Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Zur Soziologie der Armut

ex: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, hrsg. Von Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber, 22.Jg. (N.F. 4), 1. Heft (Januar), ausgegeben am 8. Februar 1906, S. 1-3. 

Insoweit der Mensch als Sozialwesen gilt, entspricht jeder seiner Pflichten ein Recht anderer Wesen. Vielleicht ist es sogar die tiefere Auffassung, dass es von vornherein nur Rechte gibt, dass jedes Individuum Forderungen - allgemein menschlicher und aus seiner besonderen Lage hervorgehender Art besitzt, die erst als solche zu Pflichten anderer werden. 

Da aber jeder auf diese Weise Verpflichtete auch ein irgendwie Berechtigter ist, entsteht ein Netzwerk hin- und hergehender Rechte und Pflichten, in dem aber das Recht das primäre, tonangebende Element ist; die Pflicht ist nur das freilich unvermeidliche, in demselben Akt gesetzte Korrelat zu jenem.

Man kann die Gesellschaft überhaupt als eine Gegenseitigkeit von moralisch, juristisch, konventionell und noch unter vielen sonstigen Kategorien berechtigten Wesen ansehen; dass dies für die anderen Pflichten bedeutet, ist sozusagen nur eine logische oder technische Konsequenz, und wenn das Undenkbare geschehen könnte, dass jedem Recht auf andere Weise, als in der Form einer Pflichterfüllung genügt würde, so würde die Gesellschaft der Kategorie der Pflicht nicht bedürfen. 

Mit einem Radikalismus, der zwar der psychologischen Wirklichkeit nicht entspricht, im Sinne ethisch-idealer Konstruktion aber wohl durchführbar wäre, könnten alle Leistungen der Liebe und des Mitleids, der Grossherzigkeit und des religiösen Impulses als Rechte des Empfangenden aufgefasst werden. 

Der ethische Rigorismus hat schon all jenen Motivierungen gegenüber behauptet, das äusserste, was ein Mensch überhaupt leisten könne, sei die Erfüllung seiner Pflicht, und diese verlange schon von sich aus, was einer laxeren oder selbstschmeichlerischen Gesinnung als Verdienst, über die Pflicht hinaus, erscheint; und von hier ist es nur ein Schritt, hinter jede Pflicht des Verpflichteten das Recht eines Berechtigten zu setzen: ja, dies erscheint eigentlich als das letzterreichbare und rationellste Fundament, auf dem die Leistungen des einen für den anderen zu fordern sind.

Hier zeigt sich nun ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen der soziologischen und der ethischen Kategorie. Indem alle Leistungsverhältnisse von einem Recht - in seinem weitesten, das juristische Recht als einen Teil umschliessenden Sinne - abgeleitet werden, hat die Beziehung von Mensch zu Mensch die sittlichen Werte des Individuums völlig durchdrungen und von sich aus deren Richtung bestimmt. 

Aber dem unbezweifelbaren Idealismus dieses Standpunktes steht die nicht weniger tiefe Ablehnung jeder interindividuellen Genesis der Pflicht gegenüber: unsere Pflichten seien Pflichten gegen uns selbst, und andere gebe es überhaupt nicht. Zum Inhalt mögen sie ein auf andere gerichtetes Tun haben, aber ihre Form und Motivierung als Pflicht könne uns nicht von diesen her kommen, sondern entspringe als reine Autonomie aus dem Ich und seinen bloss inneren, gegen alles Ausser-Ihm völlig unabhängigen Notwendigkeiten. 

Nur für das Recht sei der Andere in unseren sittlichen Handlungen der terminus a quo der Motivierung, für die Moral als solche dagegen unbedingt nur der terminus ad quem. Im letzten Grunde sind wir die Sittlichkeit unseres Handelns nur uns selbst schuldig, dem besseren Ich in uns, der Achtung vor uns selbst, oder wie man den rätselhaften Punkt bezeichnen mag, den die Seele in sich selbst als ihre letzte Instanz findet, und aus dem heraus sie mit Freiheit entscheidet, inwieweit die Rechte anderer ihre Pflichten sind.

Dieser prinzipielle Dualismus in den Grundgefühlen über den Sinn des sittlichen Tuns findet ein Beispiel oder empirisches Symbol an den verschiedenen Auffassungen der Armenunterstützung. 

Die Pflicht zu dieser kann als blosses Korrelat des Anspruchs des Armen auftreten. Besonders in Ländern, wo der Bettel ein reguläres Gewerbe ist, glaubt der Bettler, mehr oder weniger naiv, ein Recht auf die Gabe zu haben, deren Verweigerung er oft wie die Hinterziehung eines schuldigen Tributs rügt. 

Völlig anderen Charakter hat - innerhalb desselben Typus - die Begründung des Unterstützungsanspruchs auf die Gruppenzugehörigkeit des Bedürftigen. Eine soziale Anschauungsweise, für die das Individuum durchaus nur das Produkt seines gesellschaftlichen Milieus ist, gibt jenem damit das Recht, für jede Notlage und jeden Verlust von  dieser eine Ausgleichung zu verlangen. Aber auch wo keine so extreme Auflösung der Selbstverantwortlichkeit vorliegt, wird man vom sozialen Standpunkt aus das Recht des Bedürftigen als die Grundlage aller Armenpflege betonen können. 

Denn nur wenn man ein solches Recht zum mindesten als juristisch-soziale Fiktion voraussetzt, scheint die Ausübung der Armenpflege der Willkür, der Abhängigkeit von der zufälligen Finanzlage und sonstigen Unsicherheiten entzogen zu sein; allenthalben wird die Zuverlässigkeit von Funktionen gesteigert, wenn in dem sie tragenden Korrelationspaar von Recht und Pflicht das Recht ihren methodischen Ausgangspunkt bildet: denn der Mensch ist im Durchschnitt schneller bereit, ein Recht einzufordern, als eine Pflicht zu erfüllen. 

Dazu kommt das Humanitätsmotiv, dass man dem Armen das Beantragen und das Annehmen der Unterstützung innerlich erleichtert, wenn er damit nur sein gutes Recht realisiert; die Gedrücktheit, die Beschämung, die Deklassierung durch das Almosen hebt sich für ihn in dem Masse auf, in dem es ihm nicht aus Barmherzigkeit, Pflichtgefühl oder Zweckmässigkeit gewährt wird, sondern er es fordern darf. 

Da dieses Recht selbstverständlich seine Grenzen hat, die in jedem individuellen Falle besonders festzustellen sind, so wird das Recht auf Unterstützung diese in materiell-quantitativer Hinsicht gegenüber anderen Motivierungen nicht verändern. 

Nur ihr innerer Sinn wird dadurch festgelegt, und erhebt sich auf einer prinzipiellen Meinung über das Verhältnis des Individuums zu anderen Individuen und zu der Gesamtheit. 

Das Recht auf Unterstützung gehört in dieselbe Kategorie wie das Recht auf Arbeit, wie das Recht auf Existenz. 
Die Unklarheit der quantitativen Grenze, die diesen und anderen »Menschenrechten« eignet, erreicht mit jenem freilich ihr Maximum, insbesondere, wo die Unterstützung in Geld erfolgt, dessen reiner Quantitäts- und Relativitätscharakter die objektive Abgrenzung der Ansprüche viel mehr erschwert, als etwa bei Naturalunterstützung. 

Auch ist keineswegs eindeutig, gegen wen sich das Recht des Armen eigentlich richtet, und die Entscheidung darüber markiert tiefe soziologische Differenzen. Der Arme, der seine Lage als eine Ungerechtigkeit der Weltordnung empfindet und sozusagen von dem gesamten Dasein Abhilfe fordert, wird leicht jeden zufälligen einzelnen, der sich in besserer Lage befindet, für diese Forderung solidarisch haftbar machen. 

Dies ergibt eine Skala von dem verbrecherischen Proletarier, der in jedem Gutgekleideten seinen Feind sieht, einen Repräsentanten der Klasse, die ihn »enterbt« hat, und der ihn deshalb wie mit gutem Gewissen ausraubt, bis zu dem demütigen Bettler, der eine Gabe »um Gotteswillen« erfleht, d. h. als ob jeder einzelne verpflichtet wäre, die Lücken der von Gott eigentlich gewollten, aber nicht völlig realisierten Ordnung zu ergänzen. 

Die Forderung des Armen richtet sich hier gegen das Individuum, aber nicht gegen ein bestimmtes, sondern nur auf Grund der Solidarität der Menschheit überhaupt. 

Neben dieser Korrelation, die gerade die Ganzheit des Daseins, in Hinsicht auf die gegen sie gerichtete Forderung, zu jedem beliebigen Einzelwesen als Vertreter kristallisieren lässt, stehen die reich abgestuften partikularen Kollektivitäten, an die sich der Anspruch des Armen wendet. Staat, Kommunen, Kirchengemeinde, Berufsgenossenschaft, Freundeskreis, Familie - mögen als Ganzheiten zu ihrem Mitgliede äusserst verschiedene Verhältnisse haben; dennoch scheint jedes dieser Verhältnisse ein Element zu enthalten, das sich im Falle der Verarmung des Individuums als dessen Recht auf Unterstützung aktualisiert. 

Dies ist das Gemeinsame derartiger soziologischer Beziehungen, die sonst vielleicht kaum Gleichartiges besitzen. In eigentümlicher Weise mischen sich die aus solchen Verbindungen quellenden Armenansprüche in primitiven Zuständen, wo Stammessitte und religiöse Verpflichtungen als ungeschiedene Einheit das Individuum beherrschen. 

Bei den alten Semiten hat der Anspruch des Armen auf Anteilnahme am Mahl sein Korrelat nicht in der persönlichen Freigiebigkeit, sondern in der sozialen Zugehörigkeit und dem religiösen Brauch. 

Wo die Armenpflege ihren zureichenden Grund in einer organischen Verknüpfung zwischen den Elementen hat, besitzt überhaupt das Recht des Armen stärkere Betonung - sei es, dass sie religiös auf die metaphysische Einheit, sei es, dass sie stammes- oder familienmässig auf die biologische zurückgeht. 

Wir werden sehen, dass, wo umgekehrt die Armenpflege teleologisch, von einem durch sie zu erreichenden Ziele abhängt, statt kausal, von einer bestehenden und wirksamen Einheit der Gruppengenossen, - dass da das Anspruchsrecht der Armen bis zur völligen Nichtigkeit zurücktritt.

Es ergeben sich nämlich, während in den bisherigen Fällen Recht und Pflicht nur als die beiden Seiten einer absoluten Beziehungseinheit erscheinen, doch ganz neue Wendungen, sobald die Pflicht des Gebenden an Stelle des Rechts des Empfangenden den Ausgangspunkt bildet.

Im extremen Fall verschwindet der Arme als berechtigtes Subjekt und Interessenzielpunkt vollständig, das Motiv der Gabe liegt ausschliesslich in der Bedeutung des Gebens für den Gebenden. 

Als Jesus dem reichen Jüngling sagte: schenke deinen Besitz den Armen, - kam es ihm ersichtlich auf die Armen gar nicht an, sondern nur auf die Seele des Jünglings, zu deren Heil jener Verzicht das blosse Mittel oder Symbol ist. 

Das spätere christliche Almosen ist desselben Wesens: es ist ein »gutes Werk«, das das jenseitige Schicksal des Gebers verbesserte. 

Das Überhandnehmen des Bettels im Mittelalter, die Sinnlosigkeit in der Verwendung der Gaben, die Demoralisation des Proletariats durch die wahllosen, aller Kulturarbeit entgegen wirkenden Spenden, - dies ist gleichsam die Rache des Almosens für das rein subjektivische, nur den Geber, aber nicht den Empfänger berücksichtigende Motiv seiner Gewährung. 

Von solcher Beschränkung auf das gebende Subjekt rückt die Motivation ab - ohne sich darum schon dem empfangenden zuzuwenden - sobald die Wohlfahrt des sozialen Ganzen die Armenunterstützung fordert. 

Sie erfolgt, freiwillig oder gesetzlich erzwungen, um den Armen nicht zu einem aktiven, schädigenden Feinde der Gesellschaft werden zu lassen, um seine herabgesetzte Kraft wieder für sie fruchtbar zu machen, um die Degenerierung seiner Nachkommenschaft zu verhüten. 

Der Arme als Person, der Reflex seiner Lage in seinem Gefühl ist hierbei ebenso gleichgültig, wie für den, der um des Heiles der eigenen Seele willen Almosen gibt; der subjektive Egoismus des letzteren ist zwar aufgehoben, aber nicht um des Armen willen, sondern um der Gesellschaft willen: dass der Arme die Gabe empfängt, ist nicht ihr Endzweck, sondern ein blosses Mittel wie in dem ersteren Fall. 

Die Herrschaft des sozialen Gesichtspunktes über das Almosen erweist sich daran, dass es von eben demselben her auch verweigert werden kann - und zwar gerade oft, wenn persönliches Mitleid oder die unangenehme Situation des Neinsagens uns zur Gewährung bewegen möchte.

Damit zeigt nun die Armenpflege als öffentliche Einrichtung eine höchst eigentümliche soziologische Konstellation. 

Sie ist inhaltlich durchaus personal, sie tut absolut nichts, als individuelle Notlagen erleichtern. 

Dadurch unterscheidet sie sich von allen anderen Veranstaltungen des öffentlichen Wohles und Schutzes. 

Denn diese wollen allen Bürgern zugute kommen: das Heer und die Polizei, die Schule und der Wegebau, das Gericht und die Kirche, die Volksvertretung und die Wissenschaftspflege. 

Prinzipiell richtet alles dies sich nicht auf Personen als differenzierte Individuen, sondern auf die Gesamtheit derselben, die Einheit aus vielen oder allen ist das Objekt dieser Einrichtungen. 

Die Armenpflege aber richtet sich in ihrem konkreten Wirken durchaus nur auf den einzelnen und seinen Zustand.

Und gerade dieser einzelne wird für die modern-abstrakte Form der Armenpflege zwar zu ihrer Endstation, aber durchaus nicht zu ihrem Endzweck, der vielmehr nur in dem Schutz und der Förderung des Gemeinwesens liegt, ja, nicht einmal als Mittel zu diesem kann man den Armen bezeichnen, - was seine Position noch bessern würde - denn nicht seiner bedient sich die soziale Aktion, sondern nur gewisser sachlicher Mittel, materieller und administrativer Art, um die von ihm drohenden Gefahren und Abzüge von dem erreichbaren Gemeinwohl zu beseitigen.

Wo diese rein soziale, zentralistische Teleologie besteht, bietet die Armenpflege vielleicht die weiteste soziologische Spannung zwischen dem unmittelbaren und dem mittelbaren Zweck einer Aktion. 

Die Linderung der subjektiven Not ist für das Gefühl ein so kategorischer Selbstzweck, dass sie aus dieser letztinstanzlichen Stellung zu entthronen und sie zu einer blossen Technik für die übersubjektiven Zwecke einer Sozialeinheit zu machen, ein äusserster Triumph dieser letzteren ist, ein Distanznehmen zwischen Ihm und dem Individuum, das, bei aller Unauffälligkeit nach aussen hin, durch seine Kühle und seinen Abstraktionscharakter prinzipieller und radikaler ist, als Aufopferungen des Individuums für die Gesamtheit, bei denen Mittel und Zweck in eine Gefühlsreihe verbunden zu sein pflegen.

Aus diesem soziologischen Grundverhältnis erklärt sich die eigentümliche Komplikation von Pflichten und Rechten, die sich an der modern-staatlichen Armenunterstützung findet.

An mehr als einer Stelle nämlich begegnet uns das Prinzip: auf seiten des Staates bestehe die Pflicht, den Armen zu unterstützen, aber dem entspreche kein Recht des Armen darauf, unterstützt zu werden. 

Er hat - wie dies z. B. in England ausdrücklich betont wird - keinen Klage- und Schadenersatzanspruch bei unrechtmässig verweigerter Unterstützung. 

Das ganze Verhältnis von Pflichten und Rechten in Hinsicht seiner geht über seinen Kopf hinweg. Das Recht, das jener Pflicht des Staates korrespondiert, ist nicht das seinige, sondern das jedes einzelnen Staatsbürgers darauf, dass die ihm aufliegende Armensteuer in solcher Höhe erhoben und so verwandt werde, dass die öffentlichen Zwecke der Armenpflege auch wirklich erreicht werden.

Nicht der Arme also hat bei Vernachlässigung der Armenpflege ein klagbares Recht, sondern nur die durch diese Vernachlässigung indirekt geschädigten anderen Elemente. 

Könnte man also z. B. nachweisen, dass ein Dieb einen Raub unterlassen hätte, wenn ihm die gesetzlich angemessene und von ihm beanspruchte Armenunterstützung zuteil geworden wäre, so könnte prinzipiell der Beraubte die Armenverwaltung wegen Schadenersatz belangen. 

Diese Ausschaltung des Armen, die ihm keine Endzweckstelle in der teleologischen Kette gewährt, ja, wie wir sahen, eigentlich nicht einmal eine solche als Mittel, - offenbart sich auch darin, dass in dem modernen, relativ demokratischen Staate, fast allein hier die an einem Verwaltungszweige wesentlich interessierten Personen an der Verwaltung selbst absolut unbeteiligt sind. 

Die Armenpflege ist eben - für die hier gekennzeichnete Auffassung - eine Aufwendung öffentlicher Mittel zu öffentlichen Zwecken, und da ihre ganze Teleologie also ausserhalb des Armen selbst liegt - was entsprechend bei den Interessenten anderer Verwaltungsmaterien nicht der Fall ist - so ist es nur konsequent, das sonst doch in irgend einem Masse anerkannte Prinzip der Selbstverwaltung auf den Armen und die Armenpflege nicht anzuwenden. 

Wenn der Staat etwa durch Gesetz verpflichtet ist, ein Wildwasser abzuleiten, um damit die Bewässerung gewisser Gebiete zu gewinnen, so ist der Bach ungefähr in der Lage des vom Staate unterstützten Armen: er ist zwar der Gegenstand der Pflicht, aber nicht der Träger des ihr korrespondierenden Rechtes, welches vielmehr die Adjazenten des Baches sind. Herrscht aber erst einmal dies ausschliesslich zentralistische Interesse, so kann auch die Recht-Pflicht-Beziehung je nach Zweckmässigkeitsgesichtspunkten verschoben werden. 

Der Entwurf des preussischen Armengesetzes von 1842 betont, der Staat müsse die Armenpflege im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt durchführen. 

Dazu bestelle er öffentlich-rechtliche Organe derselben, die ihm gegenüber zur Unterstützung der bedürftigen Individuen verpflichtet seien: letzteren selbst gegenüber seien sie es nicht, diese besässen keinen Rechtsanspruch. 

Dies spitzt sich bezeichnend zu, wo das Staatsgesetz den in besserer Lage befindlichen Verwandten des Armen die Alimentationspflicht auferlegt. 

Hier scheint auf den ersten Blick tatsächlich der Arme an den wohlhabenden Verwandten einen Anspruch zu haben, den der Staat nur zu sichern und auszuführen übernimmt. 

Der innere Sinn ist dennoch ein anderer. 

Die staatliche Gemeinschaft sorgt aus Zweckmässigkeitsgründen für den Armen, und sie schafft sich ihrerseits die Rückendeckung an den Verwandten, weil ihr die Kosten sonst unerschwinglich wären oder wenigstens dafür gehalten werden. 

Der unmittelbare Anspruch von Person zu Person, der etwa zwischen dem armen und dem reichen Bruder spielt, und der ein nur moralischer ist, geht das Gesetz gar nichts an: dieses hat ausschliesslich die Interessen der Gesamtheit wahrzunehmen und nimmt sie nach den beiden Seiten hin wahr: den Armen unterstützend und die Kosten von seinen Verwandten einziehend. 

Dass dies die soziologische Struktur der Alimentationsgesetze ist, und diese keineswegs nur sittlichen Pflichten die zwingende Rechtsform geben wollen, zeigen Vorgänge wie diese. 

Gewiss ist der moralische Unterstützungsanspruch an Geschwister ein ausserordentlich stringenter. 

Allein als er im ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches als gesetzlicher festgelegt werden sollte, erkannten die Motive die ausserordentliche Härte davon ohne weiteres an, und begründeten die Einführung damit, dass anderenfalls die öffentliche Armenlast gar zu sehr erhöht würde. Eben dasselbe wird dadurch erwiesen, dass die gesetzliche Unterhaltspflicht manchmal entschieden über das Mass hinausgeht, das vom individuell-moralischen Standpunkt aus zu fordern wäre. 

Das Reichsgericht hat gegen einen alten Mann in ärmlichen Verhältnissen entschieden, dass er sein einziges Besitztum, einige hundert Mark, für den Unterhalt des erwerbsunfähigen Sohnes hergeben müsse, obgleich er glaubhaft ausführte, dass er demnächst selbst erwerbsunfähig sein würde und dies seine einzige Reserve wäre. 

Es ist äusserst zweifelhaft, ob man in diesem Fall noch von einem moralischen Rechte des Sohnes sprechen kann; aber nach diesem fragt die Allgemeinheit auch nicht, sondern nur danach, ob sie sich für ihre Verpflichtung dem Armen gegenüber nach allgemeinen geltenden Normen schadlos halten kann. 

Auch wird dieser innere Sinn der Alimentationspflicht durch den praktischen Verlauf zutreffend symbolisiert: Der Arme wird zunächst auf sein Gesuch hin zureichend unterstützt und dann erst wird nach einem Sohne oder Vater recherchiert, der eventuell, je nach seiner Vermögenslage, gar nicht die gesamten Pflegekosten, sondern vielleicht die Hälfte oder ein Drittel zu ersetzen verurteilt wird. 

Auch darin klingt der ausschliesslich soziale Sinn der Massregel an, dass die Unterhaltspflicht nach dem BGB nur dann einzutreten hat, wenn sie den »standesmässigen Unterhalt« des Pflichtigen nicht »gefährdet«. Ob nicht selbst eine bis zu solcher Gefährdung gehende Unterstützung in gewissen Fällen moralisch erfordert wäre, ist mindestens zweifelhaft. 

Aber die Allgemeinheit verzichtet trotzdem in allen Fällen darauf, weil das Herabsinken eines Individuums aus seiner »standesmässigen« Position dem Status der Gesellschaft einen Eintrag tut, der ihren materiellen, von ihr zu extorquierenden Vorteil an sozialer Bedeutung zu überwiegen scheint. 

Von einem Anspruchsrecht des Armen an seinen wohlhabenden Verwandten enthält also die Alimentationspflicht nichts, diese ist nichts als die dem Staate obliegende Unterstützungspflicht, die er auf die Verwandten abgewälzt hat, und der überhaupt kein Anspruchsrecht des Armen zu korrespondieren braucht.

Nun war das oben gebrauchte Gleichnis des Wildbaches insofern ungenau, als der Arme nicht nur Armer, sondern auch Staatsbürger ist. Insofern hat er freilich seinen Teil an dem Rechte, das das Gesetz der Gesamtheit der Bürger als Korrelat der Staatspflicht zur Armenunterstützung verleiht; er ist, um in jenem Gleichnis zu bleiben, zugleich der Bach und sein Adjazent, in dem Sinne, in dem es der reichste Bürger auch ist. 

Freilich gewinnen die staatlichen Funktionen, formal über allen Bürgern desselben in der gleichen ideellen Entfernung stehend, dennoch inhaltlich für die individuellen Lagen derselben sehr verschiedene Bedeutungen, und wenn deshalb der Arme an der Armenpflege nicht als zielsetzendes Subjekt, sondern nur als Glied der über ihn hinweggreifenden teleologischen Staatsorganisation beteiligt ist, so ist doch sozusagen seine Rolle in dieser Staatsfunktion eine andere als die des Wohlhabenden. 

Worauf es soziologisch ankommt, ist die Einsicht, dass die ganze, materiell veranlasste Besonderheit in der Situation des unterstützten Armen, die einerseits sein individuelles Befinden zum äusseren Zielpunkt der Hilfsaktion macht, andererseits ihn den Gesamtabsichten des Staates als ein rechtloses Objekt und zu formenden Stoff gegenüberstellt - dass diese durchaus nicht seine gliedmässige Zugehörigkeit zu der Staatseinheit verhindert. 

Trotz jener beiden Bestimmungen, durch die die Armenunterstützung ihn jenseits dieser zu stellen scheint, oder richtiger: mit ihnen ordnet er sich organisch in den Zusammenhang des Ganzen ein, gehört als Armer zu der historischen Wirklichkeit der Gesellschaft, die in ihm und über ihm lebt, ein genau so formal-soziologisches Element wie der Beamte oder der Steuerzahler, der Lehrer oder der Vermittler irgend welchen Verkehrs. 

Er verhält sich ungefähr wie der Gruppenfremde, der zwar auch sozusagen materiell ausserhalb der Gruppe steht, in der er sich aufhält: aber eben damit entsteht ein Gesamtgebilde, das die autochthonen Teile der Gruppe und den Fremden zusammen umfasst, die eigentümlichen Wechselwirkungen dieses mit jenen schaffen die Gruppe im weiteren Sinne, charakterisieren den wirklich historisch vorliegenden Kreis. 

So ist der Arme zwar gewissermassen ausserhalb der Gruppe gestellt, aber dieses Ausserhalb ist nur eine besondere Art der Wechselwirkung mit ihr, die ihn in eine Einheit mit dem Ganzen in seinem weitesten Sinne verweht.

Lange vor der Klarheit dieser zentralistischen Einsicht über das Wesen der Armenhilfe hat sich ihre organische Rolle in dem Gesamtheitsleben an substanziellen Symbolen gezeigt. 

Im frühesten England geht die Armenpflege von den Klöstern und den kirchlichen Korporationen aus, und zwar, wie ausdrücklich hervorgehoben wird, weil allein der Besitz der Toten Hand die zuverlässige Dauer besass, auf die es für die Armenpflege unbedingt ankommt.

Die vielfachen weltlichen Spenden aus Beute und Bussen erfüllten den Zweck nicht, weil sie in dem staatlichen Verwaltungssystem noch keinen Halt fanden und ohne kontinuierliche Erfolge konsumiert wurden. 

An den einzigen, eigentlich substanziell festen Punkt in dem gesellschaftlichen Gewirr und Gewoge knüpfte sich so gerade die Armenpflege, und diese Verbindung zeigt sich in negativer Wendung in der Entrüstung über den von Rom nach England delegierten Klerus: weil er die Armenpflege vernachlässige. 

Der fremde Kleriker fühlt sich eben dem Gemeindeleben nicht innerlich verbunden, und dass er nicht für die Armen sorgt, erscheint als das entschiedenste Zeichen dieser Zusammenhangslosigkeit. 

Die gleiche Verbindung der Armenpflege gerade mit dem festesten Substrat des sozialen Daseins zeigt sich an der späteren Bindung der englischen Armensteuer an den Grundbesitz: diese war Ursache wie Wirkung davon, dass der Arme für einen zum Lande als solchen gehörigen, organischen Bestandteil rechnete. 

Eben dasselbe macht sich geltend, als 1861 ein Teil der Armenlast gesetzlich von dem Kirchspiel auf den Armenverband übertragen wird. 

Die Pflegekosten sollen nun nicht mehr einzeln von den Kirchspielen, sondern von einem Fonds getragen werden, zu dem die Kirchspiele im Verhältnis ihres Grundbesitzwertes beisteuern. 

Der Antrag, bei der Verteilung auch noch auf die Bevölkerungszahl Rücksicht zu nehmen, wurde mehrfach und ausdrücklich zurückgewiesen. 

Damit wird das individualistische Element gänzlich abgelehnt, als Träger der Armenpflicht erscheint nicht mehr die Summe der Personen, sondern die überpersönliche Einheit, die an der Objektivität des Grundes und Bodens ihr Substrat findet. 

Und so sehr steht die Armenpflege dort im Zentrum der sozialen Gruppe, dass sich in der lokalen Verwaltung an sie, als den Schwerpunkt dieser, allmählich erst Schul- und Wegeadministration, Gesundheits- und Registerwesen angegliedert haben. 

So wird auch sonst das Armenwesen direkt zu einem Träger - weil Erfolge - staatlicher Einheitlichkeit. 

Der Norddeutsche Bund bestimmte, dass im ganzen Bundesgebiet kein Hilfsbedürftiger ohne Hilfe bleiben solle, kein norddeutscher Armer in dem einen Teil des Bundesgebietes andere Behandlung erfahren, als in dem anderen. 

Wenn in England zu jener Bindung der Armenpflege an den Grundbesitz äusserlich technische Gründe geführt haben, so alteriert dies ihren tieferen soziologischen Sinn schon deshalb nicht, weil andererseits der erwähnte Anschluss der anderen Verwaltungszweige an sie wegen der Durchquerung der Grafschaften durch die Armenverbände gerade grosse technische Nachteile zeigt. 

Die Entgegengesetztheit ihrer technischen Bedeutung lässt die Einheit ihrer soziologischen an dieser Tatsache erst recht hervortreten.

Es ist deshalb eine durchaus einseitige Auffassung, wenn man die Armenpflege als »eine Organisation der besitzenden Klassen zur Verwirklichung des mit dem Besitze verbundenen sittlichen Pflichtgefühles« bezeichnet hat. 

Sie ist vielmehr ein Teil der Organisation des Ganzen, dem der Arme ebenso zugehört wie die besitzenden Klassen: so sehr die technischen und materiellen Bestimmtheiten seiner sozialen Position ihn als blosses Objekt oder Durchgangspunkt eines über ihn hinwegreichenden Gesamtlebens hinstellen, so ist dies im letzten Grunde überhaupt die Rolle jedes einzelnen konkreten Mitgliedes der Gesellschaft, von der gemäss dem hier momentan eingenommenen Standpunkt gilt, was Spinoza von Gott und den Einzelwesen sagt: wir könnten zwar Gott lieben, aber es sei widerspruchsvoll, dass er, die uns einschliessende Einheit, uns wieder liebte; vielmehr sei die Liebe, die wir ihm weihen, ein Teil der unendlichen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt. 

Die eigentümliche Ausschliessung, die der Arme seitens der ihn unterstützenden Gemeinschaft erfährt, ist das bezeichnende für die Rolle, die er innerhalb der Gesellschaft, als ein besonders situiertes Glied derselben spielt; indem er technisch ein blosses Objekt der Gesellschaft ist, ist er im weiteren soziologischen Sinne ein Subjekt, das einerseits wie alle anderen die Realität derselben bildet, andererseits, wie alle anderen, jenseits der überpersönlichen abstrakten Einheit derselben steht.

Neben diesen beiden Formen des Recht-Pflicht-Verhältnisses: der Arme hat ein Recht auf Unterstützung, und es besteht eine Pflicht zur Unterstützung, die sich aber nicht auf den Armen als den Berechtigten, sondern auf die Gesellschaft richtet, deren Selbsterhaltung jene von ihren Organen und von gewissen Kreisen fordert - neben dieser besteht nun die dritte, die das sittliche Bewusstsein wohl durchschnittlich beherrscht: es besteht eine Pflicht zur Unterstützung des Armen seitens der Allgemeinheit und der Wohlhabenden, die ihren zureichenden Zweck in der gebesserten Situation des Armen selbst findet; dieser korrespondiert ein Anspruch des letzteren, als die andere Seite der rein moralischen Beziehung zwischen Notleidenden und Gutgestellten. 

Täusche ich mich nicht, so hat sich seit dem 18. Jahrhundert die Betonung innerhalb dieser Beziehung etwas verschoben.

Das Ideal der Humanität und der Menschenrechte hatte, am deutlichsten in England, den zentralistischen Gesichtspunkt des Armengesetzes der Elisabeth: dem Armen sei, im Interesse der Gesamtheit, Arbeit zu verschaffen - verdrängt: jedem Armen, gleichviel ob er arbeiten konnte und wollte oder nicht, stünde ein Existenzminimum zu; die moderne Wohltätigkeit dagegen lässt die Korrelation zwischen sittlicher Pflicht und sittlichem Recht mehr von der ersteren her sich realisieren. 

Ersichtlich wird diese Form wesentlich von der privaten im Unterschiede von der staatlichen Wohltätigkeit verwirklicht und ihre soziologische Bedeutung nach dieser Seite hin steht jetzt in Frage. 

Zunächst ist hier die schon angedeutete Tendenz zu konstatieren, die Armenpflege immer mehr als Angelegenheit des weitesten staatlichen Kreises zu behandeln, nachdem sie allenthalben ursprünglich auf der Ortsgemeinde basiert war. 

Dies letztere war zunächst die Folge des genossenschaftlichen Bandes, das die Gemeinde umschlang: bevor das überindividuelle Gebilde, das der einzelne um und über sich sah, sich aus der Gemeinde in den Staat transformierte und die Freizügigkeit diesen Prozess sachlich und psychologisch vollendete, war es das Natürliche, dass die Ortsgenossen den Bedürftigen unterstützten. 

Dazu kommt das für die ganze Soziologie des Armen äusserst Wichtige: dass von allen nicht-individualistischen, sondern auf eine rein generelle Qualität gegründeten sozialen Ansprüchen der des Armen der sinnlich eindrucksvollste ist; von so akuten Erregungen, wie durch Unglücksfälle oder durch sexuelle Provokationen abgesehen, gibt es gar keine, die so ganz unpersönlich, so gleichgültig gegen die sonstigen Beschaffenheiten ihres Gegenstandes und zugleich so wirksam und unmittelbar beanspruchend wäre, wie die durch Not und Elend. 

Dies hat von jeher der Armenpflicht einen spezifisch lokalen Charakter gegeben; sie statt dessen in einem so grossen Kreise zu zentralisieren, dass sie statt durch unmittelbare Anschauung nur noch durch den allgemeinen Begriff der Armut in Funktion tritt - das ist einer der längsten Wege, die soziologische Formen zwischen Sinnlichkeit und Abstraktion zurückgelegt haben. 

Indem sich nun diese Wendung der Armenfürsorge zur staatlich abstrakten Verpflichtung vollzog - in England von 1834, in Deutschland etwa von der Mitte des Jahrhunderts an - modifizierte sich ihr Wesen entsprechend dieser Zentralisierungsform. 

Vor allem: der Staat behält zwar für den wesentlichen Teil der Fürsorge die Gemeinde als Verpflichtete bei, aber sie ist jetzt nur seine Beauftragte; die lokale Organisierung ist zu einer blossen Technik geworden, mit der die grösste objektive Leistungsfähigkeit erreicht werden soll; die Gemeinde ist nicht mehr der Ausgangspunkt, sondern der Durchgangspunkt der Fürsorge; deshalb werden allenthalben die Armenverbände nach Zweckmässigkeitsrücksichten zusammengelegt, z. B. in England so, dass sie je ein Workhouse unterhalten können, und dass sie - das ist bewusste Tendenz - von der Einseitigkeit lokaler Einflüsse frei bleiben. 

In demselben Sinne wirkt die steigende Verwendung besoldeter Armenbeamter. 

Ein solcher steht dem Armen viel mehr als Vertreter der Allgemeinheit, von der er durch seine Besoldung abhängig ist, gegenüber, als der unbesoldete, der sozusagen mehr als Mensch funktioniert und statt des bloss objektiven Gesichtspunktes eher den humanen, von Mensch zu Mensch gelten lassen wird. 

Endlich tritt eine soziologisch höchst bezeichnende Teilung der Aufgaben ein. 

Dass die Armenpflege auch weiterhin im wesentlichen der Gemeinde delegiert wird, ist deshalb sehr zweckmässig, weil jeder Fall individuell behandelt werden muss, und dies nur aus der Nähe und der genauen Milieukenntnis möglich ist; hat aber die Gemeinde die Unterstützung zu bewilligen, so muss sie auch die Mittel aufbringen, weil sie mit Staatsgeldern leicht allzu freigebig wirtschaften würde. 

Andererseits gibt es Fälle von Bedürftigkeit, für die die so vermiedene Gefahr der Schematisierung von vornherein nicht besteht, weil sie und die erforderlichen Pflegeakte nach ganz objektiven Kriterien festzustellen sind: Krankheit, Blindheit, Taubstummheit, Irrsinn, Siechtum. 

Hier ist die Fürsorge eine mehr technische und deshalb der Staat oder der grosse Verband viel leistungsfähiger; seine grösseren Mittel und zentralisierte Administration zeigen hier, wo die Personalien und die lokalen Verhältnisse weniger entscheidend sind, ihre überwiegenden Vorteile. 

Und neben diese qualitative Bestimmung der direkten Staatsleistungen tritt die quantitative, die jene besonders von der Privatwohltätigkeit scheidet: der Staat oder überhaupt die Öffentlichkeit sorgt nur für das dringendste und unmittelbarste Bedürfnis. 

Allenthalben, am deutlichsten in England, hat die Armenpflege das ganz feste Prinzip, dass man aus der Tasche der Steuerzahler dem Armen nur das absolut erforderliche Minimum der Lebenshaltung gewähren dürfe.

Dies hängt sehr tief mit dem Charakter geistiger Gesamtaktionen überhaupt zusammen. 

Das Gemeinsame, das Kräfte oder Interessen vieler Individuen in sich begreift, kann den Besonderheiten dieser nur dann Raum geben, wenn ein arbeitsteiliges Gesamtgebilde in Frage steht, dessen Glieder verschiedenartige Funktionen üben. 

Wird aber statt dessen ein in sich einheitliches Verfahren erfordert, sei es ein unmittelbares, sei es durch ein vertretendes Organ, so kann der Inhalt desselben eben nur jenes relative Minimum der Persönlichkeitssphäre enthalten, in der sie sich mit jeder anderen sicher deckt. 

Daraus ergibt sich zunächst, dass im Namen einer Gesamtheit keine grössere Aufwendung gemacht werden darf, als sie auch ihrem sparsamsten Mitglied zugemutet werden kann. 

Eine Gesamtheit, die sich aktuell zusammen befindet, mag einer Aufwallung verschwenderischer Grossmut folgen; allein wo der Wille jedes einzelnen nicht so unmittelbar erwiesen wird, sondern seitens Beauftragter vorausgesetzt werden muss, kann diese Voraussetzung nur die sein, dass jeder so wenig wie möglich ausgeben will. 

Dies ist freilich keine logisch unabweisbare Notwendigkeit - denn ein logischer Widerspruch wäre auch das Gegenteil nicht - aber es entspringt einem psychologischen Dogma, das durch das überwältigende Mass seiner empirischen Bestätigungen den praktischen Wert des logisch Beweislichen erworben hat. 

Der Massenvorgang hat inhaltlich wegen seiner Notwendigkeit, auch die unterste Stufe der intellektuellen, ökonomischen, kulturellen, ästhetischen usw. Skala zu umfassen, den Charakter eines Minimums: das für alle gültige Recht hat man als das ethische Minimum bezeichnet, die für alle gültige Logik ist das intellektuelle Minimum, das für alle beanspruchte »Recht auf Arbeit« kann sich nur auf diejenige erstrecken, die ihrer Wertqualität nach ein Minimum darstellt, die Zugehörigkeit zu einer Partei fordert prinzipiell nur, dass man das Minimum von Grundsätzen, ohne das sie nicht bestehen kann, anerkenne. 

Dieser Typus des sozialen Minimums drückt sich am vollkommensten in dem sogar direkt negativen Charakter der Massenvorgänge und Interessen aus. 

Das Schweizer Referendum hat überraschend oft und zwar den verschiedensten Gesetzesvorschlägen gegenüber Ablehnung ergeben. Verneinung ist das Einfachste, in dem grosse Massen sich zusammenfinden, deren Elemente sich auf ein positives Ziel nicht vereinigen könnten. 

Das Nein ist etwas so allgemeines, dass es kein ja, von dem es ergänzt würde, präjudiziert, so dass sich eine Summe von Personen darin treffen kann, für die es keinerlei gemeinsames ja gibt. 

Was den griechischen Stämmen gemeinsam war und sie als ein Volk charakterisierte, das hat man angesichts der ungeheuren Unterschiede zwischen ihnen nur in negativen Zügen zu finden gemeint - weder Menschenopfer noch Verstümmelung, weder Verkauf der Kinder noch Polygamie, noch unbedingte Unterwürfigkeit unter einen Alleinherrscher habe es irgendwo unter Griechen gegeben, und dieses Negative sei ihr Gemeinsames gegenüber Karthagern und Ägyptern, Persern und Thraziern gewesen. 

Je grösser ein Kreis ist, für den ein Gesetz des Ver-haltens gelten soll, desto mehr beschränkt es sich auf die Form: Du sollst nicht. Als aus dem Verfall des arabischen Polytheismus Allah hervorging, hatte er - etwa im Gegensatz zu dem partikularistischen jüdischen Volksgott - einen ganz abstrakten Charakter, der ihn zu viel weiterer Ausbreitung als jenen befähigte; und dies spricht sich höchst bezeichnend darin aus, dass der ursprüngliche Allahbegriff nur den »Zurückhalter« bedeutet: nicht zu einem positiven Guten anzutreiben, sondern nur vom Bösen zurückzuhalten, ist die Funktion dieses Gottes, der sich über die singuläre Beschränkung des Volksgottes erheben soll. 

So ist, dass die Leistung der Gesamtheit als solcher dem Armen gegenüber sich auf ein Minimum beschränkt, durchaus dem typischen Wesen ihrer Aktionen angemessen. 

Dem Motive hierzu: dass sie nur das in jedem einzelnen mit Sicherheit Vorhandene zu ihrem Inhalt hat - entspringt auch der zweite Grund dieses Verhaltens: dass die auf das Minimum beschränkte Unterstützung des Armen objektiven Charakter hat. 

Mit annähernder Sicherheit lässt sich sachlich fixieren, was dazu gehört, jemanden vor physischem Verkommen zu bewahren. Jede Gewährung darüber hinaus, jede Begünstigung zu positivem Höherkommen verlangt viel weniger eindeutige Kriterien, ist nach Mass und Art subjektiveren Schätzungen anheimgegeben. 

Ich erwähnte oben, dass die Fälle von nicht subjektiv sehr verschiedener und deshalb keine subjektive Beurteilung fordernder Bedürftigkeit - also insbesondere durch Krankheit und körperliche Minderwertigkeit -, sich am meisten für die staatliche Fürsorge eignen, während die individuell gestalteten Fälle besser der engeren Ortsgemeinde zufallen; eben diese objektive Feststellbarkeit des Erforderlichen, die zum Eingreifen der grössten Allgemeinheit disponiert, liegt vor, sobald die Unterstützung sich auf das Minimum beschränkt.

Die alte erkenntnistheoretische Korrelation zwischen Allgemeinheit und Objektivität tritt auch hier wieder hervor; im Gebiet des Erkennens ist die wirkliche Allgemeinheit, die Anerkennung eines Satzes durch die - zwar nicht historisch-wirkliche, sondern ideale - Allheit der Geister eine Seite oder ein Ausdruck seiner Objektivität - während ein anderer für einen oder viele einzelne unumstösslich gewiss sein und die volle Bedeutung der Wahrheit besitzen mag, dabei aber des eigentümlichen Cachets ermangelt, das wir eben Objektivität nennen. 

So kann im Praktischen eine Leistung der Allgemeinheit prinzipiell nur auf einen schlechthin objektiven Grund hin beansprucht werden; wo der Grund nur subjektiv beurteilbar ist und der rein sachlichen Festgestelltheit entbehrt, mag der Anspruch nicht weniger dringlich, seine Erfüllung nicht weniger wertvoll sein, aber er richtet sich nur an einzelne, seiner Beziehung auf rein individuelle Verhältnisse entspricht seine Erfüllung durch blosse Individuen. Wenn der objektive Gesichtspunkt mit der Tendenz zur Verstaatlichung aller Armenpflege - die freilich bis jetzt nirgends völlig über das Tendenzstadium hinausreicht - Hand in Hand geht, so ist das inhaltlich normierende Mass, dessen logische Anwendung eben Objektivität bedeutet, nicht nur von dem Armen her, sondern auch vom Staatsinteresse her gegeben.

Hier kommt nämlich eine wesentliche soziologische Form der Beziehung von Individuum und Allgemeinheit zur Geltung. Wo Gewährung oder Eingriffe von der Vollziehung durch Individuen in die durch die Gesamtheit übergehen, pflegt die Regulierung durch die letztere entweder einem Zuviel, oder einem Zuwenig der individuellen Aktion zu gelten. 

Mit der gesetzlichen Schulbildung erzwingt sie es, dass der einzelne nicht zu wenig lerne; ob er Lust hat, mehr oder »zu viel« zu lernen, überlässt sie ihm; mit dem gesetzlichen Arbeitstag bewirkt sie, dass der Unternehmer seinen Arbeitern nicht zu viel zumute, wie viel weniger aber er ihnen zumuten will, überlässt sie ihm. 

Und so steht ihre Regulierung allenthalben nur an der einen Seite einer Aktion, während die andere der Freiheit des Individuums anheimgegeben ist. 

Dies ist das Schema, unter dem uns unsere sozial kontrollierten Handlungen erscheinen: sie sind gleichsam nur an einem Ende begrenzt, die Gesellschaft setzt ihrem Viel oder ihrem Wenig eine Schranke, während an ihrem anderen ihr Wenig oder Viel der Schrankenlosigkeit subjektiven Beliebens gehört. 

Nun aber täuscht dieses Schema sich uns auch in manchen Fällen vor, in denen die soziale Regulierung tatsächlich nach beiden Seiten stattfindet und nur das praktische Interesse die Aufmerksamkeit auf die eine lenkt, und die andere übersehen lässt. 

Wo z. B. die Privatbestrafung des Unrechts an die Gesellschaft und ein objektives Strafrecht überging, hat man in der Regel nur im Auge, dass damit eine grössere Sicherheit der Sühne, ein wirklich ausreichendes Mass und Gewissheit des Vollzugs erreicht würde.

Aber in Wirklichkeit handelt es sich nicht nur darum, dass genug, sondern auch, dass nicht zuviel gestraft werde. Die Gesellschaft schützt nicht nur den eventuell Beschädigten, sondern sie schützt auch den Verbrecher gegen das Zuviel der subjektiven Reaktion, d. h. sie setzt der Strafe dasjenige Mass als das objektive, welches nicht den Wünschen oder Zwecken des Geschädigten, sondern den ihren, den sozialen Interessen entspricht. 

Und so nicht nur in gesetzlich festgelegten Beziehungen. jede nicht ganz tiefe Gesellschaftsschicht hält darauf, dass jedes ihrer Mitglieder einen bestimmten Mindestaufwand für seine Kleidung leiste, sie fixiert eine Grenze des »anständigen« Anzugs, unterhalb deren bleibend man ihr nicht mehr zugehört. 

Allein, zwar nicht mit der gleichen Schärfe und nicht mit so bewusster Betonung, setzt sie doch auch eine Grenze nach der anderen Seite: ein gewisses Mass von Luxus und Eleganz, ja manchmal sogar von Modernität, schickt sich in diesen und jenen Kreisen nicht, wer diese obere Schwelle überschreitet, wird gelegentlich als nicht ganz dazu gehörig behandelt. 

So lässt die Gruppe auch nach dieser zweiten Seite hin die Freiheit des Individuums sich doch nicht völlig, expandieren, sondern setzt dem subjektiven Belieben eine objektive Grenze, d. h. eine solche, die ihre überindividuellen Lebensbedingungen fordern. 

Diese Grundform nun wiederholt sich bei der Übernahme der Armenpflege durch die Gesamtheit.

Während sie zunächst dabei nur das Begrenzungsinteresse zu haben scheint: dass der Arme auch sein richtiges Teil, dass er nicht zu wenig erhält, besteht doch auch, weniger sichtbar, weniger praktisch wirksam, das andere: dass er nicht zu viel erhält. 

Die Unzulänglichkeit der privaten Fürsorge liegt nicht nur in dem Zuwenig, sondern auch in dem Zuviel, das den Armen zum Müssiggang erzieht, die vorhandenen Mittel wirtschaftlich unproduktiv verwendet und den einen launenhaft auf Kosten des anderen begünstigt. 

Der subjektive Wohltätigkeitstrieb sündigt nach beiden Seiten hin, und obgleich die Gefahr nach dem Zuviel hin nicht so gross ist, als nach dem Zuwenig, so steht doch auch über ihr die objektive Norm, die dem Interesse der Allgemeinheit ein im Subjekt als solchem nicht auffindbares Mass entnimmt.

Diese Erhebung über den subjektiven Gesichtspunkt aber gilt, wie für den Geber, so für den Empfänger der Wohltat. 

Indem die englische Staatsarmenfürsorge nur bei völliger Mittellosigkeit eintritt, die objektiv feststeht, - nämlich dadurch, dass das Workhouse einen so wenig angenehmen Aufenthalt bietet, dass niemand ihn anders als bei wirklicher äusserster Not erwählt - verzichtet sie ganz auf die Prüfung der persönlichen Würdigkeit. 

Ihre Ergänzung ist deshalb die Privatwohltätigkeit, die dem bestimmten würdigen Individuum gilt, und, weil für die dringendste Not schon der Staat sorgt, viel individueller auswählen kann. 

Sie hat die Aufgabe, den vor dem Verhungern schon geschützten Armen wieder erwerbsfähig zu machen, die Not zu heilen, für die der Staat nur momentane Linderung hat. 

Nicht die Not als solche, der terminus a quo, bestimmt sie, sondern das Ideal, selbständige und wirtschaftlich wertvolle Individuen zu schaffen; der Staat verfährt im kausalen, die Privatwohltätigkeit im teleologischen Sinne. 

Oder anders ausgedrückt: der Staat kommt der Armut, die Privatwohltätigkeit dem Armen zu Hilfe. 

Hierin liegt ein soziologischer Unterschied ersten Ranges. 

Die abstrakten Begriffe, mit denen aus der individuell komplizierten Wirklichkeit gewisse Einzelelemente herauskristallisieren, gewinnen unzählige Male für die Praxis eine Lebendigkeit und Wirksamkeit, die eigentlich nur den konkreten Totalerscheinungen zuzukommen scheint. 

Dies beginnt mit ganz intimen Verhältnissen. 

Der Sinn mancher erotischer Beziehungen ist gar nicht anders auszudrücken, als dass mindestens eine der Parteien nicht den Geliebten sucht, sondern die Liebe, nur dass ihr überhaupt dieser Gefühlswert entgegengebracht werde, bei oft merkwürdiger Gleichgültigkeit gegen die Individualität des Liebenden. 

In religiösen Verhältnissen erscheint manchmal als das allein Wesentliche, dass eine bestimmte Art und Mass von Religiosität da sei, während die Träger derselben irrelevant sind; das Verhalten des Priesters, die Beziehung des Gläubigen zu seiner Gemeinde wird nur durch dieses Allgemeine bestimmt, ohne Rücksicht auf die besonderen Motive, die in dem Individuum diese Stimmung erzeugen und färben, und ohne ein besonderes Interesse für diese Individuen, die nur als Träger jener unpersönlichen Tatsache in Betracht kommen, oder richtiger: nicht in Betracht kommen. 

In sozialethischer Hinsicht fordert ein Rationalismus, dass der Verkehr der Menschen auf subjektiver Wahrhaftigkeit schlechthin gegründet sei. 

Die Wahrheit, als objektive Qualität der Aussage, dürfe jeder fordern, zu dem diese geschähe, völlig gleichgültig gegen dessen besondere Qualifikationen und gegen die besonderen Umstände des Falles; ein von den letzteren bestimmtes, individuell abgestuftes Recht auf Wahrheit könne es nicht geben; die Wahrheit, und nicht der Sprechende oder Hörende in ihren Individualisationen sei die Voraussetzung, der Inhalt oder der Wert des Gruppenverkehrs. 

An derselben Frage scheiden sich Tendenzen der Kriminalstatistik: gilt die Strafe dem Verbrechen oder dem Verbrecher? 

Ein abstrakter Objektivismus fordert die Strafe, weil das Verbrechen geschehen ist, als eine Ausgleichung der gestörten realen oder idealen Ordnung, fordert sie, auf Grund der Logik der Ethik, als Konsequenz der unpersönlichen Tatsache des Verbrechens. 

Von anderem Standpunkte aus soll gerade nur das sündhafte Subjekt getroffen werden: die Strafreaktion tritt ein, nicht weil das Verbrechen als etwas Objektives geschehen ist, sondern weil ein in ihm sich offenbarendes Subjekt der Sühne, der Erziehung, der Unschädlichmachung bedarf; so dass alle individuellen Umstände des Falles in die Strafabmessung genau so hineinbezogen werden wie die allgemeine Tatsache des Verbrechens überhaupt. 

Diese doppelte Attitüde nun gilt auch der Armut gegenüber. 

Man kann von der Armut als von einer sachlich bestimmten Erscheinung ausgehen und sie als solche zu beseitigen suchen: an wem, aus welchen individuellen Ursachen, mit welchen individuellen Folgen auch immer sie hervortritt, sie fordert Abhilfe, Ausgleichung dieses sozialen Mankos. 

Auf der anderen Seite richtet sich das Interesse auf das arme Individuum - zwar weil es arm ist, aber man will mit der Hilfsaktion nicht die Armut überhaupt, pro rata, beseitigen, sondern diesem bestimmten Armen aufhelfen. 

Seine Armut wirkt hier nur als eine einzelne und singuläre Bestimmung seiner, sie ist sozusagen nur die aktuelle Veranlassung, sich mit ihm zu beschäftigen, er soll als Ganzer in eine Situation gebracht werden, in der die Armut von selbst verschwindet.

Darum richtet sich jene Fürsorge mehr auf die Tatsache, diese mehr auf die Ursache der Armut. 

Es ist übrigens dieser Formulierung gegenüber soziologisch wichtig zu beachten, dass die naturgemässe Verteilung der beiden Fürsorgearten auf Staat und Privatpersonen sich modifiziert, sobald man die Kausalkette noch um eine Stufe tiefer verfolgt. 

Der Staat begegnet - am entschiedensten eben in England - der äusserlich erscheinenden Not, die Privatwohltätigkeit ihren individuellen Ursachen; allein die fundamentalen, ökonomisch-kulturellen Zustände, auf denen als Basis sich jene persönlichen Verhältnisse erheben - diese zu gestalten ist wieder Sache der Allgemeinheit; und zwar sie so zu gestalten, dass sie der individuellen Schwäche oder ungünstigen Präjudiziertheit, dem Ungeschick oder dem Missgeschick möglichst wenig Chance geben, Verarmung zu erzeugen. 

Hier, wie in vielen anderen Hinsichten, greift die Allgemeinheit, ihre Zustände, Interessen, Aktionen, gleichsam um die individuellen Bestimmtheiten herum: jene stellt einerseits eine unmittelbare Oberfläche dar, in die die Elemente ihre Erscheinung, die Resultate ihres Eigenlebens hineingehen; andernteils ist sie der breite Untergrund, auf dem dieses letztere wächst - - aber doch so, dass aus seiner Einheit heraus die Verschiedenheiten der individuellen Anlagen und Situationen eine unübersehbare Buntheit von Einzelerscheinungen zu jener Oberfläche des Ganzen liefern.1)

Dem englischen Armenprinzip, das zu dieser Verallgemeinerung Anlass gab, ist das französische direkt entgegengesetzt. Hier gilt die Armenfürsorge von vornherein als die Domäne privater Vereine und Personen, und der Staat greift nur ein, wo diese nicht genügt. 

Solche Umkehrung bedeutet natürlich nicht, dass die Privaten, wie dort der Staat, für das Dringlichste sorgen, der Staat aber wie dort die Privaten, für das darüber Hinausgehende, individuell Wünschenswerte. 

Das französische Prinzip bringt es vielmehr unverkennbar mit sich, dass inhaltlich zwischen beiden Stufen der Hilfe nicht so scharf und grundsätzlich wie in England geschieden werden kann. Die Situation wird sich deshalb praktisch für den Armen hier und dort oft gleich gestalten. 

Dass aber in den soziologischen Prinzipien hiermit ein Unterschied ersten Ranges gegeben ist, liegt auf der Hand: es ist ein Sonderfall des grossen Prozesses, in dem die unmittelbare Wechselwirkung der Gruppenelemente in die Aktion der überindividuell-einheitlichen Gesamtheit übergeht, und nachdem dies überhaupt einmal geschehen ist, zwischen beiden sozialen Funktionsweisen fortwährende Ausgleichungen, Verdrängungen, Rangverschiebungen stattfinden. 

Ob die soziale Spannung oder Disharmonie, die als individuelle Armut auftritt, unmittelbar zwischen den Elementen der Gesellschaft zur Lösung gebracht wird, oder durch Vermittlung der Einheit, die aus den gesamten Elementen aufgewachsen ist, - das ist ersichtlich eine Entscheidung, die mit formaler Gleichheit auf dem ganzen gesellschaftlichen Gebiet, wenngleich nur selten so reinlich und deutlich wie hier, erfordert wird. 

Dieses Naheliegende bedarf nur der Erwähnung, damit nicht übersehen werde, wie sehr auch die »private« Armenfürsorge ein soziales Geschehen sei, eine soziologische Form, die dem Armen nicht weniger entschieden - nur nicht für den oberflächlichen Blick ebenso deutlich - eine Stellung als organisches Glied des Gruppenlebens zuweist. 

Diese Tatsache wird gerade durch die Übergangsformen zwischen beiden scharf beleuchtet: durch die Armensteuer einerseits, durch die gesetzliche Alimentationspflicht für arme Verwandte andererseits. 

Solange noch eine besondere Armensteuer besteht, hat das Verhältnis zwischen der Gesamtheit und dem Armen noch nicht die abstrakte Reinheit erlangt, die diesen in unmittelbare Verbindung mit dem Ganzen als ungeteilter Einheit setzt; der Staat ist vielmehr nur der Vermittler, der die individuellen, wenn auch nicht mehr freiwilligen Beiträge ihrer Bestimmung zuführt. 

Sobald die Armensteuer in der Steuerpflicht überhaupt aufgegangen ist, und die Fürsorge aus den allgemeinen Staats- oder Kommunaleinkünften erfolgt, ist jene Verbindung vollzogen, die Unterstützungsbeziehung zum Armen wird eine Funktion der Gesamtheit als solcher, nicht mehr der Summe der Individuen, wie im Falle der Armensteuer. 

Das Gesamtinteresse münzt sich sozusagen in noch spezialisiertere Form aus, wo das Gesetz die Unterstützung bedürftiger Verwandter erzwingt. 

Die Privatunterstützung, auch in jedem anderen Fall von der Struktur und Teleologie des Gesamtlebens umfasst, wird hier in bewusster Zuspitzung von demselben dominiert.

Was oben betont wurde: dass das Verhältnis der Gesamtheit zu ihren Armen eine ebenso formale gesellschaftsbildende Funktion sei, wie das zum Beamten oder zum Steuerzahler - will ich von dem jetzt erreichten Standpunkt aus noch einmal darlegen. 

Ich verglich ihn dort näher mit dem Fremden, der gleichfalls der Gruppe gegenüber steht - allein dieses Gegenüber bedeutet eine ganz bestimmte Beziehung, die ihn als ein Element in das Gruppenleben hineinzieht. 

So steht der Arme freilich ausserhalb der Gruppe, indem er ein blosses Objekt für Vornahmen der Gesamtheit mit ihm ist, aber dieses Ausserhalb ist - kurz ausgedrückt - nur eine besondere Form des Innerhalb. 

Alles dies verhält sich in der Gesellschaft, wie sich nach dem Kantischen Ausdruck das räumliche Aussereinander in dem Bewusstsein verhält: im Raum sei zwar alles aussereinander, und das Subjekt, als anschauliches, ausserhalb der anderen Dinge - aber der Raum selbst sei »in mir«, in dem Subjekt im weiteren Sinne. 

Genauer betrachtet aber lässt sich die so bezeichnete Doppelstellung des Armen - wie des Fremden - in nur graduellen Modifikationen an allen Gruppenelementen überhaupt feststellen. 

Ein Individuum mag noch so sehr mit positiven Leistungen dem Gruppenleben inhärieren, noch so sehr seine persönlichen Lebensinhalte in dessen Kreislauf verweben und aufgehen lassen: es steht doch dieser Gesamtheit zugleich gegenüber, gebend und empfangend, gut oder schlecht von ihr behandelt, ihr innerlich oder nur äusserlich verpflichtet, kurz als Partei oder als Objekt dem sozialen Kreise als einem Subjekt gegenüber, zu dem es durch eben dieselben, jene Verhältnisse begründenden Aktionen und Zustände als Glied, als Subjekt-Teil, gehört. 

Diese Doppelheit der Position, logisch schwer vereinbar scheinend, ist eine ganz elementare soziologische Tatsache. 

Sie tritt schon an so einfachen und durchsichtigen Gebilden, wie die Ehe ist, hervor. jeder der Ehegatten sieht, unter gewissen Konstellationen, die Ehe als ein sozusagen selbständiges Gebilde sich gegenüber, Pflichten, Repräsentationen, Gutes und Böses bereitend - ohne dass dies von dem anderen Gatten als Person ausginge, sondern von dem Ganzen, das jeden seiner Teile sich zum Objekt macht, so sehr es selbst unmittelbar nur aus diesen Teilen besteht. 

Dieses Verhältnis des simultanen Drinnen und Draussen wird zugleich komplizierter und anschaulicher in dem Masse, in dem die Gliederzahl der Gruppe steigt. 

Nicht nur, weil in eben diesem das Ganze eine den einzelnen überwältigende Selbständigkeit gewinnt, sondern vor allem, weil die entschiedeneren Differenzierungen unter den Individuen zu einer ganzen Skala von Nuancen jenes Doppelverhältnisses disponieren.

Dem Fürsten und dem Bankier, der Weltdame und dem Priester, dem Künstler und dem Beamten gegenüber hat die Gruppe ein je besonderes Mass, sich einerseits die Person zum Objekt zu machen, mit ihr zu »verfahren«, sie zu unterwerfen, oder als Macht gegen Macht anzuerkennen - und sie andererseits als unmittelbares Element ihres Lebens in sich einzuziehen, als Teil eben des Ganzen, das wieder anderen Elementen gegenübertritt. 

Dies ist vielleicht eine ganz einheitliche Attitüde des Sozialwesens als solchen, die sich nach diesen beiden Seiten hin auseinanderlegt oder von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus so verschieden erscheint - ungefähr wie die einzelne Vorstellung der Seele gegenübersteht, gerade so weit von ihr als Ganzem gelöst, dass sie von der Gesamtstimmung als solcher beeinflusst werden kann: gefärbt, gehoben oder unterdrückt, geformt oder aufgelöst - während sie doch zugleich ein integrierender Teil dieses Ganzen ist, ein Element der Seele, die nur aus dem Miteinander und Ineinander solcher Elemente besteht. 

Auf jener Skala nimmt der Arme eine eindeutig bestimmte Stelle ein. 

Die Unterstützung, zu der die Gesamtheit im eigenen Interesse verpflichtet ist, die der Arme aber in den weitaus meisten Fällen nicht zu fordern berechtigt ist, macht ihn zu einem Objekt der  Gruppenaktion, stellt ihn in eine Distanz gegen das Ganze, die ihn oft als ein corpus vile von der Gnade dieses Ganzen leben, ihn oft gerade aus diesem Grunde zu einem erbitterten Feinde desselben werden lässt. 

Der Staat drückt dies aus, wenn er dem Empfänger öffentlicher Almosen gewisse staatsbürgerliche Rechte entzieht. 

Aber dieses Ausserhalb bedeutet doch keine absolute Trennung, sondern gerade eine ganz bestimmte Beziehung zum Ganzen, das ohne dieses Element eben anders wäre als es ist, und mit der so gewonnenen, den Armen in seine Totalität einschliessenden Beschaffenheit, in jenes Gegenüber, jene Behandlung seiner als eines Objektes eintritt.

Nun scheinen diese Bestimmungen nicht für die Armen überhaupt zu gelten, sondern nur für einen gewissen Teil derselben: diejenigen, die Unterstützung empfangen - während es doch genug Arme gibt, die nicht unterstützt werden. 

Das letztere weist auf den relativistischen Charakter des Armutsbegriffes hin. Arm ist derjenige, dessen Mittel zu seinen Zwecken nicht zureichen. 

Dieser rein individualistische Begriff verengt sich für seine praktische Anwendung dahin, dass bestimmte Zwecke als der willkürlichen und bloss Persönlichen Setzung enthoben gelten. 

Zunächst die dem Menschen physisch oktroyierten: Nahrung, Kleidung, Obdach. Allein es ist kein Mass dieser Bedürfnisse mit Sicherheit festzustellen, das unter allen Umständen und überall in Kraft wäre und unterhalb dessen also Armut im absoluten Sinne bestünde. 

Vielmehr jedes allgemeine Milieu und jede besondere soziale Schicht besitzt typische Bedürfnisse, denen nicht genügen zu können Armut bedeutet. 

Daher die für alle entwickeltere Kultur banale Tatsache, dass Personen, die innerhalb ihrer Klasse arm sind, es innerhalb einer tieferen keineswegs wären, weil zu den für die letztere typischen Zwecken ihre Mittel zulangen würden. Dabei mag der, absolut genommen, Ärmste unter der Diskrepanz seiner Mittel zu seinen klassenmässigen Bedürfnissen nicht leiden, so dass gar keine Armut im psychologischen Sinne besteht; oder der Reichste mag sich Zwecke setzen, die über jene klassenmässig vorausgesetzten Wünsche und über seine Mittel hinausgehen, so dass er sich psychologisch als arm empfindet. 

So kann individuelle Armut – das Nichtzureichen der Mittel zu den Zwecken der Person - ausbleiben, wo ihr sozialer Begriff statthat, und sie kann vorhanden sein, wo von ihr im letzteren Sinne keine Rede ist. 

Ihr Relativismus bedeutet nicht das Verhältnis der individuellen Mittel zu den tatsächlichen individuellen Zwecken, - dies ist etwas Absolutes, dem inneren Sinne nach von allem, was jenseits des Individuums liegt, Unabhängiges - sondern zu den standesmässig fixierten Zwecken des Individuums, zu seinem sozialen Apriori, das von Stand zu Stand wechselt. 

Es ist im übrigen ein sehr bezeichnender sozialgeschichtlicher Unterschied, welches Mass von Bedürfnissen jede Gruppe gleichsam als den Nullpunkt fixiert, unterhalb und oberhalb dessen Armut und Reichtum beginnt. 

Sie hat bei einigermassen ausgebildeten Verhältnissen immer einen Spielraum, oft einen erheblichen, für diese Fixierung. 

Wie die Lage dieses Punktes sich zu der des wirklichen Durchschnitts verhält; ob man schon zu der begünstigten Minderheit gehören muss, um bloss nicht als arm zu gelten, ob umgekehrt eine Klasse, aus instinktiver Zweckmässigkeit das Überhandnehmen der Armutsgefühle vermeidend, den Teilstrich sehr tief ansetzt, jenseits dessen erst Armut beginnt: ob eine Einzelerscheinung imstande ist, diesen Teilstrich zu verrücken, (wie es z. B. leicht durch den Zuzug einer wohlhabenden Persönlichkeit in eine kleine Stadt oder in einen sonstigen engen Kreis stattfindet) oder ob die Gruppe an ihrer einmal ausgebildeten Fixierung für Arm und Reich konsequent festhält - das sind offenbar tiefgreifende soziologische Differenzen.

Daraus, dass die Armut sich innerhalb jeder sozialen Schicht zeigt, die einen Standard typischer, für jedes Individuum vorausgesetzter Bedürfnisse ausgebildet hat - ergibt sich also ohne weiteres, dass vielfach eine Unterstützung für sie gar nicht in Frage kommt. 

Dennoch erstreckt sich das Unterstützungsprinzip weiter, als seine gleichsam offiziellen Erscheinungen zeigen. Wenn z. B. innerhalb einer weiteren Familie ärmere und reichere Mitglieder sich untereinander beschenken, gibt dies nicht nur den letzteren eine gute Manier an die Hand, jenen ein Plus über das von ihnen empfangene Wertquantum zuzuwenden, sondern gerade die Qualität der Geschenke zeigt den Unterstützungscharakter: dem Ärmeren schenkt man nützliche Gegenstände, d. h. solche, die ihm den erwähnten Klassenstandard innezuhalten erleichtern; weshalb denn die Geschenke unter dieser soziologischen Konstellation in den verschiedenen Ständen ganz verschieden ausfallen. 

Die Soziologie des Geschenkes fällt zum Teil mit der der Armut zusammen. 

An dem Geschenk, sowohl nach seinem Inhalt, wie nach der Gesinnung und Art des Gebens - und auch nach der des Annehmens - ist eine höchst reiche Skala der Gegenseitigkeitsbeziehungen der Menschen zu entwickeln. Geschenk, Raub, Tausch sind die äusserlichen Wechselwirkungsformen, die sich unmittelbar an die Besitzfrage knüpfen und von denen jede einen unübersehlichen Reichtum seelischer, den soziologischen Vorgang bestimmender Eigentümlichkeiten in sich aufnimmt. 

Sie entsprechen den drei Motiven des Handelns: Altruismus, Egoismus, objektive Normierung; denn es ist das Wesen des Tausches, dass objektiv gleiche Werte gegeneinander eingesetzt werden, die subjektiven Momente der Güte oder der Habsucht bleiben jenseits des Vorgangs, in ihm, soweit er seinen Begriff rein darstellt, misst sich der Wert des Gegenstandes nicht an dem Begehren des Individuums, sondern an dem Wert des anderen Gegenstandes. 

Von diesen dreien nun zeigt das Geschenk die grösste Fülle soziologischer Konstellationen, weil sich in ihm die Gesinnung und Lage des Gebenden und die des Empfangenden in all ihren individuellen Nuancen auf das mannigfaltigste kombinieren. 

Unter den vielen Kategorien, die eine sozusagen systematische Anordnung dieser Erscheinungen ermöglichen, erscheint für das Problem der Armut wohl diese als die wichtigste: ob der eigentliche Sinn und Zweck des Schenkens in dem mit ihm erreichten Endzustand liegt, darin, dass der Empfänger eben ein bestimmtes Wertobjekt haben soll - oder in der Aktion selbst, in dem Schenken als dem Ausdruck einer Gesinnung des Gebenden, einer Liebe, die opfern muss, oder einer Expansion des Ich, das sich, mehr oder minder wahllos, im Schenken ausströmt; in diesem letzteren Falle, in dem der Prozess des Schenkens sozusagen sein eigener Endzweck ist, spielt die Frage von Reichtum oder Armut ersichtlich gar keine Rolle, es sei denn um praktischer Möglichkeiten willen. 

Wo aber dem Armen geschenkt wird, liegt der Akzent nicht auf dem Prozess, sondern auf seinem Resultat; der Arme soll etwas haben. 

Zwischen diesen beiden Extremen der Geschenkkategorie stehen ersichtlich unzählige Mischungsmasse beider. Je reiner die letztgenannte Kategorie überwiegt, desto unmöglicher ist es oft, dem Armen das, was ihm fehlt, in der Form des Geschenkes zuzuwenden, weil die übrigen soziologischen Beziehungen zwischen den Personen sich mit der des Schenkens nicht vertragen. 

Bei sehr grossem sozialen Abstand oder bei sehr grosser persönlicher Nähe kann man fast immer schenken; schwierig aber pflegt es in dem Masse zu werden, in dem die soziale Distanz ab- und die persönliche zunimmt. 

Hier kommt es in den höheren Ständen oft zu der tragischen Situation, dass der Notleidende gern eine Unterstützung annehmen, der Wohlhabende sie gern gewähren würde - aber weder kann jener darum bitten, noch dieser sie anbieten. Je höher nämlich eine Klasse steht, um so Mehr hat sie jenes ökonomische Apriori, jenseits dessen in ihr Armut beginnt, so gelegt, dass diese Armut sehr selten vorkommt, ja, prinzipiell eigentlich ausgeschlossen ist. 

Das Annehmen einer Unterstützung rückt also den Unterstützten aus den Voraussetzungen des Standes heraus, sie bringt den anschaulichen Beweis, dass er formal deklassiert ist. Bis dies eintritt, ist das Klassenpräjudiz stark genug, um die Armut sozusagen unsichtbar zu machen, solange bleibt sie ein individuelles Leiden und wird nicht sozial wirksam.

Die ganzen Voraussetzungen des Lebens der höheren Klassen bringen es mit sich, dass jemand im individuellen Sinne arm sein, d. h. mit seinen Mitteln unterhalb der Klassenbedürfnisse bleiben kann, ohne darum zu Unterstützungen greifen zu müssen. 

Deshalb ist er im sozialen Sinne erst arm, wenn er unterstützt wird. Und dies wird wohl allgemein gelten: soziologisch angesehen ist nicht die Armut zuerst gegeben und daraufhin erfolgt Unterstützung - dies ist vielmehr nur das Schicksal seiner personalen Form nach -, sondern denjenigen, der Unterstützung geniesst, bzw. sie nach seiner soziologischen Konstellation geniessen sollte - auch wenn sie zufällig ausbleibt -, dieser heisst der Arme. 

Es ist ganz in diesem Sinne, wenn von sozialdemokratischer Seite betont worden ist, der moderne Proletarier sei zwar arm, aber kein Armer. 

Der Arme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes Mass von Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, dass er Unterstützung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte. 

So ist nach dieser Richtung die Armut nicht an und für sich, als ein quantitativ festzulegender Zustand zu bestimmen, sondern nur nach der sozialen Reaktion, die auf einen gewissen Zustand hin eintritt - genau wie man das Verbrechen, dessen unmittelbare Begriffsbestimmung eine sehr schwierige ist, definiert hat als »eine mit öffentlicher Strafe belegte Handlung«. 

So bestimmen manche jetzt das Wesen der Sittlichkeit nicht mehr aus der inneren Verfassung des Subjekts, sondern aus dem Erfolg seines Handelns: seine subjektive Absicht gilt nur insofern als wertvoll, als sie normalerweise eine bestimmte sozial-utilitarische Wirkung auslöst. 

So gilt vielfach der Begriff der Persönlichkeit nicht als eine Bestimmtheit eines Wesens von innen her, welche dieses zu einer gewissen sozialen Rolle qualifizierte, sondern umgekehrt: die Elemente der Gesellschaft, welche eine bestimmte Rolle in ihr spielen, heissen Persönlichkeiten. 

Der individuelle Zustand, wie er von sich aus beschaffen ist, bestimmt nicht mehr in der ersten Reihe den Begriff, dies tut vielmehr die soziale Teleologie; das Individuelle wird durch die Art festgelegt, wie sich die umgebende Gesamtheit daraufhin und zu ihm verhält. 

Wo dies geschieht, ist es eine Art Fortsetzung des modernen Idealismus, der die Dinge nicht mehr von ihrem an sich seienden Wesen her, sondern nach den Reaktionen zu bestimmen sucht, die auf sie hin im Subjekt vor sich gehen. 

Die Gliedfunktion, die der Arme innerhalb der bestehenden Gesellschaft übt, ist nicht schon damit gegeben, dass er arm ist; erst indem die Gesellschaft - die Gesamtheit oder die einzelnen Individuen - mit Unterstützungen darauf reagiert, spielt er seine spezifische soziale Rolle.

Erst diese soziale Bedeutung des »Armen«, im Unterschied gegen die individuelle, lässt die Armen zu einer Art Stand oder einheitlicher Schicht innerhalb der Gesellschaft zusammengehen. 

Dadurch allein, dass jemand arm ist, gehört er wie gesagt noch nicht in eine sozial bestimmte Kategorie. Er ist eben ein armer Kaufmann, Künstler, Angestellter, usw. und verbleibt in dieser, durch die Qualität seiner Tätigkeit oder Position bestimmten Schicht. 

Innerhalb ihrer mag er seiner Armut wegen eine graduell modifizierte Stellung einnehmen, allein die Individuen, die sich in den verschiedenen Ständen und Berufen auf dieser Stufe befinden, sind keineswegs über die Abgrenzungen ihrer heimischen Schichten hinweg zu einer besonderen soziologischen Einheit zusammengefasst. 

Erst in dem Augenblick, wo sie unterstützt werden - vielfach schon, wenn die ganze Konstellation dies normalerweise fordert, auch ohne dass es wirklich geschieht, - treten sie in einen durch die Armut charakterisierten Kreis ein. 

Freilich wird dieser nicht durch eine Wechselwirksamkeit seiner Mitglieder zusammengehalten, sondern durch die kollektive Attitüde, die die Gesellschaft als ganze ihm gegenüber einnimmt. 

Dennoch hat es auch an jener realen Vergesellschaftung nicht immer gefehlt; im 14. Jahrhundert z. B. gab es in Norwich eine Gilde der armen Leute, Poorman's Gild, in Deutschland sogenannte Elendengilden - gerade wie einige Zeit später in den italienischen Städten eine Partei der reichen Leute begegnet, der Optimaten, wie sie sich nannten, die nur an der Tatsache des Reichtums jedes Mitglieds ihren Einigungsgrund fanden. 

Eine derartige Einung der Armen wurde schon deshalb bald unmöglich, weil mit der wachsenden Differenzierung der Gesellschaft die individuellen Unterschiede der Hineingehörigen an Bildung und Gesinnung, an Interessen und Vergangenheit zu mannigfaltig und zu stark wurden, um jener einen Gemeinsamkeit noch die Kraft zu realer Vergesellschaftung zu lassen. 

Dazu kommt, dass die gestiegene allgemeine Wohlhabenheit, die genauere polizeiliche Beaufsichtigung, vor allem das soziale Gewissen, das, gute und schlimme Empfindlichkeiten wunderlich mischend, den Anblick der Armut »nicht ertragen kann« - dass alles dieses der Armut immer mehr die Tendenz oktroyiert, sich zu verstecken. Und diese hält begreiflich die Armen mehr auseinander, lässt sie sich viel weniger als eine zusammengehörige Schicht empfinden, als es im Mittelalter der Fall sein konnte. 

Die Klasse der Armen, insbesondere innerhalb der modernen Gesellschaft, ist eine höchst eigenartige soziologische Synthese. 

Sie besitzt ihrer sozialen Bedeutung und, sozusagen, Lokalisierung nach, eine grosse Homogeneität, die ihr aber, wie angedeutet, nach den individuellen Qualifikationen ihrer Elemente ganz abgeht. 

Sie ist der gemeinsame Endpunkt von Schicksalen der verschiedensten Art, von dem ganzen Umfang der gesellschaftlichen Unterschiedenheiten her münden Personen in ihr, keine Wandlung, Entwicklung, Zuspitzung oder Senkung des gesellschaftlichen Lebens geht vorüber, ohne ein Residuum in der Schicht der Armut wie in einem Sammelbecken abzulagern. 

Das ist das Furchtbare an dieser Armut - im Unterschied gegen das blosse Armsein, das jeder mit sich selbst abzumachen hat und das nur eine Färbung seiner sonstigen, individuell qualifizierten Lage ist - dass es Menschen gibt, die ihrer sozialen Stellung nach nur arm sind und weiter nichts. 

Dies wird übrigens vermöge eines expansiven und wahllosen Almosengebens, wie im christlichen Mittelalter und unter der Herrschaft des Koran, ganz besonders entschieden und anschaulich; allein gerade insofern man sich damit wie mit einer offiziellen und unabänderlichen Tatsache zufrieden gab, hatte es nicht das Bittere und eigentlich Widerspruchsvolle, mit dem die Entwicklungs-- und Aktivitätstendenz der Neuzeit eine Klasse affizieren, die ihre Einheit auf ein rein passivistisches Moment gründet: nämlich darauf, dass die Gesellschaft sich in einer bestimmten Weise zu ihr verhält, mit ihr verfährt. 

Wenn dem Almosenempfänger die politischen Rechte entzogen werden, so ist dies der adäquate Ausdruck dafür, dass er eben sozial nichts ist, ausser arm. 

Dieser Mangel an positiv eigener Qualifikation bewirkt das oben Angedeutete, dass die Schicht der Armen trotz der Gleichheit ihrer Lage keine soziologisch vereinheitlichenden Kräfte von sich aus und in sich entwickelt. 

Die Armut bietet so die ganz einzige soziologische Konstellation: eine Anzahl von Individuen, vermittels eines rein individuellen Geschickes eine ganz spezifische organische Gliedstellung innerhalb des Ganzen einnehmend; diese Stellung aber doch nicht durch jenes eigene Geschick und Verfassung bestimmt, sondern dadurch, dass andere: Individuen, Vereinigungen, Ganzheiten - eben diese Verfassung zu korrigieren suchen, so dass nicht der persönliche Mangel den Armen macht, sondern der um des Mangels willen Unterstützte erst dem soziologischen Begriffe nach der Arme ist. 


Anmerkung

1) Es lohnt vielleicht, hier ausserhalb des augenblicklichen sachlichen Zusammenhangs zu bemerken, dass dieses Umfasstsein der individuellen Gestaltung durch die soziale, in die deren Wurzel wie deren Frucht hineinreicht, sich in der gleichen Form genau umkehren lässt. Wie das Individuum dort als eine Art Durchgangsgebilde für die gesellschaftliche Wesenheit erscheint, so kann diese letztere als blosse Zwischeninstanz der individuellen Entwicklung funktionieren. Diese geht von der ins Leben mitgebrachten Grundsubstanz der Persönlichkeit aus, die wir in ihrer Reinheit, jenseits ihrer Geformtheit durch das historische Milieu, nicht vorstellen können, sondern nur als den beharrenden Stoff unseres persönlichen Daseins und die nie ganz ausgemünzte Summe seiner Möglichkeiten fühlen. Andererseits bieten wir, gleichsam am anderen Ende unserer Existenz, eine Erscheinung oder Erscheinungskomplex dar, als das Äusserste, Deutlichste, Geformteste, wozu das Dasein es für den Standpunkt des Individualismus bringt. Zwischen beiden liegen die sozialen Beeinflussungen, die wir empfangen, die Bedingungen, durch die die Gesellschaft uns zu jener, schliesslich von uns dargebotenen Erscheinung gestaltet, der ganze Komplex allgemeiner Förderungen und Hemmungen, durch die wir hindurch müssen. So betrachtet, bietet also gerade die Gesellschaft mit ihren Aktionen und Darbietungen die Station, jenseits und diesseits derer das individuelle Gebilde steht, sie ist der Träger der Kräfte, durch die das eine Stadium des letzteren in sein anderes übergeht, und diese greifen um sie herum, wie für den anderen Standpunkt die sozialen Zustände und Ereignisse um das Individuum, das zwischen ihren allgemeinen Grundlagen und deren jeweiliger Erscheinung vermittelt. (zurück)


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
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