Georg Simmel: Soziologie
Untersuchungen über
die Formen der Vergesellschaftung
Duncker & Humblot, Berlin 1908 (1. Auflage)
Kapitel X: Die
Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität
Exkurs über die Analogie der individualpsychologischen und der soziologischen Verhältnisse
(S. 565-568)
Diese Analogie ist an und für sich nicht soziologischer, sondern
sozialphilosophischer Natur, indem ihr Inhalt nicht die Erkenntnis der
Gesellschaft, sondern die eines allgemeinen Zusammenhanges ist, der an der
sozialen Form nur eines seiner Beispiele findet.
Dass sich die
Individuen innerhalb einer Gesellschaft vielfach zueinander in den
gleichen Formen verhalten, wie die seelischen Bestandteile innerhalb eines
Einzelgeistes, ist eine sehr alte Beobachtung.
Man könnte an eine allgemeine Kombinatorik psychischer Elemente
denken, an regelmässig sich wiederholende Verhältnisformen zwischen
solchen.
So wird z. B. - wie der Text es auch weiterhin für die
individualpsychologischen und theoretischen Entwicklungen zeigen wird -
ein relativ enges, homogenes Konglomerat von Elementen, welcher Art immer,
seine Erweiterung nur unter der Bedingung finden, dass jedes einzelne
Element eine stärkere Selbständigkeit und qualitative Unterschiedenheit
gegen jedes andre findet; so würde die Selbständigkeit jedes Elementes
mit der Begrenzung des Existenz- und Wirkungsspielraumes durch andre
unverträglich werden, und dadurch ein gegenseitiges Sich-Verdrängen
eintreten, irgendeine Art des Kampfes ums Dasein unter den einzelnen; so
würde gerade dadurch, dass ein einzelnes Element in sich eine
Mannigfaltigkeit ausbildet, die es als Ganzes zu einem Gegenstück des
umfassenden Ganzen machen kann, eine Tendenz zur Rundheit und
Vollständigkeit an ihm auftreten, die mit seiner Rolle als Teil und Glied
jenes Ganzen nicht verträglich ist; zwischen dem Spezial- oder
Teilcharakter eines Elementes bzw. einer Provinz des Ganzen, und seinem
(> 566) möglichen oder wirklichen Charakter als einer für sich
geschlossenen Einheit muss es zu einem Konflikt kommen usw.
Kurz, es liessen sich seelisch allgemeine Verhältnistypen denken, die
die soziologischen Formen ebenso als einen Spezialfall - nämlich eines
solchen, in dem vergesellschaftete Individuen die Elemente bilden - unter
sich begreifen, wie diese selbst die einzelnen Gruppen der konkreten
Vergesellschaftungsvorgänge.
Damit wäre ein tieferes Fundament dafür gewonnen, dass man z. B. den
Staat als »den Menschen im Grossen« bezeichnen konnte. Abgesehen von
dieser Formulierung wären nun aber die unmittelbaren Beziehungen
zwischen der Gesellschaft und dem Einzelnen daraufhin zu untersuchen, wie
sie jene gegenseitigen Verähnlichungen zustande bringen.
Die Frage wird von zwei Ausgangspunkten her zu stellen sein. Erstens:
Wenn die Einzelseele gegeben ist - welche Wirkungen gehen von ihr auf die
Gesamtheit so aus, dass sie in diesen die Formen ihrer eigenen Statik und Dynamik
hervorrufen?
Zweitens: Wenn eine Gesamtheit gegeben ist - welche Einflüsse, die sie
auf die Einzelseele ausübt, erzeugen in dieser die den ihrigen parallelen
Verhältnisse?
Es liegt also z. B. die Erscheinung der »Parteiung« vor. Die
Interessen im Individuum bekämpfen sich unzählige Male, wie die
Individuen sich bekämpfen; um die dabei herrschenden Vorstellungen
sammeln sich andre, die das Gewicht einer jeden verstärken, wie die
Parteigänger sich um die führende Persönlichkeit gruppieren; Gefühls-
und Gedankenkomplexe, die eigentlich mit dem Inhalt des inneren Konflikts
nichts zu tun haben, werden dennoch hineingezogen, aus ihrem bisherigen
Gleichgewicht gebracht, von dem einen oder dem andern der unverträglichen
Hauptinteressen gefärbt, gerade wie ein Parteigegensatz, der wesentliche
Teile einer Gruppe spaltet, schliesslich die gesamte unter sich aufteilt,
auch Individuen und Kreise, die jenem sachlich ganz fern stehen; alle
Phasen eines Kampfes: das Gleichgewicht der Mächte, das den Kampf
zeitweise lähmt, der scheinbare Sieg einer Partei, der der andern nur
Gelegenheit zum Sammeln ihrer Kräfte gibt, der Einfluss der blossen
Vermutung über den Ausgang auf die wirkliche Entscheidung, die Direktheit
und die Indirektheit in der Verwendung der Energien - alles dies ist
gleichmässig die Form für den Verlauf der inneren wie der äusseren
Konflikte.
Um nun auch für die beiden Fragerichtungen einer solchen Analogie
gegenüber wenigstens ein Beispiel zu geben: so bilden die inneren
Erfahrungen des Subjekts wahrscheinlich ein Schema aus, das für seine äusseren Erfahrungen als Apriori wirkt, als die Form, in welche das
Material des Gegebenen aufgenommen und der gemäss es gedeutet wird.
Was »Kampf« ist, ist überhaupt eine rein innere Erfahrung.
Von aussen her sieht man gewisse Aktionen von Wesen, deren jedes sozusagen aus
seinem Raum nicht zu verdrängen ist, vermöge der Undurchdringlichkeit
der Materie in das andre im genauen Sinne nicht eingreifen kann.
Dass die eigentümlichen Bewegungen je zweier solcher Wesen »Kampf«
sind, ist eine psychologische Interpretation; das Ineinander, die in
Gegenbewegungen sich vollziehende Einheit, die wir so benennen, ist
eigentlich gar nicht zu definieren und ihrem Wesentlichen nach gar nicht
äusserlich anzuschauen, sondern kann nur innerlich erlebt werden.
Dadurch ist der doppelte Zusammenhang nahegelegt: der reale, mit dem
die seelischen Erlebnisse, die wir als das Gegeneinander und Miteinander,
das Zusammenballen und Auseinandertreten der Vorstellungen bezeichnen, die
Schemata für unser äussres Verhalten abgeben; der ideale, mit dem wir
die äusserlich wahrgenommenen Verhaltungsweisen der Individuen an der
Hand jener inneren Erfahrungen deuten, ordnen und benennen.
Wir können kaum irgendeinen Entschluss fassen, irgendeine Überzeugung
gewinnen, ohne dass ein wie immer rudimentärer, wenig bewusster, schnell
abgemachter Widerstreit von Motiven und Reizen vorangegangen wäre: unser
ganzes Seelenleben ist davon durchzogen; es liegt deshalb nahe,
anzunehmen, dass von den doch immer auf der Basis der individuellen
Vorgänge sich abspielenden interindividuellen Vorgängen ein gewisser
Teil sowohl ihre Form wie ihre Deutung daher entlehnen.
Und nun in der andern Richtung: der reale Kampf, den wir als Partei wie
als Zuschauer erleben, wird das Schema und die Deutung von inneren
Vorgängen abgeben.
Dies wird besonders da stattfinden, wo das Individuum nicht ausschliesslich an die eine der in Beziehungen tretenden Parteien
gefesselt ist, sondern jeder von beiden ein gewisses Interesse widmet;
dann werden »zwei Seelen in einer Brust« die Verhältnisse von Streit
und Versöhnung, Trennung und Einigkeit, Herrschaft und Unterwerfung
nachfühlen und nachahmen, die zwischen den Gegenständen seines (>
567) Interesses stattfinden.
Der Kampf, den wir ausser uns sich abspielen sehen, wird uns sozusagen
erst dadurch zugängig, dass die Relationen unsrer Vorstellungen ihn uns
innerlich vertreten, die Vorstellung des Kampfes ist vielfach ein Kampf
der Vorstellungen.
Und wie es sich mit den hier flüchtig skizzierten Verhältnissen der
Parteiung verhält, so mit denen der Vereinigung und der Ausschliessung,
des Dominierens und des Nachgebens, der Nachahmung und der Organisierung
und vielen andern.
Das Äussere wird durch das Innere, das Innere aber durch das Äussere
gestaltet und verstanden, in Abwechslung, aber sicher auch oft im
Zugleich.
Mit dieser Beziehung zwischen den immanent. subjektiven und den
Vergesellschaftungsformen steht es ebenso wie mit der zwischen den
ersteren und den räumlich-materiellen.
Man hat lange bemerkt, dass die Ausdrücke für die Bewegungen der
Vorstellungen: das Aufsteigen und Niedersinken, das Verschmelzen und
Trennen, das Gehemmtwerden und das Wiederkehren, die Gedrücktheit und die
Erhabenheit und viele andre, ihre Bezeichnungen als alles dieses aus den
Vorgängen der Aussenwelt entlehnen, dass wir ohne diese Symbolik keine
innere Anschauung und keinen Namen für solche Erlebnisse hätten.
Sehen wir aber genauer hin, so ist diese Symbolisierung nicht weniger
rückläufig wirksam.
Alles, was an jenen Äusserlichkeiten wirklich Vorgang, Verhältnis,
charakteristisches Bild ist, existiert für uns nur als
subjektiv-seelische Zuständlichkeit und Bewegung, die wir in die
räumlichen Anschaulichkeiten hineinfühlen.
Die blossen Ortswechsel, auf die jene Bestimmungen des Sinnlichen
hinauslaufen, würden niemals Bezeichnungen für Innerliches abgeben, wenn
sie nicht von diesen her mit Akzenten und Bedeutsamkeiten, mit Synthesen,
die unterhalb ihrer Oberfläche spielen, ausgestattet wurden.
Von vornherein müssen Gefühlszustände, Kraft- und
Bewegungsempfindungen von uns aus in die äusserlich vorgestellten
Ereignisse hineingehen, damit wir an diesen ihrerseits Veranschaulichungen
und Ausdrücke für die Tatsachen der Innerlichkeit gewännen.
Und ähnlich wie diese blosse Äusserlichkeit, so wird sich zu der
reinen Innerlichkeit des einzelnen Subjektes auch jenes dritte Gebiet
verhalten. die Gesellschaft, mit der die individuelle Seele zwar aus sich
heraustritt, aber nicht in die Raumeswelt, sondern in die Überindividualität
der Wechselwirkung mit andern Seelen.
Auch hier dürfte das innere Verhalten die Normierung und Anregung der
ausser-subjektiven Verhältnisse abgeben, diese aber ihrerseits jenem den
Dienst der Formung und Deutung zurückgeben. Und vielleicht kann man
dies mit einem ganz fundamentalen Gedanken abschliessen.
Dass wir das seelische Geschehen in »Vorstellungen« zerlegen und es
als deren Bewegungen und Kombinationen begreifen - ist keineswegs so mit
der Natur der Sache gegeben, so selbstverständlich und exakt, wie wir es
anzusehen gewöhnt sind.
Vielmehr, es wird dadurch ein kontinuierlich fliessender Prozess in
hart gegeneinander abgesetzte Elemente zerlegt, die Inhalte dieses
Prozesses, die uns ausschliesslich in der Form unsres Bewusstseins gegeben
sind, werden zu gewissermassen substanziellen, mit Energien ausgestatteten
Wesen, die von sich aus wirken und leiden.
Wo wir das Seelenleben als
Bewegung von Vorstellungen fassen, ist dies niemals die unmittelbare
Beschreibung des Vorhandenen, sondern dieses wird damit in ein Symbol und
Bild gefasst und unter Kategorien gebracht, die mit ihm selbst noch nicht
gegeben sind.
Und nun ist es mir nicht unwahrscheinlich, dass gerade zu dieser
Objektivierung und Veranschaulichung des inneren Lebens das Bild der
Individuen um jedes Individuum herum uns angeregt habe.
Wir erleben unser Dasein, wie es sich unter lauter von sich aus
beweglichen, sich nähernden und sich entfernenden, mit Kräften und
Schwächen versehenen Wesen abspielt; die Menschen unsrer Umgebung bilden
unsre erste und uns im wesentlichen interessierende Welt: es liegt nahe,
dass wir die Form der Umschriebenheit, der Selbständigkeit, der
Wechselwirksamkeit, in denen ihre Elemente uns mit
überwältigender Bedeutung entgegentreten, zur Organisierung und
Veranschaulichung der Welt in uns verwenden, dass wir die in uns
gefühlten Bewegungen so einteilen, von so für sich seienden Elementen
getragen meinen, wie wir es in dieser äusseren, aber seelisch bestimmten
Welt vor uns sehen.
Wie jeder Mensch für uns »eine Vorstellung« ist - in höherem Masse
»eine«, als die übrigen, mehr als Typen auftretenden, mehr in
die Verknüpfungen des Gesamtseins hineingezogenen Objekte - so ist
gewissermassen jede Vorstellung für uns ein Mensch, d. h. unser
Vorstellen erscheint uns als das Spiel von Wesenheiten, die, wie wir es an
den Menschen sehen, sich behaupten und nachgeben (> 568) , sich
vereinigen und trennen, zulängliche und unzulängliche Kräfte ein,
setzen.
Die uns unmittelbar nicht ergreifbare, nicht ausdrückbare Einheit des
Individuums und der Gesellschaft offenbart sich darin, dass die Seele das
Bild der Gesellschaft und die Gesellschaft das Bild der Seele ist.
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