Georg Simmel: Schopenhauer und Nietzsche
ex: Vossische Zeitung. Königlich priviligierte Berlinische Zeitung
von Staats- und gelehrten Sachen, No. 102, Morgenausgabe vom 2. März 1906,
Feuilleton-Teil
(Berlin)
Alle höhere Kultur unserer
Art beruht paradoxerweise darauf, daß wir, in dem Maße ihres Wachstums,
zu unseren Zielen immer längere, immer umständlichere, an Stationen und
Biegungen reichere Wege begehen müssen.
Der Mensch ist, und zwar je
höher er kultiviert ist, um so mehr das indirekte Wesen.
Worauf der Wille des Tieres
und des unkultivierten Menschen geht, das erreichen sie, wenn überhaupt,
sozusagen in geradliniger Richtung, durch einfaches Zugreifen oder durch
eine geringe Zahl einfacher Mittel: der Aufbau von Mittel und Zweck ist
ohne weiteres übersehbar.
Die steigende
Vielgliedrigkeit und Komplizierung des höheren Lebens gestattet diese
bloße Dreiheit der Reihe: Wunsch - Mittel - Zweck nicht, sondern
gestaltet das Mittelglied zu einer Vielheit, in der das eigentlich
wirksame Mittel wieder durch ein Mittel hergestellt wird und dieses wieder
durch ein weiteres, bis jene unübersehbare Verschlingung, jener
Kettencharakter unserer praktischen Betätigungen erwächst, innerhalb
dessen der Mensch reifer Kulturen lebt.
Es genügt, an den
Nahrungserwerb zu denken, an die Einfachheit der Vornahmen, die in
primitiver Kultur zur Beschaffung des Brotes genügen - oft auch freilich
nicht genügen - und an die Verzweigung unzähliger Aktionen, Apparate,
Verkehrseinrichtungen,
vermöge deren der moderne Mensch erst das Brot auf seinem Tische findet.
Durch diese Langsichtigkeit
der Zweckreihen, die das Leben zu einem technischen Problem macht, wird es
uns tausendfach unmöglich, das Endglied jeder Reihe in jedem Augenblick
im Bewußtsein zu haben; teils, weil wir sie nicht überblicken können,
teils weil der je nächste, vorläufige Schritt die ganze Konzentration
unserer seelischen Energien beansprucht, bleibt das Bewußtsein an den
Mitteln hängen, die Endziele, von denen dieser ganzen Entwicklung Sinn
und Bedeutung kommt, rücken an unseren inneren Blickhorizont und
versinken schließlich hinter ihm.
Die Technik, d. h. die
Summe der Mittel für die kultivierte Existenz, wächst zum eigentlichen
Inhalt der Bemühungen und Wertungen auf, bis man auf allen Seiten von
kreuz und quer verschlungenen Reihen von Unternehmungen und Institutionen
umgeben ist, denen allenthalben die abschließenden, definitiv wertvollen
Ziele fehlen.
In dieser Lage der Kultur
erst taucht das Bedürfnis nach einem Endzweck des Lebens überhaupt auf.
Solange es von kurzen
Zweckreihen, jede für sich befriedigend, erfüllt ist, liegt ihm die
suchende Unruhe fern, die aus der Besinnung über das Gefangensein in
einem Netzwerk bloßer Mittel, Umwege, Vorläufigkeiten hervorgehen muß.
Erst wenn unzählige
Tätigkeiten und Interessen, auf die wir uns wie auf endgültige Werte
konzentrierten, uns nun doch in ihrem bloßen Mittelscharakter klar
werden, erwächst die angstvolle Frage nach dem Sinn und Zweck des Ganzen,
über die Einzelzwecke, die nicht mehr ein Letztes, sondern nur noch ein
Vorletztes und Vorvorletztes sind, steigt das Problem einer wirklich
vollendeten Einheit auf, in der alle jene unabgeschlossenen Strebungen
ihre Reife und Ruhe fänden, die die Seele aus aller Wirrnis der bloßen
Vorläufigkeiten erlöste.
Zum ersten Mal in der
Weltgeschichte, die wir kennen, scheint die Kultur der
griechisch-römischen Welt zu Beginn unserer Zeitrechnung die Seelen in
diese Verfassung getrieben zu haben.
Die Zwecksysteme des Lebens
waren so komplizierte geworden, die Reihen des Handelns und Denkens so
vielgliedrige, die Interessen und Bewegtheiten des Lebens so ausgedehnte
und von so vielen Bedingungen abhängige, daß sich nun in den dumpfen
Trieben der Masse ebenso wie in der Selbstbesinnung des philosophischen
Bewußtseins ein unruhiges Suchen nach dem Ziele und der Bedeutung des
Lebens überhaupt auszulösen scheint.
Daß das carpe diem der
Genußmenschen die Frage abschnitt, war gerade der Beweis für ihre
Existenz- die Sinnenfreude des Augenblicks freilich hatte ihren Zweck in
sich selbst, und indem sie das Leben in lauter einzeln akzentuierte
Momente zerlegte, entzog sie es gewaltsam dem Bedürfnis einer absoluten
Einheit.
Der Mystizismus
importierter orientalischer Kulte, die verbreitete Neigung zu jedem
Aberglauben, zugleich mit dem Kampf gegen die Vielgötterei bewiesen es,
daß die Welt in der Breite des verworrenen Lebens keinen Sinn mehr fand.
In dieser, innerlich
vielleicht bedürftigsten Lage, in der sich je die historische Menschheit
befand, brachte das Christentum die Erlösung und Erfüllung. Es
gab dem Leben jenen absoluten Zweck, dessen es bedurfte, nachdem seine
Vielfältigkeit und Umständlichkeit es in einen Irrgarten von lauter
Mitteln und Relativitäten sich hatte verlaufen lassen. Das
Heil der Seele und das Reich Gottes bot sich jetzt den Massen als ein
unbedingter Wert, als das definitive Ziel jenseits alles Einzelnen,
Fragmentarischen, Sinnlosen des Lebens. Und von diesem Endzweck haben
sie gelebt, bis das Christentum in den letzten Jahrhunderten unzähligen
Seelen gegenüber seine Macht verlor. Aber
das Bedürfnis eines Endzwecks des Lebens ging damit nicht zugleich
verloren, sondern im Gegenteil: wie jedes Bedürfnis durch langdauernde
Befriedigung fester, tiefer wurzelt, so hat das Leben eine tiefe Sehnsucht
nach einem absoluten Zwecke behalten, auch und gerade, nachdem der Inhalt,
der die Anpassung an diese Form des inneren Daseins bewirkt hatte,
ausgeschieden ist. Diese
Sehnsucht ist die Erbschaft des Christentums, es hat das Bedürfnis nach
einem Definitivum der Lebensbewegungen hinterlassen, das als ein leeres
Drängen nach einem ungreifbar gewordenen Ziele weiterbesteht. Die
Philosophie Schopenhauers ist der absolute, philosophische Ausdruck für
diese innere Lage des modernen Menschen. Es
ist das Zentrum seiner Lehre, daß das eigentliche, metaphysische Wesen
der Welt und unser selbst seinen ganz umfassenden und allein
entscheidenden Ausdruck in unserm Willen besitzt. Der
Wille ist die Substanz unseres subjektiven Lebens, wie und weil das
Absolute des Seins überhaupt ein rastloses Drängen, ein stetes
Übersichhinausgehen ist, das aber, gerade weil es der erschöpfende Grund
aller Dinge ist, zu ewiger Unbefriedigtheit verurteilt ist. Denn
nun kann der Wille nichts außer sich finden, woran er sich befriedige,
weil er immer nur sich selbst in tausend Verkleidungen greifen kann, von
jedem scheinbaren Ruhepunkt aus seines endlosen Weges weitergetrieben
wird. Damit ist die
Eingestelltheit der Existenz auf einen Endzweck und die gleichzeitige
Versagtheit seiner in eine Gesamtweltanschauung projiziert; gerade die
Absolutheit des Willens, mit dem das Leben identisch ist, läßt ihn nicht
an irgend einem Außerhalb-seiner zur Ruhe kommen, weil es kein
Außerhalb-seiner gibt, und sie drückt damit die Lage der momentanen
Kultur aus, wie sie von der Sehnsucht nach einem Endzweck des Lebens
erfüllt ist, den sie als für immer entschwunden oder illusorisch
empfindet. Eben diese
vom Zweckwillen getriebene und des Zweckes beraubte Welt ist der
Ausgangspunkt Nietzsches. Aber
zwischen Schopenhauer und ihm liegt Darwin. Während Schopenhauer an
der Verneintheit des Endzweckes halt macht und darum nur die Verneinung
des Lebenswillens überhaupt als praktische Folge übrig behalten kann,
findet Nietzsche an der Tatsache der Entwicklung des Menschengeschlechts
die Möglichkeit eines Zweckes, der das Leben wieder sich bejahen läßt. Für
Schopenhauer ist das Leben, weil es an sich selbst Wille ist, in letzter
Instanz zur Wert- und Sinnlosigkeit verurteilt, es ist dasjenige, was
schlechthin nicht sein sollte. In
dem Grauen vor dem Leben spitzt sich für ihn jenes Entsetzen zu, das
gewisse Naturen vor der Tatsache des Seins überhaupt empfinden, im
Gegensatz zu andern, die das Sein als solches, als Form, unabhängig von
den Inhalten, die es bietet, mit dem Glück einer sinnlichen oder
religiösen Ekstase füllt. Ihm
geht völlig das Gefühl ab, das bei Nietzsche überall durchbricht: das
Gefühl für die Feierlichkeit des Lebens. Aus
dem Entwicklungsgedanken hat Nietzsche den, Schopenhauer gegenüber,
völlig neuen Begriff vom Leben geschöpft: daß es von sich aus, seinem
eigensten, innersten Wesen nach, Steigerung, Mehrung, wachsende
Konzentrierung der umgebenden Weltkräfte auf das Subjekt ist. Durch
diesen in ihm unmittelbar gelegenen Trieb und Gewähr der Erhöhung,
Bereicherung, Wertvollendung kann das Leben selbst zum Zweck des Lebens
werden und ist damit der Frage nach einem Endzweck enthoben, der jenseits
seines rein und natülich verlaufenden Prozesses läge. Diese
Vorstellung vom Leben - die dichterisch-philosophische Verabsolutierung
der Entwicklungsidee Darwins, dessen Einfluß auf sich Nietzsche in seiner
späteren Epoche sehr unterschätzt hat - diese Vorstellung erscheint mir
als der Ausdruck des, für jede Philosophie letztinstanzlich
entscheidenden Lebensgefühls bei Nietzsche und seiner tiefsten und
notwendigen Abbiegung von Schopenhauer. Das
Leben, in seinem prinzipiellsten Sinne, der noch jenseits des Gegensatzes
von körperlicher und geistiger Existenz steht, tritt hier als eine
unabsehliche Summe von Kräften oder Möglichkeiten auf, die von sich aus
auf die Steigerung, das Intensiverwerden, den Wirkungszuwachs des
Lebensprozesses selbst gerichtet sind; diesen aber durch Analyse zu
beschreiben, ist nicht möglich, weil er in seiner Einheitlichkeit das
letztergreifbare Grundphänomen unser selbst ausmacht. Das
tatsächliche Leben ist in dem Maße mehr oder weniger »Entwicklung«, in
dem mehr oder weniger von jenen in ihm gelegenen, auf die Verstärkung
seines eigenen Seins gerichteten Elemente zur Entfaltung gelangen. Ob
ein tatsächlicher Vorgang als Entwicklung gelten soll - im
historisch-psychologischen oder auch in metaphysischen Sinne -, hängt
demnach nicht mehr von einem außerhalb seiner gesetzten Endziel ab, das
von sich aus jenem Vorgang ein Maß von Mittel- oder Übergangsbedeutung
zuteilte. Es handelt
sich für Nietzsche darum, den sinngebenden Zweck des Lebens, der an
seinem Ort außerhalb des Lebens illusionär geworden war, wie durch eine
Rückwärtsdrehung in das Leben selbst zu verlegen. Dies
konnte nicht radikaler geschehen, als durch ein Bild des Lebens, in dem
seine in ihm selbst indizierte Erhöhung, die bloße Verwirklichung
dessen, was das Leben rein als solches an Steigerungsmöglichkeiten
enthält, alle Zwecke und Werte des Lebens in sich schließt. jedes
Stadium des menschheitlichen Daseins findet seinen Zweck nicht in einem
Absoluten und Definitiven, sondern in dem Nächsthöheren, in dem alles in
dem früheren nur Angelegte zu größerer Weite und Wirkung erwacht ist,
in dem also das Leben voller und reicher geworden ist, in dem mehr Leben
ist. Der
Nietzschesche Übermensch ist nichts anderes als die Entwicklungsstufe,
die über der jeweils von einer gegenwärtigen Menschheit erreichten
liegt, nicht ein fixiertes Endziel, das der Entwicklung ihren Sinn gäbe,
sondern der Ausdruck dafür, daß es keines solchen bedarf, daß das Leben
in sich selbst, d. h. in dem Überwundenwerden jeder Stufe durch eine
vollere und entfaltetere seinen Eigenwert besitzt. Das
Leben, dessen Inhalte hier nur die Seiten oder Erscheinungen seines
geheimnisvoll einheitlichen Prozesses sind, ist seine eigne letzte Instanz
geworden; und dies stellt sich, weil das Leben Entwicklung und
kontinuierliches Fließen ist, so dar, daß jede Verfassung des Lebens
ihre höhere, sinngebende Instanz in der nächsten findet, zu der sie ihre
in ihr selbst noch gebundenen Kräfte entfaltet. Gemäß
diesem, alles bestimmenden Grundunterschied in der Teleologie des Lebens
zwischen Schopenhauer und Nietzsche ist es durchaus nachfühlbar, daß
für Schopenhauer das menschliche Dasein sich in seiner inneren Rhythmik
als eine undurchbrechbare Monotonie darstellt. Von
seinen Schilderungen und Wertungen des Menschenlebens habe ich manchmal
den Eindruck, als ob nicht sowohl die positiven Schmerzen, als die
Langeweile, die lähmende Eintönigkeit des Tages und des Jahres die
tiefste Substanz seines Pessimismus wäre. Es
ist die Abwesenheit jedes Entwicklungsgedankens, die die Welt und die
Menschheit in trostlose Immergleichheit bannt. Solange das Leben noch
einen absoluten Zweck hatte, gab ihm das variierende Verhältnis zu diesem
ein reiches Spiel von Licht und Schatten. Nun
jener weggefallen ist, während doch die weiterlebende Sehnsucht nach ihm
das stumpfe Hinnehmen der einförmigen Gegebenheiten verhindert, tritt die
Qual der Langeweile, die Empörung über die matte Trostlosigkeit des
Lebenslaufes als die allein angemessene Gefühlsreaktion auf. Die
Tatsache der Langenweile beweist ihm die Sinnlosigkeit des Lebens: denn
wenn wir mit nichts beschäftigt, von keinem Einzelinhalt erfüllt wären,
so fühlten wir, allein und rein, das Leben selbst - und das eben bewirke
jenen unerträglichen Zustand. Tiefer
als an irgend einem andern Punkte offenbart sich hier der Radikalismus der
Wendung von Schopenhauer zu Nietzsche. Die
tiefste Herabwürdigung und der höchste Triumph des Lebensprozesses
hängt gleichmäßig an der Verneinung eines absoluten, außerhalb seiner
gelegenen Zweckes und Wertes: jene, indem sich das Leben nun, leer und
sinnlos, um sich selbst zu drehen scheint, wie das Eichhörnchen im Rade,
dieser, indem er als Entwicklung den von außen ihm entrissenen
Zweckcharakter in sein inneres und eigenes Wesen zurücknimmt. Aus
derselben Wurzel wächst der Unterschied der Bilder, die sich beide von
den Bedeutungsunterschieden innerhalb der Menschheit machen. Der
gelegentlich hervorbrechende geistesaristokratische Hochmut Schopenhauers
ist eine Inkonsequenz gegenüber seinen fundamentalen Überzeugungen. Jene
Monotonie, daraus hervorgehend, daß dem Leben eigentlich jeder Maßstab
fehlt, an dem sich Wertdifferenzen innerhalb seiner feststellen ließen -
muß sich auf das Verhältnis der Menschen untereinander fortsetzen. Wenn
keine Existenz positiven Wert besitzt, sondern, was ihm als Vollendung
erscheint, nur in dem Maße gewinnt, in dem sie sich der Vernichtung
nähert, so muß die graue Immergleichheit, der Mangel jedes eigentlichen
Rangunterschiedes, wie für die Momente der Existenzen, so für die Reihe
dieser ganzen gelten. Er
zieht diese Folgerung auch mindestens da, wo er die sittliche Aufgabe
formuliert: der ganz moralische Mensch mache zwischen sich und den andern
keinen Unterschied, er erkenne, wenn auch nicht theoretisch bewußt, so
doch praktisch die tiefe metaphysische Einheit alles Seienden, der
gegenüber die individualisierende Sonderung nur ein täuschender Schein,
die Folge unserer subjektiven Auffassungsformen, sei. Es
scheint, als ob jene absolute Einheit unserer Wesenswurzel nicht sowohl
der Grund unsrer schließlichen Nichtunterschiedenheit wäre, sondern
umgekehrt der Ausdruck oder Reflex dieser letzteren, die aus dem Mangel
des definitiven, unterschiedgebenden Lebenszweckes hervorgeht. Dagegen
nun muß die neue Kreierung eines solchen, wie Nietzsche sie vollzieht, an
die Stelle solcher metaphysischen Demokratie die schärfste Rangdistanz
und Aristokratie setzen. Die
Entwicklung des Gesamtlebens vollzieht sich nicht a tempo in all seinen
Trägern; ihre Formel vielmehr ist, daß unsere Gattung in jedem
Augenblick aus einer Stufenfolge mehr oder weniger entwickelter Existenzen
besteht und daß die jeweils höchsten unter ihnen das Maß zeigen, zu dem
das Leben gelangt ist. Liegt
dessen Sinn darin, daß es Entwicklung ins Unendliche ist, so bedeutet die
Verschiedenheit der Entwicklungsstufen den definitiven Wertunterschied
zwischen den Individuen. Das
Entwicklungsprinzip macht Nietzsche zum Aristokraten, weil es den Sinn
jeder niederen Stufe des Daseins in die nächste, über jene sich
erhebende verlegt. Das
Höhere ist überhaupt nur unter der Bedingung möglich, daß ein Minderes
sei oder gewesen sei; im Gegensatz zu der »Gleichheit vor Gott« und dem
absoluten Werte jeder Menschenseele als solcher -welch alles für
Schopenhauer ersichtlich mit negativem Vorzeichen weiterbesteht - kann es
für Nietzsche zu keinem Werte überhaupt kommen, wenn nicht ein niederer
vorhanden ist; und keiner Stufe kann ein absoluter Wert zukommen, sondern
nur der: die vollere Entfaltung einer tieferen zu sein, die in dieser
Werdemöglichkeit den Sinn ihres Daseins besaß, und ihrerseits die
Bedingung einer wieder über sie hinausgehenden zu sein. Wenn
Leben Entwicklung ist, so ist die aristokratische Ungleichheit seiner
Formen mit logischen Klammern darein vernietet - gerade wie das
Ausschalten des Zweckes überhaupt diese Formen in selbstverständliches
Nivellement sinken läßt. Die
Verschiedenheit in der Attitüde beider Philosophen gegenüber der
Gleichheit ihres Ausgangspunktes - der Verneinung des absoluten
Seins-Zweckes - markiert sich endlich an demjenigen Werte, auf den gerade
die Schopenhauersche Entwertung der Welt ihn hindrängt. Wo
über den Moment hinaus weder ein unbedingtes Ziel liegt, wie im
Christentum, noch ein relatives, wie in der Entwicklungstheorie
Nietzsches, rückt ein schließlich unvermeidlicher Wertakzent auf die vom
Moment selbst umschlossenen Erregungen, auf Lust und Leid. Wer
einen Zweck des Lebens ablehnt, muß Eudämonist werden, weil Lust und
Leid jetzt als die einzigen Pointierungen des aus Augenblicken
zusammengesetzten Lebens erscheinen, von denen keiner eine Bedeutsamkeit
über sich hinauserstreckt. Die
Summe des Leidens, die Unmöglichkeit, daß ein erreichbares
Glücksquantum jenes je aufwöge, ja, schon die Tatsache des Leidens
überhaupt, die, noch jenseits aller Frage des Maßes, durch keinerlei
Glücksempfindung wirklich gutgemacht werden kann - dies ist für
Schopenhauer der empirische und schon für sich entscheidende Beweis für
die Sinnlosigkeit der Welt, die von vornherein durch ihren
Willenscharakter feststeht. Die
Verneinung des Willens zum Leben, die er als die praktische Lösung des
Welträtsels anbietet, ist ihrem Werterfolge nach nichts anderes als die
Erlösung von den Leidempfindungen des Lebens. Vor solchem
Absolutwerden der Momentwerte ist Nietzsche dadurch sicher, daß seine
Entwicklungswerte ihr Wesen gerade in der Überwindung jedes
Einzelmomentes haben. Den
Wert des Lebens von Lust und Leid abhängen zu lassen, muß ihm in
demselben Maße und aus demselben Grunde als eine Perversität erscheinen,
wie die ethische Gleichsetzung aller Wesen: ein Haltmachen des
Wertgefühles auf der breiten Vorläufigkeit der Existenz, die doch zum
Überwundenwerden zu Gunsten ihrer Gipfelentwicklung bestimmt ist. Mit
Lust und Leid verläuft sich das Leben jedesmal sozusagen in eine
Sackgasse, und sie als ein Definitivum anzusehen, wäre nicht anders, als
mitten im Satze einen Punkt zu setzen. Von
seinem Entwicklungsideal aus bezeichnet Nietzsche sie deshalb richtig als
»Begleitzustände«. Sie
sind bloße, in das Subjekt zurückfallende Reflexe der Weiterbewegung des
Lebens, dessen Ziele, die jeweilig höheren Beschaffenheiten unserer Art,
deshalb keine Rücksicht auf jene kennen dürfen. Ja,
höchstens kann selbst Lust und Schmerz den Zielwerten des Lebens untertan
gemacht werden: »Die Zucht des großen Leidens«, sagt er einmal, bewirke
alle Erhöhungen der Menschheit. In
diese Umdrehung der Bedeutung eudämonistischer Zustände drängt sich
noch einmal der ganze Gegensatz der Schopenhauerschen und der
Nietzscheschen Welt zusammen: für jene Glück und Leid Definitiva des
Lebenswertes, weil sie allein ihrer seelischen Struktur nach sich der
Vergleichgültigung entziehen, mit der der Fortfall jedes Endzwecks das
Leben geschlagen hatte - für diese wegen eben dieses Momentcharakters die
eigentlichen Gleichgültigkeiten, Stationen, auf denen es für das Leben
keinen Aufenthalt lohnt. Wo
aber dennoch ein Strahl von Wert auf sie fällt, ist es nicht, weil sich
das Leben zu ihnen hin entwickelt, sondern umgekehrt, weil und wenn sie
sich bis zu dem Leben hin entwickeln, als Mittel seiner Steigerung
ausgenutzt werden. Auch
widerspricht dem gar nicht jene Apotheose der Lust, mit der der
Zarathustra schließt:
Lust - tiefer noch als
Herzeleid: Weh spricht: vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit – Will
tiefe, tiefe Ewigkeit!
Denn hier faßt er vom
Glück gerade den Zug, durch den es - zwar nicht in seiner seelischen
Tatsächlichkeit, aber in seinem idealen Sinne, dem es sich von dieser
Tatsächlichkeit her entgegenstreckt - sein bloßes Augenblicksleben
überwindet: jedes Glück enthält die Sehnsucht seiner Dauer, mit seiner
flüchtigen Wirklichkeit ist - wie eine Forderung, deren Recht durch ihre
Unerfülltheit nicht erlischt - ein Wollen, ja, ein Sollen seines ewigen
Bestandes innerlichst verwachsen. Von
dieser besonderen Kategorie her fällt für Nietzsche ein Glanz der
Ewigkeit über das Glück und läßt es an der Bedeutung teilnehmen, die
Nietzsche diesem Begriff scheinbar mystisch, in Wirklichkeit aber in
genauer Konsequenz seiner Grundanschauungen zuteilt. Für
Schopenhauer muß die Ewigkeit alles Seins der fürchterlichste aller
Gedanken sein: denn sie bedeutet für ihn die absolute Unerlöstheit, die
Unbeendbarkeit des Weltprozesses, von dem schon jeder einzelne Moment
sinnlose Qual ist. Da
es innerhalb des Daseins keine Erlösung gibt, so ist die Ewigkeit das
genaue logische Gegenteil des einzigen Gedankens, in dem Schopenhauer
einen Trost und Sinn der Existenz sehen kann: seiner seelischen Verneinung
und metaphysischen Vernichtung. Gerade
der eine Gedanke aber, durch den Nietzsche sich dem Pessimismus der
Lebenszwecklosigkeit entwindet: der Triumph des ins Endlose aufsteigenden
Lebens über jede noch so unvollkommne Gegenwart - ist gerade nur unter
der Bedingung der Ewigkeit ausdenkbar. Sie
muß zur Verfügung stehen als die Form, in die sich allein der
Erlösungs- und Zweckprozeß der Welt gießen kann. Sie
ist die Brücke, über die hin Nietzsche von seinem pessimistischen
Ausgangspunkt zu einem Optimismus gelangt; denn sie gibt die ins Absolute
gesteigerte Möglichkeit, das Nein gegenüber jedem Gegebenen, für jetzt
Wirklichen, mit dem ja gegenüber dem Dasein überhaupt zu verbinden, das
jeder unvollkommenen Gegenwart nun den unbegrenzten Raum für ihre
Entwicklung ins Vollkommnere bietet. Der
Ewigkeitsgedanke ist die Wasserscheide, an der die aus dem gleichen
Urquell entsprungenen Ströme des Schopenhauerschen und des Nietzscheschen
Denkens die Entgegengesetztheit ihres Laufes offenbaren. |