Georg Simmel:
Philosophie
des Geldes
Duncker & Humblot
Verlag, Berlin 1900 (1. Auflage)
6. Kapitel: Der Stil des
Lebens
- Teil II (S. 502-533)
Der Begriff der Kultur
Steigerung der Kultur der Dinge,
Zurückbleiben der Kultur der Personen
Die Vergegenständlichung des
Geistes
Die Arbeitsteilung als Ursache für
das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur
Gelegentliches Übergewicht der
ersteren
Beziehung des Geldes zu den Trägern
dieser Gegenbewegungen.
Wenn wir die Verfeinerungen, die vergeistigten Formen des Lebens, die
Ergebnisse der inneren und äußeren Arbeit an ihm als Kultur bezeichnen,
so ordnen wir diese Werte damit in eine Blickrichtung, in der sie durch
ihre eigene und sachliche Bedeutung noch nicht ohne weiteres stehen.
Inhalte der Kultur sind sie uns, insofern wir sie als gesteigerte
Entfaltungen natürlicher Keime und Tendenzen ansehen, gesteigert über
das Maß der Entwicklung, Fülle und Differenzierung hinaus, das ihrer
bloßen Natur erreichbar wäre.
Eine naturgegebene Energie oder Hinweisung - die freilich nur dasein muss, um hinter der wirklichen Entwicklung zurückzubleiben - bildet die
Voraussetzung für den Begriff der Kultur.
Denn von diesem aus gesehen sind die Werte des Lebens eben kultivierte
Natur, sie haben hier nicht die isolierte Bedeutung, die sich gleichsam
von oben her an dem Ideal des Glücks, der Intelligenz, der Schönheit misst, sondern sie erscheinen als Entwicklungen einer Grundlage, die wir
Natur nennen und deren Kräfte und Ideengehalt sie überschreiten,
insofern sie eben Kultur werden.
Wenn deshalb ein veredeltes Gartenobst und eine Statue gleichermaßen
Kulturprodukte sind, so deutet die Sprache doch jenes Verhältnis sehr
fein an, indem sie den Obstbaum selbst kultiviert nennt, während der rohe
Marmorblock keineswegs zur Statue »kultiviert« ist.
Denn in dem ersteren Falle nimmt man eine natürliche Triebkraft und
Angelegtheit des Baumes in der Richtung jener Früchte an, die durch
intelligente Beeinflussung über ihre natürliche Grenze hinausgetrieben
ist, während wir in dem Marmorblock keine entsprechende Tendenz auf die
Statue hin voraussetzen; die in ihr verwirklichte Kultur bedeutet die
Erhöhung und Verfeinerung gewisser menschlicher Energien, deren
ursprüngliche Äußerungen wir als »natürliche« bezeichnen.
Nun scheint es zunächst selbstverständlich, dass unpersönliche Dinge
nur gleichnisweise als kultiviert zu bezeichnen sind.
Denn jene durch Willen und Intellekt bewirkte Entfaltung des Gegebenen
über die Grenze seines bloß natürlichen Sich-Auslebens hinaus lassen
(> 503) wir doch schließlich nur uns selbst oder solchen Dingen
zukommen, deren Entwicklungen sich an unsere Impulse anschließen und
rückwirkend unsere Gefühle anregen.
Die materiellen Kulturgüter: Möbel und Kulturpflanzen, Kunstwerke und
Maschinen, Geräte und Bücher, in denen natürliche Stoffe zu ihnen zwar
möglichen, durch ihre eigenen Kräfte aber nie verwirklichten Formen
entwickelt werden, sind unser eigenes, durch Ideen entfaltetes Wollen und
Fühlen, das die Entwicklungsmöglichkeiten der Dinge, soweit sie auf
seinem Wege liegen, in sich einbezieht; und das verhält sich nicht anders
als mit der Kultur, die das Verhältnis des Menschen zu anderen und zu
sich selbst formt: Sprache, Sitte, Religion, Recht.
Insofern diese Werte als kulturell angesehen werden, unterscheiden wir
sie von den Ausbildungsstufen der in ihnen lebendigen Energien, die sie
sozusagen von sich aus erreichen können und die für den
Kultivierungsprozeß ebenso nur Material sind, wie Holz und Metall,
Pflanzen und Elektrizität.
Indem wir die Dinge kultivieren, d. h. ihr Wertmaß über das durch
ihren natürlichen Mechanismus uns geleistete hinaus steigern, kultivieren
wir uns selbst: es ist der gleiche, von uns ausgehende und in uns
zurückkehrende Werterhöhungsprozeß, der die Natur außer uns oder die
Natur in uns ergreift.
Die bildende Kunst zeigt diesen Kulturbegriff am reinsten, weil in der
größten Spannung der Gegensätze.
Denn hier scheint zunächst die Formung des Gegenstandes sich jener
Einfügung in den Prozeß unserer Subjektivität völlig zu entziehen.
Das Kunstwerk deutet uns doch gerade den Sinn der Erscheinung selbst,
liege ihm dieser nun in der Gestaltung der Räumlichkeit oder in den
Beziehungen der Farben oder in der Seelenhaftigkeit, die so in wie hinter
dem Sichtbaren lebt.
Immer aber gilt es, den Dingen ihre Bedeutung und ihr Geheimnis
abzuhören, um es in reinerer oder deutlicherer Gestalt, als zu der ihre
natürliche Entwicklung es gebracht hat, darzustellen - nicht aber im
Sinne chemischer oder physikalischer Technologie, die die Gesetzlichkeiten
der Dinge erkundet, um sie in unsere, außerhalb ihrer selbst gelegenen
Zweckreihen einzustellen; vielmehr, der artistische Prozeß ist
abgeschlossen, sobald er den Gegenstand zu dessen eigenster Bedeutung
entwickelt hat.
Tatsächlich ist hiermit dem bloß artistischen Ideal auch genügt,
denn für dieses ist die Vollendung des Kunstwerkes als solchen ein
objektiver Wert, völlig unabhängig von seinem Erfolge für unser
subjektives Fühlen: das Stichwort des l'art pour l'art bezeichnet
treffend die Selbstgenügsamkeit der rein künstlerischen Tendenz.
Anders aber vom Standpunkte des Kulturideals.
Das Wesentliche dieses ist eben, daß es die Eigenwertigkeit der
ästhetischen, wissenschaftlichen, sittlichen, eudämonistischen ja (>
504) der religiösen Leistung aufhebt, um sie alle als Elemente oder
Bausteine in die Entwicklung des menschlichen Wesens über seinen
Naturzustand hinaus einzufügen; oder genauer: sie sind die Wegstrecken,
die diese Entwicklung durchläuft.
Freilich muß sie sich in jedem Augenblick auf einer dieser Strecken
befinden; sie kann niemals ohne einen Inhalt rein formell und an sich
selbst verlaufen; allein darum ist sie mit diesem Inhalt noch nicht
identisch.
Die Kulturinhalte bestehen aus jenen Gebilden, deren jedes einem
autonomen Ideal untersteht, nun aber betrachtet unter dem Blickpunkt der
von ihnen getragenen und durch sie hindurchbewegten Entwicklung unserer
Kräfte oder unseres Seins über das Maß hinaus, das als das bloß
natürliche gilt.
Indem der Mensch die Objekte kultiviert, schafft er sie sich zum Bilde:
insofern die transnaturale Entfaltung ihrer Energien als Kulturprozeß
gilt, ist sie nur die Sichtbarkeit oder der Körper für die gleiche
Entfaltung unserer Energien.
- Freilich ist in der Entwicklung des einzelnen Lebensinhaltes die
Grenze, an der seine Naturform in seine Kulturform übergeht, eine
fließende und es wird sich über sie keine Einstimmigkeit erzielen
lassen.
Es meldet sich damit aber nur eine der allgemeinsten Schwierigkeiten
des Denkens.
Die Kategorien, unter die die einzelnen Erscheinungen gebracht werden,
um damit der Erkenntnis, ihren Normen und Zusammenhängen, anzugehören,
sind mit Entschiedenheit gegeneinander abgegrenzt, geben sich oft erst an
diesem Gegensatz wechselseitig ihren Sinn, bilden Reihen mit
diskontinuierlichen Stufen.
Die Einzelheiten aber, deren Rangierung unter diese Begriffe gefordert
wird, pflegen ihre Stellen hier durchaus nicht mit der entsprechenden
Eindeutigkeit zu finden; vielmehr sind es oft quantitative Bestimmungen an
ihnen, die über die Zugehörigkeit zu dem einen oder zu dem anderen
Begriff entscheiden, so daß angesichts der Kontinuität alles
Quantitativen, der immer möglichen Mitte zwischen zwei Maßen, deren
jedes einer entschiedenen Kategorie entspricht, die singuläre Erscheinung
bald der einen, bald der anderen zugeteilt werden kann, und so als eine
Unbestimmtheit zwischen ihnen, ja als eine Mischung von Begriffen
erscheint, die ihrem eigenen Sinn nach sich gegenseitig ausschließen.
Die prinzipielle Sicherheit der Abgrenzung zwischen Natur und Kultur,
mit der die eine gerade da beginnt, wo die andere aufhört, leidet also
unter der Unsicherheit über die Einordnung der Einzelerscheinung so
wenig, wie die Begriffe des Tages und der Nacht darum ineinander
verschwimmen, weil man eine Dämmerstunde bald dem einen, bald der anderen
zurechnen mag.
Dieser Erörterung des allgemeinen Kulturbegriffs stelle ich nun (>
505) ein besonderes Verhältnis innerhalb der gegenwärtigen Kultur
gegenüber.
Vergleicht man dieselbe etwa mit der Zeit vor hundert Jahren, so kann
man - viele individuelle Ausnahmen vorbehalten - doch wohl sagen: die
Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte,
Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst -
sind unsäglich kultiviert; aber die Kultur der Individuen, wenigstens in
den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Verhältnis
vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen.
Dies ist ein kaum eines Einzelbeweises bedürftiges Verhältnis.
Ich hebe darum nur weniges hervor.
Die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten haben sich, im Deutschen wie
im Französischen, seit hundert Jahren außerordentlich bereichert und
nuanciert; nicht nur die Sprache Goethes ist uns geschenkt, sondern es ist
noch eine große Anzahl von Feinheiten, Abtönungen, Individualisierungen
des Ausdrucks hinzugekommen.
Dennoch, wenn man das Sprechen und Schreiben der Einzelnen betrachtet,
so wird es als ganzes immer inkorrekter, würdeloser und trivialer.
Und inhaltlich: der Gesichtskreis, aus dem die Konversation ihre
Gegenstände schöpft, hat sich objektiv, durch die vorgeschrittene
Theorie und Praxis, in derselben Zeit erheblich erweitert; und dich
scheint es, als ob die Unterhaltung, die gesellschaftliche wie auch die
intimere und briefliche, jetzt viel flacher, uninteressanter und weniger
ernsthaft wäre als am Ende des 18. Jahrhunderts.
In diese Kategorie gehört es, daß die Maschine so viel geistvoller
geworden ist als der Arbeiter.
Wie viele Arbeiter, sogar unterhalb der eigentlichen Großindustrie,
können heute, die Maschine, an der sie zu tun haben, d. h. den in der
Maschine investierten Geist verstehen? Nicht anders liegt es in der
militärischen Kultur.
Was der einzelne Soldat zu leisten hat, ist im wesentlichen seit lange
unverändert geblieben, ja, in manchem durch die moderne Art der
Kriegführung herabgesetzt.
Dagegen sind nicht nur die materiellen Werkzeuge derselben, sondern vor
allem die jenseits aller Individuen stehende Organisation des Heeres
unerhört verfeinert und zu einem wahren Triumph objektiver Kultur
geworden.
Und auf das Gebiet des rein Geistigen hinsehend - so operieren auch die
kenntnisreichsten und nachdenkendsten Menschen mit einer immer wachsenden
Zahl von Vorstellungen, Begriffen, Sätzen, deren genauen Sinn und Inhalt
sie nur ganz unvollständig kennen.
Die ungeheure Ausdehnung des objektiv vorliegenden Wissensstoffes
gestattet, ja erzwingt den Gebrauch von Ausdrücken, die eigentlich wie
verschlossene Gefäße von Hand zu Hand gehen, ohne daß der tatsächlich
darin verdichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Gebraucher
entfaltete.
Wie unser äußeres Leben von immer mehr (> 506) Gegenständen
umgeben wird, deren objektiven, in ihrem Produktionsprozeß aufgewandten
Geist wir nicht entfernt ausdenken, so ist unser geistiges Innen- und
Verkehrsleben - was ich oben schon in anderem Zusammenhang hervorhob - von
symbolisch gewordenen Gebilden erfüllt, in denen eine umfassende
Geistigkeit aufgespeichert ist - während der individuelle Geist davon nur
ein Minimum auszunutzen pflegt.
Gewissermaßen faßt sich das Übergewicht, das die objektive über die
subjektive Kultur im 19. Jahrhundert gewonnen hat, darin zusammen, daß
das Erziehungsideal des 18. Jahrhunderts auf eine Bildung des Menschen,
also einen persönlichen, inneren Wert ging, aber im 19. Jahrhundert durch
den Begriff der »Bildung« im Sinn einer Summe objektiver Kenntnisse und
Verhaltungsweisen verdrängt wurde.
Diese Diskrepanz scheint sich stetig zu erweitern.
Täglich und von allen Seiten her wird der Schatz der Sachkultur
vermehrt, aber nur wie aus weiter Entfernung ihr folgend und in einer nur
wenig zu steigernden Beschleunigung kann der individuelle Geist die Formen
und Inhalte seiner Bildung erweitern.
Wie erklärt sich nun diese Erscheinung? Wenn alle Kultur der Dinge, wie
wir sahen, nur eine Kultur der Menschen ist, so daß nur wir uns
ausbilden, indem wir die Dinge ausbilden - was bedeutet jene Entwicklung,
Ausgestaltung, Vergeistigung der Objekte, die sich wie aus deren eigenen
Kräften und Normen heraus vollzieht und ohne daß sich einzelne Seelen
darin oder daran entsprechend entfalteten?
Hierin liegt eine Steigerung des rätselhaften Verhältnisses vor, das
überhaupt zwischen dem Leben und den Lebensprodukten der Gesellschaft
einerseits und den fragmentarischen Daseinsinhalten der Individuen
andrerseits besteht.
In Sprache und Sitte, politischer Verfassung und Religionslehren,
Literatur und Technik ist die Arbeit unzähliger Generationen
niedergelegt, als gegenständlich gewordener Geist, von dem jeder nimmt,
so viel wie er will oder kann, den aber überhaupt kein Einzelner
ausschöpfen könnte; zwischen dem Maß dieses Schatzes und dem des davon
Genommenen bestehen die mannigfaltigsten und zufälligsten Verhältnisse,
und die Geringfügigkeit oder Irrationalität der individuellen Anteile
läßt den Gehalt und die Würde jenes Gattungsbesitzes so unberührt, wie
irgendein körperliches Sein es von seinem einzelnen Wahrgenommen- oder
Nichtwahrgenommenwerden bleibt.
Wie sich der Inhalt und die Bedeutung eines vorliegenden Buches als
solche indifferent zu seinem großen oder kleinen, verstehenden oder
verständnislosen Leserkreise verhält, so steht auch jedes sonstige
Kulturprodukt dem Kulturkreise gegenüber, zwar bereit, von jedem
ergriffen zu werden, für diese Bereitheit aber immer nur eine sporadische
Aufnahme findend.
Diese (> 507) verdichtete Geistesarbeit der Kulturgemeinschaft
verhält sich also zu ihrer Lebendigkeit in den individuellen Geistern wie
die weite Fülle der Möglichkeit zu der Begrenzung der Wirklichkeit.
Das Verständnis der Daseinsart solcher objektiven Geistesinhalte
fordert ihre Einstellung in eine eigenartige Organisation unserer
weltauffassenden Kategorien.
Innerhalb dieser wird dann auch das diskrepante Verhältnis der
objektiven und der subjektiven Kultur, das unser eigentliches Problem
bildet, seine Stelle finden.
Wenn der Platonische Mythus die Seele in ihrer Präexistenz das reine
Wesen, die absolute Bedeutung der Dinge schauen läßt, so daß ihr
späteres Wissen nur eine Erinnerung an jene Wahrheit sei, die
gelegentlich sinnlicher Anregungen in ihr auftauche -- so ist das nächste
Motiv dafür freilich die Ratlosigkeit, wo denn unsere Erkenntnisse
herstammen mögen, wenn man ihnen, wie Plato es tut, den Ursprung aus der
Erfahrung verweigert.
Allein über diese Gelegenheitsursache ihrer Entstehung hinweg ist in
jener metaphysischen Spekulation ein erkenntnistheoretisches Verhalten
unserer Seele tiefsinnig angedeutet.
Mögen wir nämlich unser Erkennen als eine unmittelbare Wirkung
äußerer Gegenstände ansehen, oder als einen rein inneren Vorgang,
innerhalb dessen alles Außen eine immanente Form oder Verhältnis
seelischer Elemente ist - immer empfinden wir unser Denken, insoweit es
uns für wahr gilt, als die Erfüllung einer sachlichen Forderung, als das
Nachzeichnen einer ideellen Vorzeichnung.
Selbst wenn eine genaue Abspiegelung der Dinge, wie sie an sich sind,
unser Vorstellen ausmachte, so würde die Einheit, Richtigkeit und
Vollendung, der sich die Erkenntnis, ein Stück nach dem anderen erobernd,
ins Unendliche nähert, doch nicht den Gegenständen selbst zukommen.
Vielmehr, das Ideal unseres Erkennens würde immer nur ihr Inhalt in
der Form des Vorstellens sein, denn auch der äußerste Realismus will
nicht die Dinge, sondern die Erkenntnis der Dinge gewinnen.
Wenn wir die Summe von Bruchstücken, die in jedem gegebenen Augenblick
unseren Wissensschatz ausmacht, also im Hinblick auf die Entwicklung
bezeichnen, zu der dieser strebt und an der sich jedes gegenwärtige
Stadium in seiner Bedeutung mißt - so können wir das auch nur durch die
Voraussetzung, die jener Platonischen Lehre zum Grunde liegt: daß es ein
ideales Reich der theoretischen Werte, des vollendeten intellektuellen
Sinnes und Zusammenhanges gibt, das weder mit den Objekten zusammenfällt
- da diese ja eben erst seine Objekte sind - noch mit dem jeweilig
erreichten, psychologisch wirklichen Erkennen.
Dieses letztere vielmehr bringt sich erst allmählich und immer
unvollkommen mit jenem, das alle überhaupt mögliche Wahrheit
einschließt, zur (> 508) Deckung, es ist wahr in dem Maße, in dem ihm
das gelingt.
Die Grundtatsache dieses Gefühles: daß unser Erkennen in jedem
Augenblick der Teil eines nur ideell vorhandenen, aber uns zur psychischen
Verwirklichung dargebotenen und sie fordernden Komplexes der Erkenntnisse
ist - diese scheint für Plato bestanden zu haben; nur daß er sie als
einen Abfall des wirklichen Erkennens von dem einstigen Besitze dieser
Totalität ausdrückte, als ein Nicht-Mehr, was wir heute als ein
Noch-Nicht auffassen müssen.
Das Verhältnis selbst aber kann offenbar bei beiden Deutungen - wie
sich ja die identische Summe sowohl durch Subtraktion von Höherem, wie
durch Addition' von Niedrigerem herstellen läßt - als das ganz gleich
gefühlte zum Grunde liegen.
Die eigentümliche Daseinsart dieses Erkenntnisideals, das unseren
wirklichen Erkenntnissen als Norm oder Totalität, gegenübersteht, ist
dieselbe, wie sie der Gesamtheit sittlicher Werte und Vorschriften,
gegenüber dem tatsächlichen Handeln der Individuen, zukommt.
Hier, auf dem ethischen Gebiet, ist uns das Bewußtsein geläufiger,
daß unser Tun eine in sich gültige Norm vollständiger oder mangelhafter
verwirklicht.
Diese Norm, - welche übrigens ihrem Inhalte nach für jeden Menschen
und für jede Epoche seines Lebens verschieden sein mag - ist weder in
Raum und Zeit auffindbar, noch fällt sie mit dem ethischen Bewußtsein
zusammen, das sich vielmehr als von ihr abhängig empfindet.
Und so ist dies schließlich die Formel unseres Lebens überhaupt, von
der banalen Praxis des Tages bis zu den höchsten Gipfeln der Geistigkeit,
in allem Wirken haben wir eine Norm, einen Maßstab, eine ideell
vorgebildete Totalität über uns, die eben durch dies Wirken in die Form,
der Realität übergeführt wird - womit nicht nur das Einfache und
Allgemeine gemeint ist, daß jedes Wollen durch irgendein Ideal gelenkt
wird.
Sondern es steht ein bestimmter, mehr oder wenige deutlicher Charakter
unseres Handelns in Frage, der sich nur so ausdrücken läßt, daß wir
mit diesem Handeln, gleichviel ob es seinem Werte nach etwa sehr
kontra-ideal ist, eine irgendwie vor gezeichnete Möglichkeit, gleichsam
ein ideelles Programm erfüllen.
Unsere praktische Existenz, unzulänglich und fragmentarisch, wie sie
ist, erhält eine gewisse Bedeutsamkeit und Zusammenhang dadurch, daß sie
sozusagen die Teilverwirklichung einer Ganzheit ist.
Unser Handeln, ja unser gesamtes Sein, schönes wie häßliches,
rechtes wie irrendes, großes wie kleinliches erscheint einem Schatz von
Möglichkeiten entnommen, derart, daß es sich in jedem Augenblick zu
seinem ideell bestimmten Inhalt verhält, wie das konkret Einzelding zu
seinem Begriff, der sein inneres Gesetz und logische Wesen ausspricht,
ohne in der Bedeutung dieses Inhalts von dem (> 509) Ob, Wie und Wie
oft seiner Verwirklichungen abhängig zu sein.
Wir können uns das Erkennen gar nicht anders denken, als daß es
diejenigen Vorstellungen innerhalb des Bewußtseins verwirklichte, die an
der gerade fraglichen Stelle sozusagen darauf gewartet haben.
Daß wir unsere Erkenntnisse notwendige nennen, das heißt, daß sie
ihrem Inhalte nach nur in einer Weise dasein können, das ist doch nur ein
anderer Ausdruck für die Bewußtseinstatsache, daß wir sie als
psychische Realisierungen jenes ideell bereits feststehenden Inhaltes
empfinden.
Diese eine Weise bedeutet indes keineswegs, daß es für alle
Mannigfaltigkeit der Geister nur eine Wahrheit gibt.
Vielmehr: wenn auf der einen Seite ein bestimmt angelegter Intellekt,
auf der anderen eine bestimmte Objektivität gegeben ist, so ist damit
dasjenige, was gerade für diesen Geist »Wahrheit« ist, sachlich
präformiert, wie es das Resultat einer Rechnung ist, wenn ihre Faktoren
gegeben sind; bei jeder Änderung der mitgebrachten geistigen Struktur
ändert sich der Inhalt dieser Wahrheit, ohne darum weniger objektiv und
unabhängig von allem, in diesem Geiste erfolgenden Bewußtwerden
festzustehen.
Die ganze unverbrüchliche Anweisung, die wir bestimmten Wissenstatsachen
entnehmen, daß nun auch bestimmte andere angenommen werden müssen,
bedeutet die Gelegenheitsursache, die jenes Wesen unserer Erkenntnisse
sichtbar macht: jede einzelne dieser das Bewußtwerden von etwas, das
innerhalb des sachlich determinierten Zusammenhanges der Erkenntnisinhalte
bereits gültig und festgelegt ist.
Von der psychologischen Seite endlich angesehen, gehört dies zu der
Theorie, nach der alles Fürwahrhalten ein gewisses Gefühl ist, das
Vorstellungsinhalte begleitet; was wir beweisen nennen, ist nichts als die
Herbeiführung einer psychologischen Konstellation, auf die hin jenes
Gefühl eintritt.
Kein sinnliches Wahrnehmen oder logisches Folgen ist unmittelbar die
Überzeugung von einer Wirklichkeit; sondern dies sind; nur Bedingungen,
die das übertheoretische Gefühl der Bejahung, der Zustimmung; oder wie
man dieses eigentlich unbeschreibliche Wirklichkeitsgefühl nennen mag,
hervorrufen.
Dieses bildet das psychologische Vehikel zwischen den beiden
erkenntnistheoretischen Kategorien: dem gültigen, durch seinen inneren
Zusammenhang getragenen, jedem Element seine Stelle anweisenden
inhaltlichen Sinn der Dinge und unserem Vorstellen ihrer, das ihre
Wirklichkeit innerhalb eines Subjekts bedeutet.
Dieses allgemeine und grundlegende Verhältnis findet nun in dem zwischen
dem vergegenständlichten Geist und Kultur und dem individuellen Subjekt
eine Analogie in engeren Maßen.
Wie wir unsere Lebensinhalte, erkenntnistheoretisch betrachtet, einem
Reiche (> 510) des sachlich Geltenden entnehmen, so beziehen wir,
historisch angesehen, ihren überwiegenden Teil aus jenem Vorrat auf
gespeicherter Geistesarbeit der Gattung; auch hier liegen präformierte
Inhalte vor, der Verwirklichung in individuellen Geistern sich darbietend,
aber auch jenseits solcher ihre Bestimmtheit festhaltend, die doch auch
hier keineswegs die eines materiellen Gegenstandes ist; denn selbst wenn
der Geist an Materien gebunden ist, wie in Geräten, Kunstwerken,
Büchern, so fällt er doch nie mit dem zusammen, was an diesen Dingen
sinnlich wahrnehmbar ist.
Er wohnt ihnen in einer nicht weiter definierbaren potenziellen Form
ein, aus der heraus ihn das individuelle Bewußtsein aktualisieren kann.
Die objektive Kultur ist - die historische Darstellung oder -
vollkommenere oder unvollkommenere - Verdichtung jener sachlich gültigen
Wahrheit, von der unsere Erkenntnis eine Nachzeichnung ist.
Wenn wir sagen dürfen, das Gravitationsgesetz habe gegolten, bevor
Newton es aussprach, so ruht das Gesetz als solches doch nicht in den
realen Materienmassen, da es nur die Art bedeutet, in der sich deren
Verhältnisse in einem bestimmt organisierten Geist darstellen, und da die
Gültigkeit dieses Gesetzes gar nicht davon abhängt, daß es in der
Wirklichkeit Materie gibt.
Insofern also liegt es weder in den objektiven Dingen selbst, noch in
den subjektiven Geistern, sondern in jener Sphäre des objektiven Geistes,
von der unser Wahrheitsbewußtsein einen Abschnitt nach dem andern zur
Wirklichkeit in ihm verdichtet.
Wenn dies nun aber an dem fraglichen Gesetze durch Newton vollbracht
ist, so ist es in den objektiven historischen Geist eingerückt und seine
ideelle Bedeutung innerhalb dieses ist nun wieder von seiner Wiederholung
in einzelnen Individuen prinzipiell unabhängig.
Indem wir diese Kategorie des objektiven Geistes als der historischen
Darstellung des gültigen Geistesgehaltes der Dinge überhaupt gewinnen,
zeigt sich, wieso der Kulturprozeß, den wir als eine subjektive
Entwicklung erkannten - die Kultur der Dinge als eine Kultur der Menschen
-, sich von seinem Inhalt trennen kann; dieser Inhalt nimmt, in jene
Kategorie tretend, gleichsam einen anderen Aggregatzustand an, und damit
ist die prinzipielle Grundlage für die Erscheinung geschaffen, die uns
als gesonderte Entwicklung der sachlichen und der personalen Kultur
entgegentrat.
Mit der Vergegenständlichung des Geistes ist die Form gewonnen, die
ein Konservieren und Aufhäufen der Bewußtseinsarbeit gestattet; sie ist
die bedeutsamste und folgenreichste unter den historischen Kategorien der
Menschheit.
Denn sie macht zur geschichtlichen Tatsache, was als biologische so
zweifelhaft ist: die Vererbung des Erworbenen. (> 511)
Wenn man es als den Vorzug des Menschen den Tieren gegenüber
bezeichnet hat., daß er Erbe und nicht bloß Nachkomme wäre, so ist die
Vergegenständlichung des Geistes in Worten und Werken, Organisationen und
Traditionen der Träger dieser Unterscheidung, die dem Menschen erst seine
Welt, ja: eine Welt schenkt.
Ist dieser objektive Geist der geschichtlichen Gesellschaft nun ihr
Kulturinhalt im weitesten Sinne, so mißt sich die praktische
Kulturbedeutung seiner einzelnen Bestandteile dennoch an dem Umfang, in
dem sie zu Entwicklungsmomenten der Individuen werden.
Denn angenommen, jene Entdeckung Newtons stünde nur in einem Buch, von
dem niemand weiß, so wäre sie zwar immer noch objektiv gewordener Geist
und ein potenzieller Besitz der Gesellschaft, aber kein Kulturwert mehr.
Da dieser extreme Fall in unzähligen Abstufungen auftreten kann, so
ergibt sich unmittelbar, daß in einer größeren Gesellschaft immer nur
ein gewisser Teil der objektiven Kulturwerte zu subjektiven werden wird.
Betrachtet man die Gesellschaft als ein Ganzes, das heißt, ordnet man
die in ihr überhaupt objektiv werdende Geistigkeit in einen
zeitlich-sachlichen Komplex, so ist die gesamte Kulturentwicklung, für
die man so einen einheitlichen Träger fingiert hat, reicher an Inhalten,
als die jedes ihrer Elemente.
Denn die Leistung jedes Elementes steigt in jenen Gesamtbesitz auf,
aber dieser nicht zu jedem Element hinab.
Der ganze Stil des Lebens einer Gemeinschaft hängt von dem Verhältnis
ab, in dem die objektiv gewordene Kultur zu der Kultur der Subjekte steht.
Auf die Bedeutung der numerischen Bestimmtheiten habe ich schon
hingedeutet.
In einem kleinen Kreise von niedriger Kultur wird jenes Verhältnis
nahezu eines der Deckung sein, die objektiven Kulturmöglichkeiten -
werden die subjektiven Kulturwirklichkeiten nicht weit überragen.
Eine Steigerung des Kulturniveaus - insbesondere, wenn es mit einer
Vergrößerung des Kreises gleichzeitig ist - wird das Auseinanderfallen
beider begünstigen: es war die unvergleichliche Situation Athens in
seiner Blütezeit, daß es bei all seiner Kulturhöhe gerade dies - außer
etwa in bezug auf die höchsten philosophischen Bewegungen - zu vermeiden
wußte.
Aber die Größe des Kreises macht an und für sich das
Auseinandertreten des subjektiven und des objektiven Faktors noch nicht
verständlich.
Es gilt vielmehr jetzt, die konkreten, wirkenden Ursachen der letzteren
Erscheinung aufzusuchen.
Will man diese und die Stärke ihres gegenwärtigen Auftretens in einen
Begriff konzentrieren, so ist dieser: Arbeitsteilung, und zwar sowohl nach
ihrer Bedeutung innerhalb der Produktion wie der Konsumtion.
In ersterer Hinsicht ist oft genug hervorgehoben (> 512) worden, wie
die Vollendung des Produkts auf Kosten der Entwicklung des Produzenten
zustande kommt.
Die Steigerung der physisch-psychischen Energien und
Geschicklichkeiten, die sich bei einseitiger Tätigkeit einstellt, pflegt
für die einheitliche Gesamtpersönlichkeit wenig Nutzen abzuwerfen: sie
läßt diese sogar vielfach verkümmern, indem sie ihr ein für die
harmonische Gestaltung des Ich unentbehrliches Kraftquantum entsaugt, oder
sie entwickelt sich in anderen Fällen wenigstens wie in Abschnürung von
dem Kern der Persönlichkeit, als eine Provinz mit uneingeschränkter
Autonomie, deren Erträge nicht der Zentralstelle zufließen.
Die Erfahrung scheint zu zeigen, daß die innere Ganzheit des Ich sich
im wesentlichen in Wechselwirkung mit der Geschlossenheit und Abrundung
der Lebensaufgabe herstellt.
Wie uns die Einheit eines Objekts überhaupt so zustande kommt, daß
wir die Art, wie wir unser »Ich« fühlen, in das Objekt hineintragen, es
nach unserem Bilde formen, in welchem die Vielheit der Bestimmungen zu der
Einheit des »Ich« zusammenwächst - so wirkt, im
psychologisch-praktischen Sinne, die Einheit des Objekts, das wir
schaffen, und ihr Mangel auf die entsprechende Formung unserer
Persönlichkeit.
Wo unsere Kraft nicht ein Ganzes hervorbringt, an dem sie sich nach der
ihr eigentümlichen Einheit ausleben kann, da fehlt es an der eigentlichen
Beziehung zwischen beiden, die inneren Tendenzen der Leistung ziehen sie
zu den anderweitigen, mit ihr erst eine Totalität bildenden Leistungen
Anderer, auf den Produzenten aber weist sie nicht zurück.
Infolge solcher, bei großer Spezialisierung eintretenden
Inadäquatheit zwischen der Existenzform des Arbeiters und der seines
Produktes löst sich das letztere besonders leicht und gründlich von dem
ersteren ab, sein Sinn strömt ihm nicht von dessen Seele zu, sondern von
seinem Zusammenhang mit anderswoher stammenden Produkten, es fehlt ihm
wegen seines fragmentarischen Charakters das Wesen der Seelenhaftigkeit,
das sonst dem Arbeitsprodukt, sobald es ganz als Werk eines Menschen
erscheint, so leicht angefühlt wird.
So kann es seine Bedeutsamkeit weder als Spiegelung einer
Subjektivität noch in dem Reflex suchen, den es als Ausdruck der
schaffenden Seele in diese zurückwirft, sondern kann sie ausschließlich
als objektive Leistung, in seiner Wendung vom Subjekt weg, finden.
Dieser Zusammenhang zeigt sich nicht minder an seinem äußersten
Gegensatz, dem Kunstwerk.
Dessen Wesen widerstrebt völlig jener Aufteilung der Arbeit an eine
Mehrzahl von Arbeitern, deren keiner für sich ein Ganzes leistet.
Das Kunstwerk ist unter allem Menschenwerk die geschlossenste Einheit,
die sich selbst genügendste Totalität - selbst den Staat nicht aus-
(> 513) genommen.
Denn so sehr dieser, unter besonderen Umständen, mit sich selbst
auskommen mag, so saugt er doch seine Elemente nicht so vollständig in
sich ein, daß nicht ein jedes noch ein Sonderleben mit Sonderinteressen
führte: immer nur mit einem Teile der Persönlichkeit, deren andere sich
anderen Zentren zuwenden, sind wir dem Staate verwachsen.
Die Kunst dagegen beläßt keinem aufgenommenen Element eine Bedeutung
außerhalb des Rahmens, in den sie es einstellt, das einzelne Kunstwerk
vernichtet den Vielsinn der Worte und der Töne, der Farben und der
Formen, um nur ihre ihm zugewandte Seite für das Bewußtsein bestehen zu
lassen.
Diese Geschlossenheit des Kunstwerks aber bedeutet, daß eine
subjektive Seeleneinheit in ihm zum Ausdruck kommt; das Kunstwerk fordert
nur einen Menschen, diesen aber ganz und seiner zentralsten Innerlichkeit
nach: es vergilt dies dadurch, daß seine Form ihm der reinste Spiegel und
Ausdruck des Subjekts zu sein gestattet.
Die völlige Ablehnung der Arbeitsteilung ist so Ursache wie Symptom
des Zusammenhanges, der zwischen der in sich fertigen Totalität des
Werkes und der seelischen Einheit besteht.
Umgekehrt, wo jene herrscht, bewirkt sie eine Inkommensurabilität der
Leistung mit dem Leistenden, dieser erblickt sich nicht mehr in seinem
Tun, das eine allem Persönlich-Seelischen so unähnliche Form darbietet
und nur als eine ganz einseitig ausgebildete Partialität unseres Wesens
erscheint, gleichgültig gegen die einheitliche Ganzheit desselben.
Die stark arbeitsteilige, mit dem Bewußtsein dieses Charakters
vollbrachte Leistung drängt also schon von sich aus in die Kategorie der
Objektivität, die Betrachtung und Wirkung ihrer als einer rein sachlichen
und anonymen wird für den Arbeitenden selbst immer plausibler, der sie
nicht mehr in die Wurzel seines Gesamtlebenssystems hinabreichen fühlt.
Je vollständiger ein Ganzes aus subjektiven Beiträgen den Teil in
sich einsaugt, je mehr es der Charakter jedes Teiles ist, wirklich nur als
Teil dieses Ganzen zu gelten und zu wirken, desto objektiver ist das
Ganze, desto mehr lebt es ein Leben jenseits aller Subjekte, die es
produzierten.
Im ganzen entspricht jener Spezialisierung der Produktion eine
Verbreiterung der Konsumtion: wie selbst der in seinem Geistesleben
spezialisierteste, fachmäßig einseitigste Mensch der Gegenwart eben doch
seine Zeitung liest, und damit eine so umfassende geistige Konsumtion
übt, wie sie vor hundert Jahren auch dem in seiner geistigen Aktivität
vielseitigsten und weitestausgreifenden Menschen nicht möglich war.
Die Erweiterung der Konsumtion aber hängt an dem Wachsen der
objektiven Kultur, denn je sachlicher, unpersönlicher ein Produkt ist,
für desto mehr (> 514) Menschen ist es geeignet.
Damit der Konsum des Einzelnen ein so breites Material finden könne, muß
dieses sehr vielen Individuen zugängig und anziehend gemacht, kann nicht
auf subjektive Differenziertheiten des Begehrens angelegt sein, während
andrerseits gerade nur die äußerste Differenzierung der Produktion
imstande ist, die Objekte so billig und massenhaft herzustellen, wie es
der Umfang des Konsums fordert.
So ist der letztere wiederum ein Band, das die Objektivität der Kultur
mit ihrer Arbeitsteilung zusammenhängen läßt.
Endlich wirkt der Prozeß, den man als Trennung des Arbeiters von
seinem Arbeitsmittel bezeichnet und der doch auch eine Arbeitsteilung ist,
ersichtlich im gleichen Sinn.
Indem es jetzt die Funktion des Kapitalisten ist, die Arbeitsmittel zu
erwerben, zu organisieren, auszuteilen, haben diese letzteren für den
Arbeiter eine ganz andere Objektivität, als sie für denjenigen haben
müssen, der am eigenen Material und mit eigenen Werkzeugen arbeitet.
Diese kapitalistische Differenzierung trennt die subjektiven und die
objektiven Bedingungen der Arbeit gründlich voneinander - eine Trennung,
zu der, als beide noch in einer Hand vereinigt waren, gar keine
psychologische Veranlassung vorlag.
Indem die Arbeit selbst und ihr unmittelbarer Gegenstand verschiedenen
Personen zugehören, muß sich für das Bewußtsein des Arbeiters der
objektive Charakter dieser Gegenstände außerordentlich scharf betonen,
um so schärfer, als die Arbeit und ihre Materie doch andrerseits wieder
eine Einheit sind und so gerade ihr nahes Aneinander ihre jetzigen
Gegenrichtungen am fühlbarsten machen muß.
Und das findet seine Fortsetzung und Gegenbild darin, daß außer dem
Arbeitsmittel auch noch die Arbeit selbst sich von dem Arbeiter trennt:
denn dies ist die Bedeutung der Erscheinung, die man damit bezeichnet,
daß die Arbeitskraft eine Ware geworden ist.
Wo der Arbeiter an eigenem Material schafft, verbleibt seine Arbeit
innerhalb des Umkreises seiner Persönlichkeit, und erst das vollendete
Werk verläßt denselben beim Verkauf.
Mangels der Möglichkeit indes, seine Arbeit in dieser Weise zu
verwerten, stellt er sie für einen Marktpreis in die Verfügung eines
Anderen, trennt sich also von ihr von dem Augenblick an, wo sie ihre
Quelle verläßt.
Daß sie nun Charakter, Bewertungsweise, Entwicklungsschicksale mit
allen Waren überhaupt teilt, das bedeutet eben, daß sie dem Arbeiter
selbst gegenüber etwas Objektives geworden ist, etwas, das er nicht nur
nicht mehr ist, sondern eigentlich auch nicht mehr hat.
Denn sobald seine potenzielle Arbeitsmenge sich in wirkliches Arbeiten
umsetzt, gehört nicht mehr sie, sondern ihr Geldäquivalent ihm, während
sie selbst einem Anderen, (> 515) oder genauer: einer objektiven
Arbeitsorganisation zugehört.
Das Ware-Werden der Arbeit ist also auch nur eine Seite des
weitausgreifenden Differenzierungsprozesses, der aus der Persönlichkeit
ihre einzelnen Inhalte herauslöst, um sie ihr als Objekte, mit
selbständiger Bestimmtheit und Bewegung, gegenüberzustellen.
Schließlich zeigt sich das Ergebnis dieses Schicksals der
Arbeitsmittel und Arbeitskraft an ihrem Produkt.
Daß das Arbeitsprodukt der kapitalistischen Epoche ein Objekt mit
entschiedenem Fürsichsein, eigenen Bewegungsgesetzen, dem herstellenden
Subjekt selbst fremdem Charakter ist, wird da zur eindringlichsten
Vorstellung werden, wo der Arbeiter genötigt ist, sein eigenes
Arbeitsprodukt, wenn er es haben will, zu kaufen.
- Dies ist nun ein allgemeines Schema der Entwicklung, das weit über
den Lohnarbeiter hinaus gilt.
Die ungeheure Arbeitsteilung z. B. in der Wissenschaft bewirkt, daß
nur äußerst wenige Forscher sich die Vorbedingungen ihrer Arbeit selbst
beschaffen können; unzählige Tatsachen und Methoden muß man einfach als
objektives Material von außen aufnehmen, ein geistiges Eigentum Anderer,
an dem sich die eigene Arbeit vollzieht.
Ich erinnere für das Gebiet der Technik daran, daß noch am Anfang des
19. Jahrhunderts, als besonders in der Textil- und Eisenindustrie die
großartigsten Erfindungen rasch aufeinander folgten, die Erfinder nicht
nur die Maschinen, die sie ersannen, eigenhändig und ohne Beihilfe
anderer Maschinen herstellen, sondern meistens noch vorher die dazu
erforderlichen Werkzeuge selbst ausdenken und anfertigen mußten.
Den jetzigen Zustand in der Wissenschaft kann man als eine Trennung des
Arbeiters von seinen Arbeitsmitteln im weiteren Sinne bezeichnen, und
jedenfalls in dem hier fraglichen.
Denn in dem eigentlichen Prozeß der wissenschaftlichen Produktion
scheidet sich nun doch ein dem Produzenten gegenüber objektives Material
von dem subjektiven Prozeß seiner Arbeit.
Je undifferenzierter der Wissenschaftsbetrieb noch war, je mehr der
Forscher alle Voraussetzungen und Materialien seiner Arbeit persönlich
erarbeiten mußte, desto weniger bestand für ihn der Gegensatz seiner
subjektiven Leistung und einer Welt objektiv feststehender
wissenschaftlicher Gegebenheiten.
Und auch hier erstreckt sich dieser in das Produkt der Arbeit hinein:
auch das Ergebnis selbst, so sehr es als solches die Frucht subjektiven
Bemühens ist, muß um so eher in die Kategorie einer objektiven, von dem
Produzenten unabhängigen Tatsache aufsteigen, je mehr Arbeitsprodukte
Anderer schon von vornherein in ihm zusammengebracht und wirksam sind.
Darum sehen wir auch, daß in der Wissenschaft der geringsten
Arbeitsteilung, der Philosophie - insbesondere in ihrem metaphysischen
Sinne - einerseits das aufgenommene objektive (> 516) Material eine
durchaus sekundäre Rolle spielt, andrerseits das Produkt sich am
wenigsten von seinem subjektiven Ursprung gelöst hat, vielmehr ganz als
Leistung dieser einen Persönlichkeit auftritt.
Wenn so die Arbeitsteilung - die ich hier in ihrem weitesten Sinne, die
Produktionsteilung wie die Arbeitszerlegung wie die Spezialisation
einschließend verstehe - die schaffende Persönlichkeit von dem
geschaffenen Werk abtrennt und dies letztere eine objektive
Selbständigkeit gewinnen läßt, so stellt sich Verwandtes in dem
Verhältnis der arbeitsteiligen Produktion zum Konsumenten ein.
Hier handelt es sich um die Herleitung innerer Folgen aus allbekannten
äußeren Tatsachen.
Die Kundenarbeit, die das mittelalterliche Handwerk beherrschte und
erst im letzten Jahrhundert ihren rapidesten Rückgang erfahren hat,
beließ dem Konsumenten ein persönliches Verhältnis zur Ware: da sie
speziell für ihn bereitet war, sozusagen eine Wechselwirkung zwischen ihm
und dem Produzenten darstellte, so gehörte sie, in einigermaßen
ähnlicher Weise wie diesem, innerlich auch ihm zu.
Wie man den schneidenden Gegensatz von Subjekt und Objekt in der
Theorie dadurch versöhnt hat, daß man dieses in jenem als seine
Vorstellung bestehen ließ, so kommt der gleiche Gegensatz in der Praxis
nicht zur Entfaltung, solange das Objekt entweder nur durch ein Subjekt,
oder um eines Subjektes willen entsteht.
Indem die Arbeitsteilung die Kundenproduktion zerstört - schon weil der
Abnehmer sich wohl mit einem Produzenten, aber nicht mit einem Dutzend
Teilarbeiter in Verbindung setzen kann - verschwindet die subjektive
Färbung des Produkts auch nach der Seite des Konsumenten hin, denn es
entsteht nun unabhängig von ihm, die Ware ist nun eine objektive
Gegebenheit, an die er von außen herantritt und die ihr Dasein und Sosein
ihm gleichsam als etwas Autonomes gegenüberstellt.
Der Unterschied z. B. zwischen dem modernen, auf die äußerste
Spezialisierung gebauten Kleidermagazin und der Arbeit des Schneiders; den
man ins Haus nahm, charakterisiert aufs schärfste die gewachsene
Objektivität des wirtschaftlichen Kosmos, seine überpersönliche
Selbständigkeit im Verhältnis zum konsumierenden Subjekt, mit dem er
ursprünglich verwachsen war.
Man hat hervorgehoben, daß mit der Zerspaltung der Arbeit in immer
speziellere Teilleistungen die Tauschverhältnisse immer vielgliedriger,
vermittelter werden und damit die Wirtschaft immer mehr Beziehungen und
Obligationen enthalten müsse, die nicht unmittelbar gegenseitig sind.
Es liegt auf der Hand, wie sehr der Gesamtcharakter des Verkehrs damit
objektiviert ist, wie die Subjektivität sich brechen, in kühle
Reserviertheit und anonyme (> 517) Objektivität übergehen muß, wenn
zwischen den Produzenten und den, der sein Produkt aufnimmt, sich so und
so viele Zwischeninstanzen schieben, die den einen ganz aus dem
Blickkreise des anderen rücken.
Mit dieser dem Abnehmer gegenüber bestehenden Autonomie der Produktion
hängt eine Erscheinung der Arbeitsteilung zusammen, die jetzt ebenso
alltäglich, wie in ihrer Bedeutung wenig erkannt ist.
Von den früheren Gestaltungen der Produktion her herrscht im ganzen
die einfache Vorstellung, daß die niederen Schichten der Gesellschaft
für die höheren arbeiten; daß die Pflanzen vom Boden, die Tiere von den
Pflanzen, der Mensch von den Tieren lebt, das wiederhole sich, mit
moralischem Recht oder Unrecht, im Bau der Gesellschaft: je höher die
Individuen sozial und geistig stehen, desto mehr gründet sich ihre
Existenz auf die Arbeit der tieferstehenden, die sie ihrerseits nicht mit
Arbeit für diese, sondern nur mit Geld vergelten.
Diese Vorstellung ist nun ganz unzutreffend, seit die Bedürfnisse der
unteren Massen durch den Großbetrieb gedeckt werden, der unzählige
wissenschaftliche, technische, organisatorische Energien oberster Stufen
in seinen Dienst gestellt hat.
Der große Chemiker, der in seinem Laboratorium über Darstellung der
Teerfarben sinnt, arbeitet für die Bäuerin, die beim Krämer sich das
bunteste Halstuch aussucht; wenn der Großkaufmann in weltumspannenden
Spekulationen amerikanisches Getreide in Deutschland importiert, so ist er
der Diener des ärmsten Proletariers; der Betrieb einer Baumwollspinnerei,
in der Intelligenzen hohen Ranges tätig sind, ist von Abnehmern in der
tiefsten sozialen Schicht abhängig.
Diese Rückläufigkeit der Dienste, in der die niederen Klassen die Arbeit
der höheren für sich kaufen, liegt jetzt schon in unzählbaren, unser
ganzes Kulturleben bestimmenden Beispielen vor.
Möglich aber ist diese Erscheinung nur durch die Objektivierung, die die
Produktion sowohl dem produzierenden wie dem konsumierenden Subjekt
gegenüber ergriffen hat und durch die sie jenseits der sozialen oder
sonstigen Unterschiede dieser beiden steht.
Dies Indienstnehmen der höchsten Kulturproduzenten seitens der
niedrigststehenden Konsumenten bedeutet eben, daß kein Verhältnis
zwischen ihnen besteht, sondern daß ein Objekt zwischen sie geschoben
ist, an dessen einer Seite gleichsam die Einen arbeiten, während die
Anderen von der anderen her es konsumieren, und das beide trennt, indem es
sie verbindet.
Die Grundtatsache selbst ist ersichtlich eine Arbeitsteilung: die
Technik der Produktion ist so spezialisiert, daß die Handhabung ihrer
verschiedenen Teile nicht nur an immer mehr, sondern auch an immer
verschiedenere Personen übergeht - bis es eben schließlich (> 518) dahin kommt, daß ein Teil der Arbeit an den niedrigsten
Bedürfnisartikeln von den höchststehenden Individuen geleistet wird,
gerade wie umgekehrt, in ganz entsprechender Objektivierung, die
maschinentechnische Arbeitszerlegung bewirkt, daß an den raffiniertesten
Produkten der höchsten Kultur die rohesten Hände mitarbeiten (man denke
etwa an eine heutige Druckerei im Unterschied gegen die Herstellung der
Bücher vor Erfindung der Buchdruckerkunst).
An dieser Umkehrung des für typisch geltenden Verhältnisses zwischen
oberen und tieferen Gesellschaftsschichten tritt also aufs klarste heraus:
die Arbeitsteilung bewirkt, daß jene für diese arbeiten, die Form aber,
in der dies allein geschehen kann, ist das völlige Objektivwerden der
Produktionsleistung selbst, sowohl den einen wie den anderen als Subjekten
gegenüber.
Jene Umkehrung ist nichts als eine äußerste Konsequenz des
Zusammenhanges, der zwischen der Arbeitsteilung und der Objektivierung der
Kulturinhalte besteht.
Hat bisher die Arbeitsteilung als eine Spezialisierung der
persönlichen Tätigkeiten gegolten, so wirkt die Spezialisierung der
Gegenstände selbst nicht weniger dazu, sie in jene Distanz zu den
Subjekten zu stellen, die als Selbständigkeit des Objekts erscheint, als
Unfähigkeit des Subjekts, jenes sich zu assimilieren und seinem eigenen
Rhythmus zu unterwerfen.
Dies gilt zunächst für die Arbeitsmittel.
Je mehr diese differenziert, aus einer Vielheit spezialisierter Teile
zusammengesetzt sind, desto weniger kann die Persönlichkeit des
Arbeitenden sich durch sie hindurch ausdrücken, desto weniger ist seine
Hand im Produkte zu erkennen.
Die Werkzeuge, mit denen die Kunst arbeitet, sind relativ ganz
undifferenziert und geben deshalb der Persönlichkeit den weitesten
Spielraum, sich mittels ihrer zu entfalten; sie stellen sich ihr nicht
gegenüber wie die industrielle Maschine, die durch ihre spezialistische
Komplikation selbst gleichsam die Form personaler Festigkeit und
Umschriebenheit bat, so daß der Arbeiter sie nicht mehr wie jene, an sich
unbestimmteren, mit seiner Persönlichkeit durchdringen kann.
Die Werkzeuge des Bildhauers sind seit Jahrtausenden nicht aus ihrer
völligen Unspezialisiertheit heraus weiter entwickelt worden, und wo dies
bei einem Kunstmittel allerdings und so entschieden geschehen ist, wie bei
dem Klavier, da ist sein Charakter auch ein sehr objektiver, der schon
viel zu viel für sich ist und deshalb dem Ausdruck der Subjektivität
eine viel härtere Schranke setzt, als z. B. die an sich technisch viel
weniger differenzierte Geige.
Der automatische Charakter der modernen Maschine ist der Erfolg einer
weit getriebenen Zerlegung und Spezialisierung von Stoffen und Kräften,
gerade wie (> 519) der gleiche Charakter einer ausgebildeten
Staatsverwaltung sich nur auf Grund einer raffinierten Arbeitsteilung
unter ihren Trägern erheben kann.
Indem die Maschine aber zur Totalität wird, einen immer größeren
Teil der Arbeit auf sich nimmt, steht sie ebenso dem Arbeiter als eine
autonome Macht gegenüber, wie er ihr gegenüber nicht als
individualisierte Persönlichkeit, sondern nur als Ausführer einer
sachlich vorgeschriebenen Leistung wirkt.
Man vergleiche etwa den Arbeiter in der Schuhfabrik mit dem
Kundenschuhmacher, um zu sehen, wie sehr die Spezialisierung des Werkzeugs
die Wirksamkeit der persönlichen Qualitäten, hoch- wie minderwertiger,
lähmt, und Objekt und Subjekt als voneinander ihrem Wesen nach
unabhängige Potenzen sich entwickeln läßt.
Während das undifferenzierte Werkzeug wirklich eine bloße Fortsetzung
des Armes ist, steigt überhaupt erst das spezialisierte in die reine
Kategorie des Objektes auf.
In sehr bezeichnender und auf der Hand liegender Weise vollzieht sich
dieser Prozeß auch an den Kriegswerkzeugen; seinen Gipfel bildet dann das
spezialisierteste und als Maschine vollkommenste, das Kriegsschiff: an ihm
ist die Objektivierung so weit vorgeschritten, daß in einem modernen
Seekrieg überhaupt kaum noch ein anderer Faktor entscheidet, als das
bloße Zahlenverhältnis der Schiffe gleicher Qualität!
Der Objektivierungsprozeß der Kulturinhalte, der, von der
Spezialisation dieser getragen, zwischen dem Subjekt und seinen
Geschöpfen eine immer wachsende Fremdheit stiftet, steigt nun endlich in
die Intimitäten des täglichen Lebens hinunter.
Die Wohnungseinrichtungen, die Gegenstände, die uns zu Gebrauch und
Zierde umgeben, waren noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts,
von den Bedürfnissen der unteren bis zu denen der Schichten der höchsten
Bildung hinauf, von relativ großer Einfachheit und Dauerhaftigkeit.
Hierdurch entstand jenes »Verwachsen« der Persönlichkeiten mit den
Gegenständen ihrer Umgebung, das schon der mittleren Generation heute als
eine Wunderlichkeit der Großeltern erscheint.
Diesen Zustand hat die Differenzierung der Objekte nach drei
verschiedenen Dimensionen hin, und immer mit dem gleichen Erfolge,
unterbrochen.
Zunächst ist es schon die bloße Vielheit sehr spezifisch gestalteter
Gegenstände, die ein enges, sozusagen persönliches Verhältnis zu den
einzelnen erschwert: wenige und einfache Gerätschaften sind der
Persönlichkeit leichter assimilierbar, während eine Fülle von
Mannigfaltigkeiten dem Ich gegenüber gleichsam Partei bildet; das findet
seinen Ausdruck in der Klage der Hausfrauen, daß die Pflege der
Wohnungsausstattung einen förmlichen Fetischdienst fordere und in dem
gelegentlich hervorbrechenden Haß (> 520) tieferer und ernsterer
Naturen gegen die zahllosen Einzelheiten, mit denen wir unser Leben
behängen.
Der erstere Fall ist deshalb kulturell so bezeichnend, weil die
sorgende und erhaltende Tätigkeit der Hausfrau früher umfänglicher und
anstrengender war als jetzt.
Allein zu jenem Gefühl der Unfreiheit den Objekten gegenüber kam es
nicht, weil sie der Persönlichkeit enger verbunden waren.
Die wenigen, undifferenzierteren Gegenstände konnte diese eher mit sich
durchdringen, sie setzten ihr nicht die Selbständigkeit entgegen wie ein
Haufe spezialisierter Dinge.
Diese erst, wenn wir ihnen dienen sollen, empfinden wir als eine
feindliche Macht.
Wie Freiheit nichts Negatives ist, sondern die positive Erstreckung des
Ich über ihm nachgebende Objekte, so ist umgekehrt Objekt für uns nur
dasjenige, woran unsere Freiheit erlahmt, das heißt wozu wir in Beziehung
stehen, ohne es doch unserem Ich assimilieren zu können.
Das Gefühl, von den Äußerlichkeiten erdrückt zu werden, mit denen
das moderne Leben uns umgibt, ist nicht nur die Folge, sondern auch die
Ursache davon, daß sie uns als autonome Objekte gegenübertreten.
Das Peinliche ist, daß diese vielfachen umdrängenden Dinge uns im
Grunde eben gleichgültig sind, und zwar aus den spezifisch
geldwirtschaftlichen Gründen der unpersönlichen Genesis und der leichten
Ersetzbarkeit.
Daß die Großindustrie den sozialistischen Gedanken nährt, beruht
nicht nur auf den Verhältnissen ihrer Arbeiter, sondern auch auf der
objektiven Beschaffenheit ihrer Produkte: der moderne Mensch ist von
lauter so unpersönlichen Dingen umgeben, daß ihm die Vorstellung einer
überhaupt anti-individuellen Lebensordnung immer näher kommen muß -
freilich auch die Opposition dagegen.
Die Kulturobjekte erwachsen immer mehr zu einer in sich
zusammenhängenden Welt, die an immer wenigeren Punkten auf die subjektive
Seele mit ihrem Wollen und Fühlen hinuntergreift.
Und dieser Zusammenhang wird von einer gewissen Selbstbeweglichkeit der
Objekte getragen.
Man hat hervorgehoben, daß der Kaufmann, der Handwerker, der Gelehrte
heute weit weniger beweglich ist, als etwa in der Reformationszeit.
Materielle wie geistige Objekte bewegen sich jetzt eben selbständig,
ohne personalen Träger oder Transporteur.
Dinge und Menschen sind auseinandergetreten.
Der Gedanke, die Arbeitsmühe, die Geschicklichkeit haben durch ihre
steigende Investierung in objektiven Gebilden, Büchern und Waren, die
Möglichkeit einer Eigenbewegung erhalten, für die der moderne
Fortschritt in Transportmitteln nur die Verwirklichung oder der Ausdruck
ist.
Durch ihre eigene impersonale Beweglichkeit erst vollendet sich die
Differenzierung der Objekte vom Menschen zu selbstgenugsamem
Zusammenschluß.
Das restlose Beispiel für diesen mechanischen (> 521) Charakter der
modernen Wirtschaft ist der Warenautomat; mit ihm wird nun auch aus dem
Detailverkauf, in dem noch am längsten der Umsatz durch Beziehung von
Person zu Person getragen worden ist, die menschliche Vermittelung völlig
ausgeschaltet und das Geldäquivalent maschinenartig in die Ware
umgesetzt.
Auf anderer Stufe wird dasselbe Prinzip auch schon in dem
Fünfzig-Pfennig-Bazar und ähnlichen Geschäften wirksam, in denen der
wirtschaftspsychologische Prozeß nicht von der Ware zum Preise, sondern
vom Preise zur Ware geht.
Denn hier werden durch die apriorische Preisgleichheit sämtlicher
Gegenstände vielerlei Überlegungen und Abwägungen des Käufers,
vielerlei Bemühungen und Explikationen des Verkäufers wegfallen und so
der wirtschaftliche Akt seine personalen Instanzen sehr schnell und gegen
sie indifferent durchlaufen.
Auf den gleichen Erfolg wie diese Differenzierung im Nebeneinander führt
die im Nacheinander.
Der Wechsel der Mode unterbricht jenen inneren Aneignungs- und
Einwurzelungsprozeß zwischen Subjekt und Objekt, der es zur Diskrepanz
beider nicht kommen läßt.
Die Mode ist eines jener gesellschaftlichen Gebilde, die den Reiz von
Unterschied und Abwechslung mit dem von Gleichheit und Zusammenschluß in
einer besonderen Proportion vereinen.
Jede Mode ist ihrem Wesen nach Klassenmode, das heißt sie bezeichnet
jedesmal eine Gesellschaftsschicht, die sich durch die Gleichheit ihrer
Erscheinung ebensowohl nach innen einheitlich zusammenschließt, wie nach
außen gegen andere Stände abschließt.
Sobald nun die untere Schicht, die es der oberen nachzutun sucht,
ihrerseits die Mode aufgenommen hat, wird sie von der letzteren verlassen,
und eine neue kreiert.
Deshalb hat es freilich wohl überall Moden gegeben, wo soziale
Unterschiede sich einen Ausdruck in der Sichtbarkeit gesucht haben.
Allein die soziale Bewegung seit hundert Jahren hat ihr ein ganz
besonderes Tempo verliehen.
Und zwar einerseits durch das Flüssigwerden der klassenmäßigen
Schranken und das vielfache individuelle, manchmal auch ganze Gruppen
umfassende Aufsteigen von einer Schicht in die höhere, andrerseits durch
die Vorherrschaft des dritten Standes.
Der erstere Umstand bewirkt, daß die Moden der in dieser Hinsicht
führenden Schichten äußerst schnell wechseln müssen, denn das
Nachdrängen der unteren, das der bestehenden Mode ihren Sinn und Reiz
raubt, erfolgt jetzt sehr bald.
Das zweite Moment wird dadurch wirksam, daß der Mittelstand und die
städtische Bevölkerung, im Gegensatz zu dem Konservativismus der
höchsten und der bäurischen Stände, der der eigentlichen Variabilität
ist.
Unruhige, nach Abwechslung drängende Klassen und Individuen (> 522)
finden in der Mode, der Wechsel- und Gegensatzform des Lebens, das Tempo
ihrer eigenen psychischen Bewegungen wieder.
Wenn die heutigen Moden lange nicht so extravagant und kostspielig sind
wie die früherer Jahrhunderte, dafür aber sehr viel kürzere Lebensdauer
haben, so liegt dies daran, daß sie viel weitere Kreise in ihren Bann
ziehen, daß es den Tieferstehenden jetzt sehr viel leichter gemacht
werden muß, sie sich anzueignen, und daß ihr eigentlicher Sitz der
wohlhabende Bürgerstand geworden ist.
Der Erfolg dieses Umsichgreifens der Mode, sowohl in Hinsicht der
Breite wie ihres Tempos, ist, daß sie als eine selbständige Bewegung
erscheint, als eine objektive, durch eigene Kräfte entwickelte Macht, die
ihren Weg un-abhängig von jedem Einzelnen geht.
So lange die Moden - und es handelt sich hier keineswegs nur um
Kleidermoden - noch relativ längere Zeit dauerten und relativ enge Kreise
zusammenhielten, mochte es zu einem sozusagen persönlichen Verhältnis
zwischen dem Subjekt und den einzelnen Inhalten der Mode kommen.
Die Schnelligkeit ihres Wechsels - also ihre Differenzierung im
Nacheinander - und der Umfang ihrer Verbreitung lösen diesen Konnex, und
wie es mit manchen anderen sozialen Palladien in der Neuzeit geht, so auch
hier: die Mode ist weniger auf den Einzelnen, der Einzelne weniger auf die
Mode angewiesen, ihre Inhalte entwickeln sich wie eine evolutionistische
Welt für sich.
Wenn so die Differenzierung allverbreiteter Kulturinhalte nach den
formalen Seiten des Neben- und Nacheinander sie zu einer selbständigen
Objektivität zu gestalten hilft, so will ich nun, drittens, von den
inhaltlich in diesem Sinne wirksamen Momenten ein einzelnes anführen.
Ich meine die Vielheit der Stile, mit denen die täglich anschaubaren
Objekte uns entgegentreten - vom Häuserbau bis zu Buchausstattungen, von
Bildwerken bis zu Gartenanlagen und Zimmereinrichtungen, in denen
Renaissance und Japonismus, Barock und Empire, Prärafaelitentum und
realistische Zweckmäßigkeit sich nebeneinander anbauen.
Dies ist der Erfolg der Ausbreitung unseres historischen Wissens,
welche nun wieder in Wechselwirkung mit jener hervorgehobenen
Variabilität des modernen Menschen steht.
Zu allem historischen Verständnis gehört eine Biegsamkeit der Seele,
eine Fähigkeit, sich in die von dem eigenen Zustand abweichendsten
seelischen Verfassungen hineinzufühlen und sie in sich nachzuformen -
denn alle Geschichte, mag sie noch so sehr von Sichtbarkeiten handeln, hat
Sinn und Verstandenwerden nur als Geschichte zum Grunde liegender
Interessen, Gefühle, Strebungen: selbst der historische Materialismus ist
nichts als eine psychologische Hypothese.
Damit einem der Inhalt der Geschichte zum Eigentum werde, (> 523)
bedarf es deshalb einer Bildsamkeit, Nachbildsamkeit der auffassenden
Seele, einer innerlichen Sublimierung der Variabilität.
Die historisierenden Neigungen unseres Jahrhunderts, seine
unvergleichliche Fähigkeit, das Fernliegendste - im zeitlichen wie im
räumlichen Sinne - zu reproduzieren und lebendig zu machen, ist nur die
Innenseite der allgemeinen Steigerung seiner Anpassungsfähigkeit und
ausgreifenden Beweglichkeit.
Daher die verwirrende Mannigfaltigkeit der Stile, die von unserer
Kultur aufgenommen, dargestellt, nachgefühlt werden.
Wenn nun jeder Stil wie eine Sprache für sich ist die besondere Laute,
besondere Flexionen, eine besondere Syntax hat, um das Leben
auszudrücken, so tritt er unserem Bewußtsein offenbar so lange nicht als
eine autonome Potenz, die ein eigenes Leben lebt, entgegen, als wir nur
einen einzigen Stil kennen, in dem wir uns und unsere Umgebung gestalten.
Niemand empfindet an seiner Muttersprache, solange er sie unbefangen
redet, eine objektive Gesetzmäßigkeit, an die er sich wie an ein
jenseits seines Subjekts zu wenden hat, um von ihr die nach unabhängigen
Normen geprägte Ausdrucksmöglichkeit für seine Innerlichkeit zu
entlehnen.
Vielmehr, Ausgedrücktes und Ausdruck sind in diesem Fall unmittelbar
eines, und als ein selbständiges, uns gegenüberstehendes Sein empfinden
wir nicht nur die Muttersprache, sondern die Sprache überhaupt erst, wenn
wir fremde Sprachen kennen lernen.
So werden Menschen eines ganz einheitlichen, ihr ganzes Leben
umschließenden Stiles denselben auch in fragloser Einheit mit den
Inhalten desselben vorstellen.
Da sich alles, was sie bilden oder anschauen, ganz selbstverständlich
in ihm ausdrückt, so liegt gar keine psychologische Veranlassung vor, ihn
von den Stoffen dieses Bildens und Anschauens gedanklich zu trennen und
als ein Gebilde eigener Provenienz dem Ich gegenüberzustellen.
Erst eine Mehrheit der gebotenen Stile wird den einzelnen von seinem
Inhalt lösen, derart, daß seiner Selbständigkeit und von uns
unabhängigen Bedeutsamkeit unsere Freiheit, ihn oder einen anderen zu
wählen, gegenübersteht.
Durch die Differenzierung der Stile wird jeder einzelne und damit der
Stil überhaupt zu etwas Objektivem, dessen Gültigkeit vom Subjekte und
dessen Interessen, Wirksamkeiten, Gefallen oder Mißfallen unabhängig
ist.
Daß die sämtlichen Anschauungsinhalte unseres Kulturlebens in eine
Vielheit von Stilen auseinandergegangen sind, löst jenes ursprüngliche
Verhältnis zu ihnen, in dem Subjekt und Objekt noch gleichsam
ungeschieden ruhen, und stellt uns einer Welt nach eigenen Normen
entwickelter Ausdrucksmöglichkeiten, der Formen, das Leben überhaupt
auszudrücken, gegenüber, so daß eben diese Formen einerseits und unser
Subjekt andrerseits wie zwei Parteien sind, zwischen denen (> 524) ein
rein zufälliges Verhältnis von Berührungen, Harmonien und Disharmonien
herrscht.
Dies ist also ungefähr der Umkreis, in dem Arbeitsteilung und
Spezialisation, persönlichen wie sachlichen Sinnes, den großen
Objektivationsprozeß der modernsten Kultur tragen.
Aus all diesen Erscheinungen setzt sich das Gesamtbild zusammen, in dem
der Kulturinhalt immer mehr und immer gewußter objektiver Geist wird,
gegenüber nicht nur denen, die ihn aufnehmen, sondern auch denen, die ihn
produzieren.
In dem Maß, in dem diese Objektivation vorschreitet, wird die
wunderliche Erscheinung begreiflicher, von der wir ausgingen: daß die
kulturelle Steigerung der Individuen hinter der der Dinge - greifbarer wie
funktioneller wie geistiger - merkbar zurückbleiben kann.
Daß gelegentlich auch das Umgekehrte stattfindet, beweist die gleiche
gegenseitige Verselbständigung beider Formen des Geistes.
In etwas versteckter und umgebildeter Art liegt dies etwa in folgender
der Erscheinung.
Die bäuerliche Wirtschaft scheint in Norddeutschland nur bei einer Art
Anerbenrecht auf die Dauer erhaltbar, d. h. nur dann, wenn einer der Erben
den Hof übernimmt und die Miterben mit geringeren Quoten abfindet, als
sie nach dem Verkaufswert desselben bekommen würden.
Bei der Berechnung nach dem letzteren - der momentan den Ertragswert
weit übersteigt - wird der Hof bei der Abfindung derart mit Hypotheken
überlastet, daß nur ein ganz minderwertiger Betrieb möglich bleibt.
Dennoch fordert das moderne, individualistische Rechtsbewußtsein diese
mechanische, geldmäßige Gleichberechtigung aller Erben und gibt nicht
einem einzelnen Kinde den Vorteil, der doch zugleich die Bedingung
für den objektiv vollkommenen Betrieb wäre.
Zweifellos sind hierdurch oft Kulturerhöhungen einzelner Subjekte
erreicht worden, um den Preis, d ' die Kultur des Objekts relativ
zurückgeblieben ist.
Mit großer Entschiedenheit tritt eine derartige Diskrepanz an
eigentlichen sozialen' Institutionen auf, deren Evolution ein
schwerfälligeres und konservativeres Tempo zeigt, als die der Individuen.
Unter dieses Schema gehören die Fälle, die dahin zusammengefaßt
worden sind, daß die, Produktionsverhältnisse, nachdem sie eine
bestimmte Epoche über bestanden haben, von den Produktionskräften, die
sie selbst entwickelten, überflügelt werden, so daß sie den letzteren
keinen adäquaten Ausdruck und Verwendung mehr gestatten.
Diese Kräfte sind zum großen Teil personalen Wesens: was die
Persönlichkeiten zu leisten fähig oder zu wollen berechtigt sind, findet
keinen Platz mehr in den objektiven Formen der Betriebe.
Die erforderliche Umänderung dieser erfolgt immer erst, wenn die dahin
drängenden Momente (> 525) sich zu Massen angehäuft haben; bis dahin
bleibt die sachliche Organisierung der Produktion hinter der Entwicklung
der individuellen wirtschaftlichen Energien zurück.
Nach diesem Schema verlaufen viele Veranlassungen zur Frauenbewegung.
Die Fortschritte der modernen industriellen Technik haben
außerordentlich viele hauswirtschaftliche Tätigkeiten, die früher den
Frauen oblagen, außerhalb des Hauses verlegt, wo ihre Objekte billiger
und zweckmäßiger hergestellt werden.
Dadurch ist nun sehr vielen Frauen der bürgerlichen Klasse der aktive
Lebensinhalt genommen, ohne daß so rasch sich andere Tätigkeiten und
Ziele an die leergewordene Stelle eingeschoben hätten; die vielfache
»Unbefriedigtheit« der modernen Frauen, die Unverbrauchtheit ihrer
Kräfte, die zurückschlagend jede mögliche Störung oder Zerstörung
bewirken, ihr teils gesundes, teils krankhaftes Suchen nach Bewährungen
außerhalb des Hauses ist der Erfolg davon, daß die Technik in ihrer
Objektivität einen eigenen und schnelleren Gang genommen hat, als die
Entwicklungsmöglichkeiten der Personen.
Aus einem entsprechenden Verhältnis soll der vielfach unbefriedigende
Charakter moderner Ehen folgen.
Die festgewordenen, die Individuen zwingenden Formen und
Lebensgewohnheiten der Ehe stünden einer persönlichen Entwicklung der
Kontrahenten, insbesondere der der Frau gegenüber, die weit über jene
hinausgewachsen sei.
Die Individuen wären jetzt auf eine Freiheit, ein Verständnis, eine
Gleichheit der Rechte und Ausbildungen angelegt, für die das eheliche
Leben, wie es nun einmal traditionell und objektiv gefestigt ist, keinen
rechten Raum gäbe.
Der objektive Geist der Ehe, so könnte man dies formulieren, sei
hinter den subjektiven Geistern an Entwicklung zurückgeblieben.
Nicht anders das Recht: von gewissen Grundtatsachen aus logisch
entwickelt, in einem Kodex fester Gesetze niedergelegt, von einem
besonderen Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den Personen
empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber jene
Starrheit, durch die es sich schließlich wie eine ewige Krankheit
forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohltat zur Plage wird.
Sobald die religiösen Impulse sich zu einem Schatz bestimmter Dogmen
kristallisiert haben und diese arbeitsteilig durch eine, von den
Gläubigen gesonderte, Körperschaft getragen werden, geht es der Religion
nicht besser.
Behält man diese relative Selbständigkeit des Lebens im Auge, mit der
die objektiv gewordenen Kulturgebilde, der Niederschlag der
geschichtlichen Elementarbewegungen, den Subjekten gegenüberstehen, so
dürfte die Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte viel von ihrer
Ratlosigkeit verlieren.
Daß sich Beweis und Gegenbeweis mit gleicher Plausibilität an jede
Beantwortung derselben (> 526) knüpfen läßt, liegt vielleicht oft
daran, daß beide gar nicht denselben Gegenstand haben.
So kann man z. B. mit demselben Recht den Fortschritt wie die
Unveränderlichkeit in der sittlichen Verfassung behaupten, wenn man
einmal auf die festgewordenen Prinzipien, die Organisationen, die in das
Bewußtsein der Gesamtheit aufgestiegenen Imperative hinsicht, das andere
Mal auf das Verhältnis der Einzelpersonen zu diesen objektiven Idealen,
die Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit, mit der sich das Subjekt in
sittlicher Hinsicht benimmt.
Fortschritte und Stagnation können so unmittelbar nebeneinander
liegen, und zwar nicht nur in verschiedenen Provinzen des geschichtlichen
Lebens, sondern in einer und derselben, je nachdem man die Evolution der
Subjekte oder die der Gebilde ins Auge faßt, die zwar aus den Beiträgen
der Individuen entstanden sind, aber ein eigenes, objektiv geistiges Leben
gewonnen haben.
Nun sich neben die Möglichkeit, daß die Entwicklung des objektiven
Geistes die des subjektiven überhole, die entgegengesetzte gestellt hat,
blicke ich noch einmal auf die Bedeutung der Arbeitsteilung für die
Verwirklichung der ersteren zurück.
Jene doppelte Möglichkeit ergibt sich, kurz zusammengefaßt, auf
folgende Weise.
Daß der in Produktionen irgendwelcher Art vergegenständlichte Geist
dem einzelnen Individuum überlegen ist, liegt an der Komplikation der
Herstellungsweisen, die außerordentlich viel historische und sachliche
Bedingungen, Vor- und Mitarbeiter voraussetzen.
Dadurch kann das Produkt Energien, Qualitäten, Steigerungen in sich
sammeln, die ganz außerhalb des einzelnen Produzenten liegen.
Dies aber wird insbesondere in der spezifisch modernen Technik als
Folge der Arbeitsteilung auftreten.
Solange das Produkt im wesentlichen von einem einzelnen Produzenten
oder durch eine wenig spezialisierte Kooperation hergestellt wurde, konnte
der in ihm objektivierte Gehalt an Geist und Kraft den der Subjekte nicht
erheblich übersteigen.
Erst eine raffinierte Arbeitsteilung macht das einzelne Produkt zur
Sammelstelle von Kräften, die aus einer sehr großen Anzahl von
Individuen auserlesen sind; so daß es, als Einheit betrachtet und mit
irgendwelchem Einzelindividuum verglichen, dieses jedenfalls nach einer
ganzen Reihe von Seiten hin überragen muß; und diese Aufhäufung von
Eigenschaften und Vollkommenheiten an dem Objekt, das ihre Synthese
bildet, geht ins unbegrenzte, während der Ausbau der Individualitäten
für jeden gegebenen Zeitabschnitt an der Naturbestimmtheit derselben eine
unverrückbare Schranke findet.
Aber wenn die Tatsache, daß das objektive Werk einzelne Seiten sehr
vieler Persönlichkeiten in sich einsaugt, ihm so eine objektiv
überragende Entwicklungsmöglichkeit gewährt, so versagt sie ihm (>
527) doch auch Vollkommenheiten, die sich gerade nur durch die Synthese
der Energien in einem Subjekt verwirklichen.
Der Staat und zwar insbesondere der moderne ist hier das umfassendste
Beispiel.
Wenn nämlich der Rationalismus es als logisch widerspruchsvoll
gebrandmarkt hat, daß der Monarch, der doch nur ein einzelner Mensch sei,
über eine ungeheure Anzahl anderer Menschen herrsche, so ist dabei
übersehen, daß die letzteren, insofern sie eben diesen Staat unter dem
Monarchen bilden, gar nicht in demselben Sinn »Menschen« sind, wie
dieser es ist.
Sie geben vielmehr nur einen gewissen Bruchteil ihres Seins und ihrer
Kräfte in den Staat hinein, mit anderen reichen sie in andere Kreise, die
Gesamtheit ihrer Persönlichkeit wird überhaupt von keinem erfaßt.
Diese aber setzt der Monarch in das Verhältnis ein, und also mehr als
jeder einzelne seiner Untertanen für sich.
Solange freilich das Regiment in dem Sinne unumschränkt ist, daß der
Herrscher unmittelbar über die Personen in dem ganzen Umfang ihres Seins
verfügen kann, mag jene Unverhältnismäßigkeit bestehen.
Der moderne Rechtsstaat dagegen grenzt den Bezirk genau ab, mit dein
die Personen in die Staatssphäre hineinfallen, er differenziert jene, um
aus gewissen aus-gesonderten Elementen ihrer sich selbst zu bilden.
Je entschiedener diese Differenzierung ist, als ein desto objektiveres,
von der Form individueller Seelenhaftigkeit gelöstes Gebilde steht der
Staat dem Individuum gegenüber.
Daß er so eine Synthese aus den differenzierten Elementen der Subjekte
ist, macht ihn ersichtlich ebenso zu einem unterpersönlichen, wie zu
einem überpersönlichen Wesen.
Wie mit dem Staat aber verhält es sich mit allen Gebilden des objektiven
Geistes, die durch Zusammenfügung differenzierter individueller
Leistungen entstehen.
Denn so sehr diese an sachlich-geistigem Gehalt und Entwickelbarkeit
desselben jeden individuellen Intellekt übertreffen, so empfinden wir sie
doch in demselben Maß, in dem die Differenziertheit und Anzahl der
arbeitsteiligen Elemente zunimmt, als bloßen Mechanismus, dem die Seele
fehlt.
Aufs deutlichste tritt hier der Unterschied hervor, den man als den von
Geist und Seele bezeichnen kann.
Geist ist der objektive Inhalt dessen, was innerhalb der Seele in
lebendiger Funktion bewußt wird; Seele ist gleichsam die Form, die der
Geist, d. h. der logisch-begriffliche Inhalt des Denkens, für unsere
Subjektivität, als unsere Subjektivität, annimmt.
Der Geist in diesem Sinne ist deshalb nicht an die Gestaltung zur
Einheit gebunden, ohne die es keine Seele gibt.
Es ist, als ob die geistigen Inhalte irgendwie verstreut da wären und
erst die Seele führte sie in sich einheitlich zusammen, ungefähr wie die
unlebendigen Stoffe in den Organismus (> 528) und die Einheit seines
Lebens einbezogen werden.
Darin liegt die Größe wie die Grenze der Seele gegenüber den
einzelnen, in ihrer selbständigen Gültigkeit und sachlichen
Bedeutsamkeit betrachteten Inhalten ihres Bewußtseins.
In so leuchtender Vollkommenheit und restlosem Sich-Selbst-Genügen
auch Plato das Reich der Ideen zeichnen mag, die doch nichts anderes sind,
als die von aller Zufälligkeit des Vorgestelltwerdens gelösten
Sachinhalte des Denkens, und so unvollkommen, bedingt und dämmernd ihm
die Seele des Menschen mit ihrer blassen, verwischten, kaum erhaschten
Abspiegelung jener reinen Bedeutsamkeiten erscheinen mag - für uns ist
jene plastische Klarheit und logische Formbestimmtheit nicht der einzige
Wertmaßstab der Ideale und Wirklichkeiten.
Uns ist die Form persönlicher Einheit, zu der das Bewußtsein den
objektiven geistigen Sinn der Dinge zusammenführt, von unvergleichlichem
Wert: hier erst gewinnen sie die Reibung aneinander, die Leben und Kraft
ist, hier entwickeln sich erst jene dunklen Wännestrahlen des Gemütes,
für die die klare Perfektion rein sachlich bestimmter Ideen keinen Platz
und kein Herz hat.
So aber verhält es sich auch mit dem Geiste, der durch
Vergegenständlichung unserer Intelligenz sich der Seele als Objekt
gegenüberstellt.
Und zwar wächst der Abstand zwischen beiden offenbar in demselben
Maße, in dem der Gegenstand durch das arbeitsteilige Zusammenwirken einer
wachsenden Anzahl von Persönlichkeiten entsteht; denn in eben diesem Maß
wird es unmöglich, in das Werk die Einheit der Persönlichkeit
hineinzuarbeiten, hineinzuleben, an welche sich für uns gerade der Wert,
die Wärme, die Eigenart der Seele knüpft.
Daß dem objektiven Geist durch die moderne Differenziertheit seines
Zustandekommens eben diese Form der Seelenhaftigkeit fehlt - in engem
Zusammenhang mit dem mechanischen Wesen unserer Kulturprodukte - das mag
der letzte Grund der Feindseligkeit sein, mit der sehr individualistische
und vertiefte Naturen jetzt so häufig dem »Fortschritt der Kultur«
gegenüberstehen.
Und zwar um so mehr, als diese, durch die Arbeitsteilung bestimmte
Entwicklung der objektiven Kultur eine Seite oder Folge der allgemeinen
Erscheinung ist, die man so auszudrücken pflegt: daß das Bedeutende in
der gegenwärtigen Epoche nicht mehr durch die Individuen, sondern durch
die Massen geschehe.
Die Arbeitsteilung bewirkt in der Tat, daß der einzelne Gegenstand
schon ein Produkt der Masse ist; die, unsere Arbeitsorganisation
bestimmende, Zerlegung der Individuen in ihre einzelnen Energien und die
Zusammenführung des so Herausdifferenzierten zu einem objektiven
Kulturprodukt hat zur Folge, daß in diesem einzelnen um so weniger Seele
ist, je mehr Seelen an seiner Herstellung beteiligt (> 529) waren.
Die Pracht und Größe der modernen Kultur zeigt so einige Analogie mit
jenem strahlenden Ideenreiche Platos, in dem der objektive Geist der Dinge
in makelloser Vollendung wirklich ist, dem aber die Werte der
eigentlichen, nicht in Sachlichkeiten auflösbaren Persönlichkeit fehlen
- ein Mangel, den alles Bewußtsein des fragmentarischen, irrationalen,
ephemeren Charakters der letzteren nicht unfühlbar machen kann.
Ja, die personale Seelenhaftigkeit besitzt als bloße Form einen Wert,
der sich neben aller Minderwertigkeit und Kontraidealität ihres
jeweiligen Inhalts behauptet; sie bleibt als eine eigentümliche
Bedeutsamkeit des Daseins, all seiner Objektivität gegenüber, selbst in
den Fällen bestehen, von denen wir ausgingen und in denen die
individuell-subjektive Kultur einen Rückschritt zeigt, während die
objektive fortschreitet.
Für jede Kulturgemeinschaft ist offenbar das Verhältnis, in dem ihr
objektiv gewordener Geist und seine Entwicklung zu den subjektiven
Geistern steht, von äußerster Wichtigkeit, und zwar gerade nach der
Seite ihres Lebensstiles hin: denn wenn der Stil die Bedeutung hat, eine
beliebige Verschiedenheit von Inhalten sich formgleich ausdrücken zu
lassen, so kann doch sicher die Relation zwischen objektivem und
subjektivem Geist in bezug auf Quantität, Höhenmaß, Entwicklungstempo
bei sehr verschiedenen Inhalten des kulturellen Geistes dennoch die
gleiche sein.
Gerade die allgemeine Art, wie das Leben sich abspielt, der Rahmen, den
die soziale Kultur den Impulsen des Individuums darbietet, wird durch
Fragen wie diese umschrieben: ob der Einzelne sein Innenleben in Nähe
oder in Fremdheit zu der objektiven Kulturbewegung seiner Zeit weiß, ob
er diese als eine überlegene, von der er gleichsam nur den Saum des
Gewandes berühren kann, empfindet, oder seinen personalen Wert allem
verdinglichten Geiste überlegen; ob innerhalb seines eigenen
Geisteslebens die objektiven, historisch gegebenen Elemente eine Macht
eigener Gesetzmäßigkeit sind, so daß diese und der eigentliche Kern
seiner Persönlichkeit sich wie unabhängig voneinander entwickeln, oder
ob die Seele sozusagen Herr im eigenen Hause ist oder wenigstens zwischen
ihrem innersten Leben und dem, was sie als impersonale Inhalte in dasselbe
aufnehmen muß, eine Harmonie in bezug auf Höhe, Sinn und Rhythmus
herstellt.
Diese abstrakten Formulierungen zeichnen doch das Schema für
unzählige konkrete Interessen und Stimmungen des Tages und des Lebens und
damit also das Maß, in dem die Beziehungen zwischen objektiver und
subjektiver Kultur den Stil des Daseins bestimmen.
Wurde nun die gegenwärtige Gestaltung dieses Verhältnisses (> 530)
von der Arbeitsteilung getragen, so ist sie auch ein Abkömmling der
Geldwirtschaft.
Und zwar einmal, weil die Zerlegung der Produktion in sehr viele
Teilleistungen eine mit absoluter Genauigkeit und Zuverlässigkeit
funktionierende Organisation fordert, wie sie, seit dem Aufhören der
Sklavenarbeit, nur bei Geldentlohnung der Arbeiter herstellbar ist.
Jede anders vermittelte Beziehung zwischen Unternehmer und Arbeiter
würde unberechenbarere Elemente enthalten, teils weil naturales Entgelt
nicht so einfach beschaffbar und genau bestimmbar ist, teils weil nur das
reine Geldverhältnis den bloß sachlichen und automatischen Charakter
hat, ohne den sehr differenzierte und komplizierte Organisationen nicht
auskommen.
Und dann, weil der wesentliche Entstehungsgrund des Geldes überhaupt
in dem Maße wirksamer wird, in dem die Produktion sich mehr
spezialisiert.
Denn es handelt sich doch im wirtschaltlichen Verkehr darum, daß der
eine fortgibt, was der andere begehrt, wenn dieser andere dem ersteren
dasselbe tut.
Jene Sittenregel: den Menschen zu tun, wovon man wünscht, daß sie es
einem tun - findet das umfassendste Beispiel ihrer formalen Verwirklichung
an der Wirtschaft.
Wenn nun ein Produzent für den Gegenstand A, den er in Tausch geben
will, auch einen Abnehmer bereit findet, so wird der Gegenstand B, den
dieser letztere dagegen zu geben imstande ist, jenem häufig gar nicht
erwünscht sein.
Daß so die Verschiedenheit der Begehrungen zwischen zwei Personen
nicht immer mit der Verschiedenheit der Produkte zusammenfällt, die sie
beide anzubieten haben, fordert bekanntlich die Einschiebung eines
Tauschmittels; so daß, wenn die Besitzer von A und von B sich nicht über
unmittelbaren Tausch einigen können, der erstere sein A gegen Geld
fortgibt, für das er sich nun das ihm erwünschte C verschaffen kann,
während der Besitzer von B das Geld für den Kauf von A dadurch
beschafft, daß er mit seinem B einem Dritten gegenüber ebenso verfährt.
Da es also die Verschiedenheit der Produkte, bzw. der auf sie
gerichteten Begehrungen ist, um derentwillen es überhaupt zum Geld kommt,
so wird seine Rolle ersichtlich um so größer und unentbehrlicher werden,
je verschiedenartigere Gegenstände der Verkehr einschließt; oder, von
der anderen Seite gesehen: zu einer erheblichen Spezifikation der
Leistungen kann es überhaupt erst kommen, wenn man nicht mehr auf
unmittelbaren Austausch angewiesen ist.
Die Chance, daß der Abnehmer eines Produkts seinerseits gerade ein
Objekt anzubieten habe das jenem Produzenten genehm ist, sinkt in dem
Maße, in dem die Spezifizierung der Produkte und die der menschlichen
Wünsche steigt.
Es ist nach dieser Richtung hin also gar kein neu eintretendes Moment,
das die moderne Differenzierung an die Alleinherrschaft (> 531) des
Geldes knüpft; sondern die Verbindung zwischen beiden Kulturwerten findet
schon in der Tiefe ihrer Wurzeln statt, und daß die Verhältnisse der
Spezialisation, die ich schilderte, durch ihre Wechselwirkung mit der
Geldwirtschaft eine völlige historische Einheit mit ihr bilden - das ist
nur die graduelle Steigerung einer mit dem Wesen beider gegebenen
Synthese.
Durch diese Vermittlung hindurch knüpft sich also der Stil des Lebens,
insoweit er von dem Verhältnis zwischen objektiver und subjektiver Kultur
abhängig ist, an den Geldverkehr.
Und zwar wird hierbei das Wesen des letzteren völlig durch den Umstand
enthüllt, daß er sowohl das Übergewicht des objektiven Geistes über
den subjektiven, wie auch die Reserve, unabhängige Steigerung und
Eigenentwicklung des letzteren trägt.
Was die Kultur der Dinge zu einer so überlegenen Macht gegenüber der
der Einzelpersonen werden läßt, das ist die Einheit und autonome
Geschlossenheit, zu der jene in der Neuzeit aufgewachsen ist.
Die Produktion, mit ihrer Technik und ihren Ergebnissen, erscheint wie
ein Kosmos mit festen, sozusagen logischen Bestimmtheiten und
Entwicklungen, der dem Individuum gegenübersteht, wie das Schicksal es
der Unstätheit und Unregelmäßigkeit unseres Willens tut.
Dieses formale Sich-selbst-gehören, dieser innere Zwang, der die
Kulturinhalte zu einem Gegenbild des Naturzusammenhanges einigt, wird erst
durch das Geld wirklich: das Geld funktioniert einerseits als das
Gelenksystem dieses Organismus; es macht seine Elemente gegeneinander
verschiebbar, stellt ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit und
Fortsetzbarkeit aller Impulse zwischen ihnen her.
Es ist andrerseits dem Blute zu vergleichen, dessen kontinuierliche
Strömung alle Verästelungen der Glieder durchdringt, und, alle
gleichmäßig ernährend, die Einheit ihrer Funktionen trägt.
Und was das zweite betrifft: so ermöglicht das Geld, indem es zwischen
den Menschen und die Dinge tritt, jenem eine sozusagen abstrakte Existenz,
ein Freisein von unmittelbaren Rücksichten auf die Dinge und von
unmittelbarer Beziehung zu ihnen, ohne das es zu gewissen
Entwicklungschancen unserer Innerlichkeit nicht
käme; wenn der moderne Mensch unter günstigen Umständen eine Reserve
des Subjektiven, eine Heimlichkeit und Abgeschlossen-heit des
persönlichsten Seins - hier nicht im sozialen, sondern in einem tieferen,
metaphysischen Sinn - erringt, die etwas von dem religiösen Lebensstil
früherer Zeiten ersetzt, so wird das dadurch bedingt, daß das Geld uns
in immer steigendem Maße die unmittelbaren Berührungen mit den Dingen
erspart, während es uns doch zugleich ihre Beherrschung und die Auswahl
des uns Zusagenden unendlich erleichtert. (> 532)
Und deshalb mögen diese Gegenrichtungen, da sie nun einmal
eingeschlagen sind, auch einem Ideal absolut reinlicher Scheidung
zustreben: in dem aller Sachgehalt des Lebens immer sachlicher und
unpersönlicher wird, damit der nicht zu verdinglichende Rest desselben um
so persönlicher, ein um so unbestreitbareres Eigen des Ich werde.
Ein bezeichnender Einzelfall dieser Bewegung ist die Schreibmaschine;
das Schreiben, ein äußerlich-sachliches Tun, das doch in jedem Fall eine
charakteristisch-individuelle Form trägt, wirft diese letztere nun
zugunsten mechanischer Gleichförmigkeit ab.
Damit ist aber nach der anderen Seite hin das Doppelte erreicht: einmal
wirkt nun das Geschriebene seinem reinen Inhalte nach, ohne aus seiner
Anschaulichkeit Unterstützung oder Störung zu ziehen, und dann entfällt
der Verrat des Persönlichsten, den die Handschrift so oft begeht, und
zwar vermöge der äußerlichsten und gleichgültigsten Mitteilungen nicht
weniger als bei den intimsten.
So sozialisierend also auch alle derartigen Mechanisierungen wirken, so
steigern sie doch das verbleibende Privateigentum des geistigen Ich zu um
so eifersüchtigerer Ausschließlichkeit.
Freilich ist diese Vertreibung der subjektiven Seelenhaftigkeit aus
allem Äußerlichen dem ästhetischen Lebensideal ebenso feindlich, wie
sie dem der reinen Innerlichkeit günstig sein kann - eine Kombination,
die ebenso die Verzweiflung rein ästhetisch gestimmter Persönlichkeiten
an der Gegenwart erklärt, wie die leise Spannung, die zwischen derartigen
Seelen und solchen, die nur auf das innere Heil gerichtet sind, jetzt in
gleichsam unterirdischeren Formen - ganz anderen als zur Zeit Savonarolas
-aufwächst.
Indem das Geld ebenso Symbol wie Ursache der Vergleichgültigung und
Veräußerlichung alles dessen ist, was sich überhaupt vergleichgültigen
und veräußerlichen läßt, wird es doch auch zum Torhüter des
Innerlichsten, das sich nun in eigensten Grenzen ausbauen kann.
Inwieweit dies nun freilich zu jener Verfeinerung, Besonderheit, und
Verinnerlichung des Subjekts führt, oder ob es umgekehrt die
unterworfenen Objekte gerade durch die Leichtigkeit ihrer Erlangung zu
Herrschern über den Menschen werden läßt - das hängt nicht mehr vom
Gelde, sondern eben vom Menschen ab.
Die Geldwirtschaft zeigt sich auch hier in ihrer formalen Beziehung zu
sozialistischen Zuständen; denn was von diesen erwartet wird: die
Erlösung von dem individuellen Kampf ums Dasein, die Sicherung der
niedrigeren und die leichte Zugängigkeit der höheren Wirtschaftswerte -
dürfte gleichfalls die differenzierende Wirkung üben, daß ein gewisser
Bruchteil der Gesellschaft sich in eine bisher unerhörte und von allen
Gedanken an das Irdische entfernteste Höhe der (> 533) Geistigkeit
erhebt, während ein anderer Bruchteil gerade in einen ebenso unerhörten
praktischen Materialismus versänke.
Im großen und ganzen wird das Geld wohl am wirksamsten an denjenigen
Seiten unseres Lebens, deren Stil durch das Übergewicht der objektiven
Kultur über die subjektive bestimmt wird.
Daß es aber auch den umgekehrten Fall zu stützen sich nicht weigert,
das stellt Art und Umfang seiner historischen Macht in das hellste Licht.
Man könnte es höchstens nach mancher Richtung hin der Sprache
vergleichen, die sich ebenfalls den divergentesten Richtungen des Denkens
und Fühlens unterstützend, verdeutlichend, herausarbeitend leiht.
Es gehört zu jenen Gewalten, deren Eigenart gerade in dem Mangel an
Eigenart besteht, die aber dennoch das Leben sehr verschieden färben
können, weil das bloß Formale, Funktionelle, Quantitative, das ihre
Seinsart ist, auf qualitativ bestimmte Lebensinhalte und -richtungen
trifft und diese zur weiteren Zeugung qualitativ neuer Bildungen
bestimmt.
Seine Bedeutung für den Stil des Lebens wird dadurch, daß es beiden
möglichen Verhältnissen zwischen dem objektiven und dem subjektiven
Geist zur Steigerung und Reife hilft, nicht aufgehoben.
-> Teil 3
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