Wenn die Schweiz sich nach wie vor als demokratisches und föderalistisches
Staatswesen versteht, müsste sie logischerweise ein Mediensystem anstreben,
in dem alle Bürger(innen) und alle Regionen und Gemeinden dieselbe Chance
haben, ihre Ideen, Werte, Meinungen und Forderungen in der Öffentlichkeit zum
Ausdruck zu bringen.
Seit Jahrzehnten ist offensichtlich, dass dieses Ziel auf der
Grundlage der bisherigen Massenmedien immer weniger erreichbar ist.
Denn Presse, Film, Radio und Fernsehen haben gemeinsam, dass sie nur für
radiale Einwegkommunikation (von einem Sender zu vielen
passiven Empfängern) geeignet sind und deshalb in fataler Weise dazu
tendieren, durch Werbung, Propaganda (oder einfach durch selektive Auswahl
des Dargebotenen) den Einfluss von Eliten und die Autorität zentralistischer
Machtstrukturen zu verstärken. Demgegenüber sind die technischen
Möglichkeiten, um von Vielen zu Einem (oder von Vielen zu Vielen) zu
senden, auf einem viel primitiveren Niveau stehengeblieben.
Im Zeitalter der Pressekonzentration und der globalisierten
Fernsehnetze sind die Zugangschancen zur Öffentlichkeit ungleicher als fast
alle anderen Güter (Einkommen, Vermögen u.a.)
verteilt. Das für alle verbürgte Grundrecht der "Pressefreiheit"
beinhaltet für die Herren Murdoch und Turner die Möglichkeit, weltweite
Satellitenprogramme zu betreiben; für die meisten von uns aber nicht einmal
das Recht, einmal im Leben einen Leserbrief gedruckt zu sehen. Wenn man
von der NZZ absieht, hängt es in der Schweiz von
wenigen Verlegerfamilien ab, welche Tages- und Wochenblätter überhaupt noch
erscheinen und wer die Chance erhält, als bezahlter Redaktor oder Journalist
auf die öffentliche Meinungsbildung Einfluss zu nehmen. Sicher ist:
solche Medien werden vielerorts geschätzt, weil sie dafür sorgen, dass in Abstimmmungskampagnen unisono die Stimme der Vernunft
durchdringen kann, dass die Politiker sich der Kontrolle einer machtvollen
"vierten Gewalt" beugen müssen, und dass sich anlässlich von
Olympischen Spielen oder bei Trauerfeiern für prominente Blondinen die halbe
Menschheit kurzfristig zu einer konsensualen
Erlebnisgemeinschaft zusammenfindet.
Auf der andern Seite beklagen wir zurecht, dass die Standpunkte
wichtiger Minderheiten nicht zur Kenntnis genommen werden; dass vorzugsweise
über Vorgänge an der Spitze der nationalen Politik berichtet wird, während
Ereignisse in unteren Rängen (sowie auf Kantons- und Gemeindeebene)
unterbelichtet bleiben; dass Regionen wie das Oberwallis oder Unterengadin in
Radio und Fernsehen kaum zur Geltung kommen; dass es in immer mehr Städten
keine eigene Tageszeitung (geschweige den eine Mehrzahl konkurrierender
Blätter) mehr gibt; oder auch: dass wir als Schweizer kaum (sehenswerte)
Filme produzieren, in denen wir uns mit unserer Sprache und unseren
Alltagsgewohnheiten wiederkennen.
Die Wissenschaft spricht davon, dass ein immer drastischeres
"Gefälle der Selbstthematisierung": besteht: zwischen
·
grossen Ländern wie den USA, die alle Aspekte ihrer Kultur und
ihres sozialen Lebens in Filmen, Fernsehserien, Nachrichtensendungen usw. zum
Ausdruck bringen können;
und
·
Mikrostaaten wie z.B. Liechtenstein, die mangels eigener Radio-
und Fernsehprogramme auf schmalbrüstige Pressemedien angewiesen sind – oder
kleinen Gemeinden ohne Lokalzeitung, wo sich die politische Diskussion auf
Gespräche am Stammtisch oder in intransparenten
Insider-Zirkeln beschränkt.
Daraus ergibt sich das Paradox, dass die Menschen gerade ihren
kleinräumigeren Kollektiven, denen sie angehören, oft relativ randständig und
"entfremdet" gegenüberstehen. Viele Schweizer(innen) sind - z.B- als Neuzuzüger - selbst
über die wichtigsten aktuellen Vorgänge in ihrer Wohngemeinde nicht
informiert - und manche wären eher in der Lage, die deutsche Bundesregierung
als ihren Gemeindevorstand zu wählen, weil letzterer sich in keiner
Fernsehsendung präsentiert.
Im Lichte dieser Situation richten sich heute berechtigte
Hoffnungen auf die neuen weltweiten Computernetze, deren Hauptfunktion ja
darin besteht, ihren Nutzern unabhängig von Ort, Zeit und sozialen Kontrollen
äusserst niederschwellige Möglichkeiten zur
Selbstdarstellung in der globalen Öffentlichkeit zugänglich zu
machen, "Niederschwellig"
heisst nicht nur, dass nur geringe Finanzmittel und Kenntnisse nötig sind,
sondern vor allem auch: dass man nicht auf die Unterstützung irgendwelcher
Institutionen oder Organisationen angewiesen ist, die den Zugang zur Oeffentlichkeit kontrollieren. Keine Gemeinde oder
parteiinterne Splitterfaktion ist so klein und keine Bürgerinitiative oder
Vogelschutzvereinigung derart unbemittelt, dass sie nicht in der Lage wäre,
im Internet eigenständig ihre Existenz zu bezeugen und ihre
Gründungsgeschichte, Wertorientierungen, Zielsetzungen und Aktivitäten
"aus erster Hand" zu präsentieren. Manchen mikroskopischen
Gruppierungen kann kann überhaupt nur auf dem
Internet begegnen: z.B. der auf das Zürcher Oberland begrenzten
"Evangelisch-sozialen Partei" (ESP), die
sich ausschliesslich an linksgrün gesinnte evangelikale Christen wendet und
mit ihrem öffentlichen Auftritt vielleicht die Hoffnung verbindet, bei den
nächsten Wahlen eine von der Mutterpartei (EVP) getrennte Liste zu präsentieren.1
)
Die
relevante Frage ist hier nicht mehr: wer hat genug Macht und Geld, um sich
Zugang zu öffentlichen Publikationsmöglichkeiten zu verschaffen, sondern: wem
gelingt es, (z.B. durch gute Gestaltungsideen oder nützliche Informationen)
für seine Online-Präsentationen in der täglich wachsenden Fülle von
Netzangebote verbreitete Beachtung zu finden? Paradoxerweise stellt man
fest, dass ausgerechnet ein paar sehr kleine, wenig bekannte Gemeinden (z.B.
Lachen, Mümliswil oder Thayngen) mit
phantasievoll-attraktiven, gutbesuchten Angeboten vertreten sind, während
sich z.B. die Zürcher Stadtregierung noch nicht zu einem offiziellen
Webauftritt hat durchringen können.
Zweitens fällt auf, dass die offiziellen Websites der
mächtigsten politischen Akteure (Bund, Kanton Zürich, Bern oder Graubünden)
einen überaus nüchternen Eindruck machen und sich vorwiegend auf die Darstellung
offizieller Organe und Vorgänge beschränken, während z.B. einzelne
Bundesämter (BIGA, Amt für Energiewirtschaft), entlegenere Talregionen (z.B. Guldental, Emmental) oder Kleinkantone
(Appenzell-Innerhoden, Zug u.a.) ungleich
lebendiger wirken und von Trägerschaften konzipiert scheinen, die lustvoll
und hoffnungsfroh die neuen multimedialen Möglichkeiten des Cyberspace
erkunden.
Der
offensichtliche Grund dafür liegt darin, dass grosse politische Einheiten bei
ihrer Selbstdarstellung Mühe haben, weil vielfältige Interessen
berücksichtigen müssen, während es kleineren Regionen und Gemeinden ebenso
wie spezialisierten Ämtern viel leichter fällt, allgemein zustimmungsfähige
Präsentationsinhalte (z.B. lokale Kunstwerke und Naturschönheiten oder
interessante Spezialinformationen) zu präsentieren. So mag das Internet
dazu führen, dass sich die Menschen über vielfältige Spezialinstitutionen auf
ihre angestammte Heimat beziehen.: z.B. dass von Wellen der Nostalgie
heimgesuchte Auslandschweizer z.B. die Homepage ihrer ehemaligen
Gymnasialschule2) aufsuchen,
oder Arbeitslose regelmässig die Stellenbörse des kantonalen Arbeitsamts
konsultieren - um von dort zwanglos zu den Webangeboten weiterer kantonaler
Stellen zu surfen.
Mit
Blick auf die Schweiz erhält man drittens den Eindruck, dass Regionen
im sich konstituierenden helvetischen Cyberspace ein relativ starkes Gewicht
erhalten werden, obwohl (oder weil?) sie staatspolitisch (und auch sonst im
Gesellschaftsleben) sehr wenig bedeutsam sind. Einige Hinweise dafür
lassen sich der untenstehenden Wortzählung (vom Herbst 97) entnehmen, wo sich
zeigt, dass Webpages mit den Begriffen "Region" oder dem Wortstamm
"regional" zumindest in der deutschen Schweiz sehr viel häufiger
sind als solche, die auf die kantonale, kommunale oder europäische Ebene
Bezug nehmen. In der Westschweiz besteht zwischen regionalen und kantonalen
Referenzen eher ein Gleichgewicht, während die europäische Ebene sehr viel
stärker im Vordergrund steht.
Wortzählung
in sear.ch (25. September 1997):
Tatsächlich gibt es eine Vielzahl von Netzangeboten, die
explizit auf die Bevölkerung (oder Wirtschaft) einer Region ausgerichtet sind
(Emmental. Toggenburg, Haslital,
Seeland, Oberaargau, Oron, Vallée
de Joux, Poschiavo
etc.).Andere sind zwar in einer Zentralgemeinde verankert, legen aber Wert
darauf, die weitere Region rundherum mitzupräsentieren.3)
In der Vielfalt (und zeitlichen Variabilität)
dieser Angebote widerspiegelt sich eine gewisse Unsicherheit darüber, was
damit eigentlich bezweckt wird und wer primär angesprochen werden soll.
Bei den meisten stehen nüchterne Sachinformationen (über Veranstaltungen,
Beherbergung, gewerbliche Angebote, Verkehrsverbindungen, Verwaltungsstellen,
offene Stellen usw.) im Vordergrund: wobei durch eine möglichst breite
Diversifikation solcher Infos versucht wird, Netzsurfern mit sehr
unterschiedlichen (nicht voraussehbaren) Bedürfnissen etwas zu bieten.
Im Falle von "BEoberland" erstrecken sich
diese Hilfestellungen sogar auf eine Page zur "Geistigen
Lebenshilfe", auf der man (von einem ungenannt bleibenden Autor) z. B.
erfahren kann, dass das Leben unergründlich sei und seine Vollkommenheit sich
in der Unendlichkeit widerspiegle.4)
Auch bei völligem Fehlen identitätsstiftend-heimatlicher
Elemente ist überall das Interesse spürbar, der Region als Mittelpunkt
individuellen, sozialen und kulturellen Lebens mehr Bedeutung als bisher zu
verleihen: sei es, dass man in der Freizeit die in der Gegend stattfindenden
Sportveranstaltungen besucht und auf einen innerregionalen Anbieter
zurückgreift, wenn man Möbel oder Orientteppiche anschaffen will oder einen
Automechaniker, Elektrofachmann oder Physiotherapeuten benötigt. Lehrlinge
sollen nicht "auswandern" müssen, da sie auf der Webpage einen
inserierenden Lehrmeister aus ihrer Nachbargemeinde finden, und
selbstverständlich soll jeder, der sich eine professionelle Webpage zulegen
möchte, die Dienste regional ansässiger Informatikfirmen in Anspruch
nehmen. Hinzu tritt - mit Blick auf die Weltöffentlichkeit - das Ziel,
die Region als attraktive Gegend auf dem Globus zu präsentieren, die als
Standort für Industrie- und Dienstleistungsbetriebe, als Destination für
erlebnisreiche touristischer Ausflüge oder als Domizil für gutbetuchte
Steuerzahler Positives, ja Unvergleichliches anzubieten habe.
Das Motiv zur vorteilhaften (z.B. tourismusfördernden)
Aussendarstellung verbindet sich symbiotisch mit dem Ziel, jene partikulären
Eigenheiten der Region (Landschaft, Kultur, Geschichte, Volkstum u.a.) zu betonen, die für die eingesessenen Bewohner
selbst zu Verankerungspunkten ihres regionalen Heimatgefühls und
Identifikationsbewusstseins werden können. So können heimwehkranke Auslandtoggenburger sich unter der Webpage
"Augenschein" an Fotos vom "Tagesanbruch in Bütschwil" oder von "Bauernhöfen beidseits des
Neckers" erfreuen5),
und manche Glarner dürften sich erst angesichts der Website, die den den im Kanton sesshaften Autoren gewidmet ist, des
Reichtums heimischen Literaturschaffens innewerden.6)
Bezeichnenderweise findet man die am besten ausgebauten
Websites häufig bei Regionen, deren Einwohner relativ weit verstreut wohnen
und/oder aufgrund der gebirgigen Zerklüftung ihres Wohngebiets bei Offline-Kontakten relativ grosse physische Hindernisse
erfahren. Dies gilt für das Berner Oberland genauso wie für das Toggenburg, das – als frühere "Grafschaft" –
die Bevölkerungen mehrerer voneinander unabhängiger Talschaften mitumfasst,
und es gilt für das Appenzell mit seiner typischen Streusiedlungsweise, die
die dörfliche Konzentrierung des Gemeinschaftslebens erschwert. Im Ausland lebende
Eidgenossen erhalten teilweise überhaupt erst via Online-Kommunikationen die
Chance, sich untereinander oder mit ihren hiesigen Angehörigen zu vernetzen.
So unterhält z.B. der "Swiss Club of Central North Carolina" eine
Website, die vor allem der laufenden Information über Zu- un
d Wegzüger und der nostalgischen Erinnerung an
vergangene Heimattreffen dient.7)
Diese Funktion des Internet, kompensativ
zu den fragmentierenden Tendenzen der Offline- Welt virtuelle Gemeinschaftlichkeit zu fördern,
hat bisher wohl im "Proggetto Poschiavo" seinen deutlichsten Ausdruck gefunden, an
dem sich Gruppen aus weit entlegenen Tälern des Puschlavs,
Bergells, des Veltlins
und Valchiavenna mit beteiligen. Im
Herbst 1996 hat eine Initiativgruppe unter der Führung des "Istituto Svizzero di Pedagogia per la Formazione Professionale" (eine Zweigstelle des BIGA) systematisch mit Internet-Ausbildungskursen
begonnen, um möglichst zahlreiche Bewohner der Gegend in die Lage zu versetzen,
sich mit einer eigenen Thematik am Aufbau der Regionssite "Progetto Poschiavo"8)mitzubeteiligen.
In der Folge sind unter Beteiligung von über 100 Einwohnern 21 thematische
Netzseiten entstanden, die sich z.B. mit der Volksmusik im Bregagliatal, mit der heimischen Oekologie
von Medizinalkräutern, mit den Problemen heimischer Arbeitslosigkeit,
Bewässerungsprojekten, und schliesslich auch mit den Lebensgewohnheiten jenes
seltenen heimischen Nagetiers befassen, das unter der Bezeichnung "mus poschiavinus fatio" Eingang in die Wissenschaft gefunden hat.
In anderen Projekten geht es um das Problem, die Bibliothek von Poschiavo landesweit (oder grenzübergreifend) zuvernetzen, für ein altes leerstehendes Kloster eine
neue Bestimmung zu finden oder neue Konzepte für die Vermarktung heimischer
Agrarprodukte zu finden. Ganz offensichtlich ist bei den Beteiligten das
doppelte Ziel massgebend, einerseits nach innen ihr regionales
Selbstbewusstsein zu stärken und andererseits ihre – gleichzeitig
geographische und sozio-ökonomische – Marginalität
gegenüber ihrem schweizerischen und italienischsprachigen Umfeld zu
überwinden.9)
Zumindest im Fall der privaten Partisanengruppe, die die
Domain "Juranet" für sich reserviert hat, kann man – in entfernter
Analogie zu den Websites der Lega Nord, der Kurden, Waliser und anderer
sezessionistischer Regionen - vom Versuch sprechen, durch Aufbau einer
"virtuellen Gegenidentität" die aktuelle territoriale Ordnung im
Nationalstaat zu unterminieren. Auf den ersten Blick glaubt man,
die offizielle Site der jurassischen Kantonsregierung vor sich zu haben, bis
man feststellt, dass auf der Landkarte anstelle des aktuellen Kantons die weitgespanntere Region Jura gezeichnet ist, die
auch die bernischen Südteile um Moutier
mitumfasst.10) Weil das
"District de Moutier"
in völlig gleicher Weise wie die Distrikte Pruntrut
und Delemont präsentiert werden, wird der
Verbreitung eines gegenüber den politischen Realitäten schroff abweichenden
Bildes territorialer Identität Vorschub geleistet.
Dieses Bestreben wird durch das Angebot einer
umfassenden Email-Liste aller Jurassier unterstützt ,
die damit zur (kantonsunabhängigen) horizontalen Kommnikation
untereinander ermutigt werden. Dass bei der Präsentation Moutiers
und seiner Geschichte eine militante Wiedervereinigungsrhetorik angeschlagen
wird und auf der Linkliste jeder Verweis auf bernische
Webangebote fehlt, vervollständigt das Gesamtbild in stimmiger Weise. Und
dass die Urheber der Site stolz auf eine monatliche Zahl von 50000 Hits (!)
verweisen können, zeigt, dass Webangebote dissentierender
Bewegungen eine ungleich höhere Beachtung als offiziell-behördliche Präsentationen
finden können - sofern es ihnen gelingt, die Interessen einer weitgespannten
Anhängerschaft, die sich sonst vielleicht in den Medien nicht hinreichend
vertreten fühlt, zum Ausdruck zu bringen. "Subversiv" in
einem anderen – vielleicht letztlich nicht harmloseren – Sinne sind die
transnationalen Grenzregionen, die sich besonders stark auf
Internet-Kommunikation abstützen, weil sie angesichts der nationalen
Segregation der Presse bisher keine Möglichkeit besassen, sich in einem
Medium einer weiteren Oeffentlichkeit integral zu
präsentieren:
1) COTRAO
(Communauté de travail des Alpes occidentales)11)
Die
COTRAO wurde bereits 1982 als eine transnationale
Arbeitsgemeinschaft gegründet; die neben den Schweizer Kantonen des "arc lémanique", die
französischen Regionen Rhône-Alpes und Provence-Alpes-Còte
d’Azur und die italienischen Provinzen Ligurien, Piemont und Aostatal
umfasst: In ihrer aktuellen Ausdehnung stimmt die COTRAO
sehr weitgehend dem ehemaligen Herzogtum Savoyen: ein Illustrationsbeispiel
dafür, wie .- wie z.B. auch im Fall der Grafschaft Toggenburg
- ehemalige historische Territorialherrschaften im Internet ihre virtuelle
Wiederauferstehung feiern können. Ebenso illustriert sie die Regularität, dass das Internet keineswegs die Kraft hat,
völlig neue regionale Identitäten zu konstituieren, hingegen sehr wohl die
Fähigkeit, bereits bestehenden regionalen Verbänden, die bisher kaum an die Oeffentlichkeit getreten sind, als Mittel interner Kommunikationsverichtung einerseits und als Medium der
Aussendarstellung andererseits zu dienen. Im vorliegenden Fall wird die
Wirkung allerdings dadurch begrenzt, dass sich die Page allzu sehr als
Kopfgeburt der formellen Verbandsgremien und –kommissionen
präsentiert, die im neuen Medium zusätzliche Chancen der Selbstdarstellung
erblicken, ohne aus den spezifischen (z.B,
interaktiven) Möglichkeiten des Internet Nutzen zu ziehen.
Damit
kontrastiert COTRAO mit dem am entgegengesetzten
Grenzzipfel der Schweiz entstandenen
2)
EMB-Net ("electronic mall
Bodensee"),
das sich – zwar auch "von oben her"
konstituiert – als aktiver Katalysator einer neuen, nur mittels
elektronischer Medien realisierbaren Form regionaler Integration und
Identitätsbildung sieht, die schwerpunktmässig vor allem eine Verdichtung
wirtschaftlicher Transaktionen im Blickfeld hat.12)
Die Vorstellung, die "electronic mall"
solle gewissermasssen die Verkaufshallen der
grossen peripurbanen Einkaufszentren der 70er und
80er jahre (Spreitenbach, Glatt, Säntispark u.a.) ersetzen, geht so weit, dass mit Hilfe modernster VRLM Technik versucht wird, beim Besuch der Site den
Eindruck einer "dreidimensionalen Erlebniswelt" zu bieten.
Darüber noch weit hinausgehend, soll die Website zu einem Brennpunkt
verschiedenster privater und öffentlicher Kommunikations- und Austauschbeziehungen
avancieren, mit dem Ziel, dass sich die Bevölkerung in möglichst vielen
Lebensbereichen vorrangig an diesem transnationalen Raume orientiert:
Ausgehend vom Motiv, die natürlichen Standortnachteile der geographischen
Lage zu kompensieren, soll der Einsatz elektronischer Kommunikation der
Region neue wirtschaftliche Wachstumsimpulse verleihen und sie zur
Modellregion werden lassen, die für viele andere europäischen
Regionalverbünde wegweisend sein will.13)
* * * Wenn man
bedenkt, wieviel Begeisterung, Phantasie, Kreativität und ernsthafte
Aufbauarbeit das Internet bereits in diesen Anfangsphasen geringer
Verbreitung in verschiedensten Kreisen entfesselt hat, darf man in Zukunft
auf erwarten, dass es sich in Zukunft alle unsere Lebensbereiche durchdringen
und das, was wir die "politische Oeffentlichkeit"
nennen, in besonders dramatischer Weise umgestalten dürfte.
Insbesondere
gilt, dass die internationale Selbstdarstellung eines Landes wie der Schweiz
nun in keiner Weise mehr von monopolistisch dafür zuständigen
Behördeinstanzen (Aussenministerium, Botschaften, Konsulate, Pro Helvetia u.a.) oder traditionell etablierten offiziösen
Privatinstitutionen (Wirtschaftsförderung, NZZ)
unter Kontrolle gehalten werden kann, sondern von einer Vielzahl kleinerer
und infomellerer , vom Staat überaus unabhängiger
Akteure mitgetragen wird, deren Netzangebote ja alle in gleicher Weise
weltweit abrufbar sind. Im Ausland lebende Bürger unseres Staates
dürften sich dann vielleicht nicht mehr so sehr als
"Auslandschweizer", sondern als "Ausland-.Toggenburger"
oder "Ausland-Liestaler" fühlen, weil sie
im Internet Gelegenheit finden, ohne den Umweg über nationale Gateways direkt mit ihrer angestammten Region oder Gemeinde
in Beziehung zu treten.
Aber
auch nach innen mag das Internet dazu beitragen, dass Bürgerinnen und Bürger
den "Staat" weniger als in früheren Generationen als Einheit
erfahren: denn diese Einheit ist infolge der Komplexität staatlicher
Organisationen und Aufgaben derart abstrakt geworden, dass sie sich der
multimedialen Vermittlung, für die das Netz die Chance bietet, weitgehend
entzieht. Stattdessen fördert das Netz die (wohl schon
immer realitätsnähere) Vorstellung, dass es sich beim "Staat" bloss
(nominalistisch) um den Ueberbegriff für eine
Vielfalt disparater Einzelakteure (Behörden, Kommissionen, Aemter, Kantone, Gemeinden) handle, wie sie beim
Netzsurfen konkret erfahrbar werden. Diese Fragmentierung mag sich in
dem Masse verstärken, wie das neue Medium interaktive Verwendung findet: weil
sich die Meinungskundgaben, Beschwerden und Forderungen der Bürger je nach
ihrem Inhalt auf völlig verschiedene (spezifische) Anlaufstellen
verteilen.
Generell
unterstützt das Internet jenen spielerisch-unverbindlichen Umgang mit
Traditionen und Identifikationen, wie er bereits im Konzept der
"Postmoderne" vorweggenommen wurde: So kann ich mich drei
Minuten lang von einer bewegenden "Memorial-Site" zu Ehren Mutter
Theresas rühren lassen und im Gästebuch einen kleinen Eintrag hinterlassen;
nachher widerstandslos zu den Verlautbarungen meines örtlichen Turnvereins
überwechseln, aus einer momentanen nostalgischen Anwandlung die
Schülerzeitung meines ehemaligen Gymnasiums konsultieren und mich
schliesslich auf "Appenzell-Online" mit dem vielfältigen lokalen
Brauchtum (Betruf, Silvesterkläuse,
Funkensonntag u.a.) in Verbindung setzen, das im
Leben meiner Grosseltern noch eine prägende Bedeutung besass.
Auch
im sensiblen Bereich politischer Orientierungen scheint eine pluralistische
Vielfalt koexistierender und sich überlappender
Referenzebenen Platz zu greifen, die mit den exklusiven Identifikationsforderungen
des traditionellen Nationalstaats in ein Spannnungsverhältnis
treten kann.14) So
unterstützt das Internet flottierende, selbstgewählte, ja nach situativen
Bedingungen und sozialen Rollen wechselnden politischen Identifikationen:
manchmal bin ich Thurgauer, dann Angehöriger der Bodenseeregion, in anderen
Belangen solidarisch mit allen, die auch Deutsch als Muttersprache sprechen;
dann Westeuropäer - und häufig einfach Mitglied der westlichen
Zivilisation.
Im
selben Sinne kann es Nezugezogenen oder kurzzeitig
anwesenden Touristen ermöglichen, sehr rasch eine gewisse Vertrautheit mit
ihrem aktuellen Aufenthaltskontext zu erwerben, ohne dass sie dazu auf den
Aufbau sozialer Bekanntschaftsbeziehungen (oder die Teilnahme an speziellen
Veranstaltungen) angewiesen wären. Und für Ausgewanderte bietet es die
Chance, ungeachtet ihres Aufenthaltsorts hin und wieder ein bisschen
in die lokale Kultur der Heimat einzutauchen (und dadurch die Situation, Emigrant
zu sein, erträglicher zu finden).
Die
Auslandschweizer werden mit Sicherheit die Möglichkeit nutzen, sich über
Computernetze weltweit effektiver zusammenzuschliessen und wirksamer auf sie
betreffende politische Entscheidungen im Heimatland (bzw. auch in einzelnen
Kantonen oder Gemeinden) Einfluss zu nehmen. Die Initiative "FDP
International" (mit der die Freisinnigen sich ein zusätzliches
Wählerpotential zu erschliessen hoffen) weist bereits darauf hin, dass es vielerlei
Kräfte geben wird, die den altetablierten Vereinigungen (z.B. ASO) ihre bisherige Vorrangstellung streitig machen.15)
Zumindest
in diesen Anfangsjahren seiner Genese und Ausbreitung bietet das Internet das
Bild einer riesigen Experimentierwerkstatt, in der mit wenig Aufwand und
Risiko vielfältigste Möglichkeiten politisch-territorialer Identifikation
produziert und angeboten werden in der oft nur vagen - Hoffnung, damit auf
eine gewisse Nachfrage zu stossen. Es macht sichtbar, dass es bereits
bisher politische Identifikationen gegeben hat, die nur auf informeller,
subinstitutioneller Ebene (in der regionalen "Volkskultur")
erhalten geblieben sind, weil sie sich im konventionellen Mediensystem nicht haben
ausdrücken können. Und andererseits kann vielleicht auch die Entstehung neuer
regionaler Identitäten unterstützt oder beschleunigt werden, die aufgrund
bereits bestehender Interdependenzen und kommunikativer Verdichtungen
naheliegend sind, bisher aber weder in der Politik noch in den
konventionellen Massenmedien hinreichende Ausdrucksmöglichkeiten gefunden
haben.
Allerdings
ist es äusserst unwahrscheinlich, dass allein auf der Grundlage von
Online-Kommunikation neue primäre Identifikations- und Soldaritätskerne
entstehen könnten, die eine hinreichende Basis für die spätere
Gründung stabiler formeller Assoziationen oder Institutionen darstellen
würden. Längerfristig bietet die Netztechnologie günstige
Voraussetzungen dafür, dass das mediale "Angebot" an
Identitätskonstruktionen der jeweils aktuellen "Nachfrage"
entspricht: weil Anbieter wöchentlich, ja täglich und stündlich beobachten
können, ob ihre Präsentationen (schon, bzw. noch) auf Interesse stossen oder
ob die angebotenen Kommunikationsmöglichkeiten Zuspruch finden.
Ein
"Endsieg" des Internet über Presse und Fernsehen ist nicht
wahrscheinlich und hätte auch zuviele
problematische Konsequenzen: Je mehr sich die Menschen im Cyberspace
aufhalten, desto stärker werden ihre Erfahrungswelten divergieren und desto
weniger werden sie bei ihren Offline-Begegnungen
noch gemeinsame Gesprächsthemen finden - was wiederum ein Motiv sein kann,
sich noch intensiver in virtuelle Gemeinschaftserlebnisse zu
versenken. Und: je mehr sich die Aufmerksamkeit des Publikums auf
sehr verschiedene Politikebenen und Problemlagen aufsplittert, desto weniger
kann eine einheitliche "öffentliche Meinung" entstehen, die als
kraftvolle "vierte Gewalt" politisch wirksam werden kann.
Vielleicht werden die konventionellen Massenmedien in Zukunft noch nötiger
sein als heute, um den zentrifugalen und vereinsamenden Wirkungen der
Netzkommunikation gemeinsame Erlebniswelten, konvergente Diskussionsthemen
und eine wirksame Meinungsführerschaft entgegenzusetzen.
Anmerkungen
1)http://www.evp-pev.ch/
2)So hat sich z.B. eine
"Gesellschaft Ehemaliger der Kantonsschule Baden" (GEK) gebildet, die ihre periodische Informationsschrift
übers Netz verbreitet).
3)http://www.baden-schweiz.ch/deut/schul/kantibad/html/GEK.htm.
4)Z.B.
Winterthur http://www.winti.ch/
5)http://www.beoberland.ch/
6)http://www.toggenburg.ch/
7)http://www.glarusnet.ch/rahmen1.html
8)http://www.progetto-poschiavo.ch/
9)http://www.ispfp.ch/fd/AP/default.html
10)vgl. "Anschluss ans Netz"
Italienische Bündner Täler steigen ins Internet (Tages Anzeiger 9. 10. 1997:
14). http://www.juranet.ch/
11)http://www.unil.ch:8080/cotrao/welcome.html
12)http://www.bodan.net/regioinfo/index.html
13)http://www.ch1.emb.net/about/doku/paper1.html
14)Ein Beispiel für die Ueberlappungstendenz der Internet-Regionen: manche der
vom "bodan-net" angesprochenen Gebiete
gehören auch zur Region "Rheintal", die wiederum eine eigene, sehr
detaillierte Webseite unterhält (http://www.rheintalweb.ch/)
15)Auslandschweizer
Organisation, die 1916 gegründet wurde und als Dachverband von ca. 700
weltweitverstreuten Schweizervereinen dient.
(vgl.http://www.aso.ch/)
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