Schweizer Gemeindestudien

 

 

 

Demokratie oder Effizienz? 
Regeltreue oder Bürgernähe?

Die kommunale Verwaltung im Spannungsfeld widersprüchlicher Zielorientierungen

Prof. Dr. Hans Geser
Zürich 1997

hg@socio.ch      www.geser.net




 

pdf-Version

Zusammenfassung

Im Unterschied zu den Privatunternehmen müssen die öffentlichen Verwaltungen eine Vielzahl widersprüchlicher Ziele verfolgen. Man verlangt von ihnen, dass sie den demokratischen Volkswillen beachten, mit minimalem Kostenaufwand arbeiten, die Rechtsregeln strikte beachten und flexibel auf die Bedürfnisse der einzelnen Bürger eingehen können. Weil die Ansprüche der Öffentlichkeit in alle vier Richtungen gleichzeitig zunehmen, sehen sich die Verwaltungen immer mehr vor unvereinbare Leistungserwartungen gestellt. Entsprechend gehen die Meinungen immer mehr auseinander, wie eine “optimale” Verwaltung auszusehen habe. 

__________________________________________

 

Viele empirische Befunde und theoretische Argumentationen über den aktuellen kommunalen Wandel lassen sich in der Formel zusammenfassen, dass die Behörden und Verwaltungsorgane der Gemeinden im Fadenkreuz von vier Zielorientierungen operieren, die an Bedeutung gleichsinnig zunehmen und dadurch in ein immer grösseres Spannungsverhältnis zueinander treten.

Erstens haben die Entscheidungen und Vollzugstätigkeiten der Gemeindeorgane immer strengeren Legitimationsanforderungen (1) zu genügen. Zum einen müssen sie die Kriterien rechtlicher Legitimation (1a) erfüllen, indem sie im vollen Einklang mit den geltenden Gesetzen und Verordnungen stehen und keinen Anstrich von Inkonsistenz und Willkür erkennen lassen. Solche Forderungen wachsen beispielsweise deshalb an, weil die Bürger immer häufiger den Rechtsweg beschreiten und Kanton und Bund auf der regelkonformen Umsetzung ihrer Gesetze insistieren. Zum zweiten erhöhen sich die Anforderungen an die politische Legitimation (1b), insofern die Akzeptanz der Entscheidungen immer stärker davon abhängt, dass Betroffene daran mitwirken konnten und sie die Meinungen diverser Bevölkerungskreise widerspiegeln.

 

Typologie von Basiszielen des öffentlichen Handelns:

  1. Legitimation 2. Leistung
a) institutionell/
organisatorisch
1.a "Rechtlichkeit"

Konsistenz 
Regeltreue
juristische Richtigkeit
Gleichbehandlung

2.a "Effizienz"

Sparsamkeit
Wirtschaftlichkeit
Fachexpertise
Speditivität

b) individuell/
plebiszitär
1.b "Demokratie"

Partizipation
öffentliche Diskussion
Volksmeinung
Stimmmehrheiten

2.b "Flexibilität"

"Bürgernähe"
Informalität
Interaktiver Vollzugsstil
Persönliche Behandlung

Zweitens werden an die öffentlichen Gemeindeorgane - insbesondere auf operativer Ebene - immer höhere Leistungserwartungen (2) gestellt. Zum einen bedeutet dies, dass sie ähnlich wie private Wirtschaftsunternehmungen rationell arbeiten müssen (2a), indem sie dafür besorgt sind, dass materielle und personelle Mittel effizient eingesetzt werden und die anfallenden Aufgaben speditiv erledigt werden. Zum zweiten folgt daraus die Forderung, dass die Behörden und Verwaltungsorgane "bürgernah" operieren, indem sie auf die individuellen Bedürfnisse der verschiedenen "Klienten" Rücksicht nehmen und in jedem Einzelfall eine massgeschneiderte optimale Vorgehensweise und Lösung finden. Daraus entstehen ähnliche Forderungen nach Flexibilität und nach interaktiver Offenheit, wie sie auch für moderne kundenorientierte Wirtschaftsbetriebe charakteristisch sind.

Da jede dieser Orientierungen an die Strukturen und Verhaltensweisen der politisch-administrativen Organisation und der individuellen Rollenträger höchst unterschiedliche Anforderungen stellt, ergeben sich sechs logisch mögliche Konfliktfronten, für die sich alle sehr leicht Illustrationsbeispiele finden lassen.


1. Rechtlichkeit vs. demokratische Partizipation (1a vs. 1b)

Mit wachsender Regelungsdichte auf Kantons- und Bundesebene hat sich das Risiko erhöht, dass irgendwelche demokratisch getroffene kommunale Entscheidungen mit dem überlokalen Recht unvereinbar sind. Gleichzeitig führt der demokratische Legitimationsdruck dazu, dass solche Entscheidungen nach wie vor - oder sogar vermehrt - von Bürgern ohne juristische Kompetenz beeinflusst werden.

"Im September 1990 musste der Luzerner Regierungsrat eine den elementarsten Grundrechten widersprechende Entscheidung der Einwohner von Hochdorf kassieren, in der ein generelles Verbot jeglicher Unterschriftensammlungen auf Gemeindegebiet statuiert werden sollte. Der hier zutage tretende Mangel an Rechtsbewusstsein wirkt umso bedrückender, als dieser Entscheid - der auch ein Verbot von "Propaganda" jeglicher Art beinhaltete - mit der grossen Mehrheit von 1'251 gegen 519 Stimmen gutgeheissen wurde. "[1]

Beim Umgang mit Asylbewerbern zeigt sich besonders häufig, dass dieselben "Problemfälle" von der entfernten Bundesverwaltung und der kommunalen Bevölkerung aus höchst unterschiedlichen Blickwinkeln beurteilt werden. Während die überlokalen Bürokratien "ohne Ansehen der Person" streng regelorientiert entscheiden und eine fristgerechte Ausschaffung abgewiesener Flüchtlinge anstreben, lassen sich die lokalen Bürger und Behörden eher von ihren persönlichen Eindrücken und emotional geprägten informellen Beziehungen zu den Asylsuchenden leiten. So hat beispielsweise die Gemeinde Buttwil monatelang darum gekämpft, die Ausschaffung einer von der Bevölkerung mit Sympathie aufgenommenen Asylantenfamilie zu verhindern.

"Im Dorf hat man die Familie mit ihrem sechsjährigen Sohn Kastriot und den zweijährigen Zwillingsschwestern Blerina und Blerta mittlerweile liebgewonnen. Der Sohn geht seit einigen Wochen in die Schule und spricht längst perfekt Schweizerdeutsch, die beiden Töchterchen spielen mit den Nachbarskindern. Der Vater hat sich, obwohl vom Gesetz zum Nichtstun verurteilt, in der Gemeinde immer wieder nützlich gemacht. In einem Bauunternehmen im Dorf wäre auch ein Arbeitsplatz für ihn da. Und eine Familie im Dorf wäre sogar bereit, die Berishas privat bei sich aufzunehmen. Wenn sie nur bleiben könnten."  [2]

Hier zeigt sich, dass die Durchsetzung überlokalen Rechts häufig keineswegs nur an der juristischen Inkompetenz der kommunalen Vollzugsorgane scheitert, sondern daran, dass sich die demokratische öffentliche Meinungsbildung viel stärker als auf Kantons- und Bundesebene an informellen Beziehungen und an partikulär-situativen Gegebenheiten orientiert.

 

2. Effizienz vs. Flexibilität (2a vs. 2b)

Während die Bürger als Steuerzahler an einer möglichst rationell arbeitende Verwaltung interessiert sind, die durch Routinisierung ihrer Verfahren die Kosten-Nutzen-Verhältnisse optimiert, so legen sie als Leistungsempfänger umgekehrt grössten Wert darauf, dass gerade ihre persönlichen Bedürfnisse maximal berücksichtigt werden und gerade ihre partikulären Problemfälle eine möglichst differenzierte und individuelle (d.h. aufwendige) Behandlung erfahren. Daraus wird verständlich, warum bisher auch rein "leistungsorientierte" Projekte der Verwaltungsreform bisher häufig zu keinen klaren Ergebnissen führten: weil eben der Begriff "Leistung" selber zwei völlig widersprüchliche Bedeutungsinhalte in sich vereinigt. Vor allem wird begreiflich, warum unter dem Titel "Rationalisierung" segelnde Projekte zur Gebietsreform keine Realisierungschancen haben: weil es unter dem konkurrierenden (und de facto gar obenauf schwimmenden) Gesichtspunkt der "Bürgernähe" angebracht erscheint, die hergebrachte kleinräumige Gemeindestruktur (trotz ihrer offensichtlichen "Ineffizienzen") unverändert zu belassen.

 

3. Demokratie vs. Effizienz (1b vs. 2a)

Technokratische, an Modellen der Privatwirtschaft orientierte Projekte der Verwaltungsreform hängen insofern "schief in der gegenwärtigen Landschaft", als sie den simultan zunehmenden neuen Bedürfnissen nach "direkter Bürgerpartizipation" keine Rechnung tragen. Beispielsweise werden Bemühungen um eine "schlankere Behördenorganisation" neuerdings durch Bestrebungen neutralisiert, die Zahl der Positionen durch "job sharing" zu vergrössern, um das weibliche Geschlecht im Behörden- und Verwaltungsbereich besser zum Zuge kommen zu lassen. Die etwa in Winterthur (ZH) sowie einigen Luzerner Gemeinden eingebrachten Anträge zur Verdoppelung der Exekutivmandate dürften allerdings kaum zukunftsweisend sein, weil die Führungs- und Koordinationstätigkeiten nicht nur proportional, sondern exponentiell zur Grösse eines Behördegremiums anzuwachsen pflegen. [3]

Generell ist heute vielleicht weniger als zu irgendeiner früheren Zeitepoche möglich, allein unter Effizienzgesichtspunkten beispielsweise über die Einführung eines Gemeindeparlaments, die Kompetenzstellung des Gemeindepräsidenten, oder die Aufgabenverteilung zwischen Milizgremien und der Berufsverwaltung zu diskutieren, weil vorrangig die Auswirkungen solcher Massnahmen auf die demokratischen Partizipationschancen im Raume stehen. Ganz allgemein steht hinter allen effizient orientierten, mit dem Blick auf die Privatwirtschaft vorgenommenen Reformen die vereinfachte Vorstellung, dass sich die Tätigkeit der öffentlichen Organe säuberlich in zwei Bereiche trennen lasse:

  1. in eine Sphäre der "Politik", die ausschliesslich über das "Was" entscheidet und deshalb den Spielkräften der Parteien, Interessengruppen und Bürgerinitiativen unterliege;

  2. in den Bereich der "Verwaltung", die sich mit dem "Wie" der konkreten Ausführung beschäftigt und einer rein technokratisch-betriebsökonomischen Gestaltung und Führung zugänglich sei.

Unberücksichtigt bleibt dabei, dass

  • selbst konkreteste Verwaltungsmassnahmen (wie z.B. die Bepflanzungsweise von Strassenrändern oder die Gestaltungsweise von Wohnstrassen) unversehens zu umstrittenen politischen Fragen werden können;

  • auch das unpolitische öffentliche Verwaltungshandeln mannigfachen ethischen Normierungen (Bewahrung des Friedens, Gleichbehandlung, Gerechtigkeit, Schutz der Schwachen usw.) unterliegt, die in der Privatwirtschaft keine Parallele haben. [4]

Ein krasses Beispiel dafür ist der Umgang mit Drogensüchtigen, wo selbst konkreteste Vollzugsmassnahmen (wie z.B. die Aufstellung von Spritzenautomaten oder die Verhaltensweisen im "Fixerstübli") dem seit Jahren tobenden politischen Meinungsstreit unterliegen, weil es auf den überlokalen Ebenen nie gelungen ist, sich auf konsensuale Verhaltensregeln und Verfahrensweisen zu verständigen. Der Fall der Drogenpolitik macht - ex negativo - besonders deutlich, dass eine betriebsökonomische Durchrationalisierung des Verwaltungshandelns nur gelingen kann, wenn sich die Vollzugsinstanzen auf präzis formulierte und widerspruchsfreie Zielvorgaben und Verfahrensgrundsätze abstützen können, die dank ihrer gesellschaftlichen Legitimiertheit die Gewähr dafür bieten, dass nicht in jedem einzelnen Anwendungsfall erneut mit politisch motivierten Interventionen gerechnet werden muss. 

 

4. Demokratie vs. Flexibilität (1b vs. 2b)

Mit dem zunehmenden Trend zu einer flexibleren Fallbehandlung und einem eher "interaktiven" statt "hoheitlichen" Vollzugsstil entsteht die Gefahr, dass den administrativen Vollzugsorganen allzu viel "Ermessen" zuwächst und dass die Kontrolle darüber, ob demokratisch gefasste Entscheidungen adäquat umgesetzt werden, immer weniger gelingt. Wenn beispielsweise an der Einwohnerversammlung die Schaffung eines durchgehenden Seeuferwegs beschlossen wurde, widerspricht es demokratischen Prinzipien, wenn nachher "aus Vernunftgründen" im Interesse einzelner Seeanstösser abweichende Sondervereinbarungen getroffen werden.  Und wenn nach langwierigen Diskussionen und Abstimmungen die kommunale Zonenordnung endlich "steht", möchten die Stimmberechtigten Gewissheit haben, dass der Gemeinderat von seinem Recht zu Ausnahmegenehmigungen nur äusserst sparsam Gebrauch macht und dass z.B. fragwürdige "Abtauschgeschäfte" von Landausnutzungsrechten möglichst unterbleiben.
Charakteristische Konflikte dieser Art ergeben sich besonders häufig in der kommunalen Wirtschaftspolitik, wo sich die Gemeinden manchmal zu politisch höchst umstrittenen "Arrangements" genötigt sehen, um zusätzliche Unternehmungen anzulocken oder bereits sesshafte Firmen am Wegzug zu hindern. So stellte sich 1995 für die Stadt Genf die Frage, ob sie dem Ansinnen der Nachrichtenagentur Reuters stattgeben sollte, innerhalb der Landwirtschaftszone ihr Informatikzentrum zu errichten - im Wissen, die damit verbundenen 110 Arbeitsplätze andernfalls an Singapur zu verlieren. Derartige Entscheidungsdilemmas führen häufig - wie auch im vorliegenden Fall zu erbitterten intrakommunalen Konflikten, bei denen sich konservative "Wachstumsförderer" und linksgrüne "Wachstumsverhinderer" gegenüberstehen. [5]  Analoge Konflikte entzünden sich in Fällen, wo eine Gemeinde ihr interaktives taktisches Geschick dazu benutzt, um die Erstellung einer unerwünschten Betriebsstätte (z.B. eine Müllverbrennungsanlage) auf ihrem Territorium zu vermeiden - oder sich dafür honorieren zu lassen, dass sie die Erstellung dennoch duldet. So hat das kleine Berner Dorf Rüti bei Büren als "Risikoabgeltung" für den dortigen Sondermüllofen ein "Schmerzensgeld" von jährlich bis zu Fr. 1,5 Mio. ausgehandelt - d.h. einen Betrag, der ungefähr dem jährlichen Steueraufkommen entspricht. [6]  

 

5. "Rechtlichkeit" vs. "Flexibilität" (1a vs. 2b)

Häufiger als auf den überlokalen Vollzugsebenen ergibt sich in der Gemeinde das Problem, dass konsequente, kompromisslose Durchsetzungen des Rechts in konkreten Einzelfällen nicht opportun erscheinen, einen unverhältnissmässigen Einsatz von Mitteln nötig machen, informelle Normen moralischer Gerechtigkeit verletzen oder zu unerwünschten, den lokalen Frieden bedrohenden Nebenwirkungen führen. Dann kann es nötig sein, das Interesse an der Legalität mit anderen (z. T. höherrangigen) Werten in Einklang zu bringen, indem auf die Durchsetzung bestimmter formeller Normen verzichtet wird, oder indem mit den betroffenen Bürgern informelle Arrangements ausgehandelt werden, die sich am Rande oder gar jenseits der Legalität bewegen.
So ist es heute im Falle von Hausbesetzungen nicht mehr üblich, strikt die Strafbestimmungen gegen "Hausfriedensbruch" oder "Sachbeschädigung" geltend zu machen. Vielmehr sehen die Gemeindebehörden ihre Aufgabe darin, im Dreiecksverhältnis "Besetzer", "Eigentümer" und "öffentliche Hand" einvernehmliche Lösungen zu erarbeiten, die den Interessen der Beteiligten und des Gemeinwohls Rechnung tragen.  So hat man in der Stadt Genf nach erbitterten Auseinandersetzungen während der 80er Jahre einen sog. "contract de confiance" entwickelt, in dem mitberücksichtigt wird, dass den Hausbesetzern angesichts der herrschenden Wohnungsnot, Spekulation und Rezession verständliche Motive zuzubilligen seien.

"Das Modell stammt aus Basel und verpflichtet die Besetzer leerstehender Häuser, im Falle eines Abbruchs den Platz zu räumen. Dafür zahlen sie nur Nebenkosten und können ohne Schikanen oft jahrelang gratis wohnen bleiben." [7]

Generell haben "flexible" und "interaktive" Vollzugsprozesse den Nachteil, dass häufig eine Ungewissheit darüber entsteht, inwiefern sie sich "noch auf dem Boden des Rechts befinden." Genau dies aber ist problematisch, weil die von solchen Vorgehensweisen negativ betroffenen Bürger, Institutionen oder Nachbarsgemeinden leichter als früher den Rechtsweg beschreiten, um vor Rekurskommissionen oder Verwaltungsgerichten ihre Chancen "auszutesten". Darin widerspiegelt sich insbesondere die Erwartungshaltung der "neuen Mittelschichten", die auch im Umgang mit privatwirtschaftlichen Organisationen auf der Einhaltung formaler Regeln und Vertragsabmachungen insistieren, und im Falle von Unzufriedenheit relativ leicht bereit (und auch rein technisch gut dazu fähig) sind, Beschwerdebriefe einzusenden oder gar den "formellen Rechtsweg" zu beschreiten. Vor allem unter dem Einfluss dieser Schichten sind die Gemeindeverwaltungen genötigt, ihre Strukturen und administrativen Verfahrensweisen stärker zu formalisieren (vgl. z.B. Banfield/Wilson, 1965: 168; Gilbert 1972).

In Hinblick auf mögliche Beschwerden muss beispielsweise klar definiert sein, wer für welche Vorgänge die Verantwortung trägt; die Verfahrensweisen müssen klar explizierten, transparenten Regeln folgen, damit verschiedene Adressaten völlig gleich behandelt werden; und alles muss schriftlich aktenkundig sein, um sich im Bedarfsfall darauf abstützen zu können. Aus demselben Grund wird es auch wichtiger, erstinstanzliche Organe streng von übergeordneten Instanzen zu trennen, die sich erst im Falle einer Einsprache mit der Materie befassen. [8] Vor allem muss der Eindruck entstehen, dass bereits erstinstanzliche Entscheidungen mit hoher Kompetenz erarbeitet werden; denn ein gegenteiliger Eindruck könnte leicht dazu führen, dass alle Bürger ständig dagegen Einsprache erheben. 

 

6. Rechtlichkeit vs. Effizienz (1a vs. 2a)

Bei vielen Entscheidungs- und Vollzugstätigkeiten stehen die Gemeinden vor dem Dilemma, dass ihnen gleichzeitig zugemutet wird:
a) einerseits immer mehr Sorgfalt zu üben und eine immer grössere Zahl von Rechtsnormen und Beurteilungsgesichtspunkten zu beachten;
b) andererseits möglichst kostengünstig effizient und speditiv zu verfahren.

Häufig sind es gar dieselben überlokalen Instanzen (Bund oder Kanton), die sowohl bezüglich der Regelorientiertheit wie der Zweckorientiertheit des Verwaltungshandelns spürbare Verbesserungen fordern. Ein gutes Illustrationsbeispiel dafür ist die Baubewilligungspraxis, wo die Verfahren während der letzten 20 Jahre langwieriger und risikoreicher geworden sind, weil

  • die Regelungsdichte angewachsen ist;

  • mannigfaltigere Gesichtspunkte (ästhetische Gestaltung, Lärmimmissionen, Ortsbildschutz, Luftverunreinigungen usw.) beachtet werden müssen;

  • vermehrt Einsprachen und Rekurse erfolgen (immer häufiger auch von Umwelt- und Heimatschutzvereinigungen, die sich auf das Verbandsbeschwerderecht abstützen). [9]

Beispiel: Umweltschützer bekämpfen die "Straffung von Baubewilligungsverfahren" und votieren für möglichst elaborierte Rechtsmittel, weil diese für sie Chancen sind, missliebige Projekte zu blockieren.

Auf der anderen Seite üben Bund und Kantone im Zuge der "Deregulierung" einen immer stärkeren Druck aus, die Fristen des Verfahrens abzukürzen, um den ökonomischen Interessen der Bauherren entgegenzukommen. [10]  Dadurch entsteht die Situation, dass sich die - personell ohnehin schwach dotierten - Gemeinden noch zusätzlich zur Unsorgfalt ermutigt sehen: mit der paradoxen Wirkung, dass noch häufiger mit Einsprachen gerechnet werden muss, die wiederum eine Verlängerung des Gesamtverfahrens zur Folge haben (vgl. Müller 1994:15).

Generell hat jede Zunahme der Verfahrenskomplexität zur Folge, dass die Qualifikationsunterschiede zwischen kleinsten, mittleren und grossen Gemeindeverwaltungen stärker ans Licht treten, und dass das rechtsstaatlich unbestrittene Grundprinzip, als antragstellender Bürger unabhängig vom Wohnort überall gleich behandelt zu werden, immer weniger gewährleistet werden kann. Die Konzeption des "New Public Management" läuft besondere Gefahr, mit dem zunehmenden Bedarf nach Regelhaftigkeit zu kollidieren, weil unterstellt wird, dass nur die Ziele, nicht aber die gewählten Methoden des Verwaltungshandelns Gegenstand politischer Normierung bilden. Dabei wird zu wenig bedacht, dass das Handeln der Verwaltung sich in einem zunehmend dichteren Netzwerk verpflichtender Gesetzesnormen von nationaler und immer mehr sogar supranationaler Geltung vollzieht.  So wird den Verwaltungsstellen beispielsweise zugemutet, dass sie in ihrer Rekrutierungspolitik auf Regeln der "Frauenförderung" Rücksicht nehmen, bei öffentlichen Bauten strenge ökologische Auflagen beachten, ihre Fürsorge nach den Richtlinien der "Schweiz. Konferenz für öffentliche Fürsorge" (SKÖF) betreiben und in ihrer Ortsentwicklung die Mitsprache kantonaler Heimatschutzkommissionen akzeptieren.

All diese "Leitplanken" engen den Spielraum ein, der den unteren Instanzen für eine autonome Ausgestaltung ihrer Verfahrensweisen noch verbleibt. Wenn der moderne steuergeplagte Bürger von der Verwaltung einerseits eine effiziente Leistungserbringung fordert, so legt er andererseits auch steigenden Wert darauf, dass sie im striktesten Sinne regelgeleitet verfährt und damit die Gewähr bietet, dass gesamtgesellschaftlich anerkannte Normen selbst im kleinsten lokalen Raum zuverlässige Beachtung finden. Natürlich schmälert dies auch die Zustimmungsbasis für Privatisierungen, die immer zur Folge haben, dass die öffentliche Hand wesentliche Möglichkeiten aus der Hand gibt, auf die operative Ausgestaltung und Normeinbindung von Leistungserbringungen Einfluss zu nehmen.

Im Spannungsfeld zwischen Regel- und Zweckorientierung geben die kommunalen Behörden erwartungsgemäss häufig der letzteren den Vorzug, weil sie sich - im Gegensatz zur Zeit des Ancien Regime - nicht mehr primär als Kontroll- und Vollzugsorgane der kantonalen Obrigkeit, sondern als Interessenwahrer ihrer Gemeindebevölkerung (bzw. einzelner ihrer Bürger) verstehen. Dementsprechend neigen sie vor allem in schwerwiegenden Problemlagen häufig dazu, den Spielraum des rechtlich Erlaubten bis an die Grenzen auszuloten oder - sei es absichtlich oder aus schierem Mangel an juristischer Kompetenz - etwas zu überschreiten. So ist die Stadt Thun im Interesse einer antizyklischen Arbeitsbeschaffungspolitik dazu übergegangen, für grössere Bauprojekte rascher als für kleinere Bauvorhaben die Baubewilligung zu erteilen. Dabei bewegt sie sich aber wohl jenseits der Legalität, weil die Regel besteht, dass Gesuche nach dem Datum ihres Eintreffens behandelt werden sollen. [11]  Noch problematischer ist die von der Gemeinde Ascona (TI) an das örtliche Gewerbe ergangene Empfehlung, "angesichts der hohen Kriminalitätsrate der Ex-Jugoslawen" keine Arbeitsbewilligungsanträge für Personen aus diesem Herkunftsland mehr zu stellen. [12]  Der Gemeinderat von Kaufdorf (BE) hat das Baubewilligungsverfahren zu einer widerrechtlichen Einschränkung der Gewerbefreiheit missbraucht, indem er dem antragstellenden Metzger verbot, seinen Schlachtraum in eine Bäckerei umzufunktionieren. Die "Begründung" lautete, dadurch würde der bereits ansässige Dorfbäcker konkurrenziert. [13]
Bundesrechtlich und kantonsrechtlich umstritten ist auch die rabiate Gewohnheit mancher Innerschweizer Gemeinden, die Namen säumiger Steuerschuldner öffentlich zu publizieren, um Druck auf sie auszuüben:

"In Sursee (LU) hat das Veröffentlichen von säumigen Steuerzahlern trotz Protesten Tradition. 1979 hat das Luzerner Obergericht die Veröffentlichung im Amtsblatt verboten. Daraufhin wurden in Sursee die Namen von Steuerzahlern, die Verlustscheine zeichneten, im 'Luzerner Landboten' publiziert. Nachdem sich die Redaktion weigerte, die Namen zu veröffentlichen, werden jetzt die Schuldner am öffentlichen Anschlagbrett bekanntgegeben." [14]

Dieses Verhalten kontrastiert aufs schärfste mit den neueren Prinzipien des Datenschutzes, die beispielsweise eine Gemeinde wie Hombrechtikon veranlassen, ausschliesslich Namen, Adressen und Berufe ihrer Einwohner an Dritte weiterzugeben. [15]

Auch wenn viele der momentan geübten Praktiken einer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung nicht standhalten würden, bleiben sie häufig dennoch längerfristig in Kraft, falls sich niemand zu einer formellen Klage aufzuraffen vermag. Angesichts der wachsenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit der an die Gemeindeorganisation herangetragenen Legitimations- und Leistungsansprüche wird vor allem verständlich, warum sowohl auf dem Feld umfassender territorialer Gebietsreformen wie auch im Bereich binnenkommunaler Reorganisation keine klaren Zielsetzungen und Zukunftskonzepte und keine konsistent vorangetriebenen Politiken erkennbar sind.  Denn es gibt weder "die" ideale Gemeindegrösse noch "die" ideale Behörden- und Verwaltungsorganisation, die geeignet wäre, den vier zentralen Kriterien der Rechtlichkeit, Demokratie, Effizienz und Flexibilität gleichermassen optimal Rechnung zu tragen:

"Die Politik fordert schnelle Umsetzung neuer Programme, die Steuerzahler fordern Sparsamkeit, die Beschäftigten menschengerechte Arbeitsbedingungen, die Bürger hohe Dienstleistungsqualität - worunter aber wiederum nicht jeder das gleiche versteht." (Beyer/Brinckmann 1990:9).

Vielmehr läuft man bei jeder Annäherung an eine dieser Zielsetzungen Gefahr, sich umso weiter von den anderen zu entfernen - ein Grund dafür, warum nach vielen vollzogenen Reorganisationsschritten ambivalente Einstellungen - oder gar manifeste Bestrebungen zur Wiederherstellung des Status quo ante - vorherrschend bleiben.

Grundsätzlich muss man einsehen, warum diese dilemmatische Situation das Festhalten am herkömmlichen Status quo begünstigt: nicht weil dieser in irgendeiner Weise vernünftig wäre, sondern viel simpler: weil man seine Nachteile wenigstens gut kennt und mit seiner schieren Fortsetzung am wenigsten Anstrengungen (und politische Konfliktrisiken) verbunden sind.


Literatur

Banfield, E. C. / Wilson J. Q. City Politics. Harvard University Press, Cambridge Mass. 1965

Beyer, Lothar / Brinckmann Hans: Kommunalverwaltung im Umbruch, Verwaltungsreform im Interesse von Bürgern und Beschäftigen (Bund-Verlag, Köln 1990)

Butz, Rolf „Modernes Management für die 'Firma' Gemeinde & Co. GmbH.” (Zürichsee-Zeitung, 8.10.1994: 17).

Gilbert, Claire W.: Community Power Structure. Propositional Inventory, Tests and Theory, University of Florida Press, Gainsville 1972.

Liniger, Beat: "Gesucht: 'typ. helvet. Kompromisslösung'" (Tages Anzeiger 13.1.1995:13).

„Traktandum“ diverse Ausgaben


Fussnoten

[1] vgl. "Traktandum" 10, 1991: Nr. 2: 19.

[2] "Ein Dorf wehrt sich für seine Asylbewerber", Tages Anzeiger 12.10.1994: 9.

[3] vgl. "Traktandum" 12, 1993: Nr. 4: 11.

[4] vgl. dazu : Rolf Butz, Gemeindeschreiber von Hombrechtikon (ZH) in: "Modernes Management für die 'Firma' Gemeinde & Co. GmbH." (Zürichsee-Zeitung, 8.10.1994: 17).

[5] vgl. "Jagt Opposition Reuters nach Singapur? (Berner Zeitung, 18.4.1995: 23.

[6] vgl. Liniger, Beat: "Gesucht: 'typ. helvet. Kompromisslösung'" (Tages Anzeiger 13.1.1995:13). In der Hoffnung auf derartige Abgeltungsbeträge hat beispielsweise auch die Gemeinde Leuggern (AG) sich der Nagra als Standortgemeinde für radioaktive Abfälle angeboten (vgl. "Traktandum" 11, 1992: Nr. 1:19). Während die Leuggener Bevölkerung dieses Vorgehen konsensual stützt, hat die Sondermüllfrage in Büren (BE) zu einer für die aktuelle politische Lage charakterischen politischen Konfliktkonstellation geführt, bei der sich "materialistisch" und "postmaterialistisch" argumentierende Streitparteien gegegenüberstehen.

[7] Büttner, Jean-Martin: Polizeichef im Häuserkampf (Tages Anzeiger, 17.1.1995: 11).

[8] So ist es z.B. denkbar, dass der Gemeindevorstand viele Zuständigkeiten an die einzelnen Ressortinhaber delegiert, um sich als Beschwerdeorgan freizuhalten.

[9] Natürlich sind es meist nicht reine Sympathien zum Recht, sondern handfeste Interessen, die viele Beschwerdeführer zum Insistieren auf strenger Regelhaftigkeit motivieren.

[10] vgl. "Traktandum" 12, 1993: Nr. 8: 17/18.

[11] vgl. "Traktandum" 11, 1992: Nr. 8: 13.

[12] vgl. "Traktandum" 12, 1993: Nr. 3: 10.

[13] vgl."Kaufdorfer sollen in Kaufdorf kein Biobrot kaufen" (Berner Zeitung 18.11.1994: 29).

[14] vgl. "Traktandum" 9. 1990: Nr. 4: 6.

[15] vgl. "Traktandum" 9, 1990: Nr. 4: 18.

Home: Schweizer Gemeindestudien

Home: Sociology in Switzerland

 


 

  aktualisiert am 18.08.2014