
Gemeindebehörden ihre Aufgabe darin, im Dreiecksverhältnis "Besetzer",
"Eigentümer" und "öffentliche Hand" einvernehmliche Lösungen zu
erarbeiten, die den Interessen der Beteiligten und des
Gemeinwohls Rechnung tragen. So hat man in der Stadt Genf nach
erbitterten Auseinandersetzungen während der 80er Jahre einen
sog. "contract de confiance" entwickelt, in dem
mitberücksichtigt wird, dass den Hausbesetzern angesichts der
herrschenden Wohnungsnot, Spekulation und Rezession
verständliche Motive zuzubilligen seien.
"Das Modell stammt aus Basel und verpflichtet die Besetzer leerstehender Häuser, im Falle eines Abbruchs den Platz zu räumen. Dafür zahlen sie nur Nebenkosten und können ohne Schikanen oft jahrelang gratis wohnen bleiben." [7]
Generell haben "flexible" und "interaktive" Vollzugsprozesse den Nachteil, dass häufig eine Ungewissheit darüber entsteht, inwiefern sie sich "noch auf dem Boden des Rechts befinden." Genau dies aber ist problematisch, weil die von solchen Vorgehensweisen negativ betroffenen Bürger, Institutionen oder Nachbarsgemeinden leichter als früher den Rechtsweg beschreiten, um vor Rekurskommissionen oder Verwaltungsgerichten ihre Chancen "auszutesten". Darin widerspiegelt sich insbesondere die Erwartungshaltung der "neuen Mittelschichten", die auch im Umgang mit privatwirtschaftlichen Organisationen auf der Einhaltung formaler Regeln und Vertragsabmachungen insistieren, und im Falle von Unzufriedenheit relativ leicht bereit (und auch rein technisch gut dazu fähig) sind, Beschwerdebriefe einzusenden oder gar den "formellen Rechtsweg" zu beschreiten. Vor allem unter dem Einfluss dieser Schichten sind die Gemeindeverwaltungen genötigt, ihre Strukturen und administrativen Verfahrensweisen stärker zu formalisieren (vgl. z.B. Banfield/Wilson, 1965: 168; Gilbert 1972).
In Hinblick auf mögliche Beschwerden muss beispielsweise klar definiert sein, wer für welche Vorgänge die Verantwortung trägt; die Verfahrensweisen müssen klar explizierten, transparenten Regeln folgen, damit verschiedene Adressaten völlig gleich behandelt werden; und alles muss schriftlich aktenkundig sein, um sich im Bedarfsfall darauf abstützen zu können. Aus demselben Grund wird es auch wichtiger, erstinstanzliche Organe streng von übergeordneten Instanzen zu trennen, die sich erst im Falle einer Einsprache mit der Materie befassen. [8] Vor allem muss der Eindruck entstehen, dass bereits erstinstanzliche Entscheidungen mit hoher Kompetenz erarbeitet werden; denn ein gegenteiliger Eindruck könnte leicht dazu führen, dass alle Bürger ständig dagegen Einsprache erheben.
6. Rechtlichkeit vs. Effizienz (1a vs. 2a)
Bei vielen Entscheidungs- und
Vollzugstätigkeiten stehen die Gemeinden vor dem Dilemma, dass
ihnen gleichzeitig zugemutet wird:
a) einerseits immer mehr Sorgfalt
zu üben und eine immer grössere Zahl von Rechtsnormen und
Beurteilungsgesichtspunkten zu beachten;
b) andererseits möglichst kostengünstig effizient und speditiv
zu verfahren.
Häufig sind es gar dieselben überlokalen Instanzen (Bund oder Kanton), die sowohl bezüglich der Regelorientiertheit wie der Zweckorientiertheit des Verwaltungshandelns spürbare Verbesserungen fordern. Ein gutes Illustrationsbeispiel dafür ist die Baubewilligungspraxis, wo die Verfahren während der letzten 20 Jahre langwieriger und risikoreicher geworden sind, weil
die Regelungsdichte angewachsen ist;
mannigfaltigere Gesichtspunkte (ästhetische Gestaltung, Lärmimmissionen, Ortsbildschutz, Luftverunreinigungen usw.) beachtet werden müssen;
vermehrt Einsprachen und Rekurse erfolgen (immer häufiger auch von Umwelt- und Heimatschutzvereinigungen, die sich auf das Verbandsbeschwerderecht abstützen). [9]
Beispiel: Umweltschützer bekämpfen die "Straffung von Baubewilligungsverfahren" und votieren für möglichst elaborierte Rechtsmittel, weil diese für sie Chancen sind, missliebige Projekte zu blockieren.
Auf der anderen Seite üben Bund und Kantone im Zuge der "Deregulierung" einen immer stärkeren Druck aus, die Fristen des Verfahrens abzukürzen, um den ökonomischen Interessen der Bauherren entgegenzukommen. [10] Dadurch entsteht die Situation, dass sich die - personell ohnehin schwach dotierten - Gemeinden noch zusätzlich zur Unsorgfalt ermutigt sehen: mit der paradoxen Wirkung, dass noch häufiger mit Einsprachen gerechnet werden muss, die wiederum eine Verlängerung des Gesamtverfahrens zur Folge haben (vgl. Müller 1994:15).
Generell hat jede Zunahme der Verfahrenskomplexität zur Folge, dass die Qualifikationsunterschiede zwischen kleinsten, mittleren und grossen Gemeindeverwaltungen stärker ans Licht treten, und dass das rechtsstaatlich unbestrittene Grundprinzip, als antragstellender Bürger unabhängig vom Wohnort überall gleich behandelt zu werden, immer weniger gewährleistet werden kann. Die Konzeption des "New Public Management" läuft besondere Gefahr, mit dem zunehmenden Bedarf nach Regelhaftigkeit zu kollidieren, weil unterstellt wird, dass nur die Ziele, nicht aber die gewählten Methoden des Verwaltungshandelns Gegenstand politischer Normierung bilden. Dabei wird zu wenig bedacht, dass das Handeln der Verwaltung sich in einem zunehmend dichteren Netzwerk verpflichtender Gesetzesnormen von nationaler und immer mehr sogar supranationaler Geltung vollzieht. So wird den Verwaltungsstellen beispielsweise zugemutet, dass sie in ihrer Rekrutierungspolitik auf Regeln der "Frauenförderung" Rücksicht nehmen, bei öffentlichen Bauten strenge ökologische Auflagen beachten, ihre Fürsorge nach den Richtlinien der "Schweiz. Konferenz für öffentliche Fürsorge" (SKÖF) betreiben und in ihrer Ortsentwicklung die Mitsprache kantonaler Heimatschutzkommissionen akzeptieren.
All diese "Leitplanken" engen den Spielraum ein, der den unteren Instanzen für eine autonome Ausgestaltung ihrer Verfahrensweisen noch verbleibt. Wenn der moderne steuergeplagte Bürger von der Verwaltung einerseits eine effiziente Leistungserbringung fordert, so legt er andererseits auch steigenden Wert darauf, dass sie im striktesten Sinne regelgeleitet verfährt und damit die Gewähr bietet, dass gesamtgesellschaftlich anerkannte Normen selbst im kleinsten lokalen Raum zuverlässige Beachtung finden. Natürlich schmälert dies auch die Zustimmungsbasis für Privatisierungen, die immer zur Folge haben, dass die öffentliche Hand wesentliche Möglichkeiten aus der Hand gibt, auf die operative Ausgestaltung und Normeinbindung von Leistungserbringungen Einfluss zu nehmen.
Im Spannungsfeld zwischen Regel-
und Zweckorientierung geben die kommunalen Behörden
erwartungsgemäss häufig der letzteren den Vorzug, weil sie sich
- im Gegensatz zur Zeit des Ancien Regime - nicht mehr primär
als Kontroll- und Vollzugsorgane der kantonalen Obrigkeit,
sondern als Interessenwahrer ihrer Gemeindebevölkerung (bzw.
einzelner ihrer Bürger) verstehen. Dementsprechend neigen sie vor
allem in schwerwiegenden Problemlagen häufig dazu, den Spielraum
des rechtlich Erlaubten bis an die Grenzen auszuloten oder - sei
es absichtlich oder aus schierem Mangel an juristischer
Kompetenz - etwas zu überschreiten. So ist die Stadt Thun im
Interesse einer antizyklischen Arbeitsbeschaffungspolitik dazu
übergegangen, für grössere Bauprojekte rascher als für kleinere
Bauvorhaben die Baubewilligung zu erteilen. Dabei bewegt sie
sich aber wohl jenseits der Legalität, weil die Regel besteht,
dass Gesuche nach dem Datum ihres Eintreffens behandelt werden
sollen. [11] Noch problematischer ist die von
der Gemeinde Ascona (TI) an das örtliche Gewerbe ergangene
Empfehlung, "angesichts der hohen Kriminalitätsrate der
Ex-Jugoslawen" keine Arbeitsbewilligungsanträge für Personen aus
diesem Herkunftsland mehr zu stellen. [12] Der Gemeinderat von Kaufdorf (BE)
hat das Baubewilligungsverfahren zu einer widerrechtlichen
Einschränkung der Gewerbefreiheit missbraucht, indem er dem
antragstellenden Metzger verbot, seinen Schlachtraum in eine
Bäckerei umzufunktionieren. Die "Begründung" lautete, dadurch
würde der bereits ansässige Dorfbäcker konkurrenziert. [13]
Bundesrechtlich und
kantonsrechtlich umstritten ist auch die rabiate Gewohnheit
mancher Innerschweizer Gemeinden, die Namen säumiger
Steuerschuldner öffentlich zu publizieren, um Druck auf sie
auszuüben:
"In Sursee (LU) hat das Veröffentlichen von säumigen Steuerzahlern trotz Protesten Tradition. 1979 hat das Luzerner Obergericht die Veröffentlichung im Amtsblatt verboten. Daraufhin wurden in Sursee die Namen von Steuerzahlern, die Verlustscheine zeichneten, im 'Luzerner Landboten' publiziert. Nachdem sich die Redaktion weigerte, die Namen zu veröffentlichen, werden jetzt die Schuldner am öffentlichen Anschlagbrett bekanntgegeben." [14]
Dieses Verhalten kontrastiert aufs schärfste mit den neueren Prinzipien des Datenschutzes, die beispielsweise eine Gemeinde wie Hombrechtikon veranlassen, ausschliesslich Namen, Adressen und Berufe ihrer Einwohner an Dritte weiterzugeben. [15]
Auch wenn viele der momentan geübten Praktiken einer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung nicht standhalten würden, bleiben sie häufig dennoch längerfristig in Kraft, falls sich niemand zu einer formellen Klage aufzuraffen vermag. Angesichts der wachsenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit der an die Gemeindeorganisation herangetragenen Legitimations- und Leistungsansprüche wird vor allem verständlich, warum sowohl auf dem Feld umfassender territorialer Gebietsreformen wie auch im Bereich binnenkommunaler Reorganisation keine klaren Zielsetzungen und Zukunftskonzepte und keine konsistent vorangetriebenen Politiken erkennbar sind. Denn es gibt weder "die" ideale Gemeindegrösse noch "die" ideale Behörden- und Verwaltungsorganisation, die geeignet wäre, den vier zentralen Kriterien der Rechtlichkeit, Demokratie, Effizienz und Flexibilität gleichermassen optimal Rechnung zu tragen:
"Die Politik fordert schnelle Umsetzung neuer Programme, die Steuerzahler fordern Sparsamkeit, die Beschäftigten menschengerechte Arbeitsbedingungen, die Bürger hohe Dienstleistungsqualität - worunter aber wiederum nicht jeder das gleiche versteht." (Beyer/Brinckmann 1990:9).
Vielmehr läuft man bei jeder Annäherung an eine dieser Zielsetzungen Gefahr, sich umso weiter von den anderen zu entfernen - ein Grund dafür, warum nach vielen vollzogenen Reorganisationsschritten ambivalente Einstellungen - oder gar manifeste Bestrebungen zur Wiederherstellung des Status quo ante - vorherrschend bleiben.
Grundsätzlich muss man einsehen, warum diese dilemmatische Situation das Festhalten am herkömmlichen Status quo begünstigt: nicht weil dieser in irgendeiner Weise vernünftig wäre, sondern viel simpler: weil man seine Nachteile wenigstens gut kennt und mit seiner schieren Fortsetzung am wenigsten Anstrengungen (und politische Konfliktrisiken) verbunden sind.
Literatur
Banfield, E. C. / Wilson J. Q. City Politics. Harvard University
Press, Cambridge Mass. 1965
Beyer, Lothar / Brinckmann Hans: Kommunalverwaltung im Umbruch, Verwaltungsreform im Interesse von Bürgern und Beschäftigen (Bund-Verlag, Köln 1990)
Butz, Rolf „Modernes Management für die 'Firma' Gemeinde & Co. GmbH.” (Zürichsee-Zeitung, 8.10.1994: 17).
Gilbert, Claire W.: Community Power Structure. Propositional Inventory, Tests and Theory, University of Florida Press, Gainsville 1972.
Liniger, Beat: "Gesucht: 'typ. helvet. Kompromisslösung'" (Tages Anzeiger 13.1.1995:13).
„Traktandum“ diverse Ausgaben
Fussnoten
[1] vgl. "Traktandum" 10, 1991: Nr. 2: 19.
[2] "Ein Dorf wehrt sich für seine Asylbewerber", Tages Anzeiger 12.10.1994: 9.
[3] vgl. "Traktandum" 12, 1993: Nr. 4: 11.
[4] vgl. dazu : Rolf Butz, Gemeindeschreiber von Hombrechtikon (ZH) in: "Modernes Management für die 'Firma' Gemeinde & Co. GmbH." (Zürichsee-Zeitung, 8.10.1994: 17).
[5] vgl. "Jagt Opposition Reuters nach Singapur? (Berner Zeitung, 18.4.1995: 23.
[6] vgl. Liniger, Beat: "Gesucht: 'typ. helvet. Kompromisslösung'" (Tages Anzeiger 13.1.1995:13). In der Hoffnung auf derartige Abgeltungsbeträge hat beispielsweise auch die Gemeinde Leuggern (AG) sich der Nagra als Standortgemeinde für radioaktive Abfälle angeboten (vgl. "Traktandum" 11, 1992: Nr. 1:19). Während die Leuggener Bevölkerung dieses Vorgehen konsensual stützt, hat die Sondermüllfrage in Büren (BE) zu einer für die aktuelle politische Lage charakterischen politischen Konfliktkonstellation geführt, bei der sich "materialistisch" und "postmaterialistisch" argumentierende Streitparteien gegegenüberstehen.
[7] Büttner, Jean-Martin: Polizeichef im Häuserkampf (Tages Anzeiger, 17.1.1995: 11).
[8] So ist es z.B. denkbar, dass der Gemeindevorstand viele Zuständigkeiten an die einzelnen Ressortinhaber delegiert, um sich als Beschwerdeorgan freizuhalten.
[9] Natürlich sind es meist nicht reine Sympathien zum Recht, sondern handfeste Interessen, die viele Beschwerdeführer zum Insistieren auf strenger Regelhaftigkeit motivieren.
[10] vgl. "Traktandum" 12, 1993: Nr. 8: 17/18.
[11] vgl. "Traktandum" 11, 1992: Nr. 8: 13.
[12] vgl. "Traktandum" 12, 1993: Nr. 3: 10.
[13] vgl."Kaufdorfer sollen in Kaufdorf kein Biobrot kaufen" (Berner Zeitung 18.11.1994: 29).
[14] vgl. "Traktandum" 9. 1990: Nr. 4: 6.
[15] vgl. "Traktandum" 9, 1990: Nr. 4: 18.
aktualisiert am 18.08.2014