Soziologisches Institut der Univ. Zürich Aktuelles Studium Personen Online Publications

Schweizer Gemeindestudien

Aktuelle Belastungsentwicklung in der öffentlichen Sozialhilfe

Jürgen Stremlow

April 1999

In der ersten Hälfte der neunziger Jahre hat sich in den Gemeinden der Deutschschweiz die Zahl der Sozialhilfebezüger/innen nahezu verdoppelt (Fluder/Stremlow 1999). Setzt sich dieses enorme Problemwachstum auch in jüngster Zeit fort?

 

Datenbasis

Die vorliegenden Auswertungen der neusten Entwicklungen im Bereich der öffentlichen Sozialhilfe basieren auf den bestehenden Statistiken zur Sozialhilfe der Kantone Zürich, Bern, St. Gallen und Aargau sowie auf den Ergebnissen aus der Studie von Fluder/Stremlow (1999). Obwohl der direkte Vergleich zwischen den erwähnten Kantonen nur beschränkt möglich ist, halten wir die folgenden Analysen der generellen Entwicklungstendenzen für vertretbar. Die Daten der untersuchten Kantone umfassen knapp 900 Gemeinden, das entspricht etwa der Hälfte aller Deutschschweizer Gemeinden und rund 60% der Bevölkerung.

 

Rückgang des Problemwachstums seit Mitte der neunziger Jahre

Während von 1990 bis 1994 die Sozialhilfequote um 84% zugenommen hat (vgl. Fluder/Stremlow 1999, 179), verkleinerte sich ihr Anstieg von 1994 bis 1997 auf gut die Hälfte, nämlich durchschnittlich 48% (vgl. Tabelle 1). Damit hat sich in den grössten Kantonen der Deutschschweiz ab Mitte der neunziger Jahre im Bereich der Sozialhilfe das Problemwachstum etwas abgeschwächt.

Tabelle 1: Belastungsentwicklung bei der wirtschaftlichen Sozialhilfe von 1994 - 1997

Belastungsentwicklung von 1994 bis 1997 Zunahme der Sozialhilfequote1 Zunahme der Nettokosten pro Einwohner/in

N

Sehr kleine Gemeinden mit 1 bis 1'000 Einwohnern/innen

58%

+231%

95/72

Kleine Gemeinden mit
1'000 bis 3'000 Einwohnern/innen

62%

+174%

166/160

Mittelgrosse Gemeinden mit 3'000 bis 10'000 Einwohnern/innen

32%

+48%

150/150

Grosse Gemeinden mit
10'000 bis 30‘000 Einwohnern/innen

27%

+4%

33/33

Grosse Städte mit über 30'000 Einwohnern/innen

27%

+10%

3/3

Total alle Gemeinden

48%

124%

447/418

1 Anzahl der Unterstützungsfälle je 1'000 Einwohner/innen

 

Grosse Entwicklungsunterschiede zwischen kleinen und grossen Gemeinden

Es sind aber nicht etwa die grossen Gemeinden und grösseren Städte, welche den grössten Belastungszuwachs zu verzeichnen haben, sondern – wie schon zu Beginn der neunziger Jahre - die kleinen und kleinsten Gemeinden. Sie haben seit 1994 eine doppelt so hohe Fallzunahme erfahren wie die grösseren Gemeinden. In den grossen Zentren und Agglomerationen der Kantone Zürich und St. Gallen stiegen die Unterstützungszahlen nach 1994 vergleichsweise gering an. Obwohl die grossen Zentren und Agglomerationen insgesamt am stärksten belastet sind, darf nicht übersehen werden, dass die Problemzunahme bei den unzähligen kleinen Gemeinden in den letzten Jahren mit Abstand am grössten war. Bei der Finanzbelastung sind diese Unterschiede in der Entwicklung noch wesentlich deutlicher sichtbar: die grossen Gemeinden und Städte konnten seit 1994 – trotz eines durchschnittlichen Anstiegs der Sozialhilfequote um gut 30% - die ihnen verbleibenden Kosten praktisch stabil halten (vgl. Tabelle 1). Bei den kleinen und kleinsten Gemeinden verdreifachten sich dagegen die Nettoausgaben für wirtschaftliche Sozialhilfe (Ausgaben für Unterstützungsleistungen nach Abzug von Rückzahlungen durch den Kanton, den Bund und andere Gemeinden sowie Rückerstattungen von Sozialversicherungen usw.) nahezu.

Figur 1: Entwicklungsunterschiede zwischen kleinen und grossen Gemeinden

 

Hinzu kommt - und das ist besonders auffallend - dass die Unterschiede bei der Entwicklung der Fallzahlen und der Nettokosten zwischen den kleinen Gemeinden mit Abstand am grössten sind (vgl. Figur 1). Insbesondere bei der Kostenentwicklung unterscheiden sich die kleinen Gemeinden enorm. Um diese sehr unterschiedlich verlaufenden Entwicklungen genauer fassen zu können, wurden die Veränderungen der Fallzahlen seit 1994 und die aktuelle Problembelastung detaillierter untersucht. Wir haben fünf unterschiedliche Muster der Belastungen und Belastungsentwicklung unterschieden (vgl. Tabelle 2):

Etwa 15% aller untersuchten Gemeinden sind 1997 einer überdurchschnittlichen Belastung mit Sozialhilfefällen ausgesetzt und verzeichneten seit 1994 fast eine Verdreifachung der Sozialhilfequote. Durch das Zusammentreffen dieser beiden Entwicklungen sind diese Gemeinden zur Zeit am stärksten belastet. Bei ihnen besteht ein hoher institutioneller Anpassungsdruck, d.h. diese Gemeinden waren in den letzten Jahren von allen Gemeinden am stärksten dazu gezwungen, ihre personellen Ressourcen im Bereich der wirtschaftlichen Sozialhilfe aufzustocken und auszubauen.

5% der Gemeinden müssen seit einigen Jahren überdurchschnittlich hohe Belastungen in der Sozialhilfe bewältigen. Bei ihnen hat sich der Problemdruck seit 1994 jedoch nicht verändert oder er hat sogar leicht abgenommen. Bei den Gemeinden dieser Gruppe hat sich die Hilfsnachfrage im Bereich der Sozialhilfe seit Mitte resp. Beginn der neunziger Jahre auf einem hohen Niveau stabilisiert. Sie sind seit einigen Jahren überdurchschnittlich hoch belastet und hatten im Unterschied zu den Gemeinden des ersten Entwicklungsmusters länger Zeit entsprechende institutionelle Anpassungen vorzunehmen.

Tabelle 2: Entwicklungsmuster der Belastungen im kommunalen Sozialwesen

Entwicklungsmuster Anteil an allen Gemeinden Sozialhilfequote 1997 Veränderung der Sozialhilfequote seit 1994

N

Belastung 1997 hoch,
hohes Problemwachstum seit 1994

15%

17

+187%

67

Belastung 1997 hoch,
kein Problemwachstum seit 1994

5%

13

-19%

23

Belastung 1997 tief,
hohes Problemwachstum seit 1994

7%

4

+137%

30

Belastung 1997 tief,
Problemrückgang seit 1994

20%

3

-43%

91

Durchschnittliche Belastung und mittleres Problemwachstum

53%

10

+40%

235

alle Gemeinden

100%

7

+21%

446

7% der Gemeinden waren 1997 von einem geringen Problemdruck betroffen, verzeichneten seit 1994 jedoch einen deutlichen Problemanstieg. Man kann davon ausgehen, dass diese Gemeinden vor Mitte der neunziger Jahre kaum von Belastungen und Problemen im Bereich der Sozialhilfe betroffen waren. Erwartungsgemäss handelt es sich bei den Gemeinden dieser Gruppe häufig um kleinste und kleine Gemeinden.

In 20% der Gemeinden fand seit 1994 ein Belastungsrückgang im Bereich der Sozialhilfe statt und diese Gemeinden weisen 1997 vergleichsweise tiefe Sozialhilfequoten auf. Insgesamt ist bei ihnen die geringste Problembetroffenheit festzustellen. Bei dieser Gruppe ist der Anteil kleinster und kleiner Gemeinden ebenfalls überdurchschnittlich hoch.

53% aller Gemeinden waren von einem durchschnittlichen Anstieg der Sozialhilfequote betroffen und sind 1997 auch durchschnittlich belastet. Die durchschnittliche Fallbelastung lag 1997 bei 7-10 Sozialhilfebezüger/innen auf 1'000 Einwohner/innen. Seit 1994 betrug die durchschnittliche jährlichen Fallzunahme der Gemeinden 5-10%.

Insgesamt zeichnen sich bei der Belastungsentwicklung in der öffentlichen Sozialhilfe deutliche Unterschiede ab: Kleine Gemeinden (bis 3‘000 Einwohner/innen) waren in den letzten Jahren durchschnittlich einem deutlich höheren Fall- und insbesondere Kostenanstieg ausgesetzt. Bei ihnen können zudem seit 1994 ausgesprochen unterschiedliche und heterogene Entwicklungen beobachtet werden. In grösseren Gemeinden und Städten fand dagegen eine insgesamt moderate, leicht unterdurchschnittliche Problementwicklung statt und stabilisierten sich die Kosten und der Problemdruck auf einem hohen Niveau einigermassen. Insgesamt liegt hier eine wesentlich konstantere und homogenere Entwicklung mit deutlich geringeren Unterschieden zwischen einzelnen vergleichbaren Gemeinden vor.

 

Ungünstige Rahmenbedingungen für die Bewältigung der Problemzunahme in kleinen Gemeinden

Bis zu Beginn der neunziger Jahre waren in erster Linie die grösseren Städte und Zentren von einem Problemdruck im Bereich der öffentlichen Sozialhilfe betroffen. Vor allem in Folge der Wirtschaftskrise verbreitete sich der Problemdruck in der Sozialhilfe seit Beginn der neunziger Jahre über die - bis dahin belasteten - Zentren hinaus bis hinein in kleine ländliche Gemeinden, die seit einigen Jahren mit einer markanten Belastungszunahme konfrontiert werden. Die Problemzunahme im Bereich der Sozialhilfe trifft jedoch in den kleinen Gemeinden auf eine Situation, die für die Bearbeitung des Problems relativ ungünstige Voraussetzungen mitbringt. Das Hauptproblem ist dabei die Grösse des Problemeinzugsgebietes dieser Gemeinden:

Die Problemeinzugsgebiete sind in der Regel zu klein, um professionelles Personal und entsprechende Fachstellen (Sozialdienste) aufzubauen.

Die Entwicklung der Belastungen und vor allem die Kostenentwicklung ist in diesen kleinen Einzugsgebieten im Vergleich zu grösseren Städten sehr unberechenbar und unabsehbar (vgl. Figur 1). Während die grossen Städte seit 1994 fast alle (85%) eine homogene Entwicklung (leichte Zunahme der Sozialhilfequote) verzeichneten, verliefen die Entwicklungen in den kleinen Gemeinden sehr unterschiedlich. Unter diesen Rahmenbedingungen ist es für diese Gemeinden fast unmöglich, eine angemessene Infrastruktur aufzubauen/zu planen und die entsprechenden Kosten für die Sozialhilfe zu budgetieren.

Neben dem Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur für die Bewältigung der Problemzunahme in der Sozialhilfe, müssen sich die zuständigen politischen Behörden zudem auf der sozialpolitischen Ebene mit dem höheren Problemaufkommen auseinandersetzten. Die Behörden sind durch die Problementwicklung aufgefordert, eine inhaltlich neue oder entsprechend angepasste Sozialpolitik zu festzulegen. Es gibt verschiedene Hinweise darauf, dass die Sozialbehörden diese Aufgabe sehr unterschiedlich wahrnehmen können: verschiedenste Gemeinden formulieren eine fortschrittliche, innovative Sozialpolitik und stellen entsprechende fachliche wie finanzielle Ressourcen zur Verfügung, andere Gemeinden vertreten eine restriktive Sozialpolitik. Diese gemeindespezifischen, sehr unterschiedlichen sozialpolitischen Strategien erschweren auf kantonaler Ebene die Kooperation und sozialpolitische Steuerung und Planung erheblich.

Im Unterschied zu den kleinen Gemeinden gelang es den grossen Städten und Zentren in jüngster Zeit das Kostenwachstum zu bremsen (vgl. Tabelle 1). Auch die Zunahme bei der Sozialhilfequote war in diesen Kontexten von 1994 bis 1997 vergleichsweise gering. Vermutlich haben die grossen Städte und Zentren unterschiedliche und auch erfolgreiche Strategien entwickelt, um den enormen Problemdruck im Bereiche der Sozialhilfe zu bewältigen.


 

Home: Schweizer Gemeindestudien

Home: Sociology in Switzerland


 

 

  aktualisiert am 21.10.2011