Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser


presents:

Georg Simmel im 21. Jahrhundert
Textinterpretationen aus heutiger Perspektive

  Sociology in Switzerland   Georg Simmel Online Georg Simmel im 21. Jahrhundert

 

Die individuelle Freiheit - Gesellschaftliche Determinanten der Individualisierung


Beat Mürner 2003

Inhalt

1 Einleitung

2 Formen der Vergesellschaftung

3 Persönliche und sachliche Kultur

4 Individuelle Freiheit

4.1 Geld als Tauschmittel
4.2 Differenzierung von Besitz und Person
4.3 Versachlichung der Arbeitsverhältnisse
4.4 Verselbständigung des Individuums gegenüber der Gruppe
4.5 Individualisierung und Vergrösserung sozialer Kreise

5 Individualisierung seit Simmel

6 Zusammenfassung

7 Literatur

 

1 Einleitung

Simmels Bedeutung für die Soziologie liegt neben der Schilderung einer Fülle von Erkenntnissen bezüglich mikrosoziologischer Vergesellschaftungsformen in einer Klärung der zentralen Begriffe ‚Gesellschaft‘ und ‚Kultur‘. Durch die Entmythisierung der beiden Begriffe gelang es ihm, diese Gegenstandsbereiche für die Soziologie zugänglich zu machen (Dreyer 1995), und sie mit dem Begriff der Persönlichkeit in Verbindung zu bringen. Simmels soziologische Konzepte gründen unmittelbar im Konzept der Wechselwirkung oder gehen von diesem aus (Frisby 1992). Den Hintergrund seiner Sichtweise auf die Prozesse der Vergesellschaftung bildet der ”Mensch im Ringen um seine Individualität angesichts der Gesellschaft und der objektiven Kultur” (Dreyer 1995, S. 91). Simmel baut in seinen soziologischen Überlegungen auf dem vorhandenen Wissen bereits bestehender Wissenschaften wie der Psychologie oder der Historik (Lichtblau 1997) auf und gelangt durch Neukombination dieses Wissens zu neuen Einsichten. Soziologie konstituiert sich gemäss Simmel nicht durch bisher unentdeckte Gegenstände, sondern durch spezifische Problemstellungen, unter deren Gesichtspunkt vorhandenes Material neu zusammengesetzt und gruppiert wird (Dahme 1987). Soziologie findet ihre Objekte, indem sie ”eine neue Linie durch Tatsachen legt, die als solche durchaus bekannt sind” (Simmel 1992a, S. 17).

Simmel schreibt wenig darüber, welche Denker seine Überlegungen massgeblich beeinflusst haben. Frisby (1992, S. 7) zählt ”Spencer, Dilthey and Lazarus” dazu. Ähnlich wie bei diesen spielt in Simmels Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse der Entwicklungsgedanke eine tragende Rolle. Er stellt fest, dass sich die Fortentwicklung der Gesellschaft als sozialer Differenzierungsprozess gestaltet (Simmel 1890). Simmels Konzept der sozialen Differenzierung und dessen Anwendung auf gesellschaftliche Individualisierungsprozesse setzt die Überzeugung voraus, dass einzelne Ereignisse Hinweise auf allgemeine theoretische Zusammenhänge darstellen (Dahme 1990, S. 15): ”single events have to be explained by general propositions.” Das Augenmerk richtet sich bei Simmel immer wieder auf die eingehende Betrachtung grundlegender Interaktionsmuster zwischen Individuen. Mit diesem Vorgehen wählt er einen theoretischen Zugang, der heute der Mikrosoziologie zugeschrieben wird (Coser 1977).

Simmels Blick auf die ”Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Wechselwirkungen, objektiver und subjektiver Kultur und individueller Seele” (Müller 1993, S. 129) widerspiegelt sich im Aufbau dieser Arbeit. Als erstes werden einführende Begriffserklärungen bezüglich Simmels Sichtweise der Gesellschaft und der kulturellen Entwicklung in der Moderne in verdichteter Form erläutert. Darauf folgt eine Diskussion der Bestimmgrössen, die zu einer zuvor nicht gekannten Zunahme individueller Freiheit im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess führten. Die Darstellung der wichtigsten Vorgänge, die zu einem Anwachsen der individuellen Freiheit beitrugen, gründet im gleichnamigen Kapitel aus Simmels um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert erschienen erstem Hauptwerk, das den Titel ”Philosophie des Geldes” (1989) [1] trägt und den thematischen Schwerpunkt dieser Ausführungen bildet.

Inhalt

2 Formen der Vergesellschaftung

Ein Gesellschaftsbegriff, der abgehoben von der Ebene subjektiven Handelns existiert, wird von Simmel abgelehnt (Tenbruck 1994). Der Begriff der Gesellschaft ist nur von Bedeutung, wenn er für mehr als die schlichte Summe der einzelnen Individuen steht (Spykman 1992). Für Simmel (1992a, S. 15) ist der Mensch ”in seinem ganzen Wesen und allen Äußerungen dadurch bestimmt, daß er in Wechselwirkung mit anderen Menschen lebt”. Gesellschaft findet sich überall dort, ”wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten” (ebd., S. 17). Wechselwirkungen entstehen durchwegs aus bestimmten Trieben heraus oder dienen der Erfüllung bestimmter Zwecke. Es handelt sich dabei um grundlegende Triebe des Einzelnen wie Existenzsicherung, Mehrung und Schutz von Besitz oder die Erweiterung der eigenen Machtsphäre, zu deren Erfüllung das Individuum ”sich mit beliebig vielen anderen zweckmäßigerweise zusammenschließen kann” (Simmel 1890, S. 86). Das Zusammengehen dieser Wechselbeziehungen führt dazu, dass aus individuellen Trägern von Trieben und Zwecken eine Einheit entsteht, dass aus Individuen ”eben eine ‚Gesellschaft‘ wird” (Simmel 1992a, S. 18).

Durch das Auftreten von Wechselwirkungen zwischen Individuen findet Vergesellschaftung unmittelbar statt: ”They are neither the cause nor the result of society; they are themselves immediately society” (Spykman 1992, S. 30-31). Simmel (1890, S. 14) hält fest: ”Gesellschaft ist nur der Name für die Summe dieser Wechselwirkungen, der nur in dem Maße der Festgestelltheit dieser anwendbar ist. Es ist deshalb kein einheitlich feststehender, sondern ein gradueller Begriff, von dem auch ein Mehr oder Weniger anwendbar ist, je nach der größeren Zahl und Innigkeit der zwischen den gegebenen Personen bestehenden Wechselwirkungen.” Mit dieser Definition des Gesellschaftsbegriffes wendet sich Simmel gegen all jene, die Gesellschaft als ein ”eigenes ‚Wesen‘ mystifizieren” (Dahme 1987, S. 41).

Um das Relationale und Prozesshafte des sozialen Lebens (Dahme 1990) zu unterstreichen, schlägt Simmel vor, auf den Gesellschaftsbegriff gänzlich zu verzichten und zutreffender den Begriff der Vergesellschaftung zu verwenden (Dreyer 1995, Simmel 1917, Spykman 1992). Die Aufgabe der Soziologie besteht darin, ”die Form und die Formen der Vergesellschaftung als solcher, in Absonderung von den einzelnen Interessen und Inhalten, die sich in und vermöge der Vergesellschaftung verwirklichen” (Simmel 1992c, S. 54) zu untersuchen. Nur indem die Vergesellschaftungsformen untersucht werden lässt sich die Frage beantworten, was Gesellschaft ist (Coser 1977, Frisby 1992) [2] . Gemäss Coser (1977) liegen der Formbegriff und der Begriff der sozialen Struktur nahe beieinander. Er vermutet, dass Simmels Werk auf weniger Widerstände gestossen wäre, hätte er den Strukturbegriff anstelle des Formbegriffs verwendet.

In Simmels Sichtweise ist der Dualismus zwischen Formen und Inhalten der Vergesellschaftung von herausragender Bedeutung. Die Inhalte sind bereits Gegenstand spezieller Wissenschaften. Durch deren Kreise legt die Soziologie einen neuen, der die eigentlichen gesellschaftlichen Elemente, die Formen der Vergesellschaftung, markiert. Der Inhalt – Simmel spricht auch von der ”Materie der Vergesellschaftung” (Simmel 1917, S. 49) – umfasst, was im Individuum ”als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständigkeit und Bewegung derart vorhanden ist, daß daraus oder daran die Wirkung auf andere und das Empfangen ihrer Wirkungen entsteht” (ebd., S. 48-49).

Diese Inhalte sind für sich noch nicht sozialen Wesens, sie stellen noch keine Vergesellschaftung dar. Sie bilden diese erst, sobald das isolierte Nebeneinander von Individuen durch Wechselbeziehungen Formen des Miteinander und Füreinander annimmt. In dieser Weise erlangen die Inhalte gesellschaftliche Wirklichkeit (Simmel 1992a, S. 19): ”Irgend eine Anzahl von Menschen wird nicht dadurch zur Gesellschaft, daß in jedem für sich irgend ein sachlich bestimmter oder ihn individuell bewegender Lebensinhalt besteht; sondern erst, wenn die Lebendigkeit dieser Inhalte die Form der gegenseitigen Beeinflussung gewinnt, wenn eine Wirkung von einem auf das andere – unmittelbar oder durch ein Drittes vermittelt – stattfindet, ist aus dem bloß räumlichen Nebeneinander oder auch zeitlichen Nacheinander der Menschen eine Gesellschaft geworden.”

Unterschiedliche Inhalte lassen sich derselben Form der Vergesellschaftung zuordnen. Simmel (1917, S. 28) schreibt: ”So mannigfaltig auch die Interessen sind, aus denen es überhaupt zu diesen Vergesellschaftungen kommt – die Formen, in denen sie sich vollziehen, können dennoch die gleichen sein. Und nun andererseits: das inhaltlich gleiche Interesse kann sich in sehr verschiedenartig geformten Vergesellschaftungen darstellen”.

Simmel beschreibt eine Reihe grundlegender Formen der Vergesellschaftung. Gemäss Simmel ordnen wir jedes Individuum, mit dem wir in Wechselwirkung treten, einem bestimmten Typus zu. Wir sind nicht in der Lage, einen anderen Menschen in seiner Gesamtheit zu erfassen sondern sehen ihn stets in einem bestimmten Masse verallgemeinert. Dies liegt darin begründet, dass keine zwei Personen völlig gleich sind, es gibt zwischen ihnen stets qualitative Unterschiede. Wir sehen andere nicht in ihrer reinen Individualität, sondern immer als allgemeinen Typus, dem wir diese anderen zuordnen (Dreyer 1995). Simmel untersuchte in der Folge detailliert eine ganze Reihe von sozialen Typen wie den Armen, den Geizigen oder den Fremden (Coser 1977, Simmel 1992a). Sodann fügen wir einer Person, der wir begegnen, immer noch etwas hinzu. Da wir sie nicht als ganzes erfassen können, ergänzen wir unvollkommen erfasste Einzelheiten zu einem stimmigen Ganzen (Dreyer 1995). Weiter sehen wir jeden anderen nicht nur als ein isoliertes Individuum, sondern stets als Mitglied eines sozialen Kreises (Simmel 1992a, S. 50): ”Wir sehen den anderen nicht schlechthin als Individuum, sondern als Kollegen oder Kameraden oder Parteigenossen, kurz als Mitbewohner derselben besonderen Welt”.

Bei der Betrachtung der Formen der Vergesellschaftung erkennt Simmel (1992c, S. 55), dass in den gesellschaftlichen Wechselwirkungen immer wieder Gleichförmigkeiten auftreten: ”An gesellschaftlichen Gruppen, die ihren Zwecken und ihrem sittlichen Charakter nach die denkbar verschiedensten sind, finden wir z. B. die gleichen Formen der Über- und Unterordnung, der Konkurrenz, der Nachahmung, der Opposition, der Arbeitsteilung, wir finden die Bildung einer Hierarchie, die Verkörperung des gruppenbildenden Princips in Symbolen, die Scheidung in Parteien, wir finden alle Stadien von Freiheit oder Bindung des Individuums der Gruppe gegenüber, Durchkreuzung und Schichtung der Gruppen selbst, bestimmte Reaktionsformen derselben gegen äußere Einflüsse (...) Diese Formen entwickeln sich bei der Berührung der Individuen relativ unabhängig von dem Grunde dieser Berührung, und ihre Summe macht dasjenige konkret aus, was man mit dem Abstraktum Gesellschaft benennt.”

Bei der Untersuchung der Formen der Vergesellschaftung bleibt die Soziologie nicht auf Wechselwirkungen zwischen Individuen beschränkt, sondern thematisiert auch solche zwischen Gruppen und anderen sozialen Gebilden. Simmel (1917, S. 15) interessiert sich dafür, was mit den Menschen geschieht, nach welchen Regeln sie sich bewegen, ”nicht insofern sie die Ganzheit ihrer erfaßbaren Einzelexistenzen entfalten, sondern sofern sie vermöge ihrer Wechselwirkungen Gruppen bilden und durch diese Gruppenexistenz bestimmt werden”. Angetroffene gesellschaftliche Systeme und Organisationen sind ”Verfestigungen – zu dauernden Rahmen und selbständigen Gebilden – von unmittelbaren, zwischen Individuum und Individuum stündlich und lebenslang hin und her gehenden Wechselwirkungen. Sie gewinnen damit freilich Eigenbestand und Eigengesetzlichkeit, mit denen sie sich diesen gegenseitig sich bestimmenden Lebendigkeiten auch gegenüber- und entgegenstellen können” (ebd., S. 13). Im menschlichen Zusammenleben entstehen objektive Gebilde. Diese gehen aus Wechselwirkungen hervor, sie werden durch diese in ihrem Bestand erhalten und treten in der Folge dem Individuum als schon vorhandene Objektivationen entgegen (Dahme 1987). Überindividuelle Strukturen wie Nation, lokale Gemeinschaft, Familie, Stadt oder Handelsgesellschaft sind Kristallisationen von Wechselwirkungen, auch wenn sie dem Individuum als etwas Fremdes und Beständiges gegenübertreten mögen, das nur den eigenen Gesetzmässigkeiten gehorcht (Coser 1977).

Inhalt

3 Persönliche und sachliche Kultur

Simmel merkt an, dass alle Entwicklungsprozesse menschlicher Aktivitäten als Natur angesehen werden können. Bei dieser Sichtweise würde zwischen Natur und Geschichte kein Unterschied mehr bestehen. Eine Eingrenzung eines solchen alles umfassenden Verständnisses von Natur wird dadurch erreicht, dass ihm der Begriff der Kultur gegenübergestellt wird. Dadurch geht die natürliche Entwicklung der Dinge nur bis zu einem gewissen Punkt und wird anschliessend von der kulturellen abgelöst (Simmel 1993, S. 365): ”Der Punkt, an dem diese Ablösung der Entwicklungskräfte stattfindet, bezeichnet die Grenze des Naturzustandes gegen den Kulturzustand.” Da sich unter diesem Blickwinkel Kultur aus Natur ableiten lässt, sind beide Begriffe nur zwei Betrachtungsweisen derselben Sache. Der Übergang findet dort statt, wo ein Subjekt sich über die in ihm angelegten Triebkräfte hinaus entwickelt und ”ein intelligenter, über Mittel verfügender Wille diese Kräfte aufnimmt und damit das Subjekt zu Zuständen führt, die es, jenen allein überlassen, nicht erreichen könnte” (ebd. Hervorh. im Original).

Diesen Entwicklungsprozess bezeichnet Simmel (ebd., S. 365-366. Hervorh. im Original) als Kultivierung des Subjekts: ”Kultivierung setzt voraus, daß etwas da sei, was sich vor ihrem Eintreten in einem nicht kultivierten – eben dem ‚natürlichen‘ – Zustand befand; und sie setzt nun weiter voraus, daß die dann eintretende Änderung dieses Subjektes irgendwie in dessen natürlichen Strukturverhältnissen oder Triebkräften latent sei, wenngleich nicht von diesen selbst, sondern eben nur durch die Kultur zu realisieren; daß die Kultivierung ihren Gegenstand zu dem für ihn determinierten, in der eigentlichen und wurzelhaften Tendenz seines Wesens angelegten Vollendung führte.”

Kultivierung geht vom Subjekt aus, führt zu objektiven Gebilden hin, zu Verkörperungen ”der sozialen Energien in Gebilden, die jenseits des Individuums stehen und sich entwickeln” (Simmel 1992a, S. 15), und sie führt von diesen wieder zurück zum Subjekt. Kultivierung ist der ”von uns ausgehende und in uns zurückkehrende Werterhöhungsprozess, der die Natur außer uns oder die Natur in uns ergreift” (Simmel 1900, S. 700). Simmel (1992a, S. 467) formuliert dies in seinen Untersuchungen zu den Formen der Vergesellschaftung wie folgt: ”Nachdem die Synthese des Subjektiven das Objektive hervorgebracht, erzeugt nun die Synthese des Objektiven ein neueres und höheres Subjektives”. Kultur ist Vollendung des in einem Subjekts bereits vorliegenden Wesens über das in natürlicher Weise mögliche Stadium hinaus. Kultivierung entsteht durch das Zusammenwirken der in einem Wesen von vornherein innewohnenden Kräfte mit ”neuen teleologischen [3] Eingriffen, die aber in jenen Anlagerichtungen des Wesens selbst erfolgen und insoweit seine Kultur heißen” (Simmel 1993, S. 366. Hervorh. im Original). Die Kultivierung des Subjekts beinhaltet stets die Aneignung etwas äusserlichen. Wo keine Einbeziehung objektiver Gebilde in den Prozess der subjektiven Entwicklung stattfindet, wo nicht der Weg vom Subjekt zum Objekt hin und wieder zurück zur subjektiven Vollendung beschritten wird, sieht Simmel keine Kultivierung in ihrem spezifischen Sinn.

Die Summe der äusserlichen Gebilde wird von Simmel (ebd., S. 371) als objektive Kultur bezeichnet: ”Als die objektive Kultur kann man die Dinge in jener Ausarbeitung, Steigerung, Vollendung bezeichnen, mit der sie die Seele zu deren eigener Vollendung führen oder die Wegstrecken darstellen, die der Einzelne oder die Gesamtheit auf dem Wege zu einem erhöhten Dasein durchläuft.” Objektive Kultur umfasst die materiellen und immateriellen Güter der Kultur wie Kunstwerke, Religionen, Wissenschaft, Technik und vieles mehr.

Diese Güter sind durch individuelle Beiträge aufgeschichtet worden, sie sind Resultate des individuellen Lebens, doch sie erlangen in der Folge ein eigenes, objektives geistiges Leben. Kultur ist von Menschen geschaffen, sie stellt die Vergegenständlichung der Produkte des Geistes dar (Dahme 1987). Objektive Kultur gründet in der ”Produktion von Erscheinungen durch das gesellschaftliche Leben, und zwar im zweifachen Sinne, durch das Nebeneinander wechselwirkender Individuen, das in jedem erzeugt, was doch aus ihm allein nicht erklärbar ist, und durch das Nacheinander der Generationen, deren Vererbung und Überlieferungen mit dem Eigenerwerb des Einzelnen unlösbar verschmelzen und es bewirken, daß der gesellschaftliche Mensch, im Unterschied gegen alles untermenschliche Leben, nicht nur Nachkomme, sondern Erbe ist” (Simmel 1917, S. 16-17. Hervorh. im Original).

Demgegenüber versteht Simmel unter subjektiver Kultur das ”erreichte Entwicklungsmaß der Personen” (Simmel 1993, S. 371). Dieses wird beschrieben durch ”die Bildung, die Kultivierung des Individuums” (Dreyer 1995, S. 82). Kultivierung geschieht also, indem eine Person objektive in subjektive Kultur überführt, indem sie die ”Objektivationen des Geistes, die ihr zunächst als etwas Äußeres gegenüberstehen, in sich hineinnimmt und zu einer ihr gemäßen Einheit formt” (ebd., S. 85).

Nach Auffassung Simmels (1989, S. 446) bewirkt die Entwicklung eine ”immer gründlichere, bewußtere Scheidung zwischen den objektiven und subjektiven Vorstellungen, die sich ursprünglich in einem unklaren psychologischen Indifferenzzustand bewegten.” Während es keine subjektive Kultur ohne objektive geben kann, ist es letzterer möglich, eine beträchtliche Selbständigkeit gegenüber der ersteren zu gewinnen. In sehr entwickelten und arbeitsteiligen Epochen der gesellschaftlichen Entwicklung wachsen Kulturerrungenschaften zu einem für sich bestehenden Reich aus. Die objektiven Gebilde werden einer innerlichen Logik folgend zunehmend vollendeter und zweckmässiger. Die Kultivierung der Subjekte vermag sich jedoch nicht in demselben Masse zu steigern. Die Differenzierung zwischen objektiver und subjektiver Kultur erweitert sich in der Folge stetig und bedingt ein zunehmendes Übergewicht der objektiven Kultur. Der eigentliche Schauplatz dieser kulturellen Differenzierungsvorgänge liegt in den Grossstädten (Simmel 1903), dem Schmelztiegel der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse.

Für Simmel ist die subjektive Kultivierung ”der dominierende Endzweck, und ihr Maß ist das Maß des Anteilhabens des seelischen Lebensprozesses an jenen objektiven Gütern oder Vollkommenheiten” (Simmel 1993, S. 372). Die Unfähigkeit, mit dem Anwachsen der objektiven Kultur mitzuhalten, bezeichnet Simmel (1919, S. 249) deshalb als die ”Tragödie der Kultur”. Über diese schreibt er (ebd., S. 250): ”So entsteht die typische problematische Lage des modernen Menschen: das Gefühl, von einer Unzahl von Kulturelementen umgeben zu sein, die für ihn nicht bedeutungslos sind, aber im tiefsten Grunde auch nicht bedeutungsvoll; die als Masse etwas Erdrückendes haben, weil er nicht alles einzelne innerlich assimilieren, es aber auch nicht einfach ablehnen kann, da es sozusagen potentiell in die Sphäre seiner kulturellen Entwicklung gehört.” Diese Entwicklung ist tragisch, da sie die Kultur an objektive Gebilde bindet, deren Inhalte aber gerade durch ihre Objektivation eine Eigenlogik annehmen und schliesslich der kulturellen Assimilation durch Subjekte nicht mehr umfassend zugänglich sind.

Eine Versöhnung von Individuum und Gesellschaft scheint aussichtslos. Mit der unorganischen Anhäufbarkeit von Objektivationen wird die sachliche Kultur ”der Form des persönlichen Lebens im Tiefsten inkommensurabel” (ebd., S. 249). Diese Entwicklung gründet in der zunehmenden Arbeitsteilung im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess, was zu einer ”Entfremdung” (ebd., S. 244) der Subjekte von den aus ihrem Geiste stammenden Objektivationen führt. Dahme (1987, S. 33. Hervorh. im Original) schreibt über die tragische Entwicklung der Kultur: ”Das grenzenlos erscheinende Wachstum der kulturellen Güter und Leistungen tritt den Handelnden als subjektiv nicht mehr zu bewältigende, verselbständigte und entfremdete Kultur entgegen.” Derartige ”Objektivationen finden sich auch im sozialen Leben. So ist die soziale Wechselwirkung häufig an Formen gebunden und in Formen (...) die für die Ordnung und Steuerung von Handlungsabläufen funktional sind, aus der Sicht des Einzelnen aber auch ein ungeheures Hemmnis für die Entfaltung seiner Individualität darstellen können” (ebd. Hervorh. im Original).

Inhalt

4 Individuelle Freiheit

Indem Simmel das Augenmerk bei der soziologischen Analyse auf die Formen der Vergesellschaft richtet, geht er von Handlungszusammenhängen beliebiger Konstellationen von Individuen aus (Dahme 1990). Innerhalb der formalen Soziologie lassen sich jedoch zentrale soziale Phänomene nicht thematisieren. Gesellschaftlich erzeugte Passivität, Leiden oder Pessimismus sind hand­lungstheoretisch schwer fassbar, da sie keine Handlungen im eigentlichen Sinne darstellen. Trotzdem sind sie Folgen der Vergesellschaftungsprozesse (Dahme 1987). Individualität lässt sich in ihrer gesamten Breite über den Begriff der Vergesellschaftung nicht thematisieren. Dies liegt daran, dass sich ein Mensch nicht ausschliesslich aufgrund seiner Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Kreisen verstehen lässt (Dreyer 1995). Simmel (1992a, S. 51) stellt fest, ”daß jedes Element einer Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil, sondern außerdem noch etwas ist.” Das Individuum steht sowohl innerhalb sozialer Kreise, wie auch ausserhalb derselben. Die ”Art seines Vergesellschaftet-Seins ist bestimmt oder mitbestimmt durch die Art seines Nicht-Vergesellschaf­tet-Seins” (ebd., S. 51).

Eine solche Unvollständigkeit in der Sichtweise der formalen Soziologie kann gemäss Simmel nur durch die Philosophie behoben werden. Er unterscheidet zu diesem Zweck zwei Begriffe des Individualismus: Einerseits den eines (formal) soziologisch bestimmbaren, quantitativen und andererseits den eines qualitativen Individualismus, der nur philosophisch fassbar ist. Simmel (1995, S. 53. Hervorh. im Original) schreibt über letzteren: ”Daß auch die Verschiedenheit des Menschlichen eine sittliche Forderung sei, daß jeder gleichsam ein besonderes Idealbild seiner selbst, das keinem anderen gleich ist, zu verwirklichen habe – das war eine ganz neue Wertung, ein qualitativer Individualismus gegenüber jenem, der allen Wert auf die Form des freien Ich legte.” Der Unterschied gründet darin, dass der quantitative Individualismus ”sein Ideal in der Gleichheit und Gleichberechtigtheit der gesellschaftlichen Elemente sieht” (ebd., S. 54), während für den qualitativen Individualismus die Unterschiede zwischen den Individuen ”den ganzen Sinn der Menschheit ausmachen” (ebd.).

Inhalt

4.1 Geld als Tauschmittel

Um die Jahrhundertwende veröffentlichte Simmel (1989) mit seiner ”Philosophie des Geldes” eine ausführliche Studie zur Bedeutung des Geldes im Prozess der sozialen Differenzierung. Simmel beabsichtigte, die Voraussetzungen darzustellen, ”die, in der seelischen Verfassung, in den sozialen Beziehungen, in der logischen Struktur der Wirklichkeiten und der Werte gelegen, dem Geld seinen Sinn und seine praktische Stellung anweisen” (ebd., S. 10). Er ging auch der Frage nach, welche Rolle das Geld im Prozess der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften spielt.

Die Auflösung der engen familiären Bande und die Eingebundenheit in die ständische Gesellschaft beim Übergang in die Neuzeit ist eng verbunden mit der Entwicklung der Geldwirtschaft (Simmel 1992b, S 178): ”Im Mittelalter findet sich der Mensch in bindender Zugehörigkeit zu einer Gemeinde oder zu einem Landbesitz, zum Feudalverband oder zur Corporation; seine Persönlichkeit war eingeschmolzen in sachliche oder sociale Interessenkreise, und die letzteren wiederum empfingen ihren Charakter von den Personen, die sie unmittelbar trugen. Diese Einheitlichkeit hat die neuere Zeit zerstört. Sie hat einerseits die Persönlichkeit auf sich selbst gestellt und ihr eine unvergleichliche innere und äußere Bewegungsfreiheit gegeben; sie hat dafür andererseits den sachlichen Lebensinhalten eine ebenso unvergleichliche Objektivität verliehen: in der Technik, den Organisationen jeder Art, den Betrieben und Berufen gelangen mehr und mehr die eigenen Gesetze der Dinge zur Herrschaft und befreien sie von der Färbung durch Einzelpersönlichkeiten – wie unser Bild der Natur mehr und mehr die vermenschlichten Züge auszumerzen und sie einer objectiven Gesetzlichkeit anheimzugeben strebt. So hat die Neuzeit Subject und Object gegeneinander verselbständigt, damit jedes die ihm eigene Entwicklung reiner und voller fände.” Im Mittelalter war das Individuum über den Besitz von Grund und persönliche Abhängigkeit bestimmt, dies änderte sich durch das Aufkommen der Geldwirtschaft.

Die Kategorie des Tausches ist für Simmel (1989, S. 59) von herausragender Bedeutung für die Untersuchung gesellschaftlicher Verhältnisse: ”Man muß sich hier klar machen, daß die Mehrzahl der Beziehungen von Menschen untereinander als Tausch gelten kann; er ist die zugleich reinste und gesteigertste Wechselwirkung, die ihrerseits das menschliche Leben ausmacht”. Jede Wechselwirkung kann letztlich als Tauschform betrachtet werden. Dabei ”ist Wechselwirkung der weitere, Tausch der engere Begriff; allein in menschlichen Verhältnissen tritt die erstere ganz überwiegend in Formen auf, die sie als Tausch anzusehen gestatten” (ebd., S. 60). Soziale Handlungen sind im wesentlichen Tauschbeziehungen, unabhängig ob es sich um materielle oder immaterielle Güter handelt, die dabei ausgetauscht werden. Tausch ist eine soziale Kategorie, die ökonomische Tauschbeziehungen als Sonderfall einschliesst. Der Austausch ist ”eine der reinsten und elementarsten Formen menschlicher Vergesellschaftung” (Dahme 1987, S. 75. Hervorh. im Original).

Der Wert der Tauschgegenstände gründet nicht in diesen selbst, er beruht auf den Wertungen der Subjekte. Eine Voraussetzung hierzu ist die Ausdifferenzierung von Objekt und Subjekt aus einem ursprünglichen Zustand roher Triebhaftigkeit (Simmel 1989, S. 50): ”Der Kulturprozeß – eben der, der die subjektiven Zustände des Triebes und Genießens in die Wertung der Objekte überführt – treibt die Elemente unseres Doppelverständnisses von Nähe und Entfernung den Dingen gegenüber immer schärfer auseinander.” Objekte, die unmittelbar konsumiert werden können, besitzen für das Individuum keinen Tauschwert. Der Gegenstand ist kein Wert, solange er als unmittelbarer Auslöser von Gefühlen in den subjektiven Vorgang eingebunden ist und in dieser Weise ”gleichsam eine selbstverständliche Kompetenz unserer Gefühlsvermögens bildet” (ebd., S. 72). Erst die Trennung von Subjekt und Objekt bewirkt eine Distanz zwischen diesen, die Begehrlichkeit im Subjekt erzeugt, und welche dieses überwinden muss, um das begehrte Objekt zu erlangen (Dahme 1987). Das in solcher Weise ”zustande gekommene Objekt, charakterisiert durch den Abstand vom Subjekt, den dessen Begehrung ebenso feststellt wie zu überwinden sucht – heißt uns ein Wert” (Simmel 1989, S. 34).

Werten liegen Relationen zugrunde, nicht substantielle Eigenschaften: Erst ”die Vergleichung der Begehrungen, d. h. die Tauschbarkeit ihrer Objekte, fixiert jedes derselben als einen seiner Höhe nach bestimmten, also wirtschaftlichen Wert” (ebd., S. 76). Im Geld hat ”der Wert der Dinge, als ihre wirtschaftliche Wechselwirkung verstanden, seinen reinsten Ausdruck und Gipfel gefunden” (ebd., S. 121). Das Geld hat sich im Lauf der gesellschaftlichen Entwicklung ausdifferenziert, es stellt ein höheres, überpersönliches Gebilde dar wie dies auch für Sitte, Recht und Moral gilt. Das Geld ist das ”Sublimat der Relativität der Dinge” (ebd., S. 124). Die Eigenart der Gegenstände liegt nicht in ihrer Substanz begründet, sondern in ihrer Relation zueinander. Das Geld ”versinnbildlicht die Tendenz der Moderne, alle Substanzen in Relationen aufzulösen” (Dahme 1987, S. 76). Simmel (1989, S. 136. Hervorh. im Original) schreibt, dass ”die Dinge ihren Sinn aneinander finden und die Gegenseitigkeit der Verhältnisse, in denen sie schweben, ihr Sein und ihr Sosein ausmacht.”

Die Funktion des Tausches als eine unmittelbare Wechselbeziehung unter Individuen ist mit dem Geld zu einem für sich existierenden Gebilde kristallisiert. Das ”Geld ist Ausdruck und Mittel der Beziehung, des Aufeinanderangewiesenseins der Menschen, ihrer Relativität, die die Befriedigung der Wünsche des einen immer vom anderen wechselseitig abhängen läßt; es findet also da keinen Platz, wo gar keine Relativität stattfindet – sei es, weil man von den Menschen überhaupt nichts mehr begehrt, sei es, weil man in absoluter Höhe über ihnen – also gleichsam in keiner Relation zu ihnen – steht, und die Befriedigung jedes Begehrens ohne Gegenleistung erlangen kann” (ebd., S. 179). Jedes göttliche Wesen steht für Simmel ausserhalb der Gesellschaft. Dieses braucht keines der irdischen Güter zu begehren, da sich ihm kein Mittel zwischen den subjektiven Trieb und das angestrebte Gut zu drängen vermag (ebd., S. 258): Das Zweckhandeln unterscheidet sich ”durch sein Angewiesensein auf das Mittel (...) von demjenigen Handeln, das man sich als das göttliche denken mag.”

Die Geldwirtschaft löst die Zusammengehörigkeit zwischen Personalität und dinglichen Beziehungen auf, sie ”schiebt zwischen die Person und die bestimmt qualificirte Sache in jedem Augenblick die völlig objective, an sich qualitätslose Instanz des Geldes und Geldeswerthes. Sie stiftet eine Entfernung zwischen Person und Besitz, indem sie das Verhältniß zwischen Beiden zu einem vermittelten macht” (Simmel 1992b, S. 179). In dieser Weise hat im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess die allmähliche Vergegenständlichung wirtschaftlicher Werte im Geld zu einer Ausdifferenzierung zwischen Subjekt und Objekt geführt (Lichtblau 1997). Dabei ist ”der mythische Naturzwang schliesslich durch eine Welt der kulturellen Objektivationen ersetzt worden (...) in welcher sich der moderne Mensch nicht mehr als deren eigentlicher Urheber erkennen kann” (ebd., S. 21).

Geld besitzt in seiner idealen Ausformung keine anderen Eigenschaften, als die des universalen Austauschmittels. Simmel (1890, S. 87) weist darauf hin, ”dass erst höhere Differenzierung der Ziele und Wege es nötig macht, mehr und mehr Mittelglieder in die teleologische Kette einzuschieben.” Das Handeln ist die Brücke, über die Zweckinhalte aus ihrer psychischen Form in die Wirklichkeitsform übergeleitet werden. Seinem Wesen nach ist der Zweck an die Existenz von Mitteln gebunden, die seiner Umsetzung dienen. In die Handlungsketten zur Erreichung von Zwecken werden im Prozess der sozialen Differenzierung ständig weitere Mittel eingefügt. Während in einfachen Gesellschaften noch wenige Mittel Subjekt und Objekt trennten, vervielfältigten sich diese als Folge der zunehmenden Arbeitsteilung. Dies führte dazu, dass das Geld mehr und mehr seine Mittelfunktion einbüsste und der Sinn des Lebens immer öfters in der Anhäufung von Geld gesehen wird. Immer näher ”liegt die Gefahr, in diesem Labyrinth von Mitteln stecken zu bleiben und über sie den Endzweck zu vergessen” (Simmel 1992b, S. 189). Das Geld wird zunehmend als ein für sich zufriedenstellender Endzweck angesehen, über dessen Erlangung hinaus nicht mehr weitergedacht wird. Während das Geld ”seine ganze Bedeutung nur als Uebergang, nur als Glied in der Reihe hat, die zu einem definierten Zwecke und Genusse führt – wird die Reihe psychologisch an dieser Stufe abgebrochen, das Zweckbewußtsein macht am Geld Halt” (ebd., S. 188). Das Geld ”schiebt zwischen den Menschen und seine Wünsche eine vermittelnde Stufe, einen erleichternden Mechanismus, und weil mit der Erreichbarkeit dieses Einen unzähliges Andere erreichbar wird, erregt es die Illusion, als sei alles dieses Andere leichter als sonst zu erreichen” (ebd., S. 190).

Kritisch merkt Simmel an, dass sobald alles mit Geld zu erlangen ist, vieles an Wert einbüsst. Denn viele Gebilde beinhalten Qualitäten, die sich nicht vollumfänglich mittels Geld eintauschen lassen. Zu leicht verfällt man beim Kauf einer Sache dem Irrglauben, in ”ihrem Geldwerthe ihr genaues, restloses Aequivalent zu besitzen. Hier liegt sicher ein tiefer Grund für den problematischen Charakter, für die Unruhe und Unbefriedigtheit unserer Zeit” (ebd., S. 186).

Das Geld versachlicht und rationalisiert als universaler Wertmassstab alle sozialen Beziehungen und macht sie zu objektivierbaren Austauschbeziehungen (Dahme 1987). Geld beschleunigt insbesondere das ”Tempo des Lebens” (Simmel 1989, S. 697). Die Ausbreitung der Geldwirtschaft führt zu einer grundlegenden Veränderung von Lebensgewohnheiten. Die Rationalisierung und Individualisierung im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung, die gesteigerte Relativität lokalisiert Simmel in der Großstadt (Dahme 1987). Die Grossstädte sind der Ort, indem die Geldwirtschaft gedeiht, denn die Konzentration des wirtschaftlichen Austausches verschafft dem Tauschmittel eine Bedeutung, die im spärlichen ländlichen Tauschverkehr nicht möglich ist. Individualität entwickelt sich am ausgeprägtesten innerhalb des hektischen städtischen Lebens (Simmel 1903).

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4.2 Differenzierung von Besitz und Person

In der Beziehung zwischen Person und Besitz scheint sich die Differenzierung von subjektiven zu objektiven Vorstellungen hin zu wiederholen. Das sich wandelnde Verhältnis der Menschen zu ihrem Besitz ist von grundlegender Bedeutung für die Entfaltung individueller Freiheit. In früheren Jahrhunderten bestand eine enge Verbindung zwischen dem Individuum und seinem Besitz. Es bestand ein Zustand der Indifferenz. Das Denken primitiver Menschen war nicht in der Lage, zwischen den objektiven Gesetzmässigkeiten der Dinge und der vom Äusseren unabhängigen Persönlichkeit zu trennen. Der Besitz besass eine absolute Bedeutung: Das Ich und die Dinge schienen miteinander verschmolzen zu sein. Simmel (1989) veranschaulicht diesen Zustand an der Sitte vieler Naturvölker, die den erarbeiteten oder eroberten Besitz den Toten mit ins Grab legten. Das Band zwischen Besitztümern und Personen in den Zeiten des Feudalismus und die Erblichkeit von Berufen sind weitere Beispiele. Simmel (ebd., S. 447) schreibt über diesen Indifferenzzustand: Jede ”ständische oder zunftartige Verfassung der Gesellschaft, die ein organisches Verweben der Persönlichkeit mit ihrem ökonomischen Sein und Haben bedingt – dies alles sind Zustände von Undifferenziertheit zwischen Besitz und Person; ihre ökonomischen Inhalte oder Funktionen und diejenigen, welche das Ich im engeren Sinne ausmachen, stehen in sehr unmittelbarer gegenseitiger Bedingtheit.” Wirtschaftliche Gegebenheiten waren in diesen Zeiten noch eng mit der gesamten Persönlichkeit verknüpft.

In frühen gesellschaftlichen Entwicklungsperioden ist die Ausbildung der objektiven Kultur wesentlich beeinträchtigt, denn das kulturelle Fortschreiten gründet gerade im Weiterbauen der vererbten Produkte. Solange keine Trennung zwischen Person und Besitz vollzogen ist, ist kein Auseinanderdriften von subjektiver und objektiver Kultur zu beobachten. Erst durch die Vererbung reicht der Besitz über die Grenze des Einzelnen hinaus und beginnt, eine sachliche Existenz fortzuentwickeln.

Für Simmel stellt dieser Zustand einen Abschnitt höchster individueller Unfreiheit dar. Das Leben des Bauern ist untrennbar an den Grund gebunden, den er bearbeitet. Die Erfolge seiner Arbeit sind von Kräften bestimmt, die er kaum beeinflussen kann. Der Verlauf des Wetters, der den Ertrag aus den Mühen des Bauern mitbestimmt, ist ein Faktor, der sich nicht rationalisieren lässt.

Simmel (ebd., S. 448) weist darauf hin, dass die Entwicklung über dieses Stadium hinaus in einer ”Sonderung jener Elemente” besteht. Der Differenzierungsprozess führt zu einer Trennung des Individuums und seiner ökonomischen Lebensverhältnisse (ebd.): Das ”Individuum erhält eine Ausbildungsfähigkeit, die zwar nicht von seiner ökonomischen Lage überhaupt, wohl aber von den apriorischen Bestimmtheiten derselben immer unabhängiger wird.” Die umfassende Verknüpfung des Individuums mit Besitz und Arbeitsverhältnis wird aufgelöst. Die ökonomischen Prozesse verselbständigen sich, ”sie werden von der Unmittelbarkeit der personalen Interessen gelöst, sie funktionieren, als ob sie Selbstzwecke wären, ihr mechanischer Ablauf wird immer weniger von den Unregelmäßigkeiten und Unberechenbarkeiten des personalen Elementes gekreuzt” (ebd.). Das Individuum gewinnt dadurch zunehmend an Selbständigkeit. Die eigene ökonomische Lage ist weiterhin von Bedeutung, doch die historisch ausserordentlich grosse Abhängigkeit von den ökonomischen Verhältnissen wird reduziert.

Das Geld spielt gemäss Simmel eine entscheidende Rolle in diesem Differenzierungsprozess. Es ermöglicht diesen und treibt ihn scheinbar unaufhaltsam voran. Die zunehmende räumliche Entfernung zwischen Subjekt und Besitz wird ausschliesslich durch das Geld ermöglicht. Die Geldwirtschaft widerstrebt schon rein äusserlich einer engen Verbindung zwischen dem Individuum und seinem Besitz (ebd., S. 449. Hervorh. im Original): Das ”naturale Geschenk kann wirklich in natura zurückgegeben werden, das Geldgeschenk aber, nach ganz kurzer Zeit, nicht mehr als ‚dasselbe‘, sondern nur dem gleichen Werte nach.” Die Geldform des Besitzes ”entfernt und entfremdet” (ebd., S. 450) dem Individuum diesen umfassend.

Das Geld erlaubt es dem Besitzer und dem Besitz soweit auseinander zu treten, dass beide den eigenen Gesetzen folgen können. Erst wenn der Ertrag eines Unternehmens ohne weiteres an jeden beliebigen Punkt verschoben werden kann, findet sich die Unabhängigkeit von Besitzer und Besitz. Erst dann kann das Unternehmen ausschliesslich nach den Anforderungen der Sache betrieben werden, und der Besitzer kann sein Leben ohne Rücksicht auf die spezifischen Anforderungen des Besitzes führen.

Individuelle Freiheit bedeutet für Simmel die Lösung der Person aus den unmittelbaren Bindungen an Besitz und Arbeitsverhältnis. Die Zunahme individueller Freiheit im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess wäre ohne die Geldwirtschaft nicht vorstellbar. Simmel (ebd., S. 451) schreibt hierzu: ”Wenn Freiheit bedeutet, nur den Gesetzen des eigenen Wesens zu gehorchen, so gibt die durch die Geldform des Ertrages ermöglichte Entfernung zwischen Besitz und Besitzer beiden eine sonst unerhörte Freiheit: die Arbeitsteilung zwischen der Subjektivität und den Normen der Sache wird eine vollkommene, jedes hat nun seine Aufgaben, wie sie sich aus seinem Wesen ergeben, für sich zu lösen, in Freiheit von der Bedingtheit durch das ihm innerlich fremde andere.” Dieses differenzierte Verhältnis zwischen Besitz und Besitzer unterscheidet sich entscheidend von jenem, als noch eine unmittelbare Wechselwirkung bestand und jedes ökonomische Engagement auch ein persönliches war, als jede Änderung der persönlichen Umstände auch eine solche innerhalb der ökonomischen Interessen bedeutete. Simmel (ebd., S. 450) streicht den Zusammenhang zwischen der Geldwirtschaft und den Individualisierungsprozessen der modernen Gesellschaft heraus: ”Die Geldwirtschaft differenziert beides, Sachlichkeit bzw. Besitz und Persönlichkeit werden gegeneinander selbständig (...) Wegen dieses Auseinandertreibens von Sache und Person sind auch die Zeitalter der ausgebildetsten und ganz objektiv gewordenen Technik zugleich solche der individualisiertesten und subjektivsten Persönlichkeiten”.

Die Versachlichung der Besitzverhältnisse geht einher mit dem Bedarf nach einem rationalisierten Rechtssystem. Durch die intensivierte Geldwirtschaft und die verstärkte Individualisierung der Gesellschaft werden Ansprüche an präzisere Rechtsbegriffe geweckt (Simmel 1890, S.92): So wird ”ein durchgreifendes und vielgliedriges Rechtssystem da heranwachsen, wo eine starke Differenzierung der Persönlichkeiten nach Stellung, Beruf und Vermögen eintritt und die möglichen Kombinationen unter diesen eine Fülle von Fragen schaffen, denen primitive Rechtsbestimmungen nicht mehr genügen können”. Die differenzierteren Ansprüche lassen sich durch das römische Recht erfüllen. Der technisch verfeinerte Charakter der Rechtsbegriffe ist mit dem abstrakten Individualismus korreliert, der sich im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Verbreitung der Geldwirtschaft ausbildete.

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4.3 Versachlichung der Arbeitsverhältnisse

Nicht nur jene Individuen verfügen über mehr Freiheit, die einen Ertrag aus ihrem Besitz erwirtschaften, auch Veränderungen in den Arbeitsverhältnissen stellen eine Quelle zunehmender individueller Freiheit dar. In den Arbeitsverhältnissen gewinnen objektive und technische Elemente zunehmend an Bedeutung gegenüber personalen Aspekten. Verpflichtete sich früher ein Arbeitnehmer einem Herren, so war er gezwungen, sich diesem in seiner gesamten Persönlichkeit unterzuordnen. Die ”mittelalterliche Corporation schloß den ganzen Menschen in sich ein” (Simmel 1992, S. 179). Als Beispiel fügt Simmel (1989) das Dienstbotenverhältnis an. Der Untergebene wird als ganzes ‚gemietet’ und steht komplett unter dem Regime des Hausherren. Er wohnt in dem betreffenden Haus und muss sich nach den dort herrschenden Regeln richten. Der Dienstbote ordnet sich in einen Zustand äusserster Unfreiheit ein, er kann zukünftig nur noch einen eingeschränkten Einfluss auf den Lauf seines Lebens nehmen. Die ökonomische Organisation früherer Zeiten ruhte auf der vollständigen Unterordnung unter den Arbeitgeber. Sie umfasste den Arbeiter in seiner gesamten Persönlichkeit. Ein Dienstbote wurde mit dem ganzen Komplex seiner Kräfte gemietet und in dieser Weise als ganze Person in das Verhältnis der Unfreiheit und Unterordnung unter einen anderen Menschen eingebunden. Hier findet sich keine individuelle Freiheit, denn solange ”das Lohnarbeitsverhältnis als ein Mietsvertrag angesehen wird, enthält es wesentlich ein Moment der Unterordnung des Arbeiters unter den Unternehmer” (ebd., S. 452).

Erst die Ausbildung der Geldwirtschaft ermöglicht eine Versachlichung der Arbeitsverhältnisse. Der Arbeiter bringt sich nicht mehr mit seiner gesamten Person ein sondern gibt seine Leistung für einen Geldwert hin. Das Individuum gewinnt ein zunehmendes Element individueller Freiheit, indem die Unterordnung des Arbeiters in geringerem Masse subjektiv-personaler sondern technischer Natur ist. Diese Befreiung ist eng an die Wirksamkeit des Geldprinzips gebunden: ”Sobald der Arbeitsvertrag (...) als Kauf der Ware Arbeit auftritt, so handelt es sich um die Hingabe einer völlig objektiven Leistung, die (...) als Faktor in den kooperativen Prozeß eingestellt wird und in diesem sich mit der Leistung des Unternehmers (...) zusammenfindet” (ebd.). Der Vorgesetzte wie der niedere Arbeiter ordnen sich einem gemeinsamen objektiven Ziel unter. Erst innerhalb dieses Verhältnisses besteht die Unterordnung fort. Doch diese gestaltet sich als technische Notwendigkeit, welche durch die objektiven Anforderungen der Produktion bestimmt wird. Die Leistung des Arbeiters lässt die Persönlichkeit umso freier, je sachlicher, unpersönlicher und technischer sie und der von ihr getragene Betrieb sind. Durch diese Entwicklung ”wird die Leistung in einer Weise objektiviert, die die individuelle Persönlichkeit viel weniger in sie verflicht und von ihr abhängig macht, als da noch lokale und persönliche Rücksichten auf den bestimmten Arbeiter – insbesondere wenn man mit ihm im naturalen Austauschverhältnis stand – die Arbeit beeinflußten” (ebd.).

Die wachsende Freiheit der Individuen reduziert das gesellschaftliche Ausmass von Über- und Unterordnung. Die Individualisierung wird von einem Nivellierungsprozess begleitet, der zu einer zunehmenden Gleichstellung der Individuen führt. Die Forderung nach einer völligen Beseitigung sozialer Ungleichheit hält Simmel jedoch für zu weitgehend. Es müsste stattdessen gelingen, die mit der Ungleichheit verbundenen Gefühle von Unterdrückung, Leid und Entwürdigung zu beseitigen. Alle bisherige Erfahrung hat gemäss Simmel (ebd., S. 454) gezeigt, ”welches ganz unentbehrliche Organisationsmittel die Über- und Unterordnung ist, und daß mit ihr eine der fruchtbarsten Formen der gesellschaftlichen Produktion verschwände. Die Aufgabe ist also, die Über- und Unterordnung, soweit sie diese Folgen hat, beizubehalten und zugleich jene psychologischen Folgen, um derentwillen sie perhorresziert wird, zu beseitigen. Diesem Ziele nähert man sich offenbar in dem Maße, in welchem alle Über- und Unterordnung eine bloß technische Organisationsform wird, deren rein objektiver Charakter garkeine subjektiven Empfindungen mehr hervorruft.”

Simmel unterstreicht die Notwendigkeit, dass das innerste Lebensgefühl, die Individualität und Freiheit einer Person, nicht mehr davon abhängt, welche gesellschaftliche Position sie einnimmt. Die Leidensgefühle der gesellschaftlichen Ungleichheit hängen mit der allzu engen Verbindung der sozialen Hierarchie mit dem persönlich-subjektiven Individuum zusammen. Indem das Unten- und Obenstehen eine bloss äusserliche Organisationsform wird, die keine Wirkung auf die innerliche Bedeutung eines Menschen ausübt, sollten alle Leidensgefühle verschwinden (ebd., S. 455): ”Man würde durch diese Objektivierung des Leistens und seiner organisatorischen Bedingungen alle technischen Vorteile der letzteren behalten und ihre Benachteiligungen der Subjektivität und Freiheit vermeiden”.

Diese Entwicklung der Kultur wird durch die Geldwirtschaft eingeleitet. Simmel (ebd.) schreibt: ”Die Trennung des Arbeiters von seinem Arbeitsmittel, die als Besitzfrage für den Knotenpunkt des sozialen Elends gilt, würde sich in einem anderen Sinne gerade als eine Erlösung zeigen: wenn sie die personale Differenzierung des Arbeiters als Menschen von den rein sachlichen Bedingungen bedeutete, in die die Technik der Produktion ihn stellt.” Indem das Geld sich zwischen Person und Sache schiebt, zerstört es einerseits wohltätige und stützende Verbindungen. Gleichzeitig wird jedoch auch eine Verselbständigung beider ermöglicht, die zu einer befriedigenden und ungestörten Entwicklung notwendig ist.

Zuerst führt der Übergang der Arbeitsverfassung von der personalen in die sachliche, von der naturalwirtschaftlichen in die geldwirtschaftliche Form unweigerlich zu einer Verschlechterung der Verhältnisse der Arbeiter. Denn die ”Art, auf die die Freiheit sich darstellt, ist Unregelmäßigkeit, Unberechenbarkeit, Asymmetrie; weshalb denn (...) freiheitliche politische Verfassungen (...) durch ihre inneren Anomalien, ihren Mangel an Planmäßigkeit und systematischen Aufbau charakterisiert sind” (ebd., S. 456).

Die Geldleistung bezahlt für die grössere äussere Bestimmtheit mit der grösseren Unsicherheit des schliesslichen Wertquantums. Die Entlohnung des Arbeiters in Naturalien hat manche Vorteile gegenüber dem Geldlohn: Die Bezahlung mit Brot und Wohnung hat auch in kritischen Zeiten seinen fortdauernden Wert, während der Wert eines in Geld ausgehandelten Lohnes je nach der wirtschaftlichen Entwicklung empfindlich schwanken kann. Doch diese Unsicherheit bezüglich des Lohnes scheint das unvermeidliche Korrelat der Freiheit zu sein. Mit ihr bezahlen der Bauer und der Arbeiter die Steuer für die durch das Geld bewirkte Freiheit (ebd., S. 456-457): ”Die Schwankungen der Preise, unter denen der Geldlohn empfangende Arbeiter ganz anders als der in Naturalien entlohnte leidet, haben so einen tiefen Zusammenhang mit der Lebensform der Freiheit, die dem Geldlohn ebenso entspricht, wie die Naturalentlohnung der Lebensform der Gebundenheit.”

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4.4 Verselbständigung des Individuums gegenüber der Gruppe

Die Arbeitsteilung ist auf das Geld angewiesen, weil sich ansonsten die einzelnen Produkte nicht gegeneinander abwägen lassen. Das Geld führt zu einer Versachlichung allen ökonomischen Tuns. Gleichzeitig bewirkt es eine wachsende Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Individuen. Die unmittelbare Abhängigkeit von der Persönlichkeit anderer wird reduziert, denn ”die moderne Arbeitsteilung läßt ebenso die Zahl der Abhängigkeiten wachsen, wie sie die Persönlichkeiten hinter ihren Funktionen zum Verschwinden bringt, weil sie eben nur eine Seite derselben wirken läßt, unter Zurücktreten aller anderen, deren Zusammen erst eine Persönlichkeit ergäbe” (ebd., S. 394). Gemäss Simmel (ebd.) geht die allgemeine Tendenz im Prozess sozialer Differenzierung und Arbeitsteilung ”dahin, das Subjekt zwar von den Leistungen immer mehrer Menschen abhängig, von den dahinterstehenden Persönlichkeiten als solchen aber immer unabhängiger zu machen.”

Die verschiedenen Interessen und Betätigungssphären der Persönlichkeit erlangen durch die Geldwirtschaft eine relative Selbständigkeit. Durch die Veränderung in den Arbeitsverhältnissen wird die ökonomische Leistung aus dem Ganzen der Persönlichkeit herausgelöst. Obwohl sie noch Teil einer Person verbleibt, beeinflusst sie die Persönlichkeit des Individuums nicht mehr in seiner Gänze. Im Individuum können sich weitere Interessen entfalten, die sich nicht nach der ökonomischen Lage zu richten haben (ebd., S. 463): ”So kann man die Wirkung des Geldes als eine Atomisierung der Einzelpersönlichkeit bezeichnen, als eine innerhalb ihrer vor sich gehende Individualisierung. Dies ist doch aber nur eine in das Individuum hinein fortgesetzte Tendenz der ganzen Gesellschaft: Wie das Geld auf die Elemente des Einzelwesens, so wirkt es vor allem auf die Elemente der Gesellschaft, auf die Individuen”.

Die Zunahme individueller Freiheit hängt damit zusammen, dass das Geld eine Anweisung auf die Leistung anderer darstellt. In früheren Zeiten war der Einzelne unmittelbar auf die Leistungen der Gruppe angewiesen. Der Austausch von Diensten verband jeden eng mit der Gesamtheit und umfasste stets die ganze Persönlichkeit. Als Beispiel nennt Simmel (1989) die Zunft der Tuchmacher: Diese war nicht nur eine Assoziation von Individuen mit dem Interesse an der Tuchmacherei, sie stellte eine Lebensgemeinschaft dar, die sich auf fachliche, religiöse, politische und viele weitere Aspekte bezog.

Erst durch das Geld wird dem Individuum eine neue Selbständigkeit vermittelt. Geld ermöglicht es, einen Leistungsanspruch in verdichteter Form mit sich herum zu tragen, ”es konzentriert gleichsam in einem Punkt sowohl die Resultate, wie die Möglichkeit unzähliger Funktionen” (Simmel 1890, S. 144. Hervorh. im Original). Der Einzelne hat die Wahl, wo er diesen geltend machen will. Dadurch werden die unmittelbaren Beziehungen zur Gruppe gelöst, die durch frühere Austauschformen gestiftet wurden. Simmel schreibt (Simmel 1989, S. 463-464): ”Indem die Interessen auf das Geld gestellt werden und soweit der Besitz in Geld besteht, muss der Einzelne die Tendenz und das Gefühl einer selbständigeren Bedeutung dem sozialen Ganzen gegenüber bekommen, er verhält sich zu diesem nun wie Macht zu Macht, weil er frei ist, sich seine Geschäftsbeziehungen und Kooperationen überall, wo er will, zu suchen”.

Das Geld erlaubt nicht nur eine Verselbständigung des Individuums gegenüber der Gruppe, in die es früher fest eingebunden war (Simmel 1890, S. 101): ”Mit fortschreitender Entwicklung (...) spinnt jeder Einzelne derselben ein Band zu Persönlichkeiten, welche außerhalb dieses ursprünglichen Assoziationskreises liegen und statt dessen durch sachliche Gleichheit der Anlagen, Neigungen und Tätigkeiten usw. eine Beziehung zu ihm besitzen”. Der Inhalt von Assoziationen und das Verhältnis der Teilnehmer erfährt innerhalb der Geldwirtschaft ebenfalls einen Differenzierungsprozess. Es bilden sich Assoziationen, die durch ein blosses Geldinteresse zusammen gehalten werden. Geld hat ”Associationen ermöglicht, die entweder von ihren Mitgliedern nur Geldbeträge verlangen, oder auf ein bloßes Geldinteresse hinausgehen” (Simmel 1992b, S. 180). Die sachliche Zusammenhanglosigkeit zwischen der Assoziation und dem bloss am Geld interessierten Subjekt geht einher mit einer personalen Zusammenhanglosigkeit. Die Subjekte der Assoziation verbindet ein ausschliessliches Geldinteresse, sie sind losgelöst von persönlichen Faktoren, ”von personaler Färbung” (ebd.).

Die Geldwirtschaft erlaubt es, mit anderen einen Zweckverbund einzugehen, ohne etwas von der persönlichen Freiheit aufgeben zu müssen. Dies ”ist der fundamentale, unsäglich bedeutungsvolle Unterschied gegen die mittelalterliche Einungsform, die zwischen dem Menschen als Menschen und dem Menschen als Mitglied einer Vereinigung nicht unterschied; sie zog das gesamtwirtschaftliche wie das religiöse, das politische wie das familiäre Interesse gleichmäßig in ihren Kreis” (Simmel 1989, S. 465).

Früher bestand die Alternative darin, einer Vereinigung entweder ganz oder gar nicht anzugehören. Durch die Geldwirtschaft wird es ermöglicht, nur mit einem Teil der ansonsten unabhängigen Persönlichkeit an einer Assoziation teilzunehmen. Der Zweckverband erlaubt es den Individuen, sich zu einer Aktion zu vereinigen und dabei ein maximales Mass individueller Freiheit zu bewahren. Durch die ”Unpersönlichkeit und Farblosigkeit, die dem Gelde im Gegensatz zu allen specifischen Werthen eigen ist und die sich im Laufe der Cultur immer steigern muß, weil es immer mehr und immer mannigfaltigere Dinge aufzuwiegen hat, durch diese Charakterlosigkeit gerade (...) läßt es eine Gemeinsamkeit der Action von solchen Individuen und Gruppen entstehen, die ihre Getrenntheit und Reserviertheit in allen sonstigen Punkten scharf betonen” (Simmel 1992b, S. 180).

Gemäss Simmel (ebd., S. 458) ist in diesem Entwicklungsprozess ein ”Moment der Freiheit” wirksam. Die Möglichkeit der freien Wahl einer Gruppenzugehörigkeit birgt in sich eine ”Tendenz auf Vermehrung der Freiheit” (ebd.). Gegenüber ”der lokalen oder sonst irgendwie ohne Zutun des Subjekts veranlassten Bindung wird die frei gewählte in der Regel doch die tatsächliche Beschaffenheit des Wählenden zu Wirksamkeit bringen und damit die Gruppierung auf sachlichen, d. h. in dem Wesen der Subjekte liegenden Beziehungen sich aufbauen lassen” (ebd.) Obwohl das Individuum vom Ganzen der Gesellschaft viel abhängiger wird, ist es doch ”von jedem bestimmten Elemente dieser Gesellschaft außerordentlich unabhängig, weil seine Bedeutung für uns in die einseitige Sachlichkeit seiner Leistung übergegangen ist, die deshalb viel leichter auch von so und soviel anderen und persönlich verschiedenen Menschen produziert werden kann, mit denen uns nichts als das in Geld restlos ausdrückbare Interesse verbindet” (Simmel 1989, S. 396. Hervorh. im Original). Diese Lage begünstigt die Ausbildung eines Gefühls innerer Unabhängigkeit. Freiheit ist nicht dadurch bestimmt, dass alle Beziehungen zu anderen aufgelöst werden, sondern Unabhängigkeit ist ein Verhältnis zwischen Menschen, indem die Elemente der Distanz maximal sind, ohne dass die Elemente der Annäherung völlig verschwunden sind. Simmel (ebd., S. 404) stellt fest: ” Das Geld ist der absolut geeignete Träger eines derartigen Verhältnisses; denn es schafft zwar Beziehungen zwischen Menschen, aber es läßt die Menschen außerhalb derselben”.

Das Geld übt sowohl eine vereinigende wie auch eine auflösende Wirkung aus: Einerseits führt es innerhalb von Zweckverbänden Individuen zusammen, die neben dem ausgeprägten Interesse an der Mehrung ihres Vermögens kaum persönliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Andererseits wirkt das Geld geradezu destruktiv auf viele bestehende Verbindungsarten. So wird die organische Einheit der Familie gemäss Simmel (1989) durch die Folgen der Geldwirtschaft zerstört. Das freie Individuum ist immer weniger in die Familie eingebunden. Diese verliert ihre zentrale Bedeutung für das Leben der Menschen und ist schliesslich nur noch für die Organisation der Erbfolge zuständig. Wenn unterschiedliche Interessen Menschen zusammen führen, dann überleben schliesslich jene, die wie das Geld auf die anderen zerstörend wirken. Deshalb sind es letztlich die Zweckverbände, die bestehen bleiben, nachdem das Geld die anderen Verbindungen zunehmend verschwinden lässt (ebd., S. 468): ”Und es gibt heute vielleicht keine Assoziation von Menschen mehr, die nicht, als Ganzes, irgendein Geldinteresse einschlösse (...) Durch den Charakter des Zweckverbandes aber, den das Einungsleben deshalb mehr und mehr annimmt, wird es mehr und mehr entseelt; die ganze Herzlosigkeit des Geldes spiegelt sich so in der sozialen Kultur, die von ihm bestimmt wird.”

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4.5 Individualisierung und Vergrösserung sozialer Kreise

Die herausragende Bedeutung des Geldes für die Entwicklung der Individualität steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit jener, die es für die Vergrösserung der sozialen Gruppen hat. Die Evolution der Gesellschaften beginnt mit einer relativ kleinen Gruppe. Deren Elemente sind eng aneinander gebunden und gleichartig, denn die Individualität der kleinen Gruppe schliesst diejenige des Einzelnen aus. Das zufällige Zusammensein in Raum und Zeit reicht vorerst, um Individuen aneinander zu binden (Simmel 1992a, S. 456): ”Der Einzelne sieht sich zunächst in einer Umgebung, die gegen seine Individualität relativ gleichgültig, ihn an ihr Schicksal fesselt und ihm ein enges Zusammensein mit denjenigen auferlegt, neben die der Zufall der Geburt ihn gestellt hat”. Von kleinen Gruppen schreitet die Entwicklung zu grossen voran. Dadurch lockert sich die Einheit der Gruppe, der starke Abschluss gegenüber anderen Kreisen wird durch Wechselbeziehungen abgelöst (Simmel 1903). Sind Individuen in kleinen Gruppen noch eher homogen und eng zusammenhängend ”so bringt die gewöhnliche Entwicklung unter den letzteren eine steigende Differenzierung hervor; die ursprünglich minimalen Unterschiede unter den Individuen nach äußerlichen und innerlichen Anlagen und deren Betätigung verschärfen sich durch die Notwendigkeit, den umkämpften Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel zu gewinnen” (Simmel 1890, S. 45).

Grosse Gruppen gewähren ihren Elementen mehr Freiheit, eine stärkere Ausprägung der individuellen Sonderart und gegenseitige Differenzierung (Simmel 1992a). Simmel (1989, S. 469) schreibt: ”Zu den wenigen Regeln nämlich, die man mit annähernder Allgemeinheit für die Form der sozialen Entwicklung aufstellen kann, gehört wohl diese: dass die Erweiterung einer Gruppe Hand in Hand geht mit der Individualisierung und Verselbständigung ihrer einzelnen Mitglieder.” Durch die Vergrösserung der Gruppe ”wächst die Differenzierung unter den Individuen und steigt die Annäherung” (Simmel 1890, S. 48) an fremde Gruppen. Zu diesen ”stellen sich neue Berührungspunkte her, welche die früheren, relativ mehr naturgegebenen, mehr durch sinnlichere Beziehungen zusammengehaltenen, in den mannigfaltigsten Winkeln durchsetzen” (Simmel 1992a, S. 457). Die Beziehungen zu Persönlichkeiten ausserhalb des ursprünglichen Assoziationskreises gründen auf sachlicher ”Gleichheit der Anlagen, Neigungen, Tätigkeiten usw. (...) die Assoziation durch äußerliches Zusammensein wird mehr und mehr durch eine solche nach inhaltlichen Beziehungen ersetzt” (ebd.).

Simmel (1890, S. 46) stellt fest, dass ”unter noch so verschiedenen sozialen Gruppen die Formen der Differenzierung gleich oder ähnlich sind: die Verhältnisse der einfachen Konkurrenz, die Vereinigung vieler Schwacher gegen einen Starken, die Pleonexie Einzelner, die Progression, in der einmal angelegte individuelle Verhältnisse sich steigern usw.” Die Konkurrenz bildet ”die Spezialität des Individuums aus” (ebd., S. 45). Zunehmende Differenzierung lockert die Beziehung zu den nächststehenden Personen und schnürt Bande zu entfernt stehenden, in dieser Weise trägt sie zu einer Ausdehnung der sozialen Gruppen bei, einer Vorbedingung für die Ausbildung von Individualität.

Die quantitative Individualität entwickelt sich im Prozeß der Vergesellschaftung innerhalb des Schnittpunkts sozialer Kreise, deren Mitglied das Individuum ist (Dahme 1987). Je mehr und grösseren sozialen Kreisen ein Individuum angehört, desto ausgeprägter ist dessen Individualität (Simmel 1890, S. 103): ”Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinatensystem derart, daß jede neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt. Die Zugehörigkeit zu je einer derselben lässt der Individualität noch einen weiten Spielraum; aber je mehr es werden, desto unwahrscheinlicher ist es, daß noch andere Personen die gleiche Gruppenkombination aufweisen werden, daß diese vielen Kreise sich noch einmal in einem Punkte schneiden.” Eine Zunahme der Individualität bewirkt die Mitgliedschaft in solchen gesellschaftlichen Gruppen, deren Bestimmungen nur in geringem Masse deckungsgleich sind (ebd., S. 104): Die Bestimmtheit des Individuums ”wird nun eine um so größere sein, wenn die bestimmenden Kreise mehr nebeneinander liegende, als konzentrische sind; d.h. allmählich sich verengende Kreise (...) weil der engste derselben ganz von selbst die Teilhaberschaft an den weiteren bedeutet (...) je weniger das Teilhaben an dem einen Kreise von selbst Anweisung gibt auf das Teilhaben an dem anderen, desto bestimmter wird die Person dadurch bezeichnet, dass sie in einem Schnittpunkt beider steht.”

Der Prozess der Individualisierung verläuft parallel zu einem Fortschreiten der kulturellen Entwicklung (Simmel 1992a, S. 464): ”Die Zahl der verschiedenen Kreise (...) in denen der Einzelne steht, ist einer der Gradmesser der Kultur.” Die Beziehung des Geldes zur Ausdehnung der sozialen Gruppe ist gemäss Simmel (1989) eine ebenso enge, wie zur Objektivierung der Lebensinhalte. Die Objektivierung der Dinge bedeutet, dass sie Gültigkeit für einen grösseren Kreis von Subjekten erlangen. Sie wachsen aus ihrer ersten Bindung an einzelne Subjekte oder einen kleinen Kreis heraus. In dieser Weise erlangen objektive Vorstellungen Gültigkeit und Bedeutung für immer grösser Kreise.

Mit der Vergrösserung der sozialen Kreise verbunden ist eine zunehmende Rationalisierung gesellschaftlicher Bereiche. Simmel (1992a, S. 464) merkt an, ”daß die relativ spät aufwachsenden Gruppenbildungen oft rationalen Charakter tragen, daß ihr Inhalt aus bewußter Überlegung und verständiger Zweckmäßigkeit heraus kreiert wird.” Zunehmende Arbeitsteilung führt zu evolutionären Vorteilen, was Simmel (1890, S. 122) als ”Kraftersparnis durch Differenzierung” bezeichnet. Diese Kraftersparnis lässt sich der wachsenden Rationalisierung im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess zuordnen.

Treten mehr Menschen miteinander in Beziehung, entsteht der Bedarf nach einem abstrakteren und allgemeingültigeren Tauschmittel wie es das Geld darstellt. Umgekehrt gestattet die Geldwirtschaft eine Verständigung auf grössere räumliche Distanzen hin und die Einbeziehung unterschiedlichster Persönlichkeiten in eine Aktion. Der Zweckverband ermöglicht eine Wechselwirkung von Menschen, die wegen ihres räumlichen, sozialen und personalen Interessenabstandes zu gar keiner anderen Gruppierung in der Lage wären. Beispielhaft für die Korrelation zwischen Geldwirtschaft, Individualisierung und Vergrösserung sozialer Kreise weist Simmel (1989) auf das Handelsgewerbe hin: Dieses hängt einerseits in offensichtlicher Weise mit dem Vordringen der Geldwirtschaft zusammen. Gleichzeitig fördert es ebenfalls das Hinausgreifen der Individuen über die sich selbst genügende Gruppe der Primitivzeit hinaus. Der Handelnde ist nicht an den Grund gebunden, sondern auf das individuelle Können und Wagen angewiesen.

Simmel (ebd., S. 473) schreibt: ”Der vermittelnde Begriff für diese Korrelation zwischen dem Geld einerseits und der Vergrößerung des Kreises wie der Differenzierung der Individuen andererseits ist oft das Privateigentum”. Die Werte der Naturalwirtschaft lassen sich nicht ohne weiteres über weite Distanzen transportieren. Dadurch bleiben sie auf relativ kleine Wirtschaftskreise beschränkt. Diese neigen zu Gemeineigentum, das vor allem aus dem immobilen Grundbesitz besteht. Die Vergrösserung der Gruppe erschwert jedoch die Verwaltung des Gemeineigentums zunehmend. Die Entstehungswahrscheinlichkeit unverträglicher und über die Enge des sozialen Kreises hinaus drängender Individuen wächst. Die dem Gemeinbesitz widerstrebende Arbeitsteilung und Intensität der Ausnutzung wird zu einer Notwendigkeit. Als Folge der quantitativen Mehrung der Gruppe gewinnt der Privatbesitz in dieser Weise zunehmend an Bedeutung.

Die Erweiterung des wirtschaftlichen Lebenskreises ist ohne Tausch nicht möglich. Tausch existiert aber nur durch Privateigentum. Der Besitz muss sich zuerst auf das Individuum konzentrieren, um sich anschliessend mittels Tausch weiter verbreiten zu können (ebd., S. 474): ”Das Geld als der absolute Träger und Verkörperung des Tausches, wurde durch diese Vermittlung des Privateigentums mit seiner Angewiesenheit auf den Austausch, zum Vehikel jener Erweiterung der Wirtschaft, jenes Hineinbeziehens unbegrenzt vieler Kontrahenten durch das Hin und Her des Tausches”. Das Geld bildet gerade durch die absolute Beweglichkeit die Verbindung zwischen der zunehmenden Ausdehnung der Kreise und der Verselbständigung der Persönlichkeit. Simmel (ebd., S. 476) stellt fest, ”daß der kleine Kreis sich durch Gleichheit und Einheitlichkeit, der große durch Individualisierung und Arbeitsteilung erhält. Indem das Geld als ein abstraktes Gebilde sich aus den wirtschaftlichen Wechselwirkungen eines relativ großen Kreises herstellt, indem es andrerseits durch seinen bloßen Qualitätscharakter den genauesten mechanischen Ausdruck jedes Sonderanspruchs, jedes Wertes individueller Leistung, jeder personaler Tendenz gestattet, vollendet es im Wirtschaftlichen erst jene allgemeine soziologische Korrelation zwischen der Ausdehnung der Gruppe und der Ausbildung der Individualität.”

Mit der gesellschaftlichen Entwicklung verlieren immobile Besitztümer für die Menschen ihre absolute Bedeutung. Damit verbunden ist ein proportionaler Fortschritt der Differenzierung und der individuellen Freiheit (ebd., S. 479): Historisch betrachtet besteht eine ”Korrelation zwischen Naturalwirtschaft und Kollektivität, der auf der anderen Seite die zwischen Mobilisierung des Besitzes und Individualisierung desselben entspricht.”

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5 Individualisierung seit Simmel

Die Grösse und die Ausdehnung eines Kreises sind bestimmend für die Herausbildung von Individualität. Mit zunehmender Grösse eines Kreises erhöht sich die Individualität des Seins und Tuns. Dahme schreibt (1987, S. 60) über diesen Differenzierungsprozess: ”Da Simmel in seiner Gesellschaftstheorie eine zunehmende soziale Differenzierung moderner Gesellschaften diagnostiziert, folgert er, daß das Individuum in immer mehr Handlungsbereiche hineingezogen wird. Der Prozeß zunehmender sozialer Differenzierung schafft die Individualität moderner Menschen, die auch durch die sich eröffnende Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten und bestehende Handlungssysteme definiert wird. Quantitative Individualität ist also gesellschaftlich bedingt.” Zunehmende Vergesellschaftung scheint Individualität im Zuge gesellschaftlicher Fortentwicklung jedoch wieder zu reduzieren. Der moderne Individualisierungsprozess erweist sich langfristig auch als ein Vorgang der Nivellierung. In immer grösser werdenden Gesellschaften gleichen sich Handlungszusammenhänge und Lebensstile einzelner Gruppen zunehmend an. Dahme (ebd.) stellt Simmels Ausführungen folgend fest, dass Gesellschaft Individualität auch aufreibt: ”Zum einen werden in komplexen Gesellschaften die Handlungsketten immer länger und Zwecke lassen sich nur vermittels einer Vielzahl von zwischengeschalteten Handlungsketten verwirklichen, wobei oft die Erreichung von Zwecken nur wiederum Mittel zu neuen Zwecken wird (...) Dieser Zusammenhang läßt dem Individuum die Welt als zu komplex, um noch überschaubar zu sein, erscheinen, läßt auch die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Eigenwert der Person entstehen.”

Wer sich mit diesen Überlegungen Simmels auseinandersetzt, wird eine oftmals ”überraschende ‚Modernität‘ seines Denkens” (Müller 1993, S. 127) konstatieren. Der gesellschaftliche Modernisierungsprozess wurde begleitet von einer ausgedehnten Phase von Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen (Beck 1986). Diese Entwicklung bewirkte eine umfassende Differenzierung sozialer Lagen und führte zu einer beispiellosen Zunahme individueller Freiheiten, aber auch zu vermehrten Entscheidungszwängen und Risiken im Lebenslauf, für die das Individuum immer öfter allein die Verantwortung zu tragen hat. Gleichzeitig geht die soziale Differenzierung einher mit der Aussichtslosigkeit, alle sich bietenden Handlungsmöglichkeiten im Leben überhaupt wahrnehmen zu können.

Vor diesem Hintergrund wächst die Erkenntnis, dass Simmels Zugang zur Analyse der Prozesse individueller Vergesellschaftung in der modernen Zeit angemessener denn je ist: Die Feststellung neuerer soziologischer Theoretiker, dass ”sich die gegenwärtigen westlichen Gesellschaften nur dann adäquat verstehen lassen würden, wenn man die (...) Freistellung der Individuen aus allen vorgegebenen traditionellen sozialen Bindungen ins Zentrum der soziologischen Analyse stellen würde, beinhaltet (...) genau gesehen nur eine Wiederaufnahme jener bereits von Simmel getroffenen Feststellung, daß innerhalb der Moderne Individualisierung und Sozialisierung grundsätzlich korrelative Begriffe sind, die auf einen übergreifenden gesellschaftlichen Gesamtprozeß verweisen” (Lichtblau 1997, S. 31). Simmel richtet den Blick auf die Analyse einzelner Ereignisse um auf diesem Wege zu allgemeinen Erkenntnissen über die Formen der Vergesellschaftung zu gelangen. Die von Tenbruck (1994, S. 347) wiedergegebene (jedoch nicht geteilte) Auffassung, dieses Vorgehen sei ”altogether too narrow”, Simmels an sozialen Wechselbeziehungen ausgerichtete Vorgehensweise sei viel zu einschränkend für eine zeitgemässe Wissenschaft, erscheint voreilig. In Phasen ausgedehnten sozialen Wandels wird der Forscher vermehrt ”ein gewisses Maß instinktiven Vorgehens nicht entbehren können, dessen Motive und Normen erst nachträglich völlig klares Bewußtsein und begriffliche Durcharbeitung gewinnen” (Simmel 1992a, S. 30). Die Bestimmgrössen der Individualität lassen sich wohl angemessener mit einer mikrosoziologischen Lesart subjektiver Handlungen erfassen, wie sie sich in Simmels reichhaltigem Werk findet, als durch die Einbeziehung allgemeiner Theorien, die als Preis für eine umfassende Anwendbarkeit das Besondere der untersuchten Vergesellschaftungsform nicht mit ausreichender Spezifität zu beschreiben vermögen.

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6 Zusammenfassung

Die gesellschaftliche Entwicklung in der Moderne weist auf eine zunehmende Trennung von subjektiven und objektiven Gebilden hin. Das Verhältnis der Menschen zu ihrem Besitz ist von entscheidender Bedeutung für die Entfaltung individueller Freiheit. Früher besass der Besitz eine absolute Bedeutung für das Leben der Menschen. Das Subjekt und die Dinge waren miteinander verschmolzen. Die gesellschaftliche Fortentwicklung führt in einem Differenzierungsprozess zu einer Trennung des Individuums von seiner ökonomischen Lage. Dadurch gewinnt das Individuum mehr Freiheit. Dabei spielt das Geld eine entscheidende Rolle: Die zunehmende Entfernung zwischen Subjekt und Besitz wird ausschliesslich durch das Geld als universales Tauschmittel ermöglicht. Veränderungen in den Arbeitsverhältnissen stellen eine weitere Ursache zunehmender individueller Freiheit dar. Objektive und technische Elemente erhalten gegenüber personalen Aspekten immer grössere Bedeutung. Erst die Ausbildung der Geldwirtschaft ermöglicht eine Versachlichung der Arbeitsverhältnisse. Der Arbeiter bringt sich nicht mehr als gesamte Person ein, er gibt nur noch seine Leistung für einen Geldwert hin. Die Unterordnung des Arbeiters ist immer weniger rein persönlicher sondern zunehmend technischer Natur. Sobald der Arbeitsvertrag sich als reiner Kauf einer Arbeitsleistung gestaltet, handelt es sich um den Kauf einer objektiven Leistung. Der Vorgesetzte wie der niedere Arbeiter ordnen sich arbeitsteilig einem objektiven Ziel unter.

Die Zunahme der individuellen Freiheit im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess hängt auch damit zusammen, dass das Geld eine Anweisung auf die Leistung anderer darstellt. In früheren Zeiten war der Einzelne unmittelbar auf die Leistungen der Gruppe angewiesen. Erst das Geld ermöglicht es, einen Leistungsanspruch in verdichteter Form mit sich zu tragen. Der Einzelne hat die Wahl, wo er diesen einlösen möchte. Dadurch werden die unmittelbaren Bindungen zur Gruppe gelöst. Es bilden sich Assoziationen, die durch blosses Geldinteresse zusammen gehalten werden. Der Zweckverband erlaubt es den Individuen, sich zu einer Aktion zu vereinigen und dabei ein maximales Mass individueller Freiheit zu bewahren. Die Bedeutung des Geldes für die Entwicklung der Individuen steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit jener, die es für die Vergrösserung sozialer Gruppen hat. Die Evolution der Gesellschaften beginnt mit relativ kleinen Gruppen, deren Elemente eng aneinander gebunden sind. Von diesen schreitet die Entwicklung zu grossen Gruppen voran. Als Folge der quantitativen Vergrösserung der sozialen Kreise gewinnt der Privatbesitz zunehmend an Bedeutung. Die Erweiterung des wirtschaftlichen Lebenskreises ist ohne ein universales Tauschmittel nicht möglich. Das Geld bildet gerade durch die unbegrenzte Beweglichkeit die Verbindung zwischen der zunehmenden Ausdehnung der Kreise und der Verselbständigung der Persönlichkeit.

Mit diesen Differenzierungsvorgängen ist eine bisher nicht gekannte Ausweitung individueller Freiheiten verbunden. Simmel (1989, S. 481) schreibt über das zunehmende Zurückweichen der Immobilität des Besitzes im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess: ”Insofern das Geld das beweglichste unter allen Gütern ist, muß es den Gipfel dieser Tendenz darstellen und ist nun auch tatsächlich derjenige Besitz, der die Lösung des Individuums von den vereinheitlichten Bindungen, wie sie von anderen Besitzobjekten ausstrahlen, am entschiedensten bewirkt.”

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7 Literatur

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Dahme, Heinz-Jürgen (1987). ”Georg Simmel”. In: Heinz-Jürgen Dahme, Günter Albrecht und Gert Schmidt, Soziologiegeschichte. Die Zeit der Riesen: Simmel, Durkheim, Weber. Kurseinheit 1. Hagen: Fernuniversität Gesamthochschule in Hagen.

Dahme, Heinz-Jürgen (1990). ”On the Current Rediscovery of Georg Simmel’s Sociology - A European Point of View”. Pp. 5-19 in: Michael Kaern, Bernard S. Phillips and Robert S. Cohen (Hg.), Georg Simmel and Contemporary Sociology. Dordrech: Kluwer Academic Publishers.

Dreyer, Wilfried (1995). ”Gesellschaft, Kultur und Individuum: Zur Grundlegung der Soziologie bei Georg Simmel”. S. 59-103 in: Felicitas Dörr-Backes und Ludwig Nieder (Hg.), Georg Simmel zwischen Moderne und Postmoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Frisby, David (1992). ”Simmel and Since: Essays on Georg Simmel’s Social Theory” New York: Routledge.

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Simmel, Georg (1917). ”Grundfragen der Soziologie”. 3., unveränderte Auflage 1970. Berlin: Walter de Gruyter.

Simmel, Georg (1919). ”Der Begriff und die Tragödie der Kultur”. S. 223-253 in: Ders., Philosophische Kultur. 2. Auflage. Leipzig: Alfred Kröner Verlag. http://socio.ch/sim/kul13.htm.

Simmel, Georg (1989). ”Philosophie des Geldes. Gesamtausgabe Band 6” Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag.

Simmel, Georg (1992a). ”Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band 11”. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag.

Simmel, Georg (1992b). ”Das Geld in der modernen Cultur”. S. 178-196 in: Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby (Hg.), Gesamtausgabe 5: Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Simmel, Georg (1992c). ”Das Problem der Sociologie”. S. 52-61 in: Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby (Hg.), Gesamtausgabe 5: Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Simmel, Georg (1993). ”Vom Wesen der Kultur”. S. 363-373 in: Otthein Rammstedt (Hg.), Gesamtausgabe 8: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 Band II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Simmel, Georg (1995). ”Die beiden Formen des Individualismus”. S. 49-56 in: Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt (Hg.), Gesamtausgabe 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 Band I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Spykman, Nicholas (1992). ”The Social Theory of Georg Simmel. Chapter I-IV”. 1. Auflage 1925. Gregg Revivals. S. 26-59.

Tenbruck, Friedrich H. (1994). ”Formal Sociology”. Pp. 347-372 in: David Frisby, Georg Simmel. Critical Assessments. Vol. 1. New York: Routledge.

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Fussnoten

[1] Als das zweite Hauptwerk von Simmel gilt ”Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung” (1992a), welches 1908 erstmals veröffentlicht wurde.

[2] Die Untersuchung der Formen der Gesellschaft bildet das Hauptgebiet der formalen Soziologie (Tenbruck 1994). Simmel weist darauf hin, dass deren Erkenntnisse unvollkommen bleiben müssen, wenn sie nicht ergänzt werden durch die allgemeine Soziologie, die Aussagen über generelle ”Prinzipien von Differenzierung und Evolution und gesellschaftlicher Konfigurationen” (Müller 1993, S. 131) beinhaltet, sowie durch die philosophische Soziologie, die Erkenntnistheorie und Metaphysik einschliesst. Die Ergebnisse der formalen Soziologie müssen einerseits ”auf allgemeine Überlegungen zum globalen evolutionären und geschichtlichen Geschehen bezogen werden; zum anderen müssen ihr Sinn und ihre kulturelle Bedeutsamkeit im Rahmen der philosophischen Soziologie geprüft werden” (ebd.).

[3] Als ‚teleologisch‘ werden Handlungs- und Entwicklungsprozesse bezeichnet, die sich durch ihre Zweckgerichtet­heit charakterisieren lassen.

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Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
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