Die
individuelle Freiheit -
Gesellschaftliche
Determinanten der Individualisierung
Beat Mürner
2003
Inhalt
1
Einleitung
2
Formen
der Vergesellschaftung
3
Persönliche
und sachliche Kultur
4
Individuelle
Freiheit
4.1
Geld als
Tauschmittel
4.2
Differenzierung von Besitz und Person
4.3
Versachlichung der Arbeitsverhältnisse
4.4
Verselbständigung des Individuums gegenüber der Gruppe
4.5
Individualisierung und Vergrösserung sozialer Kreise
5
Individualisierung
seit Simmel
6
Zusammenfassung
7
Literatur
1
Einleitung
Simmels Bedeutung für die Soziologie
liegt neben der Schilderung einer Fülle von Erkenntnissen bezüglich
mikrosoziologischer Vergesellschaftungsformen in einer Klärung der
zentralen Begriffe ‚Gesellschaft‘ und ‚Kultur‘. Durch die
Entmythisierung der beiden Begriffe gelang es ihm, diese
Gegenstandsbereiche für die Soziologie zugänglich zu machen (Dreyer
1995), und sie mit dem Begriff der Persönlichkeit in Verbindung zu
bringen. Simmels soziologische Konzepte gründen unmittelbar im Konzept
der Wechselwirkung oder gehen von diesem aus (Frisby 1992). Den
Hintergrund seiner Sichtweise auf die Prozesse der Vergesellschaftung
bildet der ”Mensch im Ringen um seine Individualität angesichts der
Gesellschaft und der objektiven Kultur” (Dreyer 1995, S. 91). Simmel
baut in seinen soziologischen Überlegungen auf dem vorhandenen Wissen
bereits bestehender Wissenschaften wie der Psychologie oder der Historik
(Lichtblau 1997) auf und gelangt durch Neukombination dieses Wissens zu
neuen Einsichten. Soziologie konstituiert sich gemäss Simmel nicht
durch bisher unentdeckte Gegenstände, sondern durch spezifische
Problemstellungen, unter deren Gesichtspunkt vorhandenes Material neu
zusammengesetzt und gruppiert wird (Dahme 1987). Soziologie findet ihre
Objekte, indem sie ”eine neue Linie durch Tatsachen legt, die als
solche durchaus bekannt sind” (Simmel 1992a, S. 17).
Simmel schreibt wenig darüber, welche
Denker seine Überlegungen massgeblich beeinflusst haben. Frisby (1992,
S. 7) zählt ”Spencer, Dilthey and Lazarus” dazu. Ähnlich wie bei
diesen spielt in Simmels Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse der
Entwicklungsgedanke eine tragende Rolle. Er stellt fest, dass sich die
Fortentwicklung der Gesellschaft als sozialer Differenzierungsprozess
gestaltet (Simmel 1890). Simmels Konzept der sozialen Differenzierung
und dessen Anwendung auf gesellschaftliche Individualisierungsprozesse
setzt die Überzeugung voraus, dass einzelne Ereignisse Hinweise auf
allgemeine theoretische Zusammenhänge darstellen (Dahme 1990, S. 15):
”single events have to be explained by general propositions.” Das
Augenmerk richtet sich bei Simmel immer wieder auf die eingehende
Betrachtung grundlegender Interaktionsmuster zwischen Individuen. Mit
diesem Vorgehen wählt er einen theoretischen Zugang, der heute der
Mikrosoziologie zugeschrieben wird (Coser 1977).
Simmels Blick auf die ”Beziehungen
zwischen gesellschaftlichen Wechselwirkungen, objektiver und subjektiver
Kultur und individueller Seele” (Müller 1993, S. 129) widerspiegelt
sich im Aufbau dieser Arbeit. Als erstes werden einführende
Begriffserklärungen bezüglich Simmels Sichtweise der Gesellschaft und
der kulturellen Entwicklung in der Moderne in verdichteter Form
erläutert. Darauf folgt eine Diskussion der Bestimmgrössen, die zu
einer zuvor nicht gekannten Zunahme individueller Freiheit im
gesellschaftlichen Entwicklungsprozess führten. Die Darstellung der
wichtigsten Vorgänge, die zu einem Anwachsen der individuellen Freiheit
beitrugen, gründet im gleichnamigen Kapitel aus Simmels um die Wende
zum zwanzigsten Jahrhundert erschienen erstem Hauptwerk, das den Titel
”Philosophie des Geldes” (1989) trägt und den thematischen Schwerpunkt dieser Ausführungen
bildet.
Inhalt
2
Formen der Vergesellschaftung
Ein Gesellschaftsbegriff, der
abgehoben von der Ebene subjektiven Handelns existiert, wird von Simmel
abgelehnt (Tenbruck 1994). Der Begriff der Gesellschaft ist nur von
Bedeutung, wenn er für mehr als die schlichte Summe der einzelnen
Individuen steht (Spykman 1992). Für Simmel (1992a, S. 15) ist der
Mensch ”in seinem ganzen Wesen und allen Äußerungen dadurch
bestimmt, daß er in Wechselwirkung mit anderen Menschen lebt”.
Gesellschaft findet sich überall dort, ”wo mehrere Individuen in
Wechselwirkung treten” (ebd., S. 17). Wechselwirkungen entstehen
durchwegs aus bestimmten Trieben heraus oder dienen der Erfüllung
bestimmter Zwecke. Es handelt sich dabei um grundlegende Triebe des
Einzelnen wie Existenzsicherung, Mehrung und Schutz von Besitz oder die
Erweiterung der eigenen Machtsphäre, zu deren Erfüllung das Individuum
”sich mit beliebig vielen anderen zweckmäßigerweise
zusammenschließen kann” (Simmel 1890, S. 86). Das Zusammengehen
dieser Wechselbeziehungen führt dazu, dass aus individuellen Trägern
von Trieben und Zwecken eine Einheit entsteht, dass aus Individuen ”eben
eine ‚Gesellschaft‘ wird” (Simmel 1992a, S. 18).
Durch das Auftreten von
Wechselwirkungen zwischen Individuen findet Vergesellschaftung
unmittelbar statt: ”They are neither the cause nor the result of
society; they are themselves immediately society” (Spykman 1992, S.
30-31). Simmel (1890, S. 14) hält fest: ”Gesellschaft ist nur der
Name für die Summe dieser Wechselwirkungen, der nur in dem Maße der
Festgestelltheit dieser anwendbar ist. Es ist deshalb kein einheitlich
feststehender, sondern ein gradueller Begriff, von dem auch ein Mehr
oder Weniger anwendbar ist, je nach der größeren Zahl und Innigkeit
der zwischen den gegebenen Personen bestehenden Wechselwirkungen.” Mit
dieser Definition des Gesellschaftsbegriffes wendet sich Simmel gegen
all jene, die Gesellschaft als ein ”eigenes ‚Wesen‘ mystifizieren”
(Dahme 1987, S. 41).
Um das Relationale und Prozesshafte
des sozialen Lebens (Dahme 1990) zu unterstreichen, schlägt Simmel vor,
auf den Gesellschaftsbegriff gänzlich zu verzichten und zutreffender
den Begriff der Vergesellschaftung zu verwenden (Dreyer 1995, Simmel
1917, Spykman 1992). Die Aufgabe der Soziologie besteht darin, ”die
Form und die Formen der Vergesellschaftung als solcher, in Absonderung
von den einzelnen Interessen und Inhalten, die sich in und vermöge der
Vergesellschaftung verwirklichen” (Simmel 1992c, S. 54) zu
untersuchen. Nur indem die Vergesellschaftungsformen untersucht werden
lässt sich die Frage beantworten, was Gesellschaft ist (Coser 1977,
Frisby 1992).Gemäss Coser
(1977) liegen der Formbegriff und der Begriff der sozialen Struktur nahe
beieinander. Er vermutet, dass Simmels Werk auf weniger Widerstände
gestossen wäre, hätte er den Strukturbegriff anstelle des Formbegriffs
verwendet.
In Simmels Sichtweise ist der
Dualismus zwischen Formen und Inhalten der Vergesellschaftung von
herausragender Bedeutung. Die Inhalte sind bereits Gegenstand spezieller
Wissenschaften. Durch deren Kreise legt die Soziologie einen neuen, der
die eigentlichen gesellschaftlichen Elemente, die Formen der
Vergesellschaftung, markiert. Der Inhalt – Simmel spricht auch von der
”Materie der Vergesellschaftung” (Simmel 1917, S. 49) – umfasst,
was im Individuum ”als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische
Zuständigkeit und Bewegung derart vorhanden ist, daß daraus oder daran
die Wirkung auf andere und das Empfangen ihrer Wirkungen entsteht”
(ebd., S. 48-49).
Diese Inhalte sind für sich noch
nicht sozialen Wesens, sie stellen noch keine Vergesellschaftung dar.
Sie bilden diese erst, sobald das isolierte Nebeneinander von Individuen
durch Wechselbeziehungen Formen des Miteinander und Füreinander
annimmt. In dieser Weise erlangen die Inhalte gesellschaftliche
Wirklichkeit (Simmel 1992a, S. 19): ”Irgend eine Anzahl von Menschen
wird nicht dadurch zur Gesellschaft, daß in jedem für sich irgend ein
sachlich bestimmter oder ihn individuell bewegender Lebensinhalt
besteht; sondern erst, wenn die Lebendigkeit dieser Inhalte die Form der
gegenseitigen Beeinflussung gewinnt, wenn eine Wirkung von einem auf das
andere – unmittelbar oder durch ein Drittes vermittelt –
stattfindet, ist aus dem bloß räumlichen Nebeneinander oder auch
zeitlichen Nacheinander der Menschen eine Gesellschaft geworden.”
Unterschiedliche Inhalte lassen sich
derselben Form der Vergesellschaftung zuordnen. Simmel (1917, S. 28)
schreibt: ”So mannigfaltig auch die Interessen sind, aus denen es
überhaupt zu diesen Vergesellschaftungen kommt – die Formen, in denen
sie sich vollziehen, können dennoch die gleichen sein. Und nun
andererseits: das inhaltlich gleiche Interesse kann sich in sehr
verschiedenartig geformten Vergesellschaftungen darstellen”.
Simmel beschreibt eine Reihe
grundlegender Formen der Vergesellschaftung. Gemäss Simmel ordnen wir
jedes Individuum, mit dem wir in Wechselwirkung treten, einem bestimmten
Typus zu. Wir sind nicht in der Lage, einen anderen Menschen in seiner
Gesamtheit zu erfassen sondern sehen ihn stets in einem bestimmten Masse
verallgemeinert. Dies liegt darin begründet, dass keine zwei Personen
völlig gleich sind, es gibt zwischen ihnen stets qualitative
Unterschiede. Wir sehen andere nicht in ihrer reinen Individualität,
sondern immer als allgemeinen Typus, dem wir diese anderen zuordnen (Dreyer
1995). Simmel untersuchte in der Folge detailliert eine ganze Reihe von
sozialen Typen wie den Armen, den Geizigen oder den Fremden (Coser 1977,
Simmel 1992a). Sodann fügen wir einer Person, der wir begegnen, immer
noch etwas hinzu. Da wir sie nicht als ganzes erfassen können,
ergänzen wir unvollkommen erfasste Einzelheiten zu einem stimmigen
Ganzen (Dreyer 1995). Weiter sehen wir jeden anderen nicht nur als ein
isoliertes Individuum, sondern stets als Mitglied eines sozialen Kreises
(Simmel 1992a, S. 50): ”Wir sehen den anderen nicht schlechthin als
Individuum, sondern als Kollegen oder Kameraden oder Parteigenossen,
kurz als Mitbewohner derselben besonderen Welt”.
Bei der Betrachtung der Formen der
Vergesellschaftung erkennt Simmel (1992c, S. 55), dass in den
gesellschaftlichen Wechselwirkungen immer wieder Gleichförmigkeiten
auftreten: ”An gesellschaftlichen Gruppen, die ihren Zwecken und ihrem
sittlichen Charakter nach die denkbar verschiedensten sind, finden wir
z. B. die gleichen Formen der Über- und Unterordnung, der Konkurrenz,
der Nachahmung, der Opposition, der Arbeitsteilung, wir finden die
Bildung einer Hierarchie, die Verkörperung des gruppenbildenden
Princips in Symbolen, die Scheidung in Parteien, wir finden alle Stadien
von Freiheit oder Bindung des Individuums der Gruppe gegenüber,
Durchkreuzung und Schichtung der Gruppen selbst, bestimmte
Reaktionsformen derselben gegen äußere Einflüsse (...) Diese Formen
entwickeln sich bei der Berührung der Individuen relativ unabhängig
von dem Grunde dieser Berührung, und ihre Summe macht dasjenige konkret
aus, was man mit dem Abstraktum Gesellschaft benennt.”
Bei der Untersuchung der Formen der
Vergesellschaftung bleibt die Soziologie nicht auf Wechselwirkungen
zwischen Individuen beschränkt, sondern thematisiert auch solche
zwischen Gruppen und anderen sozialen Gebilden. Simmel (1917, S. 15)
interessiert sich dafür, was mit den Menschen geschieht, nach welchen
Regeln sie sich bewegen, ”nicht insofern sie die Ganzheit ihrer
erfaßbaren Einzelexistenzen entfalten, sondern sofern sie vermöge
ihrer Wechselwirkungen Gruppen bilden und durch diese Gruppenexistenz
bestimmt werden”. Angetroffene gesellschaftliche Systeme und
Organisationen sind ”Verfestigungen – zu dauernden Rahmen und
selbständigen Gebilden – von unmittelbaren, zwischen Individuum und
Individuum stündlich und lebenslang hin und her gehenden
Wechselwirkungen. Sie gewinnen damit freilich Eigenbestand und
Eigengesetzlichkeit, mit denen sie sich diesen gegenseitig sich
bestimmenden Lebendigkeiten auch gegenüber- und entgegenstellen können”
(ebd., S. 13). Im menschlichen Zusammenleben entstehen objektive
Gebilde. Diese gehen aus Wechselwirkungen hervor, sie werden durch diese
in ihrem Bestand erhalten und treten in der Folge dem Individuum als
schon vorhandene Objektivationen entgegen (Dahme 1987).
Überindividuelle Strukturen wie Nation, lokale Gemeinschaft, Familie,
Stadt oder Handelsgesellschaft sind Kristallisationen von
Wechselwirkungen, auch wenn sie dem Individuum als etwas Fremdes und
Beständiges gegenübertreten mögen, das nur den eigenen
Gesetzmässigkeiten gehorcht (Coser 1977).
Inhalt
3
Persönliche und sachliche Kultur
Simmel merkt an, dass alle
Entwicklungsprozesse menschlicher Aktivitäten als Natur angesehen
werden können. Bei dieser Sichtweise würde zwischen Natur und
Geschichte kein Unterschied mehr bestehen. Eine Eingrenzung eines
solchen alles umfassenden Verständnisses von Natur wird dadurch
erreicht, dass ihm der Begriff der Kultur gegenübergestellt wird.
Dadurch geht die natürliche Entwicklung der Dinge nur bis zu einem
gewissen Punkt und wird anschliessend von der kulturellen abgelöst
(Simmel 1993, S. 365): ”Der Punkt, an dem diese Ablösung der
Entwicklungskräfte stattfindet, bezeichnet die Grenze des
Naturzustandes gegen den Kulturzustand.” Da sich unter diesem
Blickwinkel Kultur aus Natur ableiten lässt, sind beide Begriffe nur
zwei Betrachtungsweisen derselben Sache. Der Übergang findet dort
statt, wo ein Subjekt sich über die in ihm angelegten Triebkräfte
hinaus entwickelt und ”ein intelligenter, über Mittel
verfügender Wille diese Kräfte aufnimmt und damit das Subjekt zu
Zuständen führt, die es, jenen allein überlassen, nicht erreichen
könnte” (ebd. Hervorh. im Original).
Diesen Entwicklungsprozess bezeichnet
Simmel (ebd., S. 365-366. Hervorh. im Original) als Kultivierung des
Subjekts: ”Kultivierung setzt voraus, daß etwas da sei, was sich vor
ihrem Eintreten in einem nicht kultivierten – eben dem ‚natürlichen‘
– Zustand befand; und sie setzt nun weiter voraus, daß die dann
eintretende Änderung dieses Subjektes irgendwie in
dessen natürlichen Strukturverhältnissen oder Triebkräften
latent sei, wenngleich nicht von diesen selbst, sondern eben nur durch
die Kultur zu realisieren; daß die Kultivierung ihren Gegenstand zu dem
für ihn determinierten, in der eigentlichen und wurzelhaften Tendenz
seines Wesens angelegten Vollendung führte.”
Kultivierung geht vom Subjekt aus,
führt zu objektiven Gebilden hin, zu Verkörperungen ”der sozialen
Energien in Gebilden, die jenseits des Individuums stehen und sich
entwickeln” (Simmel 1992a, S. 15), und sie führt von diesen wieder
zurück zum Subjekt. Kultivierung ist der ”von uns ausgehende und in
uns zurückkehrende Werterhöhungsprozess, der die Natur außer uns oder
die Natur in uns ergreift” (Simmel 1900, S. 700). Simmel (1992a, S.
467) formuliert dies in seinen Untersuchungen zu den Formen der
Vergesellschaftung wie folgt: ”Nachdem die Synthese des Subjektiven
das Objektive hervorgebracht, erzeugt nun die Synthese des Objektiven
ein neueres und höheres Subjektives”. Kultur ist Vollendung des in
einem Subjekts bereits vorliegenden Wesens über das in natürlicher
Weise mögliche Stadium hinaus. Kultivierung entsteht durch das
Zusammenwirken der in einem Wesen von vornherein innewohnenden Kräfte
mit ”neuen teleologischen Eingriffen, die aber in jenen Anlagerichtungen des Wesens
selbst erfolgen und insoweit seine
Kultur heißen” (Simmel 1993, S. 366. Hervorh. im Original). Die
Kultivierung des Subjekts beinhaltet stets die Aneignung etwas
äusserlichen. Wo keine Einbeziehung objektiver Gebilde in den Prozess
der subjektiven Entwicklung stattfindet, wo nicht der Weg vom Subjekt
zum Objekt hin und wieder zurück zur subjektiven Vollendung beschritten
wird, sieht Simmel keine Kultivierung in ihrem spezifischen Sinn.
Die Summe der äusserlichen Gebilde
wird von Simmel (ebd., S. 371) als objektive Kultur bezeichnet: ”Als
die objektive Kultur kann man die Dinge in jener Ausarbeitung,
Steigerung, Vollendung bezeichnen, mit der sie die Seele zu deren
eigener Vollendung führen oder die Wegstrecken darstellen, die der
Einzelne oder die Gesamtheit auf dem Wege zu einem erhöhten Dasein
durchläuft.” Objektive Kultur umfasst die materiellen und
immateriellen Güter der Kultur wie Kunstwerke, Religionen,
Wissenschaft, Technik und vieles mehr.
Diese Güter sind durch individuelle
Beiträge aufgeschichtet worden, sie sind Resultate des individuellen
Lebens, doch sie erlangen in der Folge ein eigenes, objektives geistiges
Leben. Kultur ist von Menschen geschaffen, sie stellt die
Vergegenständlichung der Produkte des Geistes dar (Dahme 1987).
Objektive Kultur gründet in der ”Produktion von Erscheinungen durch
das gesellschaftliche Leben, und zwar im zweifachen Sinne, durch das
Nebeneinander wechselwirkender Individuen, das in
jedem erzeugt, was doch aus
ihm allein nicht erklärbar ist, und durch das Nacheinander der
Generationen, deren Vererbung und Überlieferungen mit dem Eigenerwerb
des Einzelnen unlösbar verschmelzen und es bewirken, daß der
gesellschaftliche Mensch, im Unterschied gegen alles untermenschliche
Leben, nicht nur Nachkomme, sondern Erbe ist” (Simmel 1917, S. 16-17.
Hervorh. im Original).
Demgegenüber versteht Simmel unter
subjektiver Kultur das ”erreichte Entwicklungsmaß der Personen”
(Simmel 1993, S. 371). Dieses wird beschrieben durch ”die Bildung, die
Kultivierung des Individuums” (Dreyer 1995, S. 82). Kultivierung
geschieht also, indem eine Person objektive in subjektive Kultur
überführt, indem sie die ”Objektivationen des Geistes, die ihr
zunächst als etwas Äußeres gegenüberstehen, in sich hineinnimmt und
zu einer ihr gemäßen Einheit formt” (ebd., S. 85).
Nach Auffassung Simmels (1989, S. 446)
bewirkt die Entwicklung eine ”immer gründlichere, bewußtere
Scheidung zwischen den objektiven und subjektiven Vorstellungen, die
sich ursprünglich in einem unklaren psychologischen Indifferenzzustand
bewegten.” Während es keine subjektive Kultur ohne objektive geben
kann, ist es letzterer möglich, eine beträchtliche Selbständigkeit
gegenüber der ersteren zu gewinnen. In sehr entwickelten und
arbeitsteiligen Epochen der gesellschaftlichen Entwicklung wachsen
Kulturerrungenschaften zu einem für sich bestehenden Reich aus. Die
objektiven Gebilde werden einer innerlichen Logik folgend zunehmend
vollendeter und zweckmässiger. Die Kultivierung der Subjekte vermag
sich jedoch nicht in demselben Masse zu steigern. Die Differenzierung
zwischen objektiver und subjektiver Kultur erweitert sich in der Folge
stetig und bedingt ein zunehmendes Übergewicht der objektiven Kultur.
Der eigentliche Schauplatz dieser kulturellen Differenzierungsvorgänge
liegt in den Grossstädten (Simmel 1903), dem Schmelztiegel der
gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse.
Für Simmel ist die subjektive
Kultivierung ”der dominierende Endzweck, und ihr Maß ist das Maß des
Anteilhabens des seelischen Lebensprozesses an jenen objektiven Gütern
oder Vollkommenheiten” (Simmel 1993, S. 372). Die Unfähigkeit, mit
dem Anwachsen der objektiven Kultur mitzuhalten, bezeichnet Simmel
(1919, S. 249) deshalb als die ”Tragödie der Kultur”. Über diese
schreibt er (ebd., S. 250): ”So entsteht die typische problematische
Lage des modernen Menschen: das Gefühl, von einer Unzahl von
Kulturelementen umgeben zu sein, die für ihn nicht bedeutungslos sind,
aber im tiefsten Grunde auch nicht bedeutungsvoll; die als Masse etwas
Erdrückendes haben, weil er nicht alles einzelne innerlich
assimilieren, es aber auch nicht einfach ablehnen kann, da es sozusagen
potentiell in die Sphäre seiner kulturellen Entwicklung gehört.”
Diese Entwicklung ist tragisch, da sie die Kultur an objektive Gebilde
bindet, deren Inhalte aber gerade durch ihre Objektivation eine
Eigenlogik annehmen und schliesslich der kulturellen Assimilation durch
Subjekte nicht mehr umfassend zugänglich sind.
Eine Versöhnung von Individuum und
Gesellschaft scheint aussichtslos. Mit der unorganischen Anhäufbarkeit
von Objektivationen wird die sachliche Kultur ”der Form des
persönlichen Lebens im Tiefsten inkommensurabel” (ebd., S. 249).
Diese Entwicklung gründet in der zunehmenden Arbeitsteilung im
gesellschaftlichen Entwicklungsprozess, was zu einer ”Entfremdung”
(ebd., S. 244) der Subjekte von den aus ihrem Geiste stammenden
Objektivationen führt. Dahme (1987, S. 33. Hervorh. im Original)
schreibt über die tragische Entwicklung der Kultur: ”Das grenzenlos
erscheinende Wachstum der kulturellen Güter und Leistungen tritt den
Handelnden als subjektiv nicht mehr zu bewältigende, verselbständigte
und entfremdete
Kultur entgegen.” Derartige ”Objektivationen
finden sich auch im sozialen Leben. So ist die soziale Wechselwirkung
häufig an Formen gebunden und in Formen (...) die für die Ordnung und
Steuerung von Handlungsabläufen funktional sind, aus der Sicht des
Einzelnen aber auch ein ungeheures Hemmnis für die Entfaltung seiner
Individualität darstellen können” (ebd. Hervorh. im Original).
Inhalt
4
Individuelle Freiheit
Indem Simmel das Augenmerk bei der
soziologischen Analyse auf die Formen der Vergesellschaft richtet, geht
er von Handlungszusammenhängen beliebiger Konstellationen von
Individuen aus (Dahme 1990). Innerhalb der formalen Soziologie lassen
sich jedoch zentrale soziale Phänomene nicht thematisieren.
Gesellschaftlich erzeugte Passivität, Leiden oder Pessimismus sind
handlungstheoretisch schwer fassbar, da sie keine Handlungen im
eigentlichen Sinne darstellen. Trotzdem sind sie Folgen der
Vergesellschaftungsprozesse (Dahme 1987). Individualität lässt sich in
ihrer gesamten Breite über den Begriff der Vergesellschaftung nicht
thematisieren. Dies liegt daran, dass sich ein Mensch nicht
ausschliesslich aufgrund seiner Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen
Kreisen verstehen lässt (Dreyer 1995). Simmel (1992a, S. 51) stellt
fest, ”daß jedes Element einer Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil,
sondern außerdem noch etwas ist.” Das Individuum steht sowohl
innerhalb sozialer Kreise, wie auch ausserhalb derselben. Die ”Art
seines Vergesellschaftet-Seins ist bestimmt oder mitbestimmt durch die
Art seines Nicht-Vergesellschaftet-Seins” (ebd., S. 51).
Eine solche Unvollständigkeit in der
Sichtweise der formalen Soziologie kann gemäss Simmel nur durch die
Philosophie behoben werden. Er unterscheidet zu diesem Zweck zwei
Begriffe des Individualismus: Einerseits den eines (formal) soziologisch
bestimmbaren, quantitativen und andererseits den eines qualitativen
Individualismus, der nur philosophisch fassbar ist. Simmel (1995, S. 53.
Hervorh. im Original) schreibt über letzteren: ”Daß auch die Verschiedenheit
des Menschlichen eine sittliche Forderung sei, daß jeder gleichsam ein
besonderes Idealbild seiner selbst, das keinem anderen gleich ist, zu
verwirklichen habe – das war eine ganz neue Wertung, ein qualitativer
Individualismus gegenüber jenem, der allen Wert auf die Form des freien
Ich legte.” Der Unterschied gründet darin, dass der quantitative
Individualismus ”sein Ideal in der Gleichheit und Gleichberechtigtheit
der gesellschaftlichen Elemente sieht” (ebd., S. 54), während für
den qualitativen Individualismus die Unterschiede zwischen den
Individuen ”den ganzen Sinn der Menschheit ausmachen” (ebd.).
Inhalt
4.1 Geld als
Tauschmittel
Um die Jahrhundertwende
veröffentlichte Simmel (1989) mit seiner ”Philosophie des Geldes”
eine ausführliche Studie zur Bedeutung des Geldes im Prozess der
sozialen Differenzierung. Simmel beabsichtigte, die Voraussetzungen
darzustellen, ”die, in der seelischen Verfassung, in den sozialen
Beziehungen, in der logischen Struktur der Wirklichkeiten und der Werte
gelegen, dem Geld seinen Sinn und seine praktische Stellung anweisen”
(ebd., S. 10). Er ging auch der Frage nach, welche Rolle das Geld im
Prozess der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften spielt.
Die Auflösung der engen familiären
Bande und die Eingebundenheit in die ständische Gesellschaft beim
Übergang in die Neuzeit ist eng verbunden mit der Entwicklung der
Geldwirtschaft (Simmel 1992b, S 178): ”Im Mittelalter findet sich der
Mensch in bindender Zugehörigkeit zu einer Gemeinde oder zu einem
Landbesitz, zum Feudalverband oder zur Corporation; seine
Persönlichkeit war eingeschmolzen in sachliche oder sociale
Interessenkreise, und die letzteren wiederum empfingen ihren Charakter
von den Personen, die sie unmittelbar trugen. Diese Einheitlichkeit hat
die neuere Zeit zerstört. Sie hat einerseits die Persönlichkeit auf
sich selbst gestellt und ihr eine unvergleichliche innere und äußere
Bewegungsfreiheit gegeben; sie hat dafür andererseits den sachlichen
Lebensinhalten eine ebenso unvergleichliche Objektivität verliehen: in
der Technik, den Organisationen jeder Art, den Betrieben und Berufen
gelangen mehr und mehr die eigenen Gesetze der Dinge zur Herrschaft und
befreien sie von der Färbung durch Einzelpersönlichkeiten – wie
unser Bild der Natur mehr und mehr die vermenschlichten Züge
auszumerzen und sie einer objectiven Gesetzlichkeit anheimzugeben
strebt. So hat die Neuzeit Subject und Object gegeneinander
verselbständigt, damit jedes die ihm eigene Entwicklung reiner und
voller fände.” Im Mittelalter war das Individuum über den Besitz von
Grund und persönliche Abhängigkeit bestimmt, dies änderte sich durch
das Aufkommen der Geldwirtschaft.
Die Kategorie des Tausches ist für
Simmel (1989, S. 59) von herausragender Bedeutung für die Untersuchung
gesellschaftlicher Verhältnisse: ”Man muß sich hier klar machen,
daß die Mehrzahl der Beziehungen von Menschen untereinander als Tausch
gelten kann; er ist die zugleich reinste und gesteigertste
Wechselwirkung, die ihrerseits das menschliche Leben ausmacht”. Jede
Wechselwirkung kann letztlich als Tauschform betrachtet werden. Dabei
”ist Wechselwirkung der weitere, Tausch der engere Begriff; allein in
menschlichen Verhältnissen tritt die erstere ganz überwiegend in
Formen auf, die sie als Tausch anzusehen gestatten” (ebd., S. 60).
Soziale Handlungen sind im wesentlichen Tauschbeziehungen, unabhängig
ob es sich um materielle oder immaterielle Güter handelt, die dabei
ausgetauscht werden. Tausch ist eine soziale Kategorie, die ökonomische
Tauschbeziehungen als Sonderfall einschliesst. Der Austausch ist ”eine
der reinsten und elementarsten Formen menschlicher Vergesellschaftung”
(Dahme 1987, S. 75. Hervorh. im Original).
Der Wert der Tauschgegenstände
gründet nicht in diesen selbst, er beruht auf den Wertungen der
Subjekte. Eine Voraussetzung hierzu ist die Ausdifferenzierung von
Objekt und Subjekt aus einem ursprünglichen Zustand roher
Triebhaftigkeit (Simmel 1989, S. 50): ”Der Kulturprozeß – eben der,
der die subjektiven Zustände des Triebes und Genießens in die Wertung
der Objekte überführt – treibt die Elemente unseres
Doppelverständnisses von Nähe und Entfernung den Dingen gegenüber
immer schärfer auseinander.” Objekte, die unmittelbar konsumiert
werden können, besitzen für das Individuum keinen Tauschwert. Der
Gegenstand ist kein Wert, solange er als unmittelbarer Auslöser von
Gefühlen in den subjektiven Vorgang eingebunden ist und in dieser Weise
”gleichsam eine selbstverständliche Kompetenz unserer
Gefühlsvermögens bildet” (ebd., S. 72). Erst die Trennung von
Subjekt und Objekt bewirkt eine Distanz zwischen diesen, die
Begehrlichkeit im Subjekt erzeugt, und welche dieses überwinden muss,
um das begehrte Objekt zu erlangen (Dahme 1987). Das in solcher Weise
”zustande gekommene Objekt, charakterisiert durch den Abstand vom
Subjekt, den dessen Begehrung ebenso feststellt wie zu überwinden sucht
– heißt uns ein Wert” (Simmel 1989, S. 34).
Werten liegen Relationen zugrunde,
nicht substantielle Eigenschaften: Erst ”die Vergleichung der
Begehrungen, d. h. die Tauschbarkeit ihrer Objekte, fixiert jedes
derselben als einen seiner Höhe nach bestimmten, also wirtschaftlichen
Wert” (ebd., S. 76). Im Geld hat ”der Wert der Dinge, als ihre
wirtschaftliche Wechselwirkung verstanden, seinen reinsten Ausdruck und
Gipfel gefunden” (ebd., S. 121). Das Geld hat sich im Lauf der
gesellschaftlichen Entwicklung ausdifferenziert, es stellt ein höheres,
überpersönliches Gebilde dar wie dies auch für Sitte, Recht und Moral
gilt. Das Geld ist das ”Sublimat der Relativität der Dinge” (ebd.,
S. 124). Die Eigenart der Gegenstände liegt nicht in ihrer Substanz
begründet, sondern in ihrer Relation zueinander. Das Geld ”versinnbildlicht
die Tendenz der Moderne, alle Substanzen in Relationen aufzulösen” (Dahme
1987, S. 76). Simmel (1989, S. 136. Hervorh. im Original) schreibt, dass
”die Dinge ihren Sinn aneinander
finden und die Gegenseitigkeit der Verhältnisse, in denen sie schweben,
ihr Sein und ihr Sosein ausmacht.”
Die Funktion des Tausches als eine
unmittelbare Wechselbeziehung unter Individuen ist mit dem Geld zu einem
für sich existierenden Gebilde kristallisiert. Das ”Geld ist Ausdruck
und Mittel der Beziehung, des Aufeinanderangewiesenseins der Menschen,
ihrer Relativität, die die Befriedigung der Wünsche des einen immer
vom anderen wechselseitig abhängen läßt; es findet also da keinen
Platz, wo gar keine Relativität stattfindet – sei es, weil man von
den Menschen überhaupt nichts mehr begehrt, sei es, weil man in
absoluter Höhe über ihnen – also gleichsam in keiner Relation zu
ihnen – steht, und die Befriedigung jedes Begehrens ohne Gegenleistung
erlangen kann” (ebd., S. 179). Jedes göttliche Wesen steht für
Simmel ausserhalb der Gesellschaft. Dieses braucht keines der irdischen
Güter zu begehren, da sich ihm kein Mittel zwischen den subjektiven
Trieb und das angestrebte Gut zu drängen vermag (ebd., S. 258): Das
Zweckhandeln unterscheidet sich ”durch sein Angewiesensein auf das
Mittel (...) von demjenigen Handeln, das man sich als das göttliche
denken mag.”
Die Geldwirtschaft löst die
Zusammengehörigkeit zwischen Personalität und dinglichen Beziehungen
auf, sie ”schiebt zwischen die Person und die bestimmt qualificirte
Sache in jedem Augenblick die völlig objective, an sich qualitätslose
Instanz des Geldes und Geldeswerthes. Sie stiftet eine Entfernung
zwischen Person und Besitz, indem sie das Verhältniß zwischen Beiden
zu einem vermittelten macht” (Simmel 1992b, S. 179). In dieser Weise
hat im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess die allmähliche
Vergegenständlichung wirtschaftlicher Werte im Geld zu einer
Ausdifferenzierung zwischen Subjekt und Objekt geführt (Lichtblau
1997). Dabei ist ”der mythische Naturzwang schliesslich durch eine
Welt der kulturellen Objektivationen ersetzt worden (...) in welcher
sich der moderne Mensch nicht mehr als deren eigentlicher Urheber
erkennen kann” (ebd., S. 21).
Geld besitzt in seiner idealen
Ausformung keine anderen Eigenschaften, als die des universalen
Austauschmittels. Simmel (1890, S. 87) weist darauf hin, ”dass erst
höhere Differenzierung der Ziele und Wege es nötig macht, mehr und
mehr Mittelglieder in die teleologische Kette einzuschieben.” Das
Handeln ist die Brücke, über die Zweckinhalte aus ihrer psychischen
Form in die Wirklichkeitsform übergeleitet werden. Seinem Wesen nach
ist der Zweck an die Existenz von Mitteln gebunden, die seiner Umsetzung
dienen. In die Handlungsketten zur Erreichung von Zwecken werden im
Prozess der sozialen Differenzierung ständig weitere Mittel eingefügt.
Während in einfachen Gesellschaften noch wenige Mittel Subjekt und
Objekt trennten, vervielfältigten sich diese als Folge der zunehmenden
Arbeitsteilung. Dies führte dazu, dass das Geld mehr und mehr seine
Mittelfunktion einbüsste und der Sinn des Lebens immer öfters in der
Anhäufung von Geld gesehen wird. Immer näher ”liegt die Gefahr, in
diesem Labyrinth von Mitteln stecken zu bleiben und über sie den
Endzweck zu vergessen” (Simmel 1992b, S. 189). Das Geld wird zunehmend
als ein für sich zufriedenstellender Endzweck angesehen, über dessen
Erlangung hinaus nicht mehr weitergedacht wird. Während das Geld ”seine
ganze Bedeutung nur als Uebergang, nur als Glied in der Reihe hat, die
zu einem definierten Zwecke und Genusse führt – wird die Reihe
psychologisch an dieser Stufe abgebrochen, das Zweckbewußtsein macht am
Geld Halt” (ebd., S. 188). Das Geld ”schiebt zwischen den Menschen
und seine Wünsche eine vermittelnde Stufe, einen erleichternden
Mechanismus, und weil mit der Erreichbarkeit dieses Einen unzähliges
Andere erreichbar wird, erregt es die Illusion, als sei alles dieses
Andere leichter als sonst zu erreichen” (ebd., S. 190).
Kritisch merkt Simmel an, dass sobald
alles mit Geld zu erlangen ist, vieles an Wert einbüsst. Denn viele
Gebilde beinhalten Qualitäten, die sich nicht vollumfänglich mittels
Geld eintauschen lassen. Zu leicht verfällt man beim Kauf einer Sache
dem Irrglauben, in ”ihrem Geldwerthe ihr genaues, restloses
Aequivalent zu besitzen. Hier liegt sicher ein tiefer Grund für den
problematischen Charakter, für die Unruhe und Unbefriedigtheit unserer
Zeit” (ebd., S. 186).
Das Geld versachlicht und
rationalisiert als universaler Wertmassstab alle sozialen Beziehungen
und macht sie zu objektivierbaren Austauschbeziehungen (Dahme 1987).
Geld beschleunigt insbesondere das ”Tempo des Lebens” (Simmel 1989,
S. 697). Die Ausbreitung der Geldwirtschaft führt zu einer
grundlegenden Veränderung von Lebensgewohnheiten. Die Rationalisierung
und Individualisierung im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung,
die gesteigerte Relativität lokalisiert Simmel in der Großstadt (Dahme
1987). Die Grossstädte sind der Ort, indem die Geldwirtschaft gedeiht,
denn die Konzentration des wirtschaftlichen Austausches verschafft dem
Tauschmittel eine Bedeutung, die im spärlichen ländlichen
Tauschverkehr nicht möglich ist. Individualität entwickelt sich am
ausgeprägtesten innerhalb des hektischen städtischen Lebens (Simmel
1903).
Inhalt
4.2
Differenzierung von Besitz und Person
In der Beziehung zwischen Person und
Besitz scheint sich die Differenzierung von subjektiven zu objektiven
Vorstellungen hin zu wiederholen. Das sich wandelnde Verhältnis der
Menschen zu ihrem Besitz ist von grundlegender Bedeutung für die
Entfaltung individueller Freiheit. In früheren Jahrhunderten bestand
eine enge Verbindung zwischen dem Individuum und seinem Besitz. Es
bestand ein Zustand der Indifferenz. Das Denken primitiver Menschen war
nicht in der Lage, zwischen den objektiven Gesetzmässigkeiten der Dinge
und der vom Äusseren unabhängigen Persönlichkeit zu trennen. Der
Besitz besass eine absolute Bedeutung: Das Ich und die Dinge schienen
miteinander verschmolzen zu sein. Simmel (1989) veranschaulicht diesen
Zustand an der Sitte vieler Naturvölker, die den erarbeiteten oder
eroberten Besitz den Toten mit ins Grab legten. Das Band zwischen
Besitztümern und Personen in den Zeiten des Feudalismus und die
Erblichkeit von Berufen sind weitere Beispiele. Simmel (ebd., S. 447)
schreibt über diesen Indifferenzzustand: Jede ”ständische oder
zunftartige Verfassung der Gesellschaft, die ein organisches Verweben
der Persönlichkeit mit ihrem ökonomischen Sein und Haben bedingt –
dies alles sind Zustände von Undifferenziertheit zwischen Besitz und
Person; ihre ökonomischen Inhalte oder Funktionen und diejenigen,
welche das Ich im engeren Sinne ausmachen, stehen in sehr unmittelbarer
gegenseitiger Bedingtheit.” Wirtschaftliche Gegebenheiten waren in
diesen Zeiten noch eng mit der gesamten Persönlichkeit verknüpft.
In frühen gesellschaftlichen
Entwicklungsperioden ist die Ausbildung der objektiven Kultur wesentlich
beeinträchtigt, denn das kulturelle Fortschreiten gründet gerade im
Weiterbauen der vererbten Produkte. Solange keine Trennung zwischen
Person und Besitz vollzogen ist, ist kein Auseinanderdriften von
subjektiver und objektiver Kultur zu beobachten. Erst durch die
Vererbung reicht der Besitz über die Grenze des Einzelnen hinaus und
beginnt, eine sachliche Existenz fortzuentwickeln.
Für Simmel stellt dieser Zustand
einen Abschnitt höchster individueller Unfreiheit dar. Das Leben des
Bauern ist untrennbar an den Grund gebunden, den er bearbeitet. Die
Erfolge seiner Arbeit sind von Kräften bestimmt, die er kaum
beeinflussen kann. Der Verlauf des Wetters, der den Ertrag aus den
Mühen des Bauern mitbestimmt, ist ein Faktor, der sich nicht
rationalisieren lässt.
Simmel (ebd., S. 448) weist darauf
hin, dass die Entwicklung über dieses Stadium hinaus in einer ”Sonderung
jener Elemente” besteht. Der Differenzierungsprozess führt zu einer
Trennung des Individuums und seiner ökonomischen Lebensverhältnisse
(ebd.): Das ”Individuum erhält eine Ausbildungsfähigkeit, die zwar
nicht von seiner ökonomischen Lage überhaupt, wohl aber von den
apriorischen Bestimmtheiten derselben immer unabhängiger wird.” Die
umfassende Verknüpfung des Individuums mit Besitz und
Arbeitsverhältnis wird aufgelöst. Die ökonomischen Prozesse
verselbständigen sich, ”sie werden von der Unmittelbarkeit der
personalen Interessen gelöst, sie funktionieren, als ob sie
Selbstzwecke wären, ihr mechanischer Ablauf wird immer weniger von den
Unregelmäßigkeiten und Unberechenbarkeiten des personalen Elementes
gekreuzt” (ebd.). Das Individuum gewinnt dadurch zunehmend an
Selbständigkeit. Die eigene ökonomische Lage ist weiterhin von
Bedeutung, doch die historisch ausserordentlich grosse Abhängigkeit von
den ökonomischen Verhältnissen wird reduziert.
Das Geld spielt gemäss Simmel eine
entscheidende Rolle in diesem Differenzierungsprozess. Es ermöglicht
diesen und treibt ihn scheinbar unaufhaltsam voran. Die zunehmende
räumliche Entfernung zwischen Subjekt und Besitz wird ausschliesslich
durch das Geld ermöglicht. Die Geldwirtschaft widerstrebt schon rein
äusserlich einer engen Verbindung zwischen dem Individuum und seinem
Besitz (ebd., S. 449. Hervorh. im Original): Das ”naturale Geschenk kann
wirklich in natura zurückgegeben werden, das Geldgeschenk aber, nach
ganz kurzer Zeit, nicht mehr als ‚dasselbe‘, sondern nur dem
gleichen Werte nach.” Die Geldform des Besitzes ”entfernt und
entfremdet” (ebd., S. 450) dem Individuum diesen umfassend.
Das Geld erlaubt es dem Besitzer und
dem Besitz soweit auseinander zu treten, dass beide den eigenen Gesetzen
folgen können. Erst wenn der Ertrag eines Unternehmens ohne weiteres an
jeden beliebigen Punkt verschoben werden kann, findet sich die
Unabhängigkeit von Besitzer und Besitz. Erst dann kann das Unternehmen
ausschliesslich nach den Anforderungen der Sache betrieben werden, und
der Besitzer kann sein Leben ohne Rücksicht auf die spezifischen
Anforderungen des Besitzes führen.
Individuelle Freiheit bedeutet für
Simmel die Lösung der Person aus den unmittelbaren Bindungen an Besitz
und Arbeitsverhältnis. Die Zunahme individueller Freiheit im
gesellschaftlichen Entwicklungsprozess wäre ohne die Geldwirtschaft
nicht vorstellbar. Simmel (ebd., S. 451) schreibt hierzu: ”Wenn
Freiheit bedeutet, nur den Gesetzen des eigenen Wesens zu gehorchen, so
gibt die durch die Geldform des Ertrages ermöglichte Entfernung
zwischen Besitz und Besitzer beiden eine sonst unerhörte Freiheit: die
Arbeitsteilung zwischen der Subjektivität und den Normen der Sache wird
eine vollkommene, jedes hat nun seine Aufgaben, wie sie sich aus seinem
Wesen ergeben, für sich zu lösen, in Freiheit von der Bedingtheit
durch das ihm innerlich fremde andere.” Dieses differenzierte
Verhältnis zwischen Besitz und Besitzer unterscheidet sich entscheidend
von jenem, als noch eine unmittelbare Wechselwirkung bestand und jedes
ökonomische Engagement auch ein persönliches war, als jede Änderung
der persönlichen Umstände auch eine solche innerhalb der ökonomischen
Interessen bedeutete. Simmel (ebd., S. 450) streicht den Zusammenhang
zwischen der Geldwirtschaft und den Individualisierungsprozessen der
modernen Gesellschaft heraus: ”Die Geldwirtschaft differenziert
beides, Sachlichkeit bzw. Besitz und Persönlichkeit werden
gegeneinander selbständig (...) Wegen dieses Auseinandertreibens von
Sache und Person sind auch die Zeitalter der ausgebildetsten und ganz
objektiv gewordenen Technik zugleich solche der individualisiertesten
und subjektivsten Persönlichkeiten”.
Die Versachlichung der
Besitzverhältnisse geht einher mit dem Bedarf nach einem
rationalisierten Rechtssystem. Durch die intensivierte Geldwirtschaft
und die verstärkte Individualisierung der Gesellschaft werden
Ansprüche an präzisere Rechtsbegriffe geweckt (Simmel 1890, S.92): So
wird ”ein durchgreifendes und vielgliedriges Rechtssystem da
heranwachsen, wo eine starke Differenzierung der Persönlichkeiten nach
Stellung, Beruf und Vermögen eintritt und die möglichen Kombinationen
unter diesen eine Fülle von Fragen schaffen, denen primitive
Rechtsbestimmungen nicht mehr genügen können”. Die differenzierteren
Ansprüche lassen sich durch das römische Recht erfüllen. Der
technisch verfeinerte Charakter der Rechtsbegriffe ist mit dem
abstrakten Individualismus korreliert, der sich im Zusammenhang mit der
gesellschaftlichen Verbreitung der Geldwirtschaft ausbildete.
Inhalt
4.3
Versachlichung der Arbeitsverhältnisse
Nicht nur jene Individuen verfügen
über mehr Freiheit, die einen Ertrag aus ihrem Besitz erwirtschaften,
auch Veränderungen in den Arbeitsverhältnissen stellen eine Quelle
zunehmender individueller Freiheit dar. In den Arbeitsverhältnissen
gewinnen objektive und technische Elemente zunehmend an Bedeutung
gegenüber personalen Aspekten. Verpflichtete sich früher ein
Arbeitnehmer einem Herren, so war er gezwungen, sich diesem in seiner
gesamten Persönlichkeit unterzuordnen. Die ”mittelalterliche
Corporation schloß den ganzen Menschen in sich ein” (Simmel 1992, S.
179). Als Beispiel fügt Simmel (1989) das Dienstbotenverhältnis an.
Der Untergebene wird als ganzes ‚gemietet’ und steht komplett unter
dem Regime des Hausherren. Er wohnt in dem betreffenden Haus und muss
sich nach den dort herrschenden Regeln richten. Der Dienstbote ordnet
sich in einen Zustand äusserster Unfreiheit ein, er kann zukünftig nur
noch einen eingeschränkten Einfluss auf den Lauf seines Lebens nehmen.
Die ökonomische Organisation früherer Zeiten ruhte auf der
vollständigen Unterordnung unter den Arbeitgeber. Sie umfasste den
Arbeiter in seiner gesamten Persönlichkeit. Ein Dienstbote wurde mit
dem ganzen Komplex seiner Kräfte gemietet und in dieser Weise als ganze
Person in das Verhältnis der Unfreiheit und Unterordnung unter einen
anderen Menschen eingebunden. Hier findet sich keine individuelle
Freiheit, denn solange ”das Lohnarbeitsverhältnis als ein
Mietsvertrag angesehen wird, enthält es wesentlich ein Moment der
Unterordnung des Arbeiters unter den Unternehmer” (ebd., S. 452).
Erst die Ausbildung der Geldwirtschaft
ermöglicht eine Versachlichung der Arbeitsverhältnisse. Der Arbeiter
bringt sich nicht mehr mit seiner gesamten Person ein sondern gibt seine
Leistung für einen Geldwert hin. Das Individuum gewinnt ein zunehmendes
Element individueller Freiheit, indem die Unterordnung des Arbeiters in
geringerem Masse subjektiv-personaler sondern technischer Natur ist.
Diese Befreiung ist eng an die Wirksamkeit des Geldprinzips gebunden:
”Sobald der Arbeitsvertrag (...) als Kauf der Ware Arbeit auftritt, so
handelt es sich um die Hingabe einer völlig objektiven Leistung, die
(...) als Faktor in den kooperativen Prozeß eingestellt wird und in
diesem sich mit der Leistung des Unternehmers (...) zusammenfindet”
(ebd.). Der Vorgesetzte wie der niedere Arbeiter ordnen sich einem
gemeinsamen objektiven Ziel unter. Erst innerhalb dieses Verhältnisses
besteht die Unterordnung fort. Doch diese gestaltet sich als technische
Notwendigkeit, welche durch die objektiven Anforderungen der Produktion
bestimmt wird. Die Leistung des Arbeiters lässt die Persönlichkeit
umso freier, je sachlicher, unpersönlicher und technischer sie und der
von ihr getragene Betrieb sind. Durch diese Entwicklung ”wird die
Leistung in einer Weise objektiviert, die die individuelle
Persönlichkeit viel weniger in sie verflicht und von ihr abhängig
macht, als da noch lokale und persönliche Rücksichten auf den
bestimmten Arbeiter – insbesondere wenn man mit ihm im naturalen
Austauschverhältnis stand – die Arbeit beeinflußten” (ebd.).
Die wachsende Freiheit der Individuen
reduziert das gesellschaftliche Ausmass von Über- und Unterordnung. Die
Individualisierung wird von einem Nivellierungsprozess begleitet, der zu
einer zunehmenden Gleichstellung der Individuen führt. Die Forderung
nach einer völligen Beseitigung sozialer Ungleichheit hält Simmel
jedoch für zu weitgehend. Es müsste stattdessen gelingen, die mit der
Ungleichheit verbundenen Gefühle von Unterdrückung, Leid und
Entwürdigung zu beseitigen. Alle bisherige Erfahrung hat gemäss Simmel
(ebd., S. 454) gezeigt, ”welches ganz unentbehrliche
Organisationsmittel die Über- und Unterordnung ist, und daß mit ihr
eine der fruchtbarsten Formen der gesellschaftlichen Produktion
verschwände. Die Aufgabe ist also, die Über- und Unterordnung, soweit
sie diese Folgen hat, beizubehalten und zugleich jene psychologischen
Folgen, um derentwillen sie perhorresziert wird, zu beseitigen. Diesem
Ziele nähert man sich offenbar in dem Maße, in welchem alle Über- und
Unterordnung eine bloß technische Organisationsform wird, deren rein
objektiver Charakter garkeine subjektiven Empfindungen mehr hervorruft.”
Simmel unterstreicht die
Notwendigkeit, dass das innerste Lebensgefühl, die Individualität und
Freiheit einer Person, nicht mehr davon abhängt, welche
gesellschaftliche Position sie einnimmt. Die Leidensgefühle der
gesellschaftlichen Ungleichheit hängen mit der allzu engen Verbindung
der sozialen Hierarchie mit dem persönlich-subjektiven Individuum
zusammen. Indem das Unten- und Obenstehen eine bloss äusserliche
Organisationsform wird, die keine Wirkung auf die innerliche Bedeutung
eines Menschen ausübt, sollten alle Leidensgefühle verschwinden (ebd.,
S. 455): ”Man würde durch diese Objektivierung des Leistens und
seiner organisatorischen Bedingungen alle technischen Vorteile der
letzteren behalten und ihre Benachteiligungen der Subjektivität und
Freiheit vermeiden”.
Diese Entwicklung der Kultur wird
durch die Geldwirtschaft eingeleitet. Simmel (ebd.) schreibt: ”Die
Trennung des Arbeiters von seinem Arbeitsmittel, die als Besitzfrage
für den Knotenpunkt des sozialen Elends gilt, würde sich in einem
anderen Sinne gerade als eine Erlösung zeigen: wenn sie die personale
Differenzierung des Arbeiters als Menschen von den rein sachlichen
Bedingungen bedeutete, in die die Technik der Produktion ihn stellt.”
Indem das Geld sich zwischen Person und Sache schiebt, zerstört es
einerseits wohltätige und stützende Verbindungen. Gleichzeitig wird
jedoch auch eine Verselbständigung beider ermöglicht, die zu einer
befriedigenden und ungestörten Entwicklung notwendig ist.
Zuerst führt der Übergang der
Arbeitsverfassung von der personalen in die sachliche, von der
naturalwirtschaftlichen in die geldwirtschaftliche Form unweigerlich zu
einer Verschlechterung der Verhältnisse der Arbeiter. Denn die ”Art,
auf die die Freiheit sich darstellt, ist Unregelmäßigkeit,
Unberechenbarkeit, Asymmetrie; weshalb denn (...) freiheitliche
politische Verfassungen (...) durch ihre inneren Anomalien, ihren Mangel
an Planmäßigkeit und systematischen Aufbau charakterisiert sind”
(ebd., S. 456).
Die Geldleistung bezahlt für die
grössere äussere Bestimmtheit mit der grösseren Unsicherheit des
schliesslichen Wertquantums. Die Entlohnung des Arbeiters in Naturalien
hat manche Vorteile gegenüber dem Geldlohn: Die Bezahlung mit Brot und
Wohnung hat auch in kritischen Zeiten seinen fortdauernden Wert,
während der Wert eines in Geld ausgehandelten Lohnes je nach der
wirtschaftlichen Entwicklung empfindlich schwanken kann. Doch diese
Unsicherheit bezüglich des Lohnes scheint das unvermeidliche Korrelat
der Freiheit zu sein. Mit ihr bezahlen der Bauer und der Arbeiter die
Steuer für die durch das Geld bewirkte Freiheit (ebd., S. 456-457): ”Die
Schwankungen der Preise, unter denen der Geldlohn empfangende Arbeiter
ganz anders als der in Naturalien entlohnte leidet, haben so einen
tiefen Zusammenhang mit der Lebensform der Freiheit, die dem Geldlohn
ebenso entspricht, wie die Naturalentlohnung der Lebensform der
Gebundenheit.”
Inhalt
4.4
Verselbständigung des Individuums gegenüber der Gruppe
Die Arbeitsteilung ist auf das Geld
angewiesen, weil sich ansonsten die einzelnen Produkte nicht
gegeneinander abwägen lassen. Das Geld führt zu einer Versachlichung
allen ökonomischen Tuns. Gleichzeitig bewirkt es eine wachsende
Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Individuen. Die unmittelbare
Abhängigkeit von der Persönlichkeit anderer wird reduziert, denn ”die
moderne Arbeitsteilung läßt ebenso die Zahl der Abhängigkeiten
wachsen, wie sie die Persönlichkeiten hinter ihren Funktionen zum
Verschwinden bringt, weil sie eben nur eine Seite derselben wirken
läßt, unter Zurücktreten aller anderen, deren Zusammen erst eine
Persönlichkeit ergäbe” (ebd., S. 394). Gemäss Simmel (ebd.) geht
die allgemeine Tendenz im Prozess sozialer Differenzierung und
Arbeitsteilung ”dahin, das Subjekt zwar von den Leistungen immer
mehrer Menschen abhängig, von den dahinterstehenden Persönlichkeiten
als solchen aber immer unabhängiger zu machen.”
Die verschiedenen Interessen und
Betätigungssphären der Persönlichkeit erlangen durch die
Geldwirtschaft eine relative Selbständigkeit. Durch die Veränderung in
den Arbeitsverhältnissen wird die ökonomische Leistung aus dem Ganzen
der Persönlichkeit herausgelöst. Obwohl sie noch Teil einer Person
verbleibt, beeinflusst sie die Persönlichkeit des Individuums nicht
mehr in seiner Gänze. Im Individuum können sich weitere Interessen
entfalten, die sich nicht nach der ökonomischen Lage zu richten haben
(ebd., S. 463): ”So kann man die Wirkung des Geldes als eine
Atomisierung der Einzelpersönlichkeit bezeichnen, als eine innerhalb
ihrer vor sich gehende Individualisierung. Dies ist doch aber nur eine
in das Individuum hinein fortgesetzte Tendenz der ganzen Gesellschaft:
Wie das Geld auf die Elemente des Einzelwesens, so wirkt es vor allem
auf die Elemente der Gesellschaft, auf die Individuen”.
Die Zunahme individueller Freiheit
hängt damit zusammen, dass das Geld eine Anweisung auf die Leistung
anderer darstellt. In früheren Zeiten war der Einzelne unmittelbar auf
die Leistungen der Gruppe angewiesen. Der Austausch von Diensten verband
jeden eng mit der Gesamtheit und umfasste stets die ganze
Persönlichkeit. Als Beispiel nennt Simmel (1989) die Zunft der
Tuchmacher: Diese war nicht nur eine Assoziation von Individuen mit dem
Interesse an der Tuchmacherei, sie stellte eine Lebensgemeinschaft dar,
die sich auf fachliche, religiöse, politische und viele weitere Aspekte
bezog.
Erst durch das Geld wird dem
Individuum eine neue Selbständigkeit vermittelt. Geld ermöglicht es,
einen Leistungsanspruch in verdichteter Form mit sich herum zu tragen,
”es konzentriert gleichsam in einem
Punkt sowohl die Resultate, wie die Möglichkeit unzähliger Funktionen”
(Simmel 1890, S. 144. Hervorh. im Original). Der Einzelne hat die Wahl,
wo er diesen geltend machen will. Dadurch werden die unmittelbaren
Beziehungen zur Gruppe gelöst, die durch frühere Austauschformen
gestiftet wurden. Simmel schreibt (Simmel 1989, S. 463-464): ”Indem
die Interessen auf das Geld gestellt werden und soweit der Besitz in
Geld besteht, muss der Einzelne die Tendenz und das Gefühl einer
selbständigeren Bedeutung dem sozialen Ganzen gegenüber bekommen, er
verhält sich zu diesem nun wie Macht zu Macht, weil er frei ist, sich
seine Geschäftsbeziehungen und Kooperationen überall, wo er will, zu
suchen”.
Das Geld erlaubt nicht nur eine
Verselbständigung des Individuums gegenüber der Gruppe, in die es
früher fest eingebunden war (Simmel 1890, S. 101): ”Mit
fortschreitender Entwicklung (...) spinnt jeder Einzelne derselben ein
Band zu Persönlichkeiten, welche außerhalb dieses ursprünglichen
Assoziationskreises liegen und statt dessen durch sachliche Gleichheit
der Anlagen, Neigungen und Tätigkeiten usw. eine Beziehung zu ihm
besitzen”. Der Inhalt von Assoziationen und das Verhältnis der
Teilnehmer erfährt innerhalb der Geldwirtschaft ebenfalls einen
Differenzierungsprozess. Es bilden sich Assoziationen, die durch ein
blosses Geldinteresse zusammen gehalten werden. Geld hat ”Associationen
ermöglicht, die entweder von ihren Mitgliedern nur Geldbeträge
verlangen, oder auf ein bloßes Geldinteresse hinausgehen” (Simmel
1992b, S. 180). Die sachliche Zusammenhanglosigkeit zwischen der
Assoziation und dem bloss am Geld interessierten Subjekt geht einher mit
einer personalen Zusammenhanglosigkeit. Die Subjekte der Assoziation
verbindet ein ausschliessliches Geldinteresse, sie sind losgelöst von
persönlichen Faktoren, ”von personaler Färbung” (ebd.).
Die Geldwirtschaft erlaubt es, mit
anderen einen Zweckverbund einzugehen, ohne etwas von der persönlichen
Freiheit aufgeben zu müssen. Dies ”ist der fundamentale, unsäglich
bedeutungsvolle Unterschied gegen die mittelalterliche Einungsform, die
zwischen dem Menschen als Menschen und dem Menschen als Mitglied einer
Vereinigung nicht unterschied; sie zog das gesamtwirtschaftliche wie das
religiöse, das politische wie das familiäre Interesse gleichmäßig in
ihren Kreis” (Simmel 1989, S. 465).
Früher bestand die Alternative darin,
einer Vereinigung entweder ganz oder gar nicht anzugehören. Durch die
Geldwirtschaft wird es ermöglicht, nur mit einem Teil der ansonsten
unabhängigen Persönlichkeit an einer Assoziation teilzunehmen. Der
Zweckverband erlaubt es den Individuen, sich zu einer Aktion zu
vereinigen und dabei ein maximales Mass individueller Freiheit zu
bewahren. Durch die ”Unpersönlichkeit und Farblosigkeit, die dem
Gelde im Gegensatz zu allen specifischen Werthen eigen ist und die sich
im Laufe der Cultur immer steigern muß, weil es immer mehr und immer
mannigfaltigere Dinge aufzuwiegen hat, durch diese Charakterlosigkeit
gerade (...) läßt es eine Gemeinsamkeit der Action von solchen
Individuen und Gruppen entstehen, die ihre Getrenntheit und
Reserviertheit in allen sonstigen Punkten scharf betonen” (Simmel
1992b, S. 180).
Gemäss Simmel (ebd., S. 458) ist in
diesem Entwicklungsprozess ein ”Moment der Freiheit” wirksam. Die
Möglichkeit der freien Wahl einer Gruppenzugehörigkeit birgt in sich
eine ”Tendenz auf Vermehrung der Freiheit” (ebd.). Gegenüber ”der
lokalen oder sonst irgendwie ohne Zutun des Subjekts veranlassten
Bindung wird die frei gewählte in der Regel doch die tatsächliche
Beschaffenheit des Wählenden zu Wirksamkeit bringen und damit die
Gruppierung auf sachlichen, d. h. in dem Wesen der Subjekte liegenden
Beziehungen sich aufbauen lassen” (ebd.) Obwohl das Individuum vom
Ganzen der Gesellschaft viel abhängiger wird, ist es doch ”von jedem bestimmten
Elemente dieser Gesellschaft außerordentlich unabhängig, weil seine
Bedeutung für uns in die einseitige Sachlichkeit seiner Leistung
übergegangen ist, die deshalb viel leichter auch von so und soviel
anderen und persönlich verschiedenen Menschen produziert werden kann,
mit denen uns nichts als das in Geld restlos ausdrückbare Interesse
verbindet” (Simmel 1989, S. 396. Hervorh. im Original). Diese Lage
begünstigt die Ausbildung eines Gefühls innerer Unabhängigkeit.
Freiheit ist nicht dadurch bestimmt, dass alle Beziehungen zu anderen
aufgelöst werden, sondern Unabhängigkeit ist ein Verhältnis zwischen
Menschen, indem die Elemente der Distanz maximal sind, ohne dass die
Elemente der Annäherung völlig verschwunden sind. Simmel (ebd., S.
404) stellt fest: ” Das Geld ist der absolut geeignete Träger eines
derartigen Verhältnisses; denn es schafft zwar Beziehungen zwischen
Menschen, aber es läßt die Menschen außerhalb derselben”.
Das Geld übt sowohl eine
vereinigende wie auch eine auflösende Wirkung aus: Einerseits führt es
innerhalb von Zweckverbänden Individuen zusammen, die neben dem
ausgeprägten Interesse an der Mehrung ihres Vermögens kaum
persönliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Andererseits wirkt das Geld
geradezu destruktiv auf viele bestehende Verbindungsarten. So wird die
organische Einheit der Familie gemäss Simmel (1989) durch die Folgen
der Geldwirtschaft zerstört. Das freie Individuum ist immer weniger in
die Familie eingebunden. Diese verliert ihre zentrale Bedeutung für das
Leben der Menschen und ist schliesslich nur noch für die Organisation
der Erbfolge zuständig. Wenn unterschiedliche Interessen Menschen
zusammen führen, dann überleben schliesslich jene, die wie das Geld
auf die anderen zerstörend wirken. Deshalb sind es letztlich die
Zweckverbände, die bestehen bleiben, nachdem das Geld die anderen
Verbindungen zunehmend verschwinden lässt (ebd., S. 468): ”Und es
gibt heute vielleicht keine Assoziation von Menschen mehr, die nicht,
als Ganzes, irgendein Geldinteresse einschlösse (...) Durch den
Charakter des Zweckverbandes aber, den das Einungsleben deshalb mehr und
mehr annimmt, wird es mehr und mehr entseelt; die ganze Herzlosigkeit
des Geldes spiegelt sich so in der sozialen Kultur, die von ihm bestimmt
wird.”
Inhalt
4.5
Individualisierung und Vergrösserung sozialer Kreise
Die herausragende Bedeutung des Geldes
für die Entwicklung der Individualität steht in einem unmittelbaren
Zusammenhang mit jener, die es für die Vergrösserung der sozialen
Gruppen hat. Die Evolution der Gesellschaften beginnt mit einer relativ
kleinen Gruppe. Deren Elemente sind eng aneinander gebunden und
gleichartig, denn die Individualität der kleinen Gruppe schliesst
diejenige des Einzelnen aus. Das zufällige Zusammensein in Raum und
Zeit reicht vorerst, um Individuen aneinander zu binden (Simmel 1992a,
S. 456): ”Der Einzelne sieht sich zunächst in einer Umgebung, die
gegen seine Individualität relativ gleichgültig, ihn an ihr Schicksal
fesselt und ihm ein enges Zusammensein mit denjenigen auferlegt, neben
die der Zufall der Geburt ihn gestellt hat”. Von kleinen Gruppen
schreitet die Entwicklung zu grossen voran. Dadurch lockert sich die
Einheit der Gruppe, der starke Abschluss gegenüber anderen Kreisen wird
durch Wechselbeziehungen abgelöst (Simmel 1903). Sind Individuen in
kleinen Gruppen noch eher homogen und eng zusammenhängend ”so bringt
die gewöhnliche Entwicklung unter den letzteren eine steigende
Differenzierung hervor; die ursprünglich minimalen Unterschiede unter
den Individuen nach äußerlichen und innerlichen Anlagen und deren
Betätigung verschärfen sich durch die Notwendigkeit, den umkämpften
Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel zu gewinnen” (Simmel
1890, S. 45).
Grosse Gruppen gewähren ihren
Elementen mehr Freiheit, eine stärkere Ausprägung der individuellen
Sonderart und gegenseitige Differenzierung (Simmel 1992a). Simmel (1989,
S. 469) schreibt: ”Zu den wenigen Regeln nämlich, die man mit
annähernder Allgemeinheit für die Form der sozialen Entwicklung
aufstellen kann, gehört wohl diese: dass die Erweiterung einer Gruppe
Hand in Hand geht mit der Individualisierung und Verselbständigung
ihrer einzelnen Mitglieder.” Durch die Vergrösserung der Gruppe ”wächst
die Differenzierung unter den Individuen und steigt die Annäherung”
(Simmel 1890, S. 48) an fremde Gruppen. Zu diesen ”stellen sich neue
Berührungspunkte her, welche die früheren, relativ mehr
naturgegebenen, mehr durch sinnlichere Beziehungen zusammengehaltenen,
in den mannigfaltigsten Winkeln durchsetzen” (Simmel 1992a, S. 457).
Die Beziehungen zu Persönlichkeiten ausserhalb des ursprünglichen
Assoziationskreises gründen auf sachlicher ”Gleichheit der Anlagen,
Neigungen, Tätigkeiten usw. (...) die Assoziation durch äußerliches
Zusammensein wird mehr und mehr durch eine solche nach inhaltlichen
Beziehungen ersetzt” (ebd.).
Simmel (1890, S. 46) stellt fest, dass
”unter noch so verschiedenen sozialen Gruppen die Formen der
Differenzierung gleich oder ähnlich sind: die Verhältnisse der
einfachen Konkurrenz, die Vereinigung vieler Schwacher gegen einen
Starken, die Pleonexie Einzelner, die Progression, in der einmal
angelegte individuelle Verhältnisse sich steigern usw.” Die
Konkurrenz bildet ”die Spezialität des Individuums aus” (ebd., S.
45). Zunehmende Differenzierung lockert die Beziehung zu den
nächststehenden Personen und schnürt Bande zu entfernt stehenden, in
dieser Weise trägt sie zu einer Ausdehnung der sozialen Gruppen bei,
einer Vorbedingung für die Ausbildung von Individualität.
Die quantitative Individualität
entwickelt sich im Prozeß der Vergesellschaftung innerhalb des
Schnittpunkts sozialer Kreise, deren Mitglied das Individuum ist (Dahme
1987). Je mehr und grösseren sozialen Kreisen ein Individuum angehört,
desto ausgeprägter ist dessen Individualität (Simmel 1890, S. 103):
”Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein
Koordinatensystem derart, daß jede neu hinzukommende ihn genauer und
unzweideutiger bestimmt. Die Zugehörigkeit zu je einer derselben lässt
der Individualität noch einen weiten Spielraum; aber je mehr es werden,
desto unwahrscheinlicher ist es, daß noch andere Personen die gleiche
Gruppenkombination aufweisen werden, daß diese vielen Kreise sich noch
einmal in einem Punkte schneiden.” Eine Zunahme der Individualität
bewirkt die Mitgliedschaft in solchen gesellschaftlichen Gruppen, deren
Bestimmungen nur in geringem Masse deckungsgleich sind (ebd., S. 104):
Die Bestimmtheit des Individuums ”wird nun eine um so größere sein,
wenn die bestimmenden Kreise mehr nebeneinander liegende, als
konzentrische sind; d.h. allmählich sich verengende Kreise (...) weil
der engste derselben ganz von selbst die Teilhaberschaft an den weiteren
bedeutet (...) je weniger das Teilhaben an dem einen Kreise von selbst
Anweisung gibt auf das Teilhaben an dem anderen, desto bestimmter wird
die Person dadurch bezeichnet, dass sie in einem Schnittpunkt beider
steht.”
Der Prozess der Individualisierung
verläuft parallel zu einem Fortschreiten der kulturellen Entwicklung
(Simmel 1992a, S. 464): ”Die Zahl der verschiedenen Kreise (...) in
denen der Einzelne steht, ist einer der Gradmesser der Kultur.” Die
Beziehung des Geldes zur Ausdehnung der sozialen Gruppe ist gemäss
Simmel (1989) eine ebenso enge, wie zur Objektivierung der
Lebensinhalte. Die Objektivierung der Dinge bedeutet, dass sie
Gültigkeit für einen grösseren Kreis von Subjekten erlangen. Sie
wachsen aus ihrer ersten Bindung an einzelne Subjekte oder einen kleinen
Kreis heraus. In dieser Weise erlangen objektive Vorstellungen
Gültigkeit und Bedeutung für immer grösser Kreise.
Mit der Vergrösserung der sozialen
Kreise verbunden ist eine zunehmende Rationalisierung gesellschaftlicher
Bereiche. Simmel (1992a, S. 464) merkt an, ”daß die relativ spät
aufwachsenden Gruppenbildungen oft rationalen Charakter tragen, daß ihr
Inhalt aus bewußter Überlegung und verständiger Zweckmäßigkeit
heraus kreiert wird.” Zunehmende Arbeitsteilung führt zu
evolutionären Vorteilen, was Simmel (1890, S. 122) als ”Kraftersparnis
durch Differenzierung” bezeichnet. Diese Kraftersparnis lässt sich
der wachsenden Rationalisierung im gesellschaftlichen
Modernisierungsprozess zuordnen.
Treten mehr Menschen miteinander in
Beziehung, entsteht der Bedarf nach einem abstrakteren und
allgemeingültigeren Tauschmittel wie es das Geld darstellt. Umgekehrt
gestattet die Geldwirtschaft eine Verständigung auf grössere
räumliche Distanzen hin und die Einbeziehung unterschiedlichster
Persönlichkeiten in eine Aktion. Der Zweckverband ermöglicht eine
Wechselwirkung von Menschen, die wegen ihres räumlichen, sozialen und
personalen Interessenabstandes zu gar keiner anderen Gruppierung in der
Lage wären. Beispielhaft für die Korrelation zwischen Geldwirtschaft,
Individualisierung und Vergrösserung sozialer Kreise weist Simmel
(1989) auf das Handelsgewerbe hin: Dieses hängt einerseits in
offensichtlicher Weise mit dem Vordringen der Geldwirtschaft zusammen.
Gleichzeitig fördert es ebenfalls das Hinausgreifen der Individuen
über die sich selbst genügende Gruppe der Primitivzeit hinaus. Der
Handelnde ist nicht an den Grund gebunden, sondern auf das individuelle
Können und Wagen angewiesen.
Simmel (ebd., S. 473) schreibt: ”Der
vermittelnde Begriff für diese Korrelation zwischen dem Geld einerseits
und der Vergrößerung des Kreises wie der Differenzierung der
Individuen andererseits ist oft das Privateigentum”. Die Werte der
Naturalwirtschaft lassen sich nicht ohne weiteres über weite Distanzen
transportieren. Dadurch bleiben sie auf relativ kleine Wirtschaftskreise
beschränkt. Diese neigen zu Gemeineigentum, das vor allem aus dem
immobilen Grundbesitz besteht. Die Vergrösserung der Gruppe erschwert
jedoch die Verwaltung des Gemeineigentums zunehmend. Die
Entstehungswahrscheinlichkeit unverträglicher und über die Enge des
sozialen Kreises hinaus drängender Individuen wächst. Die dem
Gemeinbesitz widerstrebende Arbeitsteilung und Intensität der
Ausnutzung wird zu einer Notwendigkeit. Als Folge der quantitativen
Mehrung der Gruppe gewinnt der Privatbesitz in dieser Weise zunehmend an
Bedeutung.
Die Erweiterung des wirtschaftlichen
Lebenskreises ist ohne Tausch nicht möglich. Tausch existiert aber nur
durch Privateigentum. Der Besitz muss sich zuerst auf das Individuum
konzentrieren, um sich anschliessend mittels Tausch weiter verbreiten zu
können (ebd., S. 474): ”Das Geld als der absolute Träger und
Verkörperung des Tausches, wurde durch diese Vermittlung des
Privateigentums mit seiner Angewiesenheit auf den Austausch, zum Vehikel
jener Erweiterung der Wirtschaft, jenes Hineinbeziehens unbegrenzt
vieler Kontrahenten durch das Hin und Her des Tausches”. Das Geld
bildet gerade durch die absolute Beweglichkeit die Verbindung zwischen
der zunehmenden Ausdehnung der Kreise und der Verselbständigung der
Persönlichkeit. Simmel (ebd., S. 476) stellt fest, ”daß der kleine
Kreis sich durch Gleichheit und Einheitlichkeit, der große durch
Individualisierung und Arbeitsteilung erhält. Indem das Geld als ein
abstraktes Gebilde sich aus den wirtschaftlichen Wechselwirkungen eines
relativ großen Kreises herstellt, indem es andrerseits durch seinen
bloßen Qualitätscharakter den genauesten mechanischen Ausdruck jedes
Sonderanspruchs, jedes Wertes individueller Leistung, jeder personaler
Tendenz gestattet, vollendet es im Wirtschaftlichen erst jene allgemeine
soziologische Korrelation zwischen der Ausdehnung der Gruppe und der
Ausbildung der Individualität.”
Mit der gesellschaftlichen Entwicklung
verlieren immobile Besitztümer für die Menschen ihre absolute
Bedeutung. Damit verbunden ist ein proportionaler Fortschritt der
Differenzierung und der individuellen Freiheit (ebd., S. 479):
Historisch betrachtet besteht eine ”Korrelation zwischen
Naturalwirtschaft und Kollektivität, der auf der anderen Seite die
zwischen Mobilisierung des Besitzes und Individualisierung desselben
entspricht.”
Inhalt
5
Individualisierung seit Simmel
Die Grösse und die Ausdehnung eines
Kreises sind bestimmend für die Herausbildung von Individualität. Mit
zunehmender Grösse eines Kreises erhöht sich die Individualität des
Seins und Tuns. Dahme schreibt (1987, S. 60) über diesen
Differenzierungsprozess: ”Da Simmel in seiner Gesellschaftstheorie
eine zunehmende soziale Differenzierung moderner Gesellschaften
diagnostiziert, folgert er, daß das Individuum in immer mehr
Handlungsbereiche hineingezogen wird. Der Prozeß zunehmender sozialer
Differenzierung schafft die Individualität moderner Menschen, die auch
durch die sich eröffnende Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten und
bestehende Handlungssysteme definiert wird. Quantitative Individualität
ist also gesellschaftlich bedingt.” Zunehmende Vergesellschaftung
scheint Individualität im Zuge gesellschaftlicher Fortentwicklung
jedoch wieder zu reduzieren. Der moderne Individualisierungsprozess
erweist sich langfristig auch als ein Vorgang der Nivellierung. In immer
grösser werdenden Gesellschaften gleichen sich Handlungszusammenhänge
und Lebensstile einzelner Gruppen zunehmend an. Dahme (ebd.) stellt
Simmels Ausführungen folgend fest, dass Gesellschaft Individualität
auch aufreibt: ”Zum einen werden in komplexen Gesellschaften die
Handlungsketten immer länger und Zwecke lassen sich nur vermittels
einer Vielzahl von zwischengeschalteten Handlungsketten verwirklichen,
wobei oft die Erreichung von Zwecken nur wiederum Mittel zu neuen
Zwecken wird (...) Dieser Zusammenhang läßt dem Individuum die Welt
als zu komplex, um noch überschaubar zu sein, erscheinen, läßt auch
die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Eigenwert der Person
entstehen.”
Wer sich mit diesen Überlegungen
Simmels auseinandersetzt, wird eine oftmals ”überraschende ‚Modernität‘
seines Denkens” (Müller 1993, S. 127) konstatieren. Der
gesellschaftliche Modernisierungsprozess wurde begleitet von einer
ausgedehnten Phase von Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen
(Beck 1986). Diese Entwicklung bewirkte eine umfassende Differenzierung
sozialer Lagen und führte zu einer beispiellosen Zunahme individueller
Freiheiten, aber auch zu vermehrten Entscheidungszwängen und Risiken im
Lebenslauf, für die das Individuum immer öfter allein die
Verantwortung zu tragen hat. Gleichzeitig geht die soziale
Differenzierung einher mit der Aussichtslosigkeit, alle sich bietenden
Handlungsmöglichkeiten im Leben überhaupt wahrnehmen zu können.
Vor diesem Hintergrund wächst die
Erkenntnis, dass Simmels Zugang zur Analyse der Prozesse individueller
Vergesellschaftung in der modernen Zeit angemessener denn je ist: Die
Feststellung neuerer soziologischer Theoretiker, dass ”sich die
gegenwärtigen westlichen Gesellschaften nur dann adäquat verstehen
lassen würden, wenn man die (...) Freistellung der Individuen aus allen
vorgegebenen traditionellen sozialen Bindungen ins Zentrum der
soziologischen Analyse stellen würde, beinhaltet (...) genau gesehen
nur eine Wiederaufnahme jener bereits von Simmel getroffenen
Feststellung, daß innerhalb der Moderne Individualisierung und
Sozialisierung grundsätzlich korrelative Begriffe sind, die auf einen
übergreifenden gesellschaftlichen Gesamtprozeß verweisen” (Lichtblau
1997, S. 31). Simmel richtet den Blick auf die Analyse einzelner
Ereignisse um auf diesem Wege zu allgemeinen Erkenntnissen über die
Formen der Vergesellschaftung zu gelangen. Die von Tenbruck (1994, S.
347) wiedergegebene (jedoch nicht geteilte) Auffassung, dieses Vorgehen
sei ”altogether too narrow”, Simmels an sozialen Wechselbeziehungen
ausgerichtete Vorgehensweise sei viel zu einschränkend für eine
zeitgemässe Wissenschaft, erscheint voreilig. In Phasen ausgedehnten
sozialen Wandels wird der Forscher vermehrt ”ein gewisses Maß
instinktiven Vorgehens nicht entbehren können, dessen Motive und Normen
erst nachträglich völlig klares Bewußtsein und begriffliche
Durcharbeitung gewinnen” (Simmel 1992a, S. 30). Die Bestimmgrössen
der Individualität lassen sich wohl angemessener mit einer
mikrosoziologischen Lesart subjektiver Handlungen erfassen, wie sie sich
in Simmels reichhaltigem Werk findet, als durch die Einbeziehung
allgemeiner Theorien, die als Preis für eine umfassende Anwendbarkeit
das Besondere der untersuchten Vergesellschaftungsform nicht mit
ausreichender Spezifität zu beschreiben vermögen.
Inhalt
6
Zusammenfassung
Die gesellschaftliche Entwicklung in
der Moderne weist auf eine zunehmende Trennung von subjektiven und
objektiven Gebilden hin. Das Verhältnis der Menschen zu ihrem Besitz
ist von entscheidender Bedeutung für die Entfaltung individueller
Freiheit. Früher besass der Besitz eine absolute Bedeutung für das
Leben der Menschen. Das Subjekt und die Dinge waren miteinander
verschmolzen. Die gesellschaftliche Fortentwicklung führt in einem
Differenzierungsprozess zu einer Trennung des Individuums von seiner
ökonomischen Lage. Dadurch gewinnt das Individuum mehr Freiheit. Dabei
spielt das Geld eine entscheidende Rolle: Die zunehmende Entfernung
zwischen Subjekt und Besitz wird ausschliesslich durch das Geld als
universales Tauschmittel ermöglicht. Veränderungen in den
Arbeitsverhältnissen stellen eine weitere Ursache zunehmender
individueller Freiheit dar. Objektive und technische Elemente erhalten
gegenüber personalen Aspekten immer grössere Bedeutung. Erst die
Ausbildung der Geldwirtschaft ermöglicht eine Versachlichung der
Arbeitsverhältnisse. Der Arbeiter bringt sich nicht mehr als gesamte
Person ein, er gibt nur noch seine Leistung für einen Geldwert hin. Die
Unterordnung des Arbeiters ist immer weniger rein persönlicher sondern
zunehmend technischer Natur. Sobald der Arbeitsvertrag sich als reiner
Kauf einer Arbeitsleistung gestaltet, handelt es sich um den Kauf einer
objektiven Leistung. Der Vorgesetzte wie der niedere Arbeiter ordnen
sich arbeitsteilig einem objektiven Ziel unter.
Die Zunahme der individuellen Freiheit
im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess hängt auch damit zusammen,
dass das Geld eine Anweisung auf die Leistung anderer darstellt. In
früheren Zeiten war der Einzelne unmittelbar auf die Leistungen der
Gruppe angewiesen. Erst das Geld ermöglicht es, einen Leistungsanspruch
in verdichteter Form mit sich zu tragen. Der Einzelne hat die Wahl, wo
er diesen einlösen möchte. Dadurch werden die unmittelbaren Bindungen
zur Gruppe gelöst. Es bilden sich Assoziationen, die durch blosses
Geldinteresse zusammen gehalten werden. Der Zweckverband erlaubt es den
Individuen, sich zu einer Aktion zu vereinigen und dabei ein maximales
Mass individueller Freiheit zu bewahren. Die Bedeutung des Geldes für
die Entwicklung der Individuen steht in einem unmittelbaren Zusammenhang
mit jener, die es für die Vergrösserung sozialer Gruppen hat. Die
Evolution der Gesellschaften beginnt mit relativ kleinen Gruppen, deren
Elemente eng aneinander gebunden sind. Von diesen schreitet die
Entwicklung zu grossen Gruppen voran. Als Folge der quantitativen
Vergrösserung der sozialen Kreise gewinnt der Privatbesitz zunehmend an
Bedeutung. Die Erweiterung des wirtschaftlichen Lebenskreises ist ohne
ein universales Tauschmittel nicht möglich. Das Geld bildet gerade
durch die unbegrenzte Beweglichkeit die Verbindung zwischen der
zunehmenden Ausdehnung der Kreise und der Verselbständigung der
Persönlichkeit.
Mit diesen Differenzierungsvorgängen
ist eine bisher nicht gekannte Ausweitung individueller Freiheiten
verbunden. Simmel (1989, S. 481) schreibt über das zunehmende
Zurückweichen der Immobilität des Besitzes im gesellschaftlichen
Modernisierungsprozess: ”Insofern das Geld das beweglichste unter
allen Gütern ist, muß es den Gipfel dieser Tendenz darstellen und ist
nun auch tatsächlich derjenige Besitz, der die Lösung des Individuums
von den vereinheitlichten Bindungen, wie sie von anderen Besitzobjekten
ausstrahlen, am entschiedensten bewirkt.”
Inhalt
7
Literatur
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